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Richard Hell

Blank Generation

Autobiographie

Aus dem Englischen von

Norbert Hofmann

FUEGO

- Über dieses Buch -

Von frühester Jugend an träumte Richard Hell davon abzuhauen, was er dann auch mit siebzehn tat. Er landete im New Yorker East Village, in den sechziger und siebziger Jahren ein Ort mit billigen Mieten und tausend Möglichkeiten. Er arbeitete als Buchhändler und wurde Dichter, der sich in der Künstlerszene herumtrieb, in der Feminismus, Androgynie und Transvestismus in der Luft lag, bevor er einer der wichtigsten Figuren in der neuen Musikszene wurde. Für Malcolm McLaren war er die Inspiration für das, was er mit den Sex Pistols dann verwirklichte. Richard Hell erinnert sich schonungslos an seine Drogenabhängigkeit und wie er sich daraus befreite, und es gelingen ihm großartige Porträts der damaligen Kunst- und Musikszene.

 

- Pressestimmen -

»Blank Generation rief in mir ein Gefühl hervor, das ich als Kind hatte ... Ich wuchs auf und verliebte mich in eine Welt, die nicht meine war. Es gibt wenige Bücher, die mich dazu verleiten, selbst zu schreiben; dies ist eines von ihnen.« (Kathleen Hanna, Bikini Kill/Le Tigre/Julie Ruin«)

»Richard Hell erfand fast im Alleingang Punk, wie wir ihn kennen, gründete zwei der einflussreichsten Bands in der Geschichte der modernen Musik, und definierte neu, was Rock‘n‘Roll-Texte sein können. Wenige Leute waren so bedeutend – und doch so unterschätzt – wie der Dichter, Musiker und die Mode-Ikone Richard Hell.« (Anthony Bourdain, Autor von »Geständnisse eines Küchenchefs«)

»Eine Musikerbiografie mit tollen Einblicken in die Anfänge von Punkrock/CBGB. Alles in einem sehr offenen, zynischen Tonfall, durchaus auch literarisch. Für mich eins der besten Musikbücher.« (Markus Nägele, Lektor bei Heyne Hardcore)

»Ein reuevoller, von Kämpfen gezeichneter, traurig-witziger Beobachter seines Lebens und unserer Zeit.« (New York Times)

»Richard Hell konzipierte und realisierte eine nachhaltige Vorstellung von Rockstarruhm, als hätte er den Begriff selbst erfunden. Radikal selbstkritisch, schreibt er eine Prosa, die so schneidend scharf ist wie ein vom Mondlicht geschärftes Diamantmesser.« (Luc Sante, Autor von Low Life)

 

 

 

 

Für Sheelagh und Ruby

 

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© Richard Meyers

Kapitel Eins

Wie viele zu meiner Zeit war ich, als ich klein war, ein Cowboy. Ich hatte Chaps und einen weißen Cowboystroh­hut und band meinen Halfter aus Leder an die Oberschenkel. So trat ich hinaus auf die Veranda und alle konnten sehen, wie ein Cowboy seinen Auftritt hatte.

Dies war in Lexington (Kentucky), als jeder ein Kind war. Ich hielt Ausschau nach Höhlen und Vögeln und lief oft von zu Hause weg. Weglaufen war meine Lieblingsbeschäftigung. Die Worte – »Komm, lass uns abhauen« – haben für mich immer noch einen magischen Klang.

 

Meine Eltern kamen 1948 nach Lexington. Sie hatten sich zwei Jahre zuvor an der Columbia University in New York kennengelernt, wo sie Doktoranden der Psychologie waren, und ein Jahr danach geheiratet. Nachdem mein Vater Ernest Meyers, der in Pittsburgh (Pennsylvania) auf­gewachsen war, in der Columbia seinen Doktortitel gemacht hatte, bekam er eine Stelle an der University of Kentucky. Ich wurde Ende 1949 geboren. Meine Mutter verzichtete erst einmal auf eine Karriere, um sich um den Haushalt zu kümmern.

Wir waren zu viert, mit meiner Schwester Babette, die anderthalb Jahre nach mir geboren wurde. Wir fühlten uns der Mutter meines Vaters, Grandma Linda, nahe, die in New York lebte, und wir besuchten gelegentlich einen seiner Brüder, Richard, der als Chemiker für Texaco arbeitete, und seine Frau und Kinder in ihrem Haus nahe Poughkeepsie, aber darüber hinaus war der Sinn für Familie oder Familienstammbaum nicht sehr ausgeprägt. Ich verstand zum Beispiel nicht wirklich, was ein Jude ist, auch wenn ich wusste, dass die Familie meines Vaters irgendwie dieser Spezies angehörte. Ich dachte, Judaismus ist eine Religion, aber wir waren nicht religiös.

Meine Mutter, geborene Carolyn Hodgson, war ein Einzelkind. Ihre Mutter, Dolly Carroll (geborene Dolly Griffin), die wir nur Mama Doll nannten, war ein Arbeitermädchen aus Alabama und Methodistin. Sie spielte Bridge und mochte Cocktails. Sie war viermal verheiratet. Wir sahen sie alle drei oder vier Jahre für ein paar Tage. Sie und der Vater meiner Mutter, Lester Hodgson, dem eine Tankstelle in Birmingham gehörte, bis er in der Großen Depression pleite ging, hatten sich scheiden lassen, als meine Mutter noch klein war, und ich erinnere mich nur noch, dass ich zwei- oder dreimal mit ihm in demselben Zimmer war.

 

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Ich kam von Hopalong Cassidy.

© by Richard Meyers

In den fünfziger Jahren lebten wir in den neuen Vororten Amerikas. Meine Wurzeln reichen nicht tief. Ich bin ein wenig neidisch auf Menschen mit starken ethnischen und kulturellen Wurzeln. Glücklicher Martin Scorsese oder Art Spiegelman oder Dave Chappelle. Ich kam von Hopalong Cassidy und Bugs Bunny und der Grundschule Maxwell Elementary.

1956, als ich sechs Jahre alt war und wir in der Rose Street nahe der Universität wohnten, kaufte mein Vater einen cremefarbenen, grünen Manhattan (Baujahr 1953), in dem er jeden Morgen die eine Meile auf der Straße zwischen der großen Basketballarena der University of Kentucky und ihrem Footballstadion zur Arbeit fuhr. Seine Arbeitsräume befanden sich auf dem Campus in einem von Bäumen beschatteten, alten Backsteingebäude am Abhang eines Hügels. Die Unterrichtsräume, Labore und Büros dort rochen nach Holz, Kreide, Wachs, Graphit, Staub, frischer Luft und Achselschweiß. Äste wiegten sich draußen vor den Fenstern. Mein Vater war ein Experimentalpsychologe; er behandelte keine Patienten, sondern beobachtete das Verhalten von Tieren im Labor. Auf den Tischplatten standen zwischen großen mechanischen Schreibmaschinen kleine Rattenlabyrinthe aus Hart­gummi. Da waren Glasvitrinen an den Wänden und vor den Kreidetafeln Stühle mit Schreibplatten. Diese schlichten, alten Universitätsgebäude oder auch das Haus, in dem die örtliche Blindenschule untergebracht war, wo mein Vater über die Brailleschrift forschte, haben für mich immer noch etwas Heimisches wie ein bescheidenes Paradies, so wenig ich auch je Schulunterricht ausstehen konnte.

Im Stadtzentrum stand ein Gerichtsgebäude im klassischen romanischen Stil, davor eine Reiterstatue des Konföderiertengenerals John Hunt Morgan. Einige Blocks weiter an der Main Street war die Bahnhofshaltestelle, und auf demselben Abschnitt gab es zwei gemütliche Kinos mit Plüschstühlen und pickligen Platzanweisern, das »Kentucky« und das »Strand«, die immer zwei neue Spiel- oder Zeichentrickfilme zeigten, Samstag vormittags sogar nur ein reines Zeichentrickfilmprogramm. Nahe der Bushaltestelle gab es einen Woolworth-Laden und eine Bäckerei, die glasierte Doughnuts verkaufte, warm aus dem Ofen.

Die mit Kalksteinsäulen verzierte Öffentliche Bibliothek befand sich mitten in einem dicht bewaldeten Park, einige Straßenblocks hinter dem Gerichtsgebäude, gegenüber dem Transylvania College (»das erste College westlich der Allegheny Mountains«). Im Inneren der Bibliothek war alles aus Marmor, und das Sonnenlicht von den Fenstern im zweiten Stock erhellte den zentralen Informationsschalter im Erdgeschoss; Geflüster, schlurfende Schritte und Regalreihen mit muffig riechenden, grün oder orange gebundenen Büchern zum kostenlosen Mitnehmen.

Am Stadtrand gab es Autokinos und einen Vergnügungspark. Unsere Familie nahm zu den Kinofahrten Ein­kaufstüten voll mit selbstgemachtem Popcorn mit, und auf dem Nachhauseweg lagen meine Schwester und ich, Kopf an Fuß, schlafend auf dem Rücksitz. Dann und wann besuchten wir Joyland, wo es eine Holzachterbahn, ein Karussell, eine Geisterbahn und eine Schiffsschaukel gab, außerdem Spielstände und Zuckerwatte und Hotdog-Buden zwischen riesigen Bäumen mit Picknicktischen, die von Staren belagert wurden.

In den Vororten waren die Häuser unverschlossen. Es gab kein »Airconditioning«, aber Ventilatoren. Ein großes Lagerhaus in einer heruntergekommenen Industriegegend lieferte gerade geschnittene Eisblöcke, die an einer Laderampe von riesigen Greifzangen in mit Zeitungspapier ausgeschlagene Kofferräume gehievt wurden. Damit wurden Eisfächer versorgt – obwohl die meisten Leute inzwischen einen elektrischen Kühlschrank besaßen – oder Kühlboxen für Picknicks. Man bearbeitete das gefrorene Eis mit Pickeln, bis es auseinanderbrach.

 

Als Teenager in Lexington hing ich einmal an einem heißen, klaren Sommertag mit einigen Freunden in einer Steinhütte auf einem offenen Feld ab. Mehr Freunde versammelten sich in der Landschaft draußen wie auf einem Gemälde von Watteau oder Fragonard – Fragonard gekreuzt mit Larry Clark –, spielten und redeten. Plötzlich erregte etwas am Himmel die Aufmerksamkeit eines Jungen. Er stand in dem hohen Gras, starrte nach oben, zeigte und rief. Wir reckten unsere Hälse. Teilchen schwebten aus dem Himmel herunter; Stühle und Couches aus Schnee landeten um uns herum. Wir lachten und schrien.

Das geschah in einem Traum, den ich einige Jahre nach meiner Ankunft im immer noch einsamen New York hatte. Ich erwachte verzückt und dankbar, mit zusammengeschnürter Kehle und überfließenden Augen.

 

Im Winter 1956, als ich in die erste Klasse ging, zog die Familie von dem Häuschen in der Rose Street nach Gardenside, einem neuen Vorort am Rande der Stadt.

Fast jedes Grundstück in der Gegend hatte die gleiche bescheidene Größe, und die Häuser unterschieden sich nur wenig, meist drei Zimmer, Küche und Bad. Jedes Haus hatte junge Bäume an der gleichen Stelle an beiden Seiten des Wegs, der zur Haustür führte, und die gleiche Art von immergrünem Gesträuch unter dem Panoramafenster des Wohnzimmers, das zur Straße lag. Unser Haus ähnelte der typischen Zeichnung eines Kindes von einem Haus, eine Ziegelsteinbox unter einem steilen Schindeldach, das an einem Ende einen Kamin hatte.

Unten an der Straße verlief ein Bach. Gras wuchs an beiden Uferseiten, und es gab hohe Bäume mit dichtem Laubwerk. Das Interessanteste daran war für mich, dass dies nicht von Menschen gemacht war. Die Vorstellung, dass man dem wilden Pfad statt den überall vorgegebenen Mustern folgen konnte, war aufregend. Ich erinnere mich, wie mir plötzlich bewusst wurde, dass der Bach irgendwo begann und weit entfernt enden mochte, dass er nicht nur durch die Gegend floss, die ich kannte. Dieser Gedanke war ein leuchtendes kleines Diorama, das in mei­nem Hirn versteckt war, etwa so wie Marcel Du­champs Gegeben sei: 1. Der Wasserfall, 2. Das Leuchtgas.

Gardenside wurde begrenzt von Landwirtschaftsflächen – Tabak, Mais und Vieh – und Wäldern. Unser Haus war eines der ersten in dem Vorort, das fertiggestellt wurde, und die Baustellen um uns herum waren unser Spielplatz.

 

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Gardenside, an einer Ecke der Stadt.

© by Richard Meyers

Eines späten Nachmittags in jenem ersten Jahr trieben sich nur noch zwei von uns draußen herum. Wir versuchten, ein großes Eisenfass, das bis zum Rand mit Wasser gefüllt war, auf das Fundament eines neuen Hauses zu kippen. Wir kamen auf die Idee, Abfallhölzer als Hebel zu benutzen, und es gelang. Die Straße war leer. Roy Baker und ich liefen davon und setzten uns auf die Steine neben einem teilweise fertigen Haus, um unsere »Heldentat« zu besprechen. Um uns herum roch es nach frisch gesägtem Holz, feuchtem Beton, Erde und verbrannter Teerpappe.

Die Männer, die dort arbeiteten, hatten uns herumalbern sehen, bevor sie Feierabend machten. Als sie gingen, waren wir beide die einzigen Kinder in der Nähe. Am nächsten Morgen würden sie wissen, dass wir es gewesen waren, die das Fass umgeworfen hatten. Kinder in unserem Alter sind doch gar nicht so stark, um etwas so Schweres umzustoßen, erklärte ich Roy Baker, der ein paar Monate jünger war als ich. »Sie werden denken, wir haben übermenschliche Kräfte. Sie werden uns zu einem Zirkus bringen. Stell dir vor, wie das sein wird, wenn wir hinaus in die Manege müssen, die Menge wartet schon, und dann müssen wir Hanteln stemmen! Es bleibt uns nur eins. Wir müssen abhauen.«

Wir liefen und liefen, weiter weg als jemals zuvor, stahlen einige Pennys vom Armaturenbrett eines geparkten Autos und kauften davon Bonbons. Als es begann, dunkel zu werden, und wir uns verliefen und müde wurden, klopften wir an eine Haustür und die Leute brachten uns nach Hause.

 

Wir spielten Krieg auf den Erdhaufen der Baustellen. Das Ausspähen von Feinden hinter einem Hügel brachte mir die erste wissenschaftliche Erkenntnis, an die ich mich erinnern kann. Ich begriff, dass ich, um irgendjemand zu sehen, meinen Kopf soweit heben musste, dass auch ich gesehen werden konnte. Man muss aus seinem Versteck herauskommen, um überhaupt etwas zu sehen.

Cowboy und Indianer spielte ich am häufigsten. Ich liebte meine Spielzeugpistole und das Halfter und das Halstuch und den Cowboyhut. Die Zündplättchen gab es in mattroten Rollen mit kleinen Punkten aus Kaliumchlorat und Phosphor in der Mitte. Man fädelte die Rolle in die Metallpistole ein. Wenn man den Abzug betätigte, schob sich der Streifen nach vorn, der Hahn traf mit einem Knall das nächste Plättchen, und es qualmte ein wenig. Gerne würde ich noch einmal den Geruch eines explodierten Zündplättchens wahrnehmen.

Es gab die Fanclubs und Bruderschaften der Helden der samstäglichen TV-Shows. Flash Gordon, der in der Zukunft lebte und durch das Weltall raste. Seinem Club trat ich bei. Wie man Mitglied wurde, stand auf den Rückseiten der Cornflakesschachteln. Ich beantragte eine Mitgliedschaftskarte und einen ID-Ring. Sky King, der ein moderner Farmer war und ein kleines Privatflugzeug flog. Spin und Marty, Kids von heute in einem Feriencamp, präsentiert von The Mickey Mouse Club. Zorro und das Cisco Kid und der Lone Ranger. Oft waren es ein umherstreifender Held und sein ergebener Begleiter, der für komische Auflockerung sorgte, besonders in den Wes­tern von Howard Hawks und John Ford. (Wann immer es möglich war, nahm ich samstags den Bus in die Stadt, um eine Vorstellung mit zwei Spielfilmen zu sehen. Vor allem durch die Filme von Hawks und Ford wurde ich mit den »Codes des Westens« kontaminiert.) Es gab auch Teams, in denen die Mitglieder gleich waren und sich auf andere Art und Weise ergänzten als der Held und sein treuer Clown. Tonto war an der Seite von Lone Ranger keine Witzfigur, genauso wenig wie Dean Martin neben John Wayne in Rio Bravo. (Die komische Rolle spielte Walter Brennan.) Die drei Musketiere.

Ich wuchs mit der Vorstellung auf, dass Männer am bes­ten in umherziehenden kleinen Teams arbeiten, gewöhnlich zu zweit. Du brauchtest jemanden, mit dem du dich verschwören konntest, jemand, der half, dass du die Nerven behieltest, wenn du daran gingst, deine Ideen zu verwirklichen. Jemand, der wusste, was du dachtest (ansonsten existierten deine Gedanken nicht wirklich). Jemand, der die Qualitäten hatte, die du dir vielleicht auch wünschtest und die du bis zu einem gewissen Grad durch das Zusammensein erwerben konntest.

 

Pat Thompson war mein erster und mein bester Freund. Zusammen mit einem anderen Kumpel wollten wir ausreißen. Auf dem Schulhof während der Pause legte Pat seine Arme um unsere Schulter, um etwas zu beratschlagen und dann schlug er unsere Köpfe zusammen und lachte. Ich war schockiert. Als Pat im nächsten Jahr wegzog, tauschten wir Erinnerungsstücke aus. Ich nahm einen Absatz von seinem Schuh. Ich sehe ihn noch immer vor mir. Er ist trocken und konkav mit gebogenen dünnen kleinen Nägeln, die herausragten, und auf der Oberseite seine mit Filzstift geschriebene Unterschrift.

Im Frühjahr 1957 musste Gardenside für die kleinen Kinder immer noch mit einem Schulhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert auskommen. Es stand oben auf einem verwilderten Hügel und war in drei Räume unterteilt worden, je einer für die ersten drei Klassen. Unten am Hügelabhang klaffte die Öffnung einer flachen Höhle, wo wir uns um Mitternacht treffen wollten.

An jenem Tag sammelte ich heimlich im Haus Vorräte – Kekse, Erdnussbutter und Äpfel –, schmuggelte sie in das Schlafzimmer, das ich mit meiner Schwester teilte, und versteckte sie unter meinem Kopfkissen. In der Nacht wollte ich alles in ein Tuch wickeln und am Ende eines Stocks festbinden und ihn dann auf der Schulter tragen.

Als die Zeit kam, ins Bett zu gehen, und meine Schwester und ich die Zähne geputzt hatten, konnte ich meinen verdammten Schlafanzug nicht finden. Er hätte in der Kommode sein sollen. Die ganze Familie half mir bei der Suche, und gerade als mir klar wurde, was ich angerichtet hatte, rief mein Vater, er habe den Pyjama gefunden, zusammen mit einigen anderen Sachen unter meinem Kopfkissen.

Es war spät, aber alle Lichter im Haus blieben an. Meine hübsche kleine Schwester war beeindruckt, die Reaktion meines Vaters seltsam. Er sagte zu mir, er werde mich um Mitternacht zu der Höhle fahren, und sollten meine Freunde dort sein, könne ich mit ihnen gehen. Ich war erstaunt und bin es noch heute.

Kurz vor Mitternacht stiegen wir in den alten großen Manhattan und fuhren die fünf Minuten zu dem Treffpunkt. Mein Vater zeigte sich freundlich und besorgt. Mein Selbstvertrauen war durch seine behutsame Freundlichkeit ein wenig geschrumpft, aber ich stellte mir den Triumph vor, wenn ich mit meinen Freunden zurückbliebe und wir unseren nächsten Schritt planten. Sie würden denken, was für einen großartigen Vater ich hätte. Er und ich warteten im Wagen mit ausgeschaltetem Licht, und nichts geschah. Niemand kam. Wir warteten, bis ich mich nicht beschweren konnte, wir seien zu früh weggefahren, und dann kehrten wir nach Hause zurück.

Ich weiß nicht mehr, was danach passierte, und der einzige, der sich überhaupt an die Geschichte erinnert, bin ich. Weder meine Mutter noch meine Schwester haben eine Erinnerung daran. Mein Vater starb plötzlich an einem Herzinfarkt wenige Wochen nach dem Ausreißversuch. Die Tatsache, dass ich die einzige Person bin, die sich an jenen Abend erinnert, bewegt, ja verstört mich, wenn ich seine Bedeutung für mich bedenke. Meine Frau zog mich später gerne deswegen auf.

Vor einiger Zeit fand ich eine alte Schachtel mit Papieren, darunter ein Heft mit der Geschichte »Runaway Boy«, die ich in jenem Jahr für die Schule geschrieben hatte. Das Datum lautete November 1957, also wenige Monate nach dem »Fluchtversuch«. Die zwei kurzen Kapitel waren voller Schreibfehler, aber mit einem gewissen Stolz sah ich, dass ich die Namen der Beteiligten geändert und miteinander kombiniert hatte. Dies war wohl mein erster literarischer Versuch.

 

Kentucky ist übersät mit Höhlen, und meine Freunde und ich zogen immer wieder los, um welche zu entdecken. Wir fanden ein paar kleine Tunnel, die in dem umliegenden Farmland versteckt waren – Öffnungen, die feucht und dunkel und glitschig waren und wo Salamander lebten. Wir zwängten uns hinein, setzten uns und krochen dann weiter. Die Eingänge waren oft bei Bäumen zu finden, die in Senken wuchsen, wo nicht gepflügt werden konnte. Wir stöberten in solchen Kratern herum, und manchmal gab es zwischen dem Schutt und Gestrüpp einen Eingang. Im Innern stellte sich wieder das gute Gefühl ein – das so selten ist im Erwachsenenalter außer vielleicht bei Drogen und Sex –, zu träumen und in einem Versteck etwas auszuhecken, was als völlig inakzeptabel galt.

 

In Erinnerungen wie in Träumen sieht man sich selbst oft von außen, als wäre es ein Film. So erinnere ich mich an den Morgen nach dem Tod meines Vaters im Sommer 1957.

Die Betten, in denen meine Schwester Babette und ich schliefen, standen an den gegenüberliegenden Wänden unseres Zimmers, das neben dem Schlafzimmer unserer Eltern im hinteren Teil des Hauses lag. Ich sehe die Szene aus einem Blickwinkel nahe und über dem Kopf meiner Mutter hinweg, alles ist dämmrig und unscharf. Sie sitzt auf dem schmalen Bett meiner Schwester, das neben der Tür steht, und schaut auf mich herab. Die sechsjährige Babette sitzt auch am Bettrand, auf der anderen Seite, und hört zu, wie Mutter erklärt, dass unser Vater in der Nacht gestorben ist. Wir verstehen die Situation nicht besonders gut, auch wenn wir begreifen, dass Totsein bedeutet, er existiert nicht mehr, er ist für immer verschwunden.

Später schämte ich mich, dass die Kinder in der Schule wussten, dass mein Vater gestorben war. Ich musste mir eingestehen, dass ich darüber aufgebrachter war als über seinen tatsächlichen Tod, der nur eine Abwesenheit war (es gab nicht einmal eine Beerdigung).

 

Als ich acht oder neun war, war eine Zeitlang mein bester Freund ein Junge namens Rusty Roe, der wenige Häuser von uns entfernt wohnte. Er war etwa ein Jahr jünger als ich. Ich fühlte mich immer noch unsicher nach dem Tod meines Vaters. Chet, Rustys netter Vater, der Ende zwanzig gewesen sein muss, war ein Naturbursche, ein Jäger und Angler, der Waffen- und Anglermagazine abonnierte und als Hobby Tiere ausstopfte. Manchmal nahm er Rusty und mich in einem Ruderboot auf einem See mit, um Barsche zu fischen.

Ein paar Jahre lang begeisterte ich mich für Vögel. (Meiner Mutter zufolge war »bird« das erste Wort überhaupt, das ich sagte.) Ich liebte es, durch die Landschaft zu laufen und nach Vögeln Ausschau zu halten, und ich konnte sie nach ihrem Gesang und Flugmustern als auch nach ihren Nestern und Umrissen identifizieren. Rusty kam meistens mit. Auch er wusste eine Menge über Vögel. Wir hatten Petersons Bestimmungsbücher dabei. Ich sammelte verlassene Nester. Aus Balsaholz schnitzte ich Vögel und bemalte sie oder kaufte mir Bastelsätze für Vogelmodelle, um sie zusammenzukleben und anzumalen.

Eines späten Nachmittags spielten Rusty und ich in seinem Garten, als es Zeit für mich wurde, nach Hause zu gehen. Er aber meinte, ich ginge weg, weil ich ihn nicht mehr mochte. Er flehte mich an zu bleiben, begann zu weinen, sich zu entschuldigen und zu betteln, und ich merkte, einem Teil von mir gefiel es. Etwas in mir empfand Freude darüber, meinen Freund zum Weinen zu bringen. Ich hatte ihn nicht verletzen wollen, aber seine Tränen zeigten, wie sehr er mich schätzte und dass nicht ich der Verwundbare war. Es gab mir auch eine gewisse Befriedigung, auf seine Unterwürfigkeit immer unnachgiebiger zu reagieren. Durch die plötzliche Kluft zwischen uns spürte ich den Wunsch, allein zu sein. Es war schon dunkel, als ich meinen Freund verließ. Verloren stand er auf dem hochumzäunten Rasen mit dem kleinen Goldfischteich, den sein Vater ausgehoben hatte.

 

Vielleicht sehne ich mich ein wenig nach der Unschuld, bevor mein Verhalten berechnend wurde, doch mein Leben damals war voller Schmerz und Angst, und es war nicht einmal wirklich unschuldig. Meine nette Lehrerin in der dritten Klasse, Mrs. Monk, korrigierte mich einmal, weil ich ihrer Ansicht nach eine falsche Bescheidenheit zeigte. Sie riet mir, »nicht nach Komplimenten zu fischen«. Zuerst verstand ich nicht, was sie meinte, aber dann begriff ich mit Erstaunen, dass es möglich war, mein Verhalten misszuverstehen, zu glauben, ich tue etwas aus genau dem entgegengesetzten Grund, aus dem ich es tatsächlich tat.

 

Fotos von mir als Zehn- oder Elfjährigem: ein flaches, ausdrucksloses, verschmiertes Gesicht. Es gibt ein Panorama oder eine Montage von Aussichten auf die Umgebung, die leeren Hügel der Vorstadt, alles still und weich und kalt, mit grober Körnigkeit. Ich fahre auf meinem Rad durch die neu gebauten Straßen, allein, niemand sonst in Sicht. Oder ich sitze im Garten hinterm Haus, werde plötzlich meiner selbst bewusst oder gewahr, dass dieser Augenblick sich irgendwann wiederholen und meinen Zustand und die Umgebung abbilden wird.

 

Es war vermutlich in der sechsten Klasse, als ich zur Hochform auflief. Ich war ein Goldjunge ohne Arroganz. Meine Lehrerin in jenem Jahr, Mrs. Vicars, traf eine Vereinbarung mit mir, die es mir erlaubte, anstatt der üblichen Hausaufgaben Geschichten zu schreiben.

In der siebten Klasse jedoch stürzte ich ab, und es dauerte Jahre, bis ich es wieder nach oben schaffte. Die Babyboomer der Nachkriegszeit hatten das Schulsystem von Lexington eingeholt. Die Schulen waren so überfüllt, dass eine alte große Bruchbude im Stadtzentrum für die Nutzung von Hunderten und Aberhunderten Siebtklässlern aus der ganzen Stadt in Beschlag genommen wurde. In dieser großen Schule mit unbekannten Kindern meines Alters verlor ich jede Vorgeschichte und jedes Ansehen, das ich vorher hatte. Ich war ein Nobody, und bei meinem mangelnden Selbstbewusstsein war es unmöglich, aufzuholen. Alles, woran ich mich aus jenem Schuljahr erinnere, ist Angst und Traurigkeit, verbunden mit qualvollem Neid auf die erfolgreichen Rednecks: der dominierende, reife Gary Leach mit den bis zum Bizeps aufgerollten Ärmeln, eng anliegenden Jeans, kurzem, in präzisen Strähnen gelegtem Haar, der im Schulbus hinter mir der lieblich schluchzenden Susan Atkinson zuflüsterte: »Bei mir kannst du dich ausweinen«; der toughe, schneidige Jimmy Gill, der mit seinen abgebrochen Vorderzähnen Jerry Lee Lewis ähnelte; oder der muskulöse, selbstsichere Farmersohn Hargus Montgomery.

Es gab im letzten Moment eine aussöhnende Erfahrung. Da ich traumatisiert war und mich nichts dazu bringen konnte, irgendwelche Hausaufgaben zu machen, waren meine Noten, die ich mühelos mit Auszeichnung erworben hatte, auf befriedigend, ausreichend und schließlich ungenügend abgerutscht. Noten maß ich keine große Bedeutung bei, aber auf einmal empfand ich es als kränkend, so zu versagen. Doch als uns Ende des Jahres standardisierte »Leistungstests« gegeben wurden, erzielte ich die höchste Punktezahl in der ganzen Schule. Man hätte mir das normalerweise nicht mitgeteilt, aber die Leitung glaubte, mit mir darüber reden zu müssen. Danach bemerkte ich, dass sich die Lehrer mir gegenüber anders verhielten. Ich bekam so etwas wie Glamour. Sie blieben stehen und schauten mich an, wenn ich vorbeiging.

 

Die Jahre auf der Junior High School – von der siebten bis zur neunten Klasse – waren furchtbar. Wegen der Überbelegung besuchte ich jedes Jahr eine andere Schule mit immer wechselnden, unbekannten Klassenkameraden. Ich hasste Hausaufgaben. Ich litt auch unter Schlaflosigkeit, weil ich immer daran denken musste, nicht vorbereitet und ein Versager zu sein. Alles in der Schule missfiel mir. Selbst wichtige Schularbeiten schob ich bis zum Vorabend der Abgabe hinaus, und dann saß ich schwitzend in meinem Zimmer unterm Dach vor irgendwelchen Texten, die ich paraphrasierte, um einen Aufsatz zusammenzuschustern und aufzupeppen. Ich litt an Schlaflosigkeit, als wäre ich in eine Falle geraten, gelähmt vom Scheinwerferlicht. Ich wusste, es war meine Angst vor dem schlechten Abschneiden und dem Ansehensverlust, die mich wachhielt. Und doch konnte ich mich nicht dazu zwingen, die blöden Hausaufgaben zu machen, und ich fand auch nicht wirklich heraus, was eigentlich los war. Und all das verstärkte sich gegenseitig in meinem Kopf. Es war wie ein ständiges Kribbeln auf der Haut. Als gäbe es eine Droge, die ich dringend brauchte, aber nicht hatte.

 

Sobald ich meiner selbst bewusst wurde, begann ich die rohe Unterdrückung zu hassen, der man als Kind ausgesetzt war. Ich mag normalerweise keine »Alpha«-Leute, und in den willkürlichen geschlossenen Gemeinschaften von Schulen hat man es ständig mit ihnen zu tun. Ich konnte es einfach nicht ausstehen, mit Fremden zusammengepfercht zu sein. Basta. Auch missfiel mir, gesagt zu bekommen, was ich tun sollte, und natürlich geht es in der Schule und in der Kindheit um die Autorität der Erwachsenen. Ich wusste so gut wie jeder von ihnen, was lohnenswert war, aber weil ich ein Kind war und sie größer waren und mehr Macht hatten als ich, wurde ich betrogen.

Ich erinnere mich, dass ich noch als Kind meinem erwachsenen Selbst ein Versprechen abverlangte. Ich gelobte, nicht zu vergessen, wie willkürlich und unfair die Regeln der Erwachsenen sind. Ich gelobte, den Prinzipien treu zu bleiben, die, wie ich bald begriff, die Erwachsenen manchmal vorgaben zu kennen, aber an die sie sich kaum hielten.

Ich wollte ein Leben voller Abenteuer haben. Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand sagte, was ich zu tun hatte. Ich wusste, dass dies das Wichtigste war und dass alles verloren wäre, wenn ich mich verlogen verhielte, so wie es die Erwachsenen taten.

 

Die monströsen, kastenförmigen, breitschnäuzigen, eigelbfarbenen Schulbusse mit ihrer schwarzen Beschriftung waren für mich Symbole der Einsamkeit und Demütigung. Sie rollten durch graues und regnerisches Wetter, und ich starrte aus dem Fenster in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden außer von einem ganz besonderen Mädchen.

Kapitel Zwei

Vor einiger Zeit saß im Kino ein hübsches Mädchen vor meiner Frau und mir, und alles, was ich von ihr sehen konnte, war ihr Haar. Als ich in der Grundschule im Klassenzimmer hinter Mädchen saß, konnte ihr Haar mich zum Wahnsinn treiben. Es war nicht einmal wirklich lebendig, aber ergreifender als die Gesichter der meisten Menschen wegen der Intimität, mit der es mit seiner Trägerin in Verbindung stand. Es war unerreichbar, während es direkt vor mir war, völlig entblößt, mit all seinen unkontrollierten, wilden Implikationen und Botschaften seiner Pflege, und ich empfand es als herzzerreißend, dass seine Besitzerin nichts von seiner Wirkung ahnte. Es war, als beobachtete man heimlich einen schlafenden Menschen.

In der dritten Klasse war ich verrückt nach Mimi McClellan. Wenn ich versuche, mir ein Bild von ihr zu machen, so ist da kein Gesicht. Nur ihr hoch toupiertes dunkelblondes Haar. Aber wenn ich es mir überlege, dann gab es damals niemanden, der in dem Alter die Haare toupierte. Es war das Jahr 1958, auch die Frauen trugen noch nicht eine solche Frisur, bis zwei oder drei Jahre später Jackie Kennedy ihren Auftritt hatte. Nachts lag ich in meinem Bett, dachte an Mimi McClellan und phantasierte, ich würde von einem Auto angefahren, so dass sie meine Hand nehmen würde und ich ihr sagen könnte, dass ich sie liebe.

In der sechsten Klasse war es Janet Adelstein. Es ist wahrscheinlich Janets Haar, das ich Mimi zuschrieb. Denn Janet hatte eine von Haarspray konservierte, dunkelblonde Hochfrisur, von der ein seidiger, wohlduftender Hauch ausging.

Die jungen Mädchen trugen weiße Baumwollblusen mit Ringelkragen, Strickjacken und Hosenröcke. Vielleicht noch eine zierliche Halskette aus Gold, Tennisschuhe oder Bass Slipper und Söckchen. Viele der Mädchen in der Klasse hatten schon Brüste. Janets Brüste waren größer als die der meisten anderen.

 

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Verrückt nach Mimi McClellan.

© by Richard Meyers, mit freundlicher Genehmigung der Fales Library and Special Collections, New York University Libraries

Ich offenbarte ihr nie meine Gefühle für sie. Jahre später trafen wir uns irgendwo zufällig, unterhielten uns, und es stellte sich heraus, dass auch sie damals in mich verknallt war. Irgendwie tragisch, geradezu Shakespearhaft.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zu onanieren anfing, aber es war lange, bevor ich ejakulieren konnte. Wir Jungen glaubten, Wichsen oder Sex zu haben sei etwas Perverses und Schlechtes. Ich hatte die Taktik, mich damit zu entschuldigen, dass ich einen Ständer nicht durch tatsächliches Berühren des Penis kriegte, sondern durch die bloße Vorstellungskraft. Denke ich heute an diese Phantasien, dann würde ich sie gerne sehen können, als ob sie Filme wären – ich hatte so wenig Ahnung von Sex, da wäre es cool zu sehen, was mir durch den Kopf ging (ich weiß noch, dass Roy Bakers Mutter manchmal dabei eine Rolle spielte).

Zu der Zeit, da ich dreizehn war, war das Wenige, was ich über die sexuelle Mechanik wusste, eine Menge. Schon ein Bild malen mit wenigen Details wie ein Unendlichkeitszeichen mit einem Punkt in der Mitte beider Schleifen und darunter die Umrisse eines Stundenglases, das in der unteren Hälfte ein gekritzeltes, abwärts zeigendes Dreieck hatte, reichte schon, um bei einem Jungen eine gewaltige Erektion hervorzurufen. Am Anfang der achten Klasse achtete ich beim Laufen monatelang darauf, meine Schulbücher vor meine Jeans zu halten, um die Beule zu verbergen. Manchmal entkamen nur durch die Reibung am Stoff ein paar Tropfen Flüssigkeit, und einmal stand ich auf dem vollen Schulkorridor und hatte eine Ejakulation.

Als es mir mit dreizehn oder vierzehn endlich gelang, einen Finger in eine Vagina zu stecken, hatte ich das Gefühl, in eine neue, fast übernatürliche Dimension eingeweiht zu werden, als hätte ich das Schwert aus dem Stein gezogen. Danach machte ich einen langen Spaziergang und hielt alle paar hundert Meter meine Finger unter die Nase – das Duftabzeichen meines neuen Königreichs.

Ich hatte keinen richtigen Sex, bis ich fünfzehn war. Ich war an ihr nur interessiert, weil ich glaubte, sie werde mich vielleicht ranlassen. Der Sexualtrieb überwältigt fast alles. Viele sind beim Ficken gestorben. Woher kommt denn schließlich rücksichtslose Aggression, wenn nicht vom Testosteron? Und woher kommt dieses Testosteron? Dieses unglückliche Mädchen jedoch mochte Sex ganz und gar nicht, und auch sonst kaum etwas, soweit ich das feststellen konnte. Sie arbeitete als Bedienung in einem Autokino in der Nähe der Universität. Sie war neunzehn und ein Landei aus den Appalachen; sie war nicht nur engstirnig und ungebildet, sondern auch dumm wie Stroh und fast genauso lebhaft. Jedes Mal, wenn ich mir dort einen Hamburger kaufte, flirtete ich mit ihr. Ich erzählte ihr, ich sei Medizinstudent im ersten Semester. Ich begleitete sie von der Arbeit nach Hause. Bald gab sie mir den Schlüssel zu ihrem Apartment.

Der Sex mit ihr war nicht entspannt. Es war, als müsste ich mich durch wildes Gebüsch hacken, das sich an meine Fußknöchel klammerte und das Gesicht zerkratzte, während ich mich vorwärtskämpfte, mit rasendem Herzen, weil der Antrieb so mächtig war, auf weibliche Genitalien, auf eine triefend nasse Muschi. Am Ende war ihre Muschi nicht besonders feucht, denn sie war nervös und gehemmt. Es war schrecklich, sie zu ficken, auch wenn ich nicht genug davon bekommen konnte. Selbst als endlich ihre Klamotten weg waren und sie unter mir auf dem Bett lag, machte sie nicht mit, sondern widersetzte sich, um den Schein zu wahren, und während der Penetration gab sie sich völlig unbeteiligt, lag stoisch da und vollführte ein oder zwei ablehnende Hüftstöße. Damit wollte sie kundtun, dass sie keine verruchte Person war, sondern diesen peinlichen, scheußlichen Akt nur mir zu liebe als einen widerwillig gewährten Gefallen zuließ.

Es soll immer noch Gesellschaftsschichten geben, wo ein solches Verhalten selbst zwischen verheirateten Paaren üblich ist. Was großartig für die Pornographie ist. Und für die sexuelle Revolution und die Pille und für rebellische, lebenslustige Frauen. Allerdings kann ich es nicht leugnen, dass ich immer noch verklemmt und Amerikanisch genug bin, um schmutzigen Sex zu mögen. Und ich liebe Haare. Weil sie tot und doch etwas Persönliches sind und weil ich gerührt bin von ihrem vergeblichen Bemühen, die Stellen, wo sie wachsen, zu wärmen und zu schützen.

Kapitel Drei

So linkisch und seltsam ich auch seit dem zwölften Lebensjahr war, immer noch fühlte ich mich als romantischer Held und wollte unbedingt eine Versöhnung zwischen meinem Inneren und Äußeren, selbst wenn das Ergebnis grotesk war. Als Kind phantasierte ich manchmal ein Leben als bettlägeriger fettleibiger Einsiedler, der wie eine Spinne in ihrem Netz mit der ganzen Welt fertig wird, empfindlich für jedes Zittern und sofort darauf reagierend. So jemand wie ein verschwenderischer Orson Welles oder verrückter Howard Hughes, ein ruheloser Superman. Ich hielt mich für faszinierend und charmant, wagte aber klugerweise nicht, es in Gesellschaft zu testen.

In der neunten Klasse geriet ich häufiger in kleine Konflikte mit den Autoritäten. Einmal benutzte ich Substanzen aus einem alten Chemie-Baukasten, um in meinem Schulbus eine Explosion herbeizuführen. Es war nur Lärm und Rauch, aber ich hatte meinen Spaß. Dafür erhielt ich drei Tage Schulverbot.

Einige Zeit später legte ich eine Packung Feuerwerkskörper in ein Schließfach auf dem Schulkorridor und brachte sie mit einer brennenden Zigarette zur Explosion. Im Metallschrank gab es ein lautes Krachen. Meine Klassenlehrerin stürzte nach draußen und kam keuchend zurück: »Die Uhr ist explodiert!« Ich konnte nicht aufhören zu lachen, