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Mohammed Abed Al-Jabri

Kritik der arabischen Vernunft

Naqd al-caql al-carabī

Die Einführung

Aus dem Französischen Übersetzt von

Vincent von Wroblewsky und Sarah Dornhof

Vorwort
Ex okzidente lux

Der arabische Aufklärer Mohammed Abed Al-Jabri

Reginald Grünenberg und Sonja Hegasy

Die arabo-islamischen Wissenschaften waren einst die wichtigsten Lehrmeister des nachrömischen Europas. In den Gebieten der arabischen Expansion von den Pyrenäen bis nach Vorderasien wurden die Schätze der griechischen Antike übersetzt, kommentiert und auf diese Weise überliefert. Unter den omajjadischen Emiren und späteren Kalifen auf der spanischen Halbinsel (756-1031) erlebten wissenschaftliche Errungenschaften wie die arabische Medizin, Philosophie und Mathematik ihre Hochzeit. Córdoba, zehn Mal größer als alle anderen europäischen Städte ihrer Zeit, war im 10. Jahrhundert eine Perle der Zivilisation, tolerant gegenüber Juden wie Christen. In ihren öffentlichen Bibliotheken befanden sich die größten Büchersammlungen des Abendlandes. Doch der viel versprechende Anfang wurde nicht fortgesetzt. Europa stieg unaufhaltsam auf, das islamische Weltreich implodierte. Die Kreuzzüge im Osten – zwischen 1096 und 1396 gab es sieben Haupt- und mehr als doppelt so viele Nebenkreuzzüge unter dem Vorwand der Befreiung Jerusalems von den muslimischen Besatzern –, die spanische Reconquista im Westen – Córdoba wurde 1236 von den Christen zurückerobert – und schließlich der aggressive Kolonialismus waren der europäische Beitrag zum spektakulären Niedergang der arabischen Kultur. Doch heute, im dritten Jahrhundert nach den großen bürgerlichen Revolutionen – die Glorious Revolution in England 1688, der amerikanische Unabhängigkeitskampf 1779 und die Französische Revolution 1789 –, im Zeitalter der Globalisierung und der Menschenrechte, wo abgesehen von militärischer Bedrohung und Hegemonie auch die amerikanisch-europäischen Muster wirtschaftlicher und kultureller Dominanz nicht mehr widerspruchslos akzeptiert werden, muss auch der Westen neue Wege gehen. Es stellt sich allerdings die Frage, wer heute unsere Gesprächspartner in der arabischen Welt sein könnten? Mit dem Erstarken des Islamismus im 20. Jahrhundert, den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Reflex eines „Krieges gegen den Terrorismus“ haben sich die Voraussetzungen für eine Verständigung auf beiden Seiten nicht verbessert. Und es schien, als müsste die arabische Welt zuerst heraustreten aus der historisch nachvollziehbaren, jedoch weitgehend unfruchtbaren und zum Teil sogar selbstzerstörerischen Opferrolle (siehe hierzu das Kapitel Nachtrag 2012: Der Tod des Philosophen und die arabischen Revolutionen). Die Journalistin Sonja Zekri fragte, wo die Stimmen in der arabischen Welt waren, welche die „sterile Routine des Antiamerikanismus zugunsten einer Selbstkritik“ überwinden wollten (Süddeutsche Zeitung, 26.3.2004). Und der türkischstämmige Lyriker Zafer Şenocak forderte eine „innere Debatte über die Konflikte des muslimischen Glaubens mit der Moderne“ und eine „kritische Analyse der eigenen Tradition“, auf deren Grundlage die Muslime eine Charta entwickeln könnten, die ihr Zusammenleben mit Nicht-Muslimen in offenen, demokratischen Gesellschaften regelt (Die Welt, 3.1.2008). Gibt es also in den Reihen der muslimischen Eliten eine Debatte, die diese Forderungen einlösen könnte, die die Hoffnungen der arabischen und möglicherweise auch nicht-arabischen, muslimischen Gesellschaften auf eine bessere Zukunft ermutigt sowie den aggressiven Islamismus isolieren könnte?

In seinem Artikel Zuviel Poesie, zuwenig Selbstkritik lenkte der Politikwissenschaftler Bassam Tibi als erster die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit* auf den Namen eines großen arabischen Aufklärers, der außerhalb der Region noch weitgehend unbekannt ist, nämlich den Marokkaner Mohammed Abed Al-Jabri** (DIE ZEIT 2004/49). Er war, so schrieb Tibi, einer der letzten noch lebenden arabischen Linken, die nicht in das ideologische Lager der Islamisten übergelaufen waren. Fast ein halbes Jahrhundert lang arbeitete Al-Jabri an einer umfassenden und kritischen Reflexion des Niedergangs der arabischen Kultur. Sein vierbändiges Hauptwerk Naqd al-caql al-carabī, erschienen 1984 bis 2001 in Beirut und Casablanca, löste von Marokko über Ägypten bis in die Golfstaaten kontroverse Diskussionen aus. Der Titel erscheint uns in der deutschen Übersetzung vertraut und weckt hohe Erwartungen: Kritik der arabischen Vernunft.

Mohammed Abed Al-Jabri wurde 1935 in einer halbnomadischen Berberfamilie im südlichen Marokko geboren. Nach der Koranschule absolvierte er eine Schneiderlehre, wurde Volksschullehrer und begann 1958 ein Philosophiestudium in Damaskus. Dieses schloss er 1968 mit einem Hochschuldiplom für Philosophie in Rabat/Marokko ab und wurde 1970 mit einer Dissertation über den Historiker und wichtigsten Vorläufer der modernen Soziologie Ibn Khaldun (1332-1406) promoviert. Ab 1968 unterrichtete Al-Jabri bis zu seinem Tod 2010 islamische Ideengeschichte in Rabat. Anfang der achtziger Jahre wurde er unter arabischen Intellektuellen bekannt mit seinen Büchern Wir und die Tradition und Der zeitgenössische Diskurs. 1984 erschien der erste Band der Kritik der arabischen Vernunft unter dem Titel Die Genese des arabischen Denkens. 1986 folgte Die Struktur des arabischen Denkens, 1990 der dritte Band, Die arabische Vernunft im Politischen und 2001 abschließend Die praktische arabische Vernunft.

Al-Jabri erhielt 1988 den Bagdad-Preis für arabische Kultur der UNESCO. Viele andere Preise hat er abgelehnt, etwa 1989 den Saddam-Hussein-Preis oder 2002 den Gaddafi-Preis für Menschenrechte. Sein Hauptwerk ist bis heute in keiner anderen Sprache veröffentlicht – und diese internationale Anonymität war lange Zeit beabsichtigt. Al-Jabri wollte mit seiner Kulturkritik einen dezidiert innerarabischen Diskurs entwickeln. Die meisten arabischen Intellektuellen, so sein Vorwurf, kritisieren die islamische Kultur von einem Standpunkt europäisch anerzogener Exteriorität, wodurch sie das Eigentümliche des subjektiven, religiös-praktischen Erlebens und damit die für das Verständnis der Religion konstitutive Rolle der ‚Tradition’ (turāth) aus den Augen verlieren. Deshalb verweigerte Al-Jabri lange Zeit, sich der intellektuellen Diaspora in Paris anzuschließen, und lehnte eine Vielzahl von Einladungen nach Europa ab. Viele muslimische Intellektuelle fragen sich heute, warum sie ihre Zeit damit vergeudet haben, ein westliches Publikum von den Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Religion und Kultur zu überzeugen, anstatt die interne Diskussion zu forcieren.

Es ist längst überfällig, dass die Kritik der arabischen Vernunft in Europa wahrgenommen wird als eine der einflussreichen, kritischen Stimmen im innerarabischen Diskurs über Identität, Geschichte und Politik. Es gibt viele Bücher, die sich in der Nachfolge Immanuel Kants mit dem Titel Kritik schmücken, doch selten ist diese Anmaßung so berechtigt wie bei Al-Jabris profunder und hochgradig origineller Fundamentalanalyse arabischer Wissensproduktion. Philosophische Kritik bedeutet bei Kant die Bestimmung der Grenzen des legitimen Vernunftgebrauchs bei der Erzeugung von naturwissenschaftlichem, moralischem und theologischem Wissen mit universellem Anspruch. Al-Jabri will in Anlehnung an dieses Verfahren zeigen, wie das arabische Denken mit seiner spezifischen Wissensproduktion die Grenzen seiner legitimen Ansprüche überschritten und sich in eine Kultur der „schlechten Universalismen“ verwandelt hat. Das arabische Wissen bestehe zum Beispiel, basierend auf den Grundlagen des islamischen Rechtssystems, aus analogisch abgeleiteten Verallgemeinerungen, die eine Universalisierung nicht leisten können. Al-Jabri suchte einen Weg zurück zu den Ursprüngen der arabischen Ideen- und Geistesgeschichte. Dazu brachte er die antiken Quellen wieder zum Sprechen, vor allem durch die Schriften von Ibn Rushd, der im Mittelalter unter dem Namen Averroes als der große arabische Kommentator aristotelischer Schriften berühmt war. Al-Jabris Anknüpfen an die arabische Aufklärung des 12. Jahrhunderts zielt auf eine Neubegründung des arabischen Rationalismus.

Für die Untersuchung der Art und Weise, wie in der arabischen Kultur bisher Wissen produziert wurde, greift er auf den Begriff der Episteme zurück, den der französische Philosoph Michel Foucault in seiner wissensarchäologischen Studie Die Ordnung der Dinge (1966) eingeführt hat. Episteme sind, dem Begriff des Paradigmas verwandt, epochenspezifische Vorstellungen, die der Wissensbildung wie ein logisches Unterbewusstsein vorauseilen. Abweichend von Foucault möchte Al-Jabri allerdings nicht jede Epoche von einer einzigen Episteme beherrscht sehen, so wie das Spätmittelalter und die Renaissance nach Foucault etwa von der Episteme der Ähnlichkeit bestimmt war, sondern die Koexistenz von mehreren Epistemen zur selben Zeit beschreiben. Im Unterschied zu Foucault hält er die Episteme auch nicht für unzugänglich und innerhalb ihrer Epoche unveränderbar wie Adam Smiths berühmte „unsichtbare Hand“, Hegels „List der Vernunft“ oder eine Luhmannsche Systemtheorie, die hinter den Kulissen das gesamte Kulturgeschehen alternativlos arrangiert, sondern er ist überzeugt, dass man epistemische Defizite und Konflikte philosophisch aufdecken und politisch verändern kann.

Als die drei Episteme des arabischen Denkens benennt er bayān, irfān, und burhān. bayān ist „das innerhalb des Islam Denkbare“, die hermeneutische, textbezogene Episteme der Rechtswissenschaft, Grammatik und Theologie. irfān ist dagegen das Mystische, Alchemistische und „nicht rational Denkbare“. burhān ist schließlich die Episteme „des rational Denkbaren“, der Mathematik, Logik und Metaphysik (im Sinne der aristotelischen Beweislehren und allgemein-philosophischen Spekulationen, die in der Systematik ‚nach der Physik’ und den Naturlehren kommen), deren europäisches Pendant die Aufklärung und die naturwissenschaftlich geprägte Moderne ausgelöst hat. Al-Jabri möchte zeigen, wie „das rational Denkbare“ zunehmend unter die Einflüsse sowohl der hermeneutischen Episteme bayān als auch der poetisch-mystischen Episteme irfān gelangte (letztere sei besonders stark im Iran ausgeprägt) und somit 'wissenschaftliche Revolutionen' (Kuhn) oder Paradigmenwechsel ausgeschlossen wurden. Die islamische Mystik feiert geradezu die Subjektivität und Auflösung des Ichs, auch durch Tanz, Hyperventilation und Drogen. Sie sucht das Verschmelzen von Innen und Außen, Ich und Welt, Ich und Gott, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diesen Unwillen, Unterscheidungen erkennen zu wollen und eine große Sehnsucht nach der All-Einheit kritisiert Al-Jabri. Von dieser intellektuellen Haltung gehe, so meint er, ein reaktionärer Impuls aus, weil ihr „träumendes Gefühl“ sich nachhaltig als nicht realitätsfähig erwiesen habe.

Im epistemologischen Zentrum seiner Arbeit kritisiert Al-Jabri die illegitime Verwendung des gnostischen Analogieschlusses, der als Instrument der Urteilsbildung zur poetisch-mystischen Episteme irfān gehört. Jenseits seines legitimen und fruchtbaren Einsatzes in Kunst, Literatur und Poesie habe sich die gnostische Analogie auch in den anderen Epistemen ausgebreitet und produziere in den Bereichen des Rechts, der Naturwissenschaft und der Politik jedoch nur scheinwissenschaftliche Erkenntnisse. Um das Problem zu verstehen, das Al-Jabri zur Darstellung bringen will, müssen wir uns etwas tiefer mit der Geschichte der analogen Beweisschlüsse beschäftigen, die sich grundsätzlich in zwei Formen darstellt, einer logisch-beweisführenden, erklärenden und somit demonstrativen Analogie (qiyās bayāni) und einer hermetischen, auf mystischer Vertiefung basierenden gnostischen Analogie (mumāthala), in der Schlüsse von der Welt des Sichtbaren auf die Welt des Verborgenen, Unsichtbaren und auch Geistigen gezogen werden. Der demonstrative Analogieschluss als Mittel zur Welterkenntnis wurde zu einem zentralen Element bei Platon (428-347 v. Chr.), dann in Aristoteles Schriften (384-322 v. Chr.) systematisiert und schließlich durch deren arabische Übersetzungen in der ganzen arabischen Welt verbreitet. Diese Form der Analogie ist bis heute eine zentrale islamische Rechtsquelle. Dabei wird von einer Ähnlichkeit zweier Wesen, Dinge oder Vorgänge auf eine Identität ihrer Eigenschaften geschlossen: A hat Ähnlichkeit mit B; B hat die Eigenschaft C; also hat auch A die Eigenschaft C. Der analoge Beweis war auch in Europa von großer Bedeutung. Michel Foucault identifizierte sie in der von Al-Jabri rezipierten und bereits erwähnten Studie Die Ordnung der Dinge sogar als die beherrschende Form der Erkenntnisgewinnung in der Renaissance und als Kernstück der „Episteme der Ähnlichkeit“. Selbst später, zur Zeit der europäischen Aufklärung, erwies sich der demonstrative Analogieschluss als wichtiges heuristisches Instrument, etwa als die Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey 1628 erstmals auf Kreislaufmodelle der Wirtschaft angewandt wurde, weil man sich den Staat als einen großen Menschen vorstellte, der statt Organen Institutionen und statt eines Blut- einen Geld- und Warenkreislauf hat. Diese fruchtbare Anwendung von Ähnlichkeitsschlüssen wurde in der Naturwissenschaft, zum Beispiel bei der Anwendung des Kreislaufmodells auf das Klima, mit einer, wenn nicht sogar der wichtigsten Erfindung der Wissenschaftsgeschichte abgesichert, dem Experiment, das den demonstrativ-analogen Schluss stärkte, indem es ihn widerlegbar machte.

Die zweite, gnostische Schule des analogen Schließens, so argumentiert Al-Jabri, deformiere, wenn sie das Feld der rein künstlerisch-ästhetischen und innerlich-religiösen Erfahrung verlässt, ihre eigenen Grundannahmen, überspanne den Wahrheitsanspruch des Ähnlichkeitsmoments und mache den Schluss selbst unwiderlegbar und unbeweisbar zugleich. Aberglauben, Magie und Zauberei wurden hier erkenntnistheoretisch stark gemacht und die Deutung von Sternkonstellationen, Orakeln und vermeintlichen Gottesurteilen wurde auf eine Stufe mit der wissenschaftlichen Erkenntnis gehoben.

Al-Jabri stellt nun die provokante These auf, dass die gnostische Form des analogen Schließens bis heute die ostarabische Kultur beherrsche, weil sie dort in der unüberwundenen Erblast einer viel älteren, hermetischen Tradition aufgegangen sei. „Im Orient war es die von den Schiiten benutzte hermetische Theosophie, die als erste auftauchte, dann die Metaphysik des Aristoteles [...] Dieses Vorgehen implizierte kein Durchschreiten der Etappe der Mathematik und der physikalischen Wissenschaften und stürzte das Denken unmittelbar in Richtung Metaphysik [...] Die andalusischen Philosophen hatten [...] keinerlei Schwierigkeiten, sich von den kulturellen Hindernissen zu befreien, die die Philosophie im Orient von Anfang an behindert hatten und von denen sie in einem solchen Ausmaß abhängig geblieben war, dass sie schließlich mit ihr verschmolzen, um ein grundlegendes Element ihrer Struktur zu werden: die epistemologischen Hindernisse, Erbe der dialektischen Theologie (kalām) und des gnostischen Grundes des orientalischen Neuplatonismus.“

Innerhalb der drei oben genannten Episteme nennt Al-Jabri noch drei weitere zu unterscheidende existenzielle Dimensionen der arabischen Kultur. Da ist zum einen turāth, das mächtige Erbe der „Tradition“ (Mahfoud und Geoffroy gehen im Kapitel Was ist die „Tradition“ (turāth)? auf die Probleme der Übersetzung dieses Begriffes ein). Zum anderen würden das moderne, universalistische Denken sowie aktuelle politische und wirtschaftlichen Probleme die arabische Kultur bestimmen. Al-Jabri spricht ausdrücklich von einer „schizoiden Persönlichkeitsausbildung“ bei den Bürgern der arabischen Welt, weil es einen andauernden Zwang gebe, sich zwischen diesen drei Welten, die immer simultan präsent sind, entscheiden zu müssen, ohne einen realistischen Bezug auf ein übergreifendes Ganzes entwickeln zu können.

Einen weiteren Beitrag zu diesem Niedergang in einen „verderblichen, das Denken der Finsternis befördernden Irrationalismus“ habe, so Al-Jabri, die arabische Hochsprache selbst geliefert, weil sie als eine seit vierzehn Jahrhunderten konservierte Sprache dem analogischen Schluss im Obersatz, der Annahme A, keine geeignete Grundlage mehr biete: Die Wirklichkeit (A), von der aus man Ähnlichkeiten mit etwas anderem Wirklichen (B) sucht, um auf die Identität ihrer Eigenschaften (C) zu schließen, ist selbst schon ein Traum, gefangen in einer Sprache, die sich nur an die schöne Zeit ihrer eigenen Anfänge erinnere. Heute seien die arabischen Gesellschaften für Al-Jabri „einer als heilig empfundenen Sprache, veralteten Denkweisen, Aberglauben und unumstößlichen Wahrheiten verhaftet und zur Kritiklosigkeit erzogen“, so die Islamwissenschaftlerin Anke von Kügelgen (Leiden 1994: 266). In ihrer exzellenten philosophiegeschichtlichen Studie Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam stellt sie die bedeutendsten arabischen Denker des 20. Jahrhunderts vor. Dabei analysiert von Kügelgen auch die unterschiedlichen aufklärerischen Projekte dieser Intellektuellen. Al-Jabris Ansatz erscheint hier als der fruchtbarste und aussichtsreichste.

All das habe, so Al-Jabri, zum allmählichen Realitätsverlust in der arabischen Kultur geführt, gegen den sich nur im Westen – und damit sind aus arabischer Perspektive hier der Maghreb sowie Andalusien gemeint – ein arabischer Rationalismus stemmte, wie ihn allen voran Averroes vertrat. Ex okzidente lux – damit nimmt Al-Jabri eine geografische und philosophische Teilung der arabischen Kultur vor, der nicht unwidersprochen bleiben konnte. Seine Kritiker halten es für unplausibel, dass sich im arabischen Westen und Osten zwei grundsätzlich verschiedene Denkschulen gebildet haben sollen und sprechen von Al-Jabris „maghrebinischem Chauvinismus“. Dabei entgeht ihnen allerdings eine Pointe seiner viel weiter gehenden These, die besonders für das heutige Europa wichtig ist, denn sie zeigt, wie stark der arabisch-islamische und der christlich-abendländische Kulturkreis miteinander verwoben sind: „Die Europäer lebten ihrerseits die Geschichte, aus der wir herausgetreten waren, weil sie es verstanden, sich Averroes anzueignen und bis zum heutigen Tag das averroistische Moment zu leben.“ Europa wurde demnach mächtig durch eine philosophische Tradition, die aus der arabischen Welt kam und zugleich ihrer Ursprungskultur verloren ging.

Wie konnte es zur rationalismusfeindlichen Hegemonie der mystisch-hermetischen Episteme und des gnostisch-analogischen Urteilens kommen? Al-Jabris Überlegungen haben ihren Ausgangspunkt in der Pädagogik, mit der er sich seit über vierzig Jahren intensiv beschäftigt hat. Die Schlüsselsituation ist für ihn das subjektive Erlebnis des Lesens, die Lektüre der heiligen Texte, ganz so wie er sie selbst als Kind in der Koranschule erfahren hat. Al-Jabri zeigt, wie Defizite in der arabischen Kultur damit zusammenhängen, dass die Trennung von gelesenem Objekt und lesendem Subjekt nicht vollzogen wird. Dieser Zustand werde auch dadurch begünstigt, dass viele Araber, die lesen können – die durchschnittliche Alphabetisierungsrate beträgt 55 % – fast ausschließlich den Koran kennen.

Für Al-Jabri stellt sich nun die Frage: Wer liest hier wen? Die arabische Sprache habe sich seit eineinhalb Jahrtausenden nicht verändert und sei nicht nur identisch geworden mit einem Gefühl der Authentizität in der arabischen Kultur, sondern habe durch die Offenbarung und Kanonisierung des Korans sakralen Charakter angenommen. Dadurch und durch die Art des islamischen Unterrichts sei es zu einer fatalen Umkehrung gekommen, denn inzwischen lesen die heiligen Texte die Menschen. Hier müsse die philosophische Kritik den Hebel ansetzen und praktisch werden:

„Warum bestehen wir aber bei der von uns vorgeschlagenen Lesart der Tradition so stark auf der Trennung zwischen Subjekt und Objekt? Weil der zeitgenössische arabische Leser durch seine Tradition eingeschränkt und durch seine Gegenwart erdrückt ist, was zunächst bedeutet, dass ihn die Tradition absorbiert, ihn der Unabhängigkeit und Freiheit beraubt. Seit seinem Eintritt in die Welt wird ihm unablässig die Tradition eingeimpft, in Form eines bestimmten Vokabulars und bestimmter Auffassungen, einer Sprache und eines Denkens; in Form von Fabeln, Legenden und imaginären Vorstellungen, von einer bestimmten Art des Verhältnisses zu den Dingen und einer Art des Denkens; in Form von Wissen und Wahrheiten. Er empfängt all dies ohne jegliche kritische Auseinandersetzung und ohne den geringsten kritischen Geist [...] Unter diesen Bedingungen ist das Denken eher ein Erinnerungsspiel. Vertieft sich der arabische Leser in die traditionellen Texte, so ist seine Lektüre erinnernd, keineswegs aber erforschend und nachdenkend.“

Al-Jabri wendet sich gegen eine Tradition, die nur die Wiederholung von Geschichte meint. Wenn die Araber – frei nach Kant – den Ausgang aus ihrer selbst verschuldeten historischen Unmündigkeit finden und „ihre eigene Geschichte“ wieder in die Hand nehmen wollen, dann müssen sie den Lesern von sakralen und profanen Texten eine eigene politische Urteilskraft zubilligen und die Schüler dazu ermutigen, sich dieser zu bedienen. Seine hermeneutische Methode nennt er eine trennende und zugleich rückbindende Lektüre („lecture disjonctive-rejonctive“). Das Subjekt soll sich vom Text trennen können, um den Objektcharakter der traditionell-religiösen Ordnung und sich selbst als Individuum zu erkennen. In diesem Moment setzt die Reflexion über Ordnungsalternativen ein bzw. die Verträglichkeit zwischen der in den Texten symbolisch verkörperten Ordnung (zum Beispiel des Strafrechts, des islamischen Wirtschaftswesen oder des Kalifats) und der individuellen Perspektive auf diese Ordnung. Die Rückbindung („rejonction“) beschreibt Al-Jabri als die „intuition exploratrice“, eine forschende Ahnung, die das lesende und das gelesene Ich („moi-lu et moi-lisant“) umfassen kann. Vor allem diese Horizontverbindung von Individuum und Ordnung beschreibt er eindringlich, denn die Reflexion soll nicht nur das Individuum freisetzen, sondern ihm als Teil der gesellschaftlichen Ordnung eine genuin politische Orientierung darin ermöglichen. Differenz – anstatt Analogie – soll so zu einer konstitutiven Grundlage von Gesellschaft werden. Hier lässt sich die soziale Sprengkraft seiner Werke erkennen sowie die politischen Implikationen seiner Philosophie. Al-Jabri möchte nicht weniger als den Übergang zu einer neuen Diskursregel finden. So wie Kant das Wissen begrenzen wollte, um Platz für den Glauben zu schaffen, so will Al-Jabri das falsche Wissen der sich unberechtigterweise als objektiv und universalistisch ausgebenden Analogie- und Glaubensepisteme einschränken, um Platz zu schaffen für eine hypothetisch-individualistische Meinungsepisteme. Denn im Kern geht es um die schlichte Forderung, eine Meinung entwickeln zu können und zu dürfen, und zwar auch bezüglich der Tradition, des Glaubens und der darauf aufbauenden Politik. Al-Jabri nennt den Beginn dieses Episteme- und Diskurswechsels das „Zeitalter der Neuformulierung“.

Man könnte mit Bezug auf die europäische Aufklärung sagen, Al-Jabri unternimmt eine Kritik der Tradition und der Vorurteile auf einer nicht-universalistischen Grundlage, nämlich nicht ausgehend von dem Wissen um objektive Gesetze der Natur und der Vernunft wie Kant, sondern von der Reflexion auf das Individuum und seine historische, kulturelle und religiöse Situation. Der Islam als offenbarte Religion wird in der Kritik der arabischen Vernunft in keiner Weise in Frage gestellt; vielmehr versucht Al-Jabri zu zeigen, dass die problematischen Figuren und Strukturen der arabischen Vernunft eben nicht aus dem Islam kommen, sondern aus älteren, vor-islamischen sprachlichen wie gnostischen Schichten. Daraus entsteht ein Aufklärungspathos, das nicht die Radikalität einer Tabula rasa wie im europäischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts erreicht, möglicherweise aber politisch angemessener ist in einer Kultur, in der die dominierenden Ordnungsprinzipien heute auf religiöse Legitimation angewiesen sind. Damit gehört Al-Jabri im Rahmen der Neubegründung des Rationalismus im Islam zu jenen, die versuchen, der arabischen Kultur eine weltoffene und moderne Identität zu geben, die weder ihren Souverän noch ihre Souveränität verliert.

Reginald Grünenberg

Verleger und politischer Philosoph, Autor von Politische Subjektivität. Der lange Weg vom Untertan zum Bürger (Berlin 2006), Das Ende der Bundesrepublik. Warum wir eine neue Verfassung brauchen! (Berlin 2011) und des Essays Was ist ein Demokrat? in der Zeitschrift Fikrun wa Fann vom Juni 2012.

Sonja Hegasy

Islamwissenschaftlerin und Vizedirektorin am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin, Autorin von Staat, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in Marokko (Hamburg 1997).

Brief von Mohammed Abed Al-Jabri

Mohammed Abed Al-Jabri hat im Januar 2005 in einem Brief an den Verleger Reginald Grünenberg dessen Frage beantwortet, ob die kontroversen Ansichten des Philosophen nicht zu Drohungen, Repressalien, Zensur oder sogar zu Gewalt gegen seine Person geführt hätten. Wir möchten diese Antwort mit Genehmigung des Autors hier in Auszügen wiedergeben, da in ihr möglicherweise ein Schlüssel zum Verständnis von Al-Jabris arabischer Kulturkritik und Philosophie liegt.

„Ich habe mich bis heute noch nie irgendeiner Form von Aggression ausgesetzt gesehen wegen meiner politischen Positionen oder jener Ideen von mir, die ideologische oder kulturelle Standpunkte zum Ausdruck bringen. Ich denke, mir sind diese Probleme erspart geblieben, weil ich es stets vermieden habe, die anderen zu provozieren; ich diskutiere ihre Ideen und Positionen, indem ich von ihren eigenen Voraussetzungen ausgehe [...] Wenn ich eine Denkströmung kritisiere oder mich davon absetzen will, dann mache ich das nur als ein Denker, der seinen eigenen Standpunkt vertreten möchte, nicht als Gegner oder Feind. So kommt es, dass ich mich keinen gewalttätigen Handlungen der Linksextremisten in den 1970er Jahren ausgesetzt sah, genauso wenig wie der Islamisten heute. Im Übrigen weist vieles darauf hin, dass die jungen Sympathisanten der islamistischen Strömungen mehr als die Hälfte meiner Leserschaft ausmachen, in Marokko wie in den anderen arabischen Ländern. Meine Analysen, meine Kritik und meine Stellungnahmen zum schiitischen Denken, das ich in der Kritik der arabischen Vernunft als eine Denktradition oder Ideologie bezeichne, die ihre Ideen aus Quellen bezieht, die außerhalb des Islam liegen, haben niemals wirklich negative oder gar feindselige Reaktionen auf Seiten der Schiiten ausgelöst. Meine Texte sind im Iran weit verbreitet. Das iranische Kultusministerium hat sogar eine tausend Seiten starke Anthologie meiner Werke herausgebracht und ich erhalte sehr oft Einladungen aus dieser Richtung. Die Sunniten und die Wahābiten behandeln mich mit demselben Respekt. Das erklärt sich auch dadurch, dass meine Schriften keine sektiererischen und doktrinären Vorurteile in den Umlauf bringen und kein Plädoyer irgendeiner Partei gegen eine andere darstellen; ich versuche so gerecht wie möglich zu sein bei der Analyse und der Formulierung meiner Urteile über die eine oder andere Doktrin. Und man sagt sogar, dass der Geist der Mäßigung, der charakteristisch ist für die islamistische Strömung in der Türkei, dem Einfluss meiner Bücher geschuldet sei. Ich erhalte aus der Türkei laufend Einladungen zu Colloquien etc. Natürlich gibt es einige Schriften aus dem marxistischen, liberalen oder islamistischen Umfeld, die mich kritisieren. Doch sie waren bisher nicht so wichtig als dass ich hätte darauf antworten müssen. Es sind in der Regel Kritiken, die mehr aus persönlichen Motiven oder Zweifeln gespeist sind, wie etwa der Einwand von Georges Tarabichi, der da lautet: „Jabri hat schon zu lange auf dem Thron der arabischen Kultur gesessen, es ist Zeit ihn da runterzuholen“... Solche und ähnliche Ansichten zirkulieren in gewissen Milieus des Mittleren Ostens, doch aus ganz subjektiven Gründen.“

(Übersetzt aus dem Arabischen ins Französische von Ahmed Mahfoud; übersetzt aus dem Französischen von Reginald Grünenberg)

Editorische Notiz

Die vierbändige Kritik der arabischen Vernunft, zu der das vorliegende Buch die Einführung ist, wurde bisher in keiner anderen Sprache außer dem Arabischen veröffentlicht – mit der einzigen Ausnahme des 2007 in Frankreich erschienenen dritten Bandes unter dem Titel La raison politique en Islam: Hier et aujourd’hui (Die politische Vernunft im Islam: Gestern und heute). Die synoptischen Texte, die in das vorliegende Buch eingegangen sind, sind nicht Teil der Kritik. Vielmehr handelt es sich um Ausschnitte aus Nahnu wa al-turāth. Qirā’āt mu‘āsira fī turāthinā al-falsafī (Wir und die Tradition. Zeitgenössische Lesarten unseres philosophischen Erbes), Beirut-Casablanca 1980, und aus Al-Turāth wa al-hadātha (Traditon und Moderne), Beirut 1991. Aus diesem zweiten Buch sind die Texte von zwei Vorträgen übernommen worden, die der Verfasser 1987 und 1990 in Córdoba und Almeria (Spanien) unter dem Titel Qurtuba wa madrasatuhā al-fikriyya (Córdoba und seine intellektuelle Schule) und Al-Naz‘a al-burhāniyya fī al-Maghrib wa al-Andalus (Die demonstrationalistische Strömung in Marokko und in Al-Andalus) gehalten hat.

Die Auswahl dieser Texte sowie deren Übersetzung aus dem Arabischen haben Ahmed Mahfoud und Marc Geoffroy vorgenommen. Ahmed Mahfoud, der Übersetzer, Freund und Agent des Philosophen, hat darüber hinaus alle vier Bände der Kritik der arabischen Vernunft vom Arabischen ins Französische übersetzt. Als frankophoner Autor hat Mohammed Abed Al-Jabri diese Übersetzungen ausdrücklich autorisiert, so dass wir es für zulässig halten, die Übersetzung der Einführung und demnächst auch der vier Bände der Kritik der arabischen Vernunft aus dem Französischen ins Deutsche vorzunehmen, anstatt diese Texte direkt aus dem Arabischen zu übersetzen. Diese deutsche Ausgabe wird voraussichtlich die erste außerhalb des arabischen Kulturkreises sein.

Wir haben es auch für wichtig erachtet, die Einleitung der Introduction à la critique de la raison arabe von den Übersetzern und Herausgebern Ahmed Mahfoud und Marc Geoffroy vollständig zu übernehmen, da sie nicht nur wichtige Einblicke in Al-Jabris Arbeitsweise und in das Verständnis seines Werks bietet, sondern weil diese beiden Autoren auch die Verfasser aller Fußnotentexte im Hauptteil des vorliegenden Buches sind. In der amerikanischen Übersetzung der Einführung, die ebenfalls die französische Introduction zum Ausgangspunkt nahm, wurde nicht nur darauf verzichtet, sondern auch der Titel wurde entschärft: Arabic Islamic Philosophy. A Contemporary Critique (Texas University 1999). Vermutlich sollte damit jedem ‚Metaphysikverdacht’ zuvorgekommen und der ‚alteuropäische’ Bezug auf den Gründer aller philosophischen Kritik vermieden werden.

Bei der Transkription der arabischen Autorennamen haben wir ganz auf diakritische Zeichen verzichtet. Bei allen übrigen arabischen Namen, Begriffen und Titeln haben wir eine vereinfachte Schreibung gewählt. Die Zeitangaben beziehen sich, wie im Original, auf das Datum nach dem christlichen Kalender sowie häufig auf die entsprechende Angabe nach islamischer Zeitrechnung, die mit der Hedschra beginnt, dem Auszug Mohammeds von Mekka nach Medina 622 n. Chr. Dieses Datum steht jeweils an erster Stelle und ist mit h. gekennzeichnet.

Kritik der Arabischen Vernunft

Naqd al-caql al-carabī

Die Einführung

von

Mohammed Abed Al-Jabri

mit einer Einleitung von

Ahmed Mahfoud und Marc Geoffroy

aus dem Französischen übersetzt von

Vincent von Wroblewsky und Sarah Dornhof

Einleitung

von Ahmed Mahfoud und Marc Geoffroy

Dieses Buch stellt den europäischen Lesern das Werk des marokkanischen Autors Mohammed Abed Al-Jabri vor, der heute einen maßgeblichen Einfluss auf die Intellektuellen der arabischen Welt ausübt. Er konnte zu einem der wichtigsten Philosophen des zeitgenössischen arabischen Denkens aufsteigen, da sein Werk, eine epistemologische Kritik der arabisch-islamischen Gelehrtenkultur, eine neue und systematische Sicht auf diese Wissensproduktion wirft und den arabischen Intellektuellen eine radikal neue Weise nahe bringt, sich ihrem Verhältnis zur Vergangenheit zu stellen.

Mohammed Abed Al-Jabri, seit 1967 Philosophieprofessor an der Universität von Rabat und in der marokkanischen Linken aktiv, wirkte seit 1966 bei der Ausarbeitung von Philosophielehrbüchern mit, die im Maghreb äußerst einflussreich waren. Seine Beschäftigung mit der Lehre findet zudem ihren Ausdruck in drei Schriften, in denen er sich mit pädagogischen und intellektuellen Fragen beschäftigt[1]. Doch erst das Erscheinen von Wir und die Tradition. Zeitgemäße Lesarten unseres philosophischen Erbes[2] sicherte ihm den Ruf eines Denkers in der arabischen Welt. Die Einleitung zu Wir und die Tradition, das zur Zeit seines Erscheinens heftig diskutiert wurde, ist in das vorliegende Buch aufgenommen (erster Teil und Zusammenfassung). Der Autor entwickelt hierin ein methodologisches ‘disjunktiv-rückbindendes’ Vorgehen für die Lektüre arabisch-muslimischer philosophischer Texte, das er im Folgenden auf al-Farabi, Avicenna (Ibn Sina), Avempace (Ibn Bajja), Averroes (Ibn Rushd) und Ibn Khaldun anwendet. Sein Bemühen um Distanz bei der Darstellung der epistemologischen Grundlagen der philosophischen Diskurse zielt darauf, das arabische Bewusstsein zu mehr Objektivität anzuhalten. Sein Gebrauch epistemologischer Begriffe in diesem und in späteren Werken vergegenwärtigt seine Vorreiterrolle bei der Verbreitung und Reflexion der modernen Epistemologie in der arabischen Welt, die sich in dem zweibändigen Werk Einführung in die Philosophie der Wissenschaften[3] niederschlägt.

Der Gedanke, die Funktionsweise der arabischen Vernunft verstehen und die Bedingungen ihrer Erneuerung bestimmen zu wollen, reifte beim Autor während seines sozialen Engagements und im Laufe seiner ersten intellektuellen Arbeiten, und führte ihn schließlich zur Erarbeitung seines vierbändigen Hauptwerkes, die Kritik der arabischen Vernunft[4]. In dieser Studie, die das gesamte arabisch-islamische intellektuelle Erbe behandelt, arbeitet er aus jener Tradition eine Reihe von zentralen Begriffen heraus und schafft eine Ordnung ihrer Elemente, die ansonsten in den Vorstellungen des arabischen Bewusstseins lediglich verstreut vorliegen.

Wir hatten ursprünglich geplant, das Hauptwerk des Autors zu übersetzen, die gesamte Kritik der arabischen Vernunft. Doch aus publizistischen Gründen hielten wir es für vorteilhafter, die Übersetzung eines kürzeren Textes vorangehen zu lassen, um dem Leser eine Vorstellung der wesentlichen Grundzüge des Werkes von Al-Jabri zu ermöglichen. So entstand dieses Buch, das sich aus zwei verschiedenen Werken des Autors zusammensetzt[5] und seine zentralen Thesen zusammenstellt.

Dieser Aufwand ist vor allem dadurch rechtfertigt, dass die Reflexion des Autors sich heute vielen arabischen Intellektuellen als ein möglicher Ausweg aus der Aporie darstellt, in der das gesamte zeitgenössische arabische Denken seit langem gefangen ist, wenn es um die für die arabisch-muslimische Welt unvermeidliche Problematik des Verhältnisses Tradition/Moderne geht.

Was ist die „Tradition“ (turāth)?

In dem Buch Der zeitgenössische arabische Diskurs [6], das 1982 erschien und sich als eine Vorarbeit zur Kritik der arabischen Vernunft verstand, unternahm Al-Jabri eine „Bestandsaufnahme“ des modernen arabischen Denkens. Dabei wurde ihm bewusst, dass das gesamte zeitgenössische arabische Denken der Autorität der Gründungsväter, dem Mechanismus des Analogieschlusses vom Bekannten auf das Unbekannte, dem Nicht-Realismus sowie einer Funktionsweise unterliegt, in der das zu erkennende Objekt der Eventualität ausgesetzt ist, als Projektionsfläche für ideologische Figuren zu dienen.

Der aporetische Charakter des Diskurses über die arabische „Renaissance“ (nahda) ist demnach in der Tatsache begründet, dass jener immer dem Wirkungsgrad des Habitus und des Althergebrachten ausgesetzt ist, die die arabische Vernunft seit der Zeit des Niedergangs der arabisch-islamischen Kultur prägen. Zu diesen Hindernissen strukturaler Ordnung kommt die „Vassalisierung“ hinzu, die dem arabischen Bewusstsein durch den wachsenden Einfluss der Massenmedien aufgezwungen wird, die von Komplizen globaler Hegemoniebestrebungen beherrscht werden. Die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins und einer objektiven Haltung, die bereits durch ein mangelndes distanziertes Verhältnis zur Vergangenheit in Frage gestellt ist, wird dadurch noch zusätzlich behindert.

Al-Jabri richtet in seiner Arbeit bewusst den Blick auf die Schwierigkeiten, die dem arabischen Bewusstsein selbst inhärent sind, und will die theoretischen Funktionsweisen und das a priori gesetzte begriffliche Arsenal, das das Denken beherrscht, als konstituierende Größen der arabischen Vernunft hervorheben. Diese Vorgehensweise wird ihm von den spezifischen Bedingungen diktiert, die das Problem des Verhältnisses zur turāth im arabischen Denken umkreisen, einen Begriff, den wir hier immer als „Tradition“ wiedergeben wollen, auch wenn keines der Wörter, die in einer europäischen Sprache als eine Übersetzung des Begriffs turāthturāthturāthÜberschreitungturāthTurāthHandelndeBehandelte