Über Irene Dische

Irene Dische wurde in New York geboren. Heute lebt sie in Berlin und Rhinebeck. Bei Hoffmann und Campe erschienen unter anderem der Romanerfolg Großmama packt aus, der Erzählungsband Lieben, die Neuausgabe ihres gefeierten Debüts Fromme Lügen und zuletzt Veränderungen über einen Deutschen oder Ein fremdes Gefühl.

 

Die Übersetzerin

Elisabeth Plessen, 1944 geboren, debütierte 1976 mit dem Roman Mitteilung an den Adel und verfasste seitdem zahlreiche Romane und Erzählungsbände sowie die Memoiren ihres langjährigen Lebens- und Arbeitsgefährten Peter Zadek. Bekannt wurde sie auch als Übersetzerin von Theaterstücken, u.a. von William Shakespeare, Henrik Ibsen und Sarah Kane. Sie lebt abwechselnd in der Toskana und in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Gedichtband An den fernen Geliebten.

Im Land der Freien ist vieles streng geregelt, manches aber, obgleich es einfach zu steuern wäre, bleibt dem Zufall überlassen, oder wie immer man die blutige Hand nennen will, welche die Würfel wirft. Schon die Liebe macht das deutlich. Und so geschah es eines Tages: Lili traf Duke.

Ich bin’s. Jo.

 

Hier bei uns unten im Süden haben die Landstraßen keine schicken Namen wie Broadway oder Park Avenue. Sie tragen Nummern wie die Kettensträflinge, die sie gebaut haben, und sehen genauso freudlos aus. Die Landschaft ringsherum ist auch nicht groß anders. Egal ob Sommer oder Winter, sie ist grün. Grün ist die Farbe der Fruchtbarkeit, heißt es. Kann man mal drüber nachdenken, wenn man sich hier verirrt hat, wie Duke Butler damals. Er war von seiner hohen Position in New York geflohen, Richtung Süden, so weit nach unten, wie es ging, bis er schließlich in Florida, dem dicken Schwanz Amerikas, in der denkbar merkwürdigsten Klemme feststeckte.

 

Die Butlers waren schwarz und weiß, was hier keine sehr beliebte Farbkombination ist, und die weiße feine Dame trat gerne großspurig auf. Sie kauften zusammen ein normales Eigenheim an einer Landstraße, aber sie musste es aufhübschen. Während ihr schwarzer Mann Geld verdiente, beseitigte die Hausherrin den grünen Schleim auf dem Teich, ein unfassbarer Aufwand, um ihr Spiegelbild darin sehen zu können. Dann schmückte sie das Ufer mit giftigen pinken Orchideen. Dahinter setzte sie Lilien. Die Alligatoren türmten. Sie pflanzte einhundert ausgewachsene Orangenbäume. Ihr süßer Duft verbreitete sich meilenweit, und jeder wusste, woher er kam. Dann strich sie das graue Betonhaus golden an, damit es im Sonnenschein strahlte. Nach Sonnenuntergang leuchtete das Haus im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos. Und schließlich hängte sie ein schmiedeeisernes Schild mit der Aufschrift »Palace Versailles« über die Einfahrt. Es hatte den gleichen Schwung wie das Eingangsschild über Auschwitz, und reimte sich sogar mit ihm. Außer mir bemerkte das aber niemand.

Alle gratulierten ihr. Trotzdem spürte jeder die merkwürdigen Schwingungen und tuschelte hinter ihrem Rücken, der Ort sei verflucht. Bei der Nummer 1865 an der Country Road 510 mussten sie an den 10. Mai 1865 denken, an den schwarzen Tag, an dem Florida vor den Nordstaaten kapituliert hat. Diese Geschichte liegt hier in der Luft. Der Ärger begann, sagten sie, gleich mit der Ankunft von »Mr. & Mrs. Butler« in Versailles. Sie sprachen den Namen des Ortes falsch aus – »For sales« statt »Verseil«. Gleich in ihrer ersten Nacht fing auch das Sterben an, als Jugendliche aus dem Ort mit ihrem Motorrad gegen die riesige alte Eiche neben der Einfahrt knallten. Die Armen flogen durch die Luft und hingen dann wie Lametta von den Zweigen runter.

Okay, kann jeder Einfahrt passieren. Ein paar Wochen später aber, Lilis Umgestaltungen waren schon in vollem Gang, kam ein Schulbus voller Kinder ins Schlingern, krachte gegen die Eiche und fing Feuer. Der Baum brannte ab, und irgendein Schlaumeier beklagte im Lokalfernsehen den Verlust einer 500 Jahre alten Virginia-Eiche, als wäre das schlimmer als das, was einem Haufen Achtjähriger passiert war. Na ja. Das sind also unnatürlich viele Todesfälle, rechne die überfahrenen Tiere nicht mal mit. Es passte jedenfalls ins Bild, als Duke Butler verhaftet wurde und den Namen »Das Monster von Versailles« verliehen bekam.

Am Tag, als er zum Tode verurteilt wurde, explodierte das goldene Haus der Butlers, und das Sterben hörte endlich auf. Ein »FOR SALE«-Schild tauchte am Straßenrand auf und blieb dort stehen, bis es verrottet war. Aus der Country Road 510 wurde wieder eine langweilige Strecke Teer.

Natürlich wollte niemand, der bei Verstand war, dort wohnen oder auch nur etwas bauen. Es vergingen fünf Jahre. Duke lebte im Todestrakt vor sich hin. Nichts Besonders dabei, in Florida leben dort Hunderte. 2005 kaufte ich Mrs. Butler das überwucherte Grundstück ab – ein Schnäppchen – und schaffte mir einen schönen neuen Wohnwagen an. Das »Palace Versailles«-Schild war verrostet; ein paarmal mit dem Besen draufgehauen, und es fiel runter und wurde von den Sträuchern am Straßenrand verschluckt. Die Natur gibt nichts auf schicke Dinge – Mäuse und Kaninchen hatten die Blumenstauden aufgefressen, die Alligatoren eroberten das Seeufer zurück, und der Boden verschlang die Orangen. Von dem Blockhaus war nichts mehr übrig, von den schlechten Schwingungen auch nicht. Bei mir hätten die eh keine Chance.

Soll ich mich jetzt vorstellen? Mein richtiger Name ist Jutta, Jutta Bolin. Für mein Alter sehe ich phantastisch aus. Ich bin blond, Single, Raucherin und verstehe was von engen Jeans. Mit Cowboystiefeln. Manchmal hört jemand meinen leichten Akzent und fragt, wer ich »wirklich« sei. Wenn ich nicht sage »Verpiss dich«, sage ich: »Griechin.« Eine Notlüge. Bei Deutschen gehen die Leute immer vom Schlimmsten aus.

Tatsache ist, seit ich Alkohol trinken darf, lebe ich auf ein paar wenigen Quadratmeilen im Süden. Hier nennt man mich »JO«, mit einem großen O bitte, oder »Mom«. Hier habe ich Buchhaltung gelernt und auf Gott zu vertrauen – statt auf die Regierung. Hier muss man sich das Glück nur greifen, kostenlos. Alles, was man dafür tun muss, ist »loslassen«. Das ist die Kurzform von »loslassen und auf Gott vertrauen«. Die Leute wissen, dass das ein guter Deal ist, und die meisten sind mit ihrem Schicksal zufrieden. Sie machen das Beste daraus.

Ein Beispiel. Mein Pastor, Pastor Mark Smith, war früher Lastwagenfahrer. Als seine Frau im dritten Monat war, sagte ihr der Arzt, dass das Baby einen genetischen Defekt habe – es werde fünfmal so groß wie normal, aber ohne Gehirn. Wenn sie es nicht abtreiben lasse, werde es sie in Stücke reißen und trotzdem tot auf die Welt kommen. Aber die Smiths wollten keinen Mord an ungeborenem Leben begehen. Sie beteten Tag und Nacht zu Gott, er möge die Ärzte Lügen strafen. Das Baby wuchs und wuchs, und sein Kopf blieb so klein wie ein Smartie. Sie beteten einfach weiter. Man sagte ihnen, es sei ein Junge, und sie waren zuversichtlich. Bei der Geburt riss er Mrs. Smith in Stücke. Ihr Mann begrub das zwanzig Pfund schwere, hirnlose Baby hinter dem Haus, unter einer Gedenktafel, auf der »Unser Engel« stand, während die Mutter im Krankenhaus heilte. Als sie die sechsstellige Krankenhausrechnung nicht bezahlen konnten und ihr Auto und ihr Haus »verloren«, ließen die Smiths trotzdem nicht den Kopf hängen. Sie nahmen an, dass der Herr sich schon was dabei gedacht hatte. Sie sagten »Danke, Jesus!«, zogen in ein Obdachlosenheim und gingen jeden Tag zur Kirche, um sich noch mehr bei Jesus zu bedanken.

Bald darauf ließ Mark das Lastwagenfahren sein, besorgte sich per Post ein Predigerdiplom und machte seine eigene Kirche auf. Jetzt hat er einen Haufen Geld, ein abbezahltes Eigenheim, einen weißen Cadillac und einen Monster-Truck. Glaubt mir: Es tut gut, wenn man alles akzeptiert, was einem passiert. Duke Butler merkte das auch irgendwann und gab den Kampf auf. Versucht es mal, sagt einfach mal »Ich bin glücklich«, ganz egal, was grade passiert. Dein Leben wird sich enorm verbessern.

 

Zurück zu mir – ich bin hart im Nehmen. Katastrophen machen einen Bogen um mich. Wenn überhaupt, dann versuchen sie, mir einen Gefallen zu tun. So wie der große, böse Wirbelsturm, der mir letzten Monat ein Geschenk vor die Tür gelegt hat. Das war einer dieser trockenen Twister, die auf einen Sprung vorbeikommen, wenn der Sturm in der Ferne vorübergezogen ist und man nicht mehr mit ihm rechnet. Schlich sich in der Nacht an und weckte weder mich noch meinen Hund. Erst am nächsten Morgen, als ich mir auf der Veranda die erste Zigarette anzünden wollte, packte mich die Angst. Das Streichholz brannte ganz herunter und sengte meinen Daumen an. Der komplette Orangenhain war verschwunden, puff!, und der Boden war mit etwas bedeckt, das wie eine hübsche Schneewehe aussah. Mein Hirn sprach zu mir: hey, wir sind nicht mehr in Berlin, kleine Jo, dafür ist es zu heiß, über dreißig Grad, es muss etwas anderes sein.

Ich zündete meine Zigarette an. Die weiße Decke kräuselte sich leicht. Es war Papier. Massen davon. Wären es Dollarscheine gewesen, dann wäre ich jetzt schon reich. Die Blätter waren nummeriert, genau wie Dollarscheine, und weil ich dachte, dass sie wertvoll sein könnten, sammelte ich sie ein. Ich sollte erwähnen, dass ich auch einen rostigen alten Safe gefunden habe; die Tür war abgebrochen und lag ein paar Meter daneben. Den habe ich auch aufgehoben, könnte ja sein, dass jemand den kaufen will. Ansonsten schicke ich ihn Duke Butler ins Gefängnis, als kleinen Scherz.

Während ich darauf wartete, dass der Kaffee kochte, sortierte ich die Blätter. Ja, ich bin sehr ordentlich. Als ich fertig war, war der Kaffee kalt. Ich weckte meinen alten Pitbull, Ulysses, benannt nach meinem ersten Ehemann, gab ihm sein Frühstück, nahm den Kaffee, den Papierstapel und eine Schachtel Newport und machte es mir auf der Holzschaukel gemütlich. Schaukelte ein bisschen. Rauchte ein bisschen. Streichelte den Hund. Fühlte mich sehr wohl. Nahm mir schließlich die Papiere vor. Und gleich auf der ersten Seite ging es um mich.

Die Blätter waren von Lili Butler vollgeschrieben, in einfacher Blockschrift, die Buchstaben nach rechts gebeugt, als ob sie es eilig hätten. Sie hatte über Jahre ein Tagebuch über ihre Ehe geführt, die sie gleich auf der ersten Seite als »wunderbarste und schönste Beziehung seit Pocahontas und John Smith« beschrieb. »Das Schreiben über einen selbst ist wie der Blick in einen Spiegel. Eine Pose. Der Spiegel soll lügen.« Das verstehe ich sehr gut. Man fixiert sein Gesicht, neigt sich etwas zurück, damit die Backen nicht hängen, lächelt mit dem halben Mund, damit der braune Backenzahn nicht sichtbar ist. Und man ist blöde genug, dem Spiegel zu glauben. Aber Lili Butler wollte wieder mal eine Ausnahme sein. Ihr Tagebuch sollte nur die Wahrheit beinhalten. »Keine Posen. Keine Lügen. Ich will Duke und mich so sehen, wie wir wirklich sind.« Die Wahrheit schloss sie in einen Safe. Als ihr Haus in die Luft flog, nahm sie an, dass die Wahrheit auch verbrannt war. Aber da hat sie sich gründlich getäuscht.

Lili hat einen Hochschulabschluss, aber dumm ist sie trotzdem. Jeder, der einen Krieg erlebt hat, wie ich als Kind in Deutschland, weiß, dass bei einer Explosion manchmal alles verbrennt und manchmal nicht. Meine Theorie geht so: Als das goldene Haus der Butlers vor zehn Jahren explodierte, wurde der Safe hinauskatapultiert, bevor ihn die Flammen erfassen konnten, und dann machte das Haus einen Kopfstand. Begrub den Safe unter sich. Niemand kam auf die Idee, die Trümmer wegzuräumen, und die wilde Natur zog wieder ein. Der Tornado von letzter Woche hat alle Sträucher und Bäume weggefegt. Er hat den rostigen Safe ausgegraben und geknackt und seinen Inhalt in die Lüfte gewirbelt. Und dann habe ich diese Blätter auf meinem Stück Land gefunden. Deswegen gehören sie jetzt mir.

 

Einen Tag später schickte mir Jesus eine »Autorin« aus New York. Ich darf euch jetzt Tilda Johnson vorstellen. Sie ist halb so groß wie ich, sie trägt langweiliges Schwarz, einen Dutt und kein Make-up. Sie wird nicht gerne beobachtet, sie beobachtet lieber. Mein Pitbull hat dafür einen sechsten Sinn – als sie bei mir anklopfte, knirschte er nicht mit den Zähnen, sondern wedelte mit dem Schwanz.

Sie sagte mir ihren Namen und bat um Erlaubnis, »das ehemalige Grundstück der Butlers zu betreten«.

Ich sagte ihr, »nur zu, Miss Tilda. Ich sage schon mal den Alligatoren und den Wasserschlangen Bescheid, dass es gleich etwas Leckeres zu essen gibt. Sie sehen zwar mager aus, aber das ist ja besser als nichts.«

Darüber dachte sie kurz nach und sagte dann: »Sie haben es sich ja wunderschön eingerichtet! Ob ich vielleicht kurz eintreten dürfte?«

Es stellte sich heraus, dass sie gerade Material über die Butlers sammelte. Sie will eine authentische Fernsehserie über Duke und Lili schreiben, »eine Liebesgeschichte zwischen einem Monster und einer Heiligen«. Sie setzte sich an meinen Esstisch. Ein kaltes Bier wollte sie nicht, lieber »eine Flasche Wasser«, aber aus der Leitung wäre auch okay. Dann fiel ihr Blick auf den Stapel Papier auf dem Tisch. »Was ist denn das?« Was für eine Überraschung! Jemand wie ich liest auch noch! Sie wurde wirklich sehr neugierig, deswegen habe ich ihr meinen Schatz kurz gezeigt.

Sie las ein paar Zeilen und fragte dann, ob sie vielleicht die gesamten Aufzeichnungen lesen könne, gleich hier und jetzt, sie würde mich auch nicht stören. Sie raucht nämlich nicht, sondern kaut nur Kaugummi. Sie nahm den Stapel mit auf die Veranda und saß dann einfach da. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand so schnell liest. Wie eine Lesemaschine. Am nächsten Tag kam sie wieder. Sie wohnte im Versailles Motor Court und hatte einen Mietwagen mit Navigationssystem. Zwischendurch kam sie rein, ging aufs Klo und trank noch etwas Leitungswasser. Wenn ich rauchte, hustete sie, um zu zeigen, dass mein Rauchen sie stört, aber weil ihr Husten mich nicht störte, rauchte ich weiter. Dann las sie weiter. Am Ende seufzte sie wie jemand, der gerade einen ganzen Teller mit wirklich guten Nudeln restlos aufgegessen hatte.

Sie kam wieder rein und fing an, viele Fragen zu stellen. Meine Antworten schrieb sie auf. So wie sie hat sich noch niemand für mich interessiert. Die meisten Leute lenken das Thema auf sich, wenn man von seinem Leben erzählt, aber sie saß nur still da und hörte zu. So merkte ich gar nicht, dass ich ihr mehr als jedem anderen Menschen erzählte. Zufällig weiß ich nämlich sehr viel über Duke Butler. Sogar mehr als er selbst. Ich bin nämlich seine Mutter.

Nur einmal hat mich Miss Tilda kurz genervt, als sie wissen wollte, ob ich an diesen Ort gezogen sei, um Duke wieder nahe zu sein. »Was ist denn das für eine kranke Scheißidee?«, antwortete ich. Sie erwähnte das Thema dann nie wieder. Aber vielleicht hatte sie recht. Sie sagte auch, dass meine »Enthüllungen« und Lilis Tagebuch ihm vielleicht etwas Trost spenden können. Hoffentlich hat sie damit auch recht. Jedenfalls versprach sie mir, dass ich die Hälfte der Einnahmen kriege, weil ich ja schließlich das Tagebuch gefunden habe. Da seht Ihr, dass Jesus tatsächlich wenigstens eines meiner Gebete erhört hat. Danke, Jesus, endlich werde ich reich.

Dukes Leben begann mit meinem Leben. Seine Geschichte ist also ganz und gar »meine«. Der Rest dazwischen ist schwer zu glauben, aber wahr.

NORDEN