image

Axel T. Paul | Benjamin Schwalb (Hg.)

Gewaltmassen

Über Eigendynamik und
Selbstorganisation kollektiver Gewalt

image

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition

© 2015 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Axel T. Paul | Benjamin Schwalb

Vorwort

Axel T. Paul

Masse und Gewalt

IEMERGENZ

Jack Katz

Epiphanie der Unsichtbarkeit
Wendepunkte bei Unruhen: Los Angeles 1992

Paul Dumouchel

Massengewalt und konstitutive Gewalt

Richard K. Moule Jr. | Scott H. Decker | David C. Pyrooz

Kollektive Gewalt, Gangs und das Internet

Thomas Klatetzki

»Hang ’em high«
Der Lynchmob als temporäre Organisation

IIDYNAMIK

Stephen Reicher

»Tanz in den Flammen«
Das Handeln der Menge und der Quell ihrer Freude

Randall Collins

Vorwärtspaniken und die Dynamik von Massengewalt

Ferdinand Sutterlüty

Kollektive Gewalt und urbane Riots
Was erklärt die Situation?

Paul Richards

Der Aufstand als Performance
Ein anthropologischer Blick auf die Premiere von Le Sacre du printemps

IIIINSTITUTIONALISIERUNGEN

Anthony King

Der Massenangriff
Infanterietaktiken im 20. Jahrhundert

Felix Schnell

Von dörflicher Selbsthilfe zur paramilitärischen Miliz
Spontane Vergemeinschaftung durch Gewalt im Russischen Bürgerkrieg (1918)

Bernd Greiner

Der »überflüssige Soldat«
Zur Genese und Praxis militärischer Gewaltgruppen am Beispiel des amerikanischen Krieges in Vietnam

Donatella della Porta

Klandestine politische Gewalt

Benjamin Schwalb | Axel T. Paul

Nicht-organisierte kollektive Gewalt

Autoreninformationen

Zu den Herausgebern

Axel T. Paul | Benjamin Schwalb

Vorwort

Beginnen wir mit einem Beispiel:

Der ruandische Genozid wäre ohne zentrale Befehlsstrukturen nicht möglich gewesen. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Völkermord, wenn vielleicht auch nicht von der Staatsspitze selbst, so doch von radikalen Amtsinhabern und Militärs der zweiten Reihe vorbereitet und schließlich in Gang gesetzt worden ist. Nichtsdestotrotz kann und darf diese Organisiertheit des Genozids nicht darüber hinwegtäuschen, dass die staatlichen und militärischen Strukturen sich im Frühjahr 1994 unter Druck, wenn nicht in Auflösung befanden, sodass der »Erfolg« der Vernichtung der Tutsi wesentlich von der Beteiligung der Zivilbevölkerung abhing. Tatsächlich wurden die meisten Tutsi (und weitere Regimegegner) Opfer nicht-organisierter Gewaltmassen. Die Massenhaftigkeit, und zwar nicht allein die Anzahl der in kurzer Zeit Getöteten, sondern ebenso die massive Verstrickung der Zivilbevölkerung in das Morden, zählt zu den besonderen und besonders verstörenden Merkmalen des ruandischen Genozids.

Im Fall des ruandischen Genozids haben wir es mithin mit einem zwar feststellbaren, bisher aber – den wegweisenden Studien von Jacques Sémelin, Scott Straus und Lee Ann Fujii zum Trotz1 – noch nicht zufriedenstellend erklärten Umschlag von organisiertem Terror in kollektiv verübte, spontane Grausamkeit zu tun, für welchen allem Anschein nach über die »bloße« Anstiftung zum Morden hinaus die Dynamik innerhalb des Täterkollektivs selbst ein entscheidender Umstand gewesen sein dürfte. Andere, im Hinblick zwar nicht auf das Ausmaß, aber, wie wir meinen, auf die Dynamik nicht-organisierter kollektiver Gewalt vergleichbare Beispiele wären die Jugendunruhen in England und Frankreich aus dem Jahre 2011, der Volksaufstand desselben Jahres und die nachfolgenden Massendemonstrationen in Ägypten, die Ereignisse auf dem Kiewer Majdan im Dezember 2013 oder auch die regelmäßigen Ausschreitungen rechtsradikaler Gruppen gegen Ausländer in fast allen Staaten Europas.

Derartigen gruppendynamischen, »massenpsychologischen« Vorgängen nachzugehen und aufzuklären, was – beispielsweise und im Extremfall – die Verwandlung von harmlosen Zivilisten in blutrünstige Mörder erklären kann; zu ergründen, ob und, wenn ja, in welcher Weise spezifisch kollektive, »massenhafte« Konversionserlebnisse Gewaltverläufe initiieren; welche gruppenbedingten Erfahrungen Gewalt zu einer »sinnvollen« – das heißt als sinnvoll erlebten –, selbstverständlichen oder gar attraktiven Handlungsoption machen; wie sich kollektive Gewaltroutinen einspielen; und schließlich, zu untersuchen, ob es typische (Verlaufs-)Formen von aus Gruppen heraus verübter Gewalt gibt, sind die Probleme, denen in diesem Sammelband nachgegangen wird.2

Es ist selbstverständlich möglich und je nach Erkenntnisinteresse nachgerade angezeigt, die genannten (oder noch andere, unschwer zu findende) Fälle von kollektiver, zumeist einseitiger oder wenigstens asymmetrischer Gewalt diesseits der Schwelle zu militärischen Konflikten politisch, das heißt als Auseinandersetzungen zu deuten, in denen gesellschaftliche Gruppen um Mitsprache, Anerkennung, Selbstbestimmung und Lebenschancen ringen. Charles Tilly zum Beispiel interpretiert kollektive Gewalt, deren diverse Spielarten von der Schlägerei rivalisierender Banden bis hin zum Völkermord, als Varianten eines grundlegenden, im weitesten Sinne politischen Kräfteringens.3 Alternativ, im Hinblick auf die Generalität der Erklärung dennoch vergleichbar, werden Phänomene kollektiver Gewalt von Autoren wie Michel Wieviorka oder Arjun Appadurai als Ausdruck einer durch die Globalisierung bedingten Verunsicherung von Identitäten beschrieben.4 Mithin würde es weitaus mehr ethnische Konflikte als die nur so bezeichneten geben. Diese wären nicht nur bloß die Fassade von politischen Macht- und wirtschaftlichen Verteilungskämpfen, sondern Ausdruck einer tatsächlichen sozialen wie geografischen »Entortung« substaatlicher wie transnationaler Gruppen. Dass viele »Sozial«-Ökonomen und hart gesottene Rational-Choice-Theoretiker auch kollektive Gewalt nicht mit kollektiven, sondern mit individuellen Interessen, dem Kosten-Nutzen-Kalkül Einzelner, ihren Ressourcen und Handlungsalternativen sowie der Aggregation dieser Faktoren zu einer Art Gleichgewicht erklären, versteht sich.5

Möglichkeit und Triftigkeit derartiger Analysen sind nicht in Abrede zu stellen. Allerdings weichen politische, kulturalistische, wirtschaftliche oder sonstwie strukturalistische Erklärungen nicht bloß massenhafter Gewalt häufig der Frage aus, wie die Gewalt konkret entsteht, unter welchen Umständen sie ausbricht (und wann nicht), wie sie abläuft, welche Formen sie annimmt, ob und, wenn ja, wie »sie sich« organisiert. Wären allein strukturelle Ursachen für kollektive Gewaltausbrüche verantwortlich, wären sie noch viel weiter verbreitet. Tatsächlich aber folgt auch kollektive Gewalt ihren – vermeintlichen – Ursachen nicht auf dem Fuße.6 Es bedarf vielmehr der Wahrnehmung und Artikulation von Missständen, einer, wenn auch nicht notwendigerweise mehrheitsfähigen, so doch kollektiv verbreiteten Interpretation der Verhältnisse als unzumutbar, wie auch immer begründeter Aussichten auf ihre Änderbarkeit und schließlich eines koordinierten Handelns oder zumindest des Gewährenlassens einer zur Tat bereiten Minderheit, um strukturelle Spannungen in Gewalt zu übersetzen. Auf der anderen Seite scheint auch kollektive Gewalt zuweilen ohne »höhere« Ziele auszukommen, bricht sie wie aus dem Nichts hervor, schlägt sie immer wieder »über die Stränge« und folgt offenbar einer eigenen, den – vermeintlichen – Zielen der gewaltsamen Aktion inkommensurablen Logik.7 Der »Ätiologie« gewaltsamer Konflikte ist darum stets eine Phänomenologie derselben beizugesellen, Warum-Fragen sind Wie-Fragen voranzustellen, weil aus Kontexten und/oder Motivlagen (sofern Letztere sich überhaupt ermitteln lassen) nicht bruchlos abgeleitet werden kann, dass es (zum Beispiel) zu einer Gewalttat kommt, noch und erst recht nicht, wer sie mit welchen Mitteln in welcher Form verübt. Genau dies war und ist von den sogenannten Innovateuren der Gewaltforschung zu lernen, auch wenn diese mitunter zu weit gehen und neben einer dichten Beschreibung der Gewalt deren Erklärung kaum noch für nötig halten.8 Ohne die Theorie der Gewalt grundsätzlich von der Beantwortung von Kausalitätsfragen freizusprechen, halten wir die vorgängige Fokussierung und Analyse des Gewaltgeschehens für eine Notwendigkeit.

Thema – Gegenstand so gut wie Frage – des vorliegenden Bandes sind »Gewaltmassen« und ihre Aktion oder allgemeiner und unverfänglicher: die Selbstorganisation und Eigendynamik kollektiver Gewalt. Unter Gewaltmassen verstehen wir nicht-organisierte, darum jedoch nicht unbedingt unstrukturierte Kollektive kopräsenter Akteure, die gemeinschaftlich, deswegen jedoch nicht planvoll, physische Gewalt gegenüber Dritten ausüben. Entscheidend ist dabei nicht die Größe der Kollektive, sondern ihre Fähigkeit zu koordiniertem gewaltsamen Handeln. Die »lose Koppelung« ihrer »Mitglieder« und das Fehlen von eingeübten Gewalt(präventions)programmen unterscheidet Gewaltmassen von formalen Gewaltorganisationen wie dem Militär oder der Polizei, deren eigentliche Aufgabe jenseits der Abschreckung von Feinden und Kriminellen die kontrollierte und das heißt koordinierte und zielgerichtete Anwendung von Gewalt ist. Diese Unterscheidung impliziert selbstverständlich nicht, dass militärische Verbände nicht auch Gewaltmassen einschließen oder sich in Gewaltmassen verwandeln können.9

Weiterhin ist wichtig, Gewaltmassen, das heißt einen besonderen Akteur von Gewalt, nicht mit Massengewalt, das heißt einem besonderen Typ von Gewalt, gleichzusetzen, auch wenn jene diese sehr wohl auszuüben vermögen. Die Massaker des ruandischen Genozids wären auch dafür ein Beispiel. Massengewalt jedoch setzt nicht zwingend Gewaltmassen voraus; auch die Bombardierung von Städten oder die bürokratisch geplante Vernichtung von sogenannten »Volksfeinden« stellt Massengewalt dar. Massengewalt bezeichnet unserem Verständnis nach die wie auch immer ins Werk gesetzte, oft, aber nicht notwendigerweise staatlich angeordnete Verletzung oder Tötung von staatlich und/oder militärisch wehrlosen Opferkollektiven. Der Begriff Massengewalt impliziert eine Vielzahl von Opfern, auch wenn Massengewalt in aller Regel kollektiv verübt werden muss. Der Begriff Gewaltmasse hingegen meint ein besonderes Täterkollektiv, auch wenn die Gewalt in der Regel mehr als nur ein einzelnes Opfer trifft, und indiziert zugleich, dass die gewalttätige Gruppe sich außerhalb formaler Strukturen bewegt oder zumindest über diese hinwegsetzt.

Wir schließen mit der Wahl des Begriffs Gewaltmassen bewusst an eine in der Geschichte der Soziologie und allgemeiner der Sozialtheorie weitgehend abgebrochene Tradition an.10 Zwar gibt es nachvollziehbare Gründe dafür, dass die Massenpsychologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keine Fortsetzung gefunden hat: Zunächst einmal war der Begriff der Masse bei Sighele, Tarde oder Le Bon, aber auch bei marxistischen Theoretikern wie Sorel nicht nur eine analytische Kategorie, sondern immer auch ein politischer Kampfbegriff und entsprechend negativ oder positiv konnotiert. Auch die freilich längst nicht von allen Masse-Theoretikern geteilte, in der öffentlichen Diskussion gleichwohl dominante Behauptung eines grundsätzlich dumpfen und destruktiven Wesens der Masse trug zur Diskreditierung des Begriffs bei. Im Hinblick auf die tatsächlich destruktiven totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts diente der Verweis auf ihre Massenhaftigkeit vielen (zumal deutschen) Beobachtern dann allerdings der Entschuldigung der »lediglich« totalitären Demagogen zum Opfer gefallener »Völker«.

In den USA kam es gegenüber dem europäischen Diskurs und den europäischen Verhältnissen zum einen zu einer Verschiebung oder Übersetzung der Massenpsychologie in Theorien kollektiven Verhaltens, zum anderen (prominent etwa bei Riesman) zur Substitution des klassischen auf Präsenzmassen gemünzten Massenbegriffs durch einen offenbar zeitgemäßeren statistischen Massenbegriff.11 Die Theorien kollektiven Verhaltens rationalisierten die Masse, indem sie einerseits mehr und mehr das rationale Individuum zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Analysen auch und gerade nicht-organisierten kollektiven Verhaltens machten und andererseits das politisch-reformatorische Potenzial von sozialen Bewegungen herausstrichen.12 Beerbt wird dieser Forschungsstrang heute vor allem von der politischen Bewegungsforschung und der Untersuchung von (nur schwer ins Deutsche zu übersetzenden) contentious politics.13 Auch wenn für Tilly als herausragendem Vertreter des letztgenannten Ansatzes die Formen kollektiver Gewalt durchaus eine wichtige Rolle spielen und er diese weder auf Ideologie noch auf bestimmte Verhaltensdispositive zurückführt, sondern vielmehr relational aus der konkreten Interaktion der Akteure herleitet,14 gilt selbst für ihn und erst recht für das breite Feld der politischen Bewegungsforschung insgesamt, dass die (kollektive) Gewalt, insbesondere ihre Selbstorganisation und Eigendynamik, alternativen Protestformen sowie den politischen Intentionen der Akteure gegenüber eine nur nachrangige Beachtung findet. Eben die nicht-organisierte kollektive Gewalt soll jedoch im Zentrum unseres Bandes stehen.

Mit dem Begriff der Gewaltmasse an die klassische Massenpsychologie zu erinnern, soll selbstverständlich nicht heißen, hinter die Einsichten und Warnschilder der späteren Forschung zurückzufallen, wohl aber nach einer möglicherweise qualitativ spezifischen Gewalt von nicht-organisierten Kollektiven zu fragen und diese Kollektive methodologisch nicht a priori als Aggregationen von rationalen und »fertigen« Individuen zu begreifen, sondern vielmehr die Möglichkeit der Rückwirkung der Gewalt auf die Täter, die Möglichkeit einer nicht bloß kognitiven, sondern auch emotionalen Rekonstitution der (Gewalt-)Akteure in der Gruppe, vielleicht sogar so etwas wie die Emergenz einer Gewaltmasse in Rechnung zu stellen. Auch wenn wir die Frage offenlassen, ob Gewaltmassen einer Gruppe, einem Netzwerk oder einer Organisation vergleichbar einen sozialen Aggregattyp eigenen Rechts, eine soziale Form sui generis darstellen – und erst recht nicht unterstellen, dass Massen, »wenn es sie gibt«, notwendigerweise gewalttätig sind –, fragen die Beiträge dieses Bandes danach, aufgrund welcher Vorbedingungen sich Gewaltmassen in dem von uns bezeichneten Sinne bilden, ob und wie sie typischerweise strukturiert sind, wie das Verhältnis von Individuum und Gewaltmasse oder die »Mitgliedschaft« sich gestaltet und schließlich danach, ob und, wenn ja, warum von Gewaltmassen verübte Gewalt bestimmten Verlaufsformen folgt. Gefragt wird mithin nach der »Logik« der Situation, danach, was während des Geschehens selbst, in – beziehungsweise, insofern die handelnden Kollektive ihrerseits anderen, unter Umständen kollektiven Akteuren gegenüberstehen, mit – der Tätergruppe geschieht.

Mit der Fokussierung von nicht-organisierter kollektiver Gewalt erheben wir keineswegs den Anspruch, ein gänzlich unbestelltes Feld zu erschließen. Vielmehr finden sich über die Disziplinen verstreut sehr wohl diverse Ansätze zur Aufklärung der Situationsdynamik und Eigenlogik von nicht-organisierten Täterkollektiven.15 Die Autoren, die wir für dieses Buchprojekt gewinnen konnten, vertreten die Disziplinen Soziologie, Geschichte, Psychologie, Politikwissenschaft, Ethnologie und Philosophie und sind allesamt als Experten für Probleme der uns interessierenden Form(en) nicht-organisierter kollektiver Gewalt ausgewiesen. Um wenn auch (noch) keine Theorie derselben zu schreiben, so doch Elemente zu einer solchen zusammenzutragen, haben wir sie aufgefordert, unabhängig sowohl vom konkreten Gegenstand wie von den konzeptionellen und methodischen Grundlagen ihrer Beiträge, folgende allgemeine und grundlegende Fragen zu erwägen und möglichst zu beantworten:

1.Welche Typen von kollektiver Gewalt können oder müssen theoretisch unterschieden werden? (Worin) Unterscheiden sich Gewaltmassen von Gewaltorganisationen? Bedarf es einer spezifischen Theorie der Gewaltmasse?

2.Ist das Handeln in Gewaltmassen beziehungsweise ist nicht-organisierte kollektive Gewalt besonders emotional geprägt?

3.Welche situativen Bedingungen sind notwendig beziehungsweise hinreichend, um nicht-organisierte kollektive Gewalt zu erklären? (Wie) Lässt sich die unterschiedliche Beteiligungsrate der »Mitglieder« eines nicht-organisierten Kollektivs an Gewalt verstehen?

4.Welche Mechanismen erklären die Verstetigung, Eskalation oder den Abbruch des Handelns von Gewaltmassen? Welche Rolle spielen Zuschauer (in und außerhalb der Masse) für diese Prozesse?

5.Verändert die kollektiv verübte Gewalt die Angehörigen des Täterkollektivs? Welche Rückwirkungen des Tuns auf die Täter lassen sich feststellen?

Die Gliederung unseres Bandes orientiert sich an drei Phasen oder Stufen des Gewaltgeschehens, die eine spätere vereinheitlichte Theorie nicht-organisierter kollektiver Gewalt wenigstens in Rechnung zu stellen hätte. Im Einzelnen sind dies Emergenz (Teil I), Dynamik (Teil II) und Institutionalisierungen (Teil III).

Der erste Teil, Emergenz, versammelt Beiträge, die sich mit den Entstehungsbedingungen und der Entstehung von nicht-organisierter kollektiver Gewalt befassen. Sie zeigen, dass sich die Konstitution von Gewaltmassen nicht aus Umständen oder Plänen ableiten lässt, sondern von Gelegenheitsstrukturen abhängt, die ihrerseits durch unvorhersehbare Ereignisse aktiviert werden müssen. Den Auftakt bildet eine nicht zuletzt auf eigenen Beobachtungen fußende Prozessanalyse der Rodney-King-Riots 1992 in Los Angeles des Soziologen Jack Katz. Dieser zeigt, wie der Protest gegen den Freispruch der Polizisten, die den flüchtigen Verkehrssünder King gestellt und niedergeknüppelt hatten, zunächst von linksradikalen Aktivisten instrumentalisiert wurde, sich dann aber in eine weitgehende Auflösung der sozialen Ordnung fortsetzte, die mit dem Anlass der Ereignisse nichts mehr gemein hatte, sondern Katz zufolge vielmehr den Auf- oder Vorschein eines »anarchischen Jenseits« darstellte. Es folgt ein sozialontologischer Text des Philosophen Paul Dumouchel. Ausgehend von der These René Girards, dass die Bewältigung kollektiver Gewalt mit der Geburt der menschlichen Kultur zusammenfällt, ergründet er, warum zeitgenössischen Gewaltmassen – wie etwa den von Katz beschriebenen – dieses konstitutive, »kreative« Moment fehlt. Der anschließende Beitrag der Kriminologen Richard Moule, Scott Decker und David Pyrooz springt »zurück« in die Gegenwart der US-amerikanischen Gangwelt und zeigt auf, wie sehr gewaltgenerierende Gruppenprozesse, insbesondere Rivalitäten und Racheakte, mittlerweile vom Gebrauch moderner elektronischer Kommunikationsmedien bestimmt werden. Das Ende des ersten Teils bildet ein Beitrag des Organisationssoziologen und -psychologen Thomas Klatetzki. Er behandelt eine der Rache verwandten Form des vigilanten Strafens, nämlich das Lynchen. Sein Vorschlag, die spontane Ordnungsbildung des Lynchmobs zu erklären, lautet, sie über kulturübergreifend geteilte kognitive Skripte der Beteiligten zu entschlüsseln, die angesichts von Verbrechen aktiviert werden, welche die moralische Integrität der Eigengruppe bedrohen und die zu ahnden staatliche Instanzen zu schwach sind. Gegenstück dieser Schwäche oder gar des Fehlens eines wenn nicht neutralen, so doch moderierenden Dritten ist regelmäßig der Gewaltexzess des lynchenden Mobs.

Damit leitet der Beitrag über zum zweiten Teil: Dynamik. Im Zentrum steht hier die Frage, wie nicht-organisierte kollektive Gewalt sich situativ entfaltet, wie sie plötzlich oder zumindest ungeplant hervorbricht, wie sie gegebenenfalls die ursprünglichen Intentionen der Akteure durchkreuzt, wie Hemmungen und Schranken fallen, aber auch wie Gewalt rituell gezähmt werden kann. Der erste Text dieses Abschnitts stammt von dem (Sozial-)Psychologen Stephen Reicher, dessen gemeinsam mit Kollegen entwickeltes »Elaborated Social Identity Model« zwar die Fragestellung, nicht aber die Erklärungen der klassischen Massenpsychologie beerbt. Das gemeinsame Handeln, Denken und Fühlen in Massen wird ihm zufolge durch eine situativ geteilte soziale Identität ermöglicht, die sich im Zuge von insbesondere konflikthaften Intergruppenprozessen dynamisch ändern und unter bestimmten Voraussetzungen gewaltförmigem Handeln den Weg bereiten kann. Gewalttätiges Massenhandeln ist für Reicher nicht Ausdruck einer irrationalen Massenseele, sondern vielmehr Anzeichen einer bewussten und als solche euphorisierenden Wieder-in-Regie-Nahme der eigenen Geschicke. Der anschließende soziologische Beitrag von Randall Collins argumentiert hingegen auf Basis des Befundes, dass die emotionale Anspannung und existenzielle Angst der physischen Gewaltausübung und erst recht der Tötung anderer zunächst entgegenstehen. Damit es gleichwohl zu einer ersten, für den weiteren Verlauf des Geschehens entscheidenden Gewaltepisode kommt, muss die Gewalthemmung durch bestimmte situative Arrangements überwunden werden. Der Text analysiert ein solches Arrangement: die für Gewaltmassen typische »Vorwärtspanik«. Nicht grundsätzlich gegen den Wert situationsbezogener Gewaltanalysen beispielsweise und insbesondere Collins’scher Manier, wohl aber gegen ihre Überdehnung argumentiert Ferdinand Sutterlüty. Am Beispiel der Jugendaufstände in Paris 2005 und London 2011 warnt der Soziologe davor, die (sub-)kulturellen Deutungsmuster, die kollektives Gewalthandeln motivational ermöglichen und legitimieren, aus dem Blick zu verlieren und damit als sinnlose Gewalt misszuverstehen. Den letzten Beitrag des zweitens Teils bildet eine Studie des Ethnologen Pauls Richards zur (Vorgeschichte der) Uraufführung von Stravinskys Le Sacre du printemps 1903 in Paris. Aus einer neodurkheimianischen ritualtheoretischen Perspektive wird aufgezeigt, dass sowohl das »Vorspiel« und der Ausbruch von nicht-organisierter kollektiver Gewalt als auch und insbesondere deren »musikalische« Überwindung aus der Störung und dem Wiederfinden gemeinsamer Wahrnehmungsmuster gedeutet werden kann. Soziale Koordination, so Richards, ist eine ebenso »aisthetische« wie kognitiv-normative Leistung.

Der dritte Teil des Bandes befasst sich mit diversen Institutionalisierungen – zunächst – nicht-organisierten kollektiven Gewalthandelns. Denn auch wenn die Aktionen von Gewaltmassen ungeplant entstehen und Wendungen nehmen, die nicht vorhersehbar sind, gibt es Pfadabhängigkeiten und, wie immer, wenn Situationen sich wiederholen, Ansätze zur Routinisierung von Gewalt. Zudem kann nicht-organisiertem kollektiven Gewalthandeln innerhalb von Organisationen durchaus Platz eingeräumt werden. Eine Illustration dessen liefert der Beitrag des Militärsoziologen Anthony King. Er zeigt am Beispiel des Bajonettangriffs, einer typischen »Massentaktik« westeuropäischer Armeen des frühen 20. Jahrhunderts, dass Gewaltmassen gezielt in den Dienst organisatorischer Zwecke gestellt werden können. Der gemeinsame Bajonettangriff stiftet ein hohes Maß an Solidarität, weil er die Soldaten voneinander abhängig und den Einsatz jedes Einzelnen für die anderen leicht nachprüfbar macht – und löst dadurch das organisatorische Problem mangelnder Einsatzbereitschaft auf dem Schlachtfeld. Die Wahrscheinlichkeit, dass nicht-organisierte Gruppengewalt zur Regel wird, steigt indes, sofern die üblicherweise, nicht nur, aber insbesondere in staatlichen Verhältnissen gültigen Kontrollmechanismen und Schranken von »privaten« Gewaltakten und -spiralen fehlen oder außer Kraft gesetzt sind. Derartige staatsferne Gewalträume können sowohl Folge als auch wesentlicher Faktor der Verstetigung von Gruppengewalt sein. Mit eben dieser Frage beschäftigt sich der Historiker Felix Schnell am Beispiel militanter Vergemeinschaftung im Russischen Bürgerkrieg, deren hohe Geschwindigkeit er aus einem Zusammenspiel von kulturellen Skripten und einer allgemeinen Situationslogik von »Gewalträumen« erklärt. Weniger die organisatorische Funktionalität als vielmehr die Komplementarität von organisiertem und nicht-organisiertem Gewalthandeln zeigt Bernd Greiner in seinem zeitgeschichtlichen Beitrag auf. Am Beispiel von Gewaltexzessen während des Vietnamkrieges macht er deutlich, dass kollektive Gewalt unter bestimmten strukturellen Bedingungen nicht durch ihre Negation, sondern durch ihre Verstetigung Sinn zu stiften vermag. Die Konstellation eines asymmetrischen Krieges ist eine solche Bedingung, die im Zusammenspiel mit situativen Faktoren zur Selbstradikalisierung der verunsicherten Soldaten beitrug. Nicht um kriegerische, sondern um die politische Gewalt von Untergrundorganisationen geht es in dem Text der Politologin und Bewegungsforscherin Donatella della Porta. Beständigkeit und Radikalisierung politischer Gewalt, so ihr zentrales Argument, sind das Ergebnis eines pfadabhängigen Prozesses, in dem die Entscheidung der Gruppe dafür, in den Untergrund zu gehen, gewaltfreie Handlungsrepertoires zunehmend an Praktikabilität und, vielleicht noch wichtiger, Plausibilität verlieren lässt. War terroristische Gewalt zunächst ein Mittel im politischen Kampf, so wird sie mit der Dauer des Kampfes zur Raison d’être der Gruppe. Damit schließt der dritte Teil.

In ihren Schlussbetrachtungen unternehmen Benjamin Schwalb und Axel Paul den Versuch einer vorläufigen Systematisierung des theoretischen Ertrags der einzelnen Beiträge. Vor dem Hintergrund allgemeiner ordnungstheoretischer Überlegungen machen sie deutlich, welche Mechanismen und Prozesse nicht-organisierte Kollektive überhaupt zu gemeinsamem Handeln befähigen, welche Umstände Gewaltsamkeit zu einer Handlungsoption machen und auf welchen Wegen ein solcher Vorsatz schließlich umgesetzt werden kann. Die theoretische Diskussion des in diesem Band versammelten Materials – so hoffen wir zumindest – ist damit allerdings nur erst eröffnet.

Dieser Band selbst hebt indes an mit einem Rückblick: Es folgt eine diskursgeschichtliche Einleitung, in der Axel Paul weniger rekapituliert, warum und woran die klassische Massenpsychologie gescheitert ist, als vielmehr, worin ihre Aktualität und Herausforderung liegt.

1Vgl. Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde, Hamburg 2007; Scott Straus, The Order of Genocide. Race, Power, and War in Rwanda, Ithaca 2006; Lee Ann Fujii, Killing Neighbors. Webs of Violence in Rwanda, Ithaca 2009.

2Die Buchidee geht zurück auf eine Tagung, die vom 26. bis 28. September 2013 an der Universität Basel stattfand. Ein Ergebnis der Tagung war, dass es sich lohnte, vielleicht noch keine unified theory nicht-organisierter kollektiver Gewalt zu schreiben, wohl aber Elemente einer solchen zu sammeln, ein anderes, dass eine solche Sammlung oder Skizze sich auf jeden Fall kritisch – positiv oder negativ – zu Randall Collins’ Mikrosoziologie der Gewalt (Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011) ins Verhältnis zu setzen hätte. Umso mehr freut es uns, dass wir Collins, der, wie andere Autoren unseres Bandes auch, nicht in Basel zugegen war, für einen Beitrag gewinnen konnten.

3Vgl. Charles Tilly, The Politics of Collective Violence, Cambridge 2003.

4Vgl. Michel Wieviorka, Die Gewalt, Hamburg 2006; Arjun Appadurai, Die Geographie des Zorns, Frankfurt am Main 2009.

5Vgl. Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Washington 2000; Stathis N. Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006; Jeremy M. Weinstein, Inside Rebellion. The Politics of Insurgent Violence, Cambridge 2007; Douglass C. North/John J. Wallis/Barry R. Weingast, Violence and Social Orders. A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History, Cambridge 2009.

6Zur individuellen Gewalt vgl. Jack Katz, Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions of Doing Evil, New York 1988; Ferdinand Sutterlüty, Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, Frankfurt am Main 2002.

7Vgl. Gary T. Marx, »Issueless Riots«, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 1970, Bd. 391, H. 1, S. 21–33; Bill Buford, Geil auf Gewalt. Unter Hooligans, München 1992; Collins, Dynamik der Gewalt.

8Vgl. Jörg Hüttermann, »›Dichte Beschreibung‹ oder Ursachenforschung der Gewalt? Anmerkungen zu einer falschen Alternative im Lichte der Problematik funktionaler Erklärungen«, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt, Frankfurt am Main 2004, S. 107–124; Peter Imbusch, »›Mainstreamer‹ versus ›Innovateure‹ der Gewaltforschung. Eine kuriose Debatte«, in: ebenda, S. 125–148.

9Stefan Kühl (Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014, S. 22) weist zu Recht darauf hin, dass eine Erklärung der Shoa ohne Rückgriff auf die Spezifika von Organisation nicht möglich ist. Gleichwohl scheint uns die Erforschung von kollektiver Gewalt insgesamt organisatorische Erklärungen zu privilegieren, Prozesse »spontaner Ordnungsbildung« hingegen zu vernachlässigen (vgl. David A. Snow/Dana M. Moss, »Protest on the Fly. Toward a Theory of Spontaneity in the Dynamics of Protest and Social Movements«, in: American Sociological Review 2014, Jg. 79, H. 6, S. 1122–1143). Genau diese Prozesse sind indes der zentrale Gegenstand des vorliegenden Bandes.

10Vgl. Christian Borch, The Politics of the Crowd. An Alternative History of Sociology, Cambridge 2012.

11Zu dieser Unterscheidung vgl. Dominik Schrage, »Von der Präsenzmasse zur statistischen Masse. Affektive und deskriptive Aspekte eines modernen Konzepts«, in: Gunnar Hindrichs (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg 2006, S. 93–112.

12Vgl. Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York 1991.

13Vgl. Charles Tilly/Sidney Tarrow, Contentious Politics, Boulder 2007.

14Vgl. Tilly, Politics of Collective Violence.

15Vgl. u.a. Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley 1985; Philip G. Zimbardo/ Christina Maslach/Craig Haney, »Reflections on the Stanford Prison Experiment: Genesis, Transformations, Consequences«, in: Thomas Blass (Hg.), Obedience to Authority: Current Perspectives on the Milgram Paradigm, Mahwah 2000, S. 193–237; Sémelin: Säubern und Vernichten; Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, München 2011.

Axel T. Paul

Masse und Gewalt

»Wenn wir in den Sümpfen Tutsi aufspürten, sahen wir in ihnen keine Menschen mehr. Sie waren nicht mehr unsere Ebenbilder […]. Es war eine wilde Jagd, die Jäger waren wild, Wild auch die Gejagten: Die Wildheit bemächtigte sich unserer Köpfe. Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden. Diese Wahrheit mag jemand, der sie nicht mit all seinen Muskelfasern erlebt hat, nicht glauben wollen. Unser Alltag war ein Leben der anderen Art, es war von Blut gezeichnet, und das kam uns durchaus zupass.«1 Mit diesen Worten beschreibt Pio Mutungirehe dem französischen Journalisten Jean Hatzfeld gegenüber sein Tun und Erleben während des ruandischen Völkermords.

Mutungirehe hatte sich 1994 als Mitglied einer Clique von größtenteils jungen Männern in der Gemeinde Nyamata am kollektiven Morden beteiligt. Er war, wie die meisten seiner Freunde aus der Clique, ja wie die Mehrzahl der Täter überhaupt, Bauer und seinerzeit 20 Jahre alt. Für seine Taten, zu denen er sich zum Zeitpunkt der Hatzfeld-Interviews bereits bekannt hatte, wurde er im Zuge der sogenannten Gacaca-Verfahren, einer laiengerichtlichen Aufarbeitung des Genozids,2 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. 2003 erfolgte die vorzeitige Freilassung. Auch die übrigen Bandenmitglieder hatten gestanden, waren verurteilt worden und lebten im Jahre 2003, als die französische Originalausgabe von Hatzfelds Buch erschien, mit einer Ausnahme wieder in Freiheit.

Juristisch konnte Mutungirehe und seinen Freunden aus den Gesprächen mit Hatzfeld kein Schaden mehr erwachsen. Dennoch könnte man mutmaßen, dass er sich durch seine passivische Formulierung, von bestialischer Wildheit ergriffen worden zu sein, von moralischer Schuld freisprechen wolle, so als habe es keine Möglichkeit gegeben, sich dem Morden zu verweigern. Tatsächlich haben sich Einzelne auch in Ruanda sehr wohl dem Mittun entziehen und sogar Widerstand gegen die Ermordung ihrer ethnisch »anderen« Mitbürger leisten können; auch haben längst nicht alle, die am Morden beteiligt waren, mit Begeisterung gemordet;3 und doch gibt es nicht nur bei Hatzfeld, sondern in etlichen Quellen kaum missverständliche Belege dafür, dass manche Täter sich zeitweise in einer Art Blutrausch befanden und dass dieser Blutrausch Teil einer kollektiv geteilten Erfahrung war.4 Pio Mutungihere sagt: »Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden.« Und sein Freund Joseph-Désiré Bitero ergänzt: »Das war ein Wahnsinn, der seinen Lauf nahm, und den keiner mehr lenkte. […] Du warst in der Menge dabei.«5

Über ähnliche Erfahrungen in einem ganz anderen Kontext berichtet der Literaturkritiker Bill Buford, der in den 1980er Jahren beschließt, in die ihm unbekannte Welt der englischen Hooligans einzutauchen, gerade weil sie ihm so rätselhaft erscheint. Er begleitet die nicht nur gewaltbereiten, sondern gewaltsuchenden Fans – keineswegs nur oder auch nur vornehmlich Angehörige der Unterschichten – in die Stadien, auf ihren Reisen, auf ihren Sauftouren und auf ihren Märschen durch die Städte gegnerischer Mannschaften. Fußball ist im Grunde nur der an sich kontingente Anlass, der Kalender, der dazu dient, die eigentlich gesuchte Randale zu synchronisieren. Buford steht dieser (Männer-)Welt des Alkohols, des Grölens, der Kameradschaft und der Gewalt zunächst befremdet, wenn nicht angeekelt gegenüber, gewöhnt sich mit der Zeit jedoch an ihre Rituale, freundet sich mit den Fans an und kann sich schließlich auch der Faszination der kollektiv verübten und erlittenen Gewalt nicht entziehen.

Die zwar bewusst inszenierten, in ihrem Verlauf und Ausgang freilich unkalkulierbaren Straßenschlachten zwischen den Hooligans, in denen nicht nur Scheiben zu Bruch und Autos in Flammen aufgehen, sondern Menschen schwerstens verletzt werden, offenbaren ihm, inneren kognitiven und moralischen Widerständen zum Trotz, einen vordem ungekannten Zustand der Glückseligkeit: »Sich in einer Masse befinden. Und – noch stärker – sich in einer Masse befinden, die einen Gewaltakt begeht. Was wir dort finden, ist das Nichts. Das Nichts in seiner Schönheit, seiner Schlichtheit, in seiner leeren Reinheit.« Zwar beteiligt Buford sich nicht aktiv an der Gewalt – zumindest erfährt der Leser davon nichts –, »schon« das bloße Bezeugen eines Gewaltexzesses jedoch schildert er als Transzendenzerfahrung mit Suchtpotenzial: »Die Gewalt ist eines der stärksten Erlebnisse und bereitet denjenigen, die fähig sind, sich ihr hinzugeben, eine der stärksten Lustempfindungen. Dort, in den Straßen von Fulham, […] fühlte ich mich, als sei ich buchstäblich schwerelos geworden. […] Und zum ersten Mal kann ich die Worte verstehen, mit denen sie diesen Zustand beschreiben. Daß die Gewalttätigkeit in der Masse eine Droge für sie sei. Und was war sie für mich? Die Erfahrung absoluten Erfülltseins.«6

Ein drittes Zeugnis dafür, dass zwischen Masse und Gewalt ein Zusammenhang besteht, oder genauer, die gewöhnliche Abscheu vor unmittelbar drohender Gewalt offenbar auch und nicht zuletzt durch die physische Präsenz anderer wenn nicht in Gewaltlust, so doch in einen gegenüber Zerstörung und gewaltsamem Tod indifferenten Rauschzustand umschlagen kann, findet sich in den Lebenserinnerungen Elias Canettis.

Im Sommer 1922 wird der siebzehnjährige Canetti in Frankfurt am Main Zeuge einer Arbeiterdemonstration gegen die Ermordung Walter Rathenaus. Es ist der Demonstrationszug selbst – nicht die Sache, gegen die protestiert wurde, oder die Solidarität mit den Arbeitern –, der auf Canetti eine »physische Anziehung« ausübt. Auch nachdem er sich der Demonstration angeschlossen hatte, kam es ihm vor, »als ginge es hier um etwas, das in der Physik als Gravitation bekannt ist. Aber eine wirkliche Erklärung […] war das natürlich nicht. Denn weder vorher, isoliert, noch nachher, in der Masse, war man etwas Lebloses, und was mit einem in der Masse geschah, [war] eine völlige Änderung des Bewußtseins7

Diese erste Erfahrung der Masse bestätigt und verstärkt sich am 15. Juli 1927. An diesem Tag demonstrierten Wiener Arbeiter gegen den Freispruch einer wegen Mordes an Genossen aus dem Burgenland angeklagten Gruppe. Die Demonstration kulminierte darin, dass der Wiener Justizpalast in Brand geriet und die Polizei auf die Demonstranten zu schießen begann. Es gab 90 Tote. Canetti erinnert sich: »Die Erregung dieses Tages liegt mir noch heute in den Knochen. […] Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.« Er hört die Schüsse der berittenen Polizei, er rennt und flieht mit den ihm fremden Demonstranten; der Zug zerreißt und sammelt sich wieder; erst erfährt er, dass der Justizpalast brennt, dann sieht er ihn brennen. »Das Feuer war der Zusammenhalt. […] Auch dort, wo man es nicht sah, hatte man’s im Kopf, seine Anziehung und die Masse waren eins. […] Wo immer man sich unter der Einwirkung der Salven fand, scheinbar geflüchtet war – der […] Zusammenhang mit den anderen blieb wirksam.« Canetti fühlte sich »von einem einheitlichen Gefühl getragen […] – eine[r] einzige[n] ungeheuerliche[n] Woge, die über die Stadt schlug und sie in sich aufnahm: als sie verebbte, war es kaum glaublich, daß die Stadt noch da war.«8

Noch vor der Erfahrung des Nationalsozialismus, des Aufstiegs und der Verheerungen einer Massenbewegung, waren es diese beiden Erlebnisse, die Canetti dazu veranlassten, sich über Jahrzehnte hinweg mit dem Thema Masse zu beschäftigen und 1960 mit »Masse und Macht« schließlich ein Buch vorzulegen, das als abseitiger sozialanthropologischer Theorieentwurf eines Literaturnobelpreisträgers galt, auch weil es zu einer Zeit erschien, in der Anthropologie unter Ideologieverdacht stand.9

Die ersten wissenschaftlichen Anstrengungen, den Zusammenhang von Masse und Gewalt zu bestimmen, stammen aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert. Dass es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt, galt seit Burkes »Reflections on the Revolution in France« (1790) als selbstverständlich. Die Masse, das war für die Historiografen und politischen Beobachter des 19. Jahrhunderts der aufständische Pöbel, die Bezeichnung einerseits für eine aus der alten Ständeordnung herausfallende und zugleich die neue bürgerliche Gesellschaft bedrohenden »Schicht«, andererseits für die sich in den Städten ballenden Menschenmengen, der Begriff für ein gefährliches, gewalttätiges, offenbar geschichtsmächtiges Kollektivsubjekt. Marx sah das nicht anders als seine konservativen und bürgerlichen Gegner. Bevor er das Proletariat mit dieser Aufgabe bedachte, war die Masse für ihn der Akteur der »wirklichen Geschichte«.10 Die bürgerliche Massenpsychologie des späten 19. Jahrhunderts wusste, dass man mit den Massen zu rechnen hatte. Anstatt ihr vermeintliches Wüten jedoch revolutionär zu adeln, ging es ihr darum, sie durch Aufklärung ihres inneren Wesens an die Kette zu legen. Wissenschaftlich und nicht politisch oder geschichtsphilosophisch dünkte sie sich darin, positive Erkenntnisse der Psychologie auf ein neues Gebiet zu übertragen. Was sie im Kern versuchte, war, das befremdliche und irrationale Verhalten der Massen als eine Art kollektive Hypnose zu dechiffrieren.11

Das zweifellos berühmteste Buch der klassischen Massenpsychologie ist Gustave Le Bons »Psychologie des foules« aus dem Jahre 1895. Le Bon behauptet darin, dass die Masse ein Wesen sui generis, etwas anderes also als nur eine Ansammlung von Menschen sei, dass die Individuen, aus denen sie bestehe, vielmehr auf erstaunliche Weise gleichgeschaltet und ihrer Individualität beraubt würden, sich von bloßen Reizen statt Überlegung (ver-)leiten ließen, kognitiv regredierten und zu impulsivem, zumeist gewaltsamem Handeln tendierten. Die Masse verwandle die Individuen, versetze sie in einen eigenartigen Erregungszustand, in dem sie ihren Trieben und nicht ihren Interessen oder gesellschaftlichen Normen folgten, und reiße sie zu Taten hin, die sie als Individuen, bei klarem Bewusstsein, niemals begangen hätten. Damit scheint Le Bon eine ebensolche Transformation zu beschreiben, wie sie Pio Mutungirehe, Bill Buford und Elias Canetti erleben und bezeugen.

Das Problem ist, dass Le Bon für diese Deindividuation keine überzeugende Erklärung anzubieten hat.12 Zwar macht er geltend, dass »das Individuum in der Masse schon durch die Tatsache der Anzahl ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Instinkten zu frönen, die es allein notwendig gezügelt hätte«.13 Das aber hieße nicht nur, dass, anders als Le Bon selbst annimmt, Menschenauflauf und Masse dasselbe sind,14 sondern auch, dass die Mitglieder einer Masse aus freien Stücken entschieden, die Zügel der Moral, der Sitte und des Rechts fahren zu lassen. Le Bon postuliert indes – und dies ist das Argument, das man mit seinem Namen verbindet –, dass das Individuum sich als Mitglied einer Masse in einem der Hypnose vergleichbaren Zustand befinde. »Die bewußte Persönlichkeit ist völlig geschwunden, Wille und Unterscheidungsvermögen sind dahin […]. Es hat von seinen Handlungen kein Bewußtsein mehr. Wie beim Hypnotisierten können bei ihm, während zugleich gewisse Fähigkeiten aufgehoben sind, andere auf einen Grad höchster Stärke gebracht werden. Unter dem Einflusse einer Suggestion wird es sich in einem unwiderstehlichen Schwunge an die Ausführung bestimmter Handlungen machen. Und dieses Ungestüm ist bei den Massen noch unwiderstehlicher als beim Hypnotisierten, weil die für alle gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit anwächst.«15 Zwar bedürfe die Masse, um in Aktion zu treten – in aller Regel um zu zerstören, manchmal aber »sehen wir sie auch […] von der blutigsten Grausamkeit zum absolutesten Heldentum oder Edelmut übergehen«16 –, nicht anders als der Hypnotisierte eines Hypnotiseurs, das heißt eines Führers. Le Bon geht jedoch nicht davon aus, dass Massen sich allein durch Führer konstituieren, zumal ein solcher, seinerseits rekrutiert aus den Reihen der »Nervösen, Erregten, Halbverrückten, die an der Grenze des Irrsinns sich befinden«, »sehr oft […] zuerst ein Geführter war« und selbst erst »von der Idee, deren Apostel er später wurde, hypnotisiert« werden musste.17 Was dann jedoch die Emergenz der Masse bewirkt und zu »tollen Taten« verleitet, bleibt unklar.

Le Bon war freilich nicht der Erste und Einzige, der sich anschickte, dieses »Rätsel der Massenpsychologie«18 zu lösen. Die Geschichte der Massenpsychologie oder allgemeiner der Massentheorie ist nichts anderes als die Geschichte der diversen Anläufe, dieses Rätsel aufzuklären. Allerdings wird im Laufe dieser Geschichte nicht nur die Theorie fortentwickelt und umgestellt, sondern ihr Gegenstand selbst wird transformiert. Genauer gesagt, der Massentheorie kommen im 20. Jahrhundert sowohl die Masse als auch die Gewalt abhanden. Zum einen spricht heute nicht nur kaum noch ein Psychologe oder Soziologe von Massen,19 sondern die Existenz von Massen als eines spezifischen Aggregats, einer sozialen Form wie der Gruppe, der Organisation oder des Netzwerks wird weitgehend bestritten.20 In der Tat wurde unter Masse von verschiedenen Autoren (manchmal auch von ein und demselben) Verschiedenstes und sogar Gegensätzliches verstanden. Die einen betonen die schiere Größe der Masse, für andere ist schon die hypnotische Beziehung »eine Massenbildung zu zweien«;21 mal ist die Masse ein Produkt der Moderne, mal etwas Zeitloses; manche meinen mit Masse ausschließlich räumlich an einem Ort versammelte Menschen, manche hingegen zählen auch zerstreute, nur medial zusammengeschlossene Gruppen dazu; für eine Reihe von Autoren sind Masse und Organisation Gegensätze, anderen wiederum gelten organisierte Massen und selbst Massenorganisationen ebenso als Massen wie spontane Aufläufe.22 Zum anderen wurden die Masse oder vielmehr das, was begrifflich an ihre Stelle getreten ist – Versammlungen, Bewegungen oder »einfach« kollektives Handeln oder Verhalten –, von dem Makel befreit, grundsätzlich, regelmäßig oder besonders gewalttätig zu sein.23 Es waren vor allem US-amerikanische Soziologen, und zwar sowohl Parsonianer wie Vertreter der Chicago School, welche in massenhaftem Protest nicht etwa dunkle, die soziale Ordnung als ganze bedrohende Kräfte, sondern vielmehr zivilgesellschaftliches Engagement am Werk sahen.24

Das Rätsel der Massenpsychologie wird auf diese Weise allerdings weniger gelöst als aufgelöst. Gibt es keine Massen als spezifische soziale Gebilde und neigen Menschenansammlungen nicht sonderlich zu Gewalt oder auch nur zu sonstwie exaltiertem Verhalten, dann gibt es auch kein Rätsel der Massenpsychologie. Diese wäre einer Chimäre nachgejagt. Nicht nur hätte der konservative Bürger Le Bon sich vielleicht zwar nicht grundlos vorm Sozialismus gefürchtet, fälschlicherweise aber vorm irrationalen Furor der revolutionären Massen; auch der Revolutionär und später zeitweilige Faschist Georges Sorel hätte sich falsche Hoffnungen gemacht, dass die bloße Massenaktion, der Generalstreik, die klassenlose Gesellschaft aus sich hervortreiben könne.25 In dem Maße, in dem die neuere »Massen«-Theorie die immer schon politische Dimension des kollektiven Handelns expliziert, verwandelt sich zum einen die Masse in eine durchaus auch über gemeinsame Interessen und geteilte Normen integrierte, einander nicht mehr nur persönlich verbundene, aber auch noch nicht formal organisierte Gruppe und wird zum anderen die Gewalt aus einem Wesenszug der Masse zu einem kalkuliert in Anschlag zu bringenden Mittel ebensolcher Kollektive.

Die Geschichte der Massentheorie kann andernorts ausführlich nachgelesen werden.26 Drei Etappen dieser Geschichte sollen genügen, um nachstehend die sukzessive Transformation und Umwertung der Masse beziehungsweise ihre mit der Aufwertung des kollektiven Handelns einhergehende »Abschaffung« deutlich zu machen: die Massensoziologie Theodor Geigers, die Theorie emergenter Normen zur Erklärung kollektiven Verhaltens von Ralph Turner und Lewis Killian sowie Charles Tillys politische Bewegungssoziologie. Diese drei Ansätze sind, auch wenn sie nur sehr lose zusammenhängen und schon gar keine notwendige Reihenfolge bilden, gleichwohl Wegmarken einer Theorieentwicklung, die mit guten Gründen als Überwindung falscher Annahmen, als Aufklärung ungelöster Probleme und empirischer Erkenntnisgewinn, ja als wissenschaftlicher Fortschritt verstanden werden kann.27 Sie stehen gemeinsam für die Rationalisierung und »Positivierung« des Masse-Themas. Zur Deutung der eingangs in den drei Vignetten dargestellten Problemlage tragen sie indes kaum oder nur bedingt etwas bei. Im Anschluss daran wird deshalb in einem weiteren Schritt zu fragen zu sein, wie, wenn nicht massentheoretisch, die besagten Gewaltphänomene erklärt werden könnten. Auf einem Umweg über die Gewaltsoziologie, genauer gesagt die Soziologie des Massakers, werden wir indes die Masse oder zumindest einen bestimmten Typ kollektiven Verhaltens wiederentdecken, der, wenn auch empirisch marginal, sozialtheoretisch nichtsdestotrotz von Bedeutung sein könnte. Ob darüber hinaus, was für die klassische Massenpsychologie ebenso selbstverständlich war, wie es für die heutigen Theorien kollektiven Handelns fragwürdig ist, zwischen der Masse und der Gewalt ein mehr als bloß kontingenter Zusammenhang besteht, ist letztlich eine empirische Frage. Konzeptionelle Gründe sprechen zumindest dafür, diese diskursgeschichtlich verschüttete Frage noch einmal zu stellen.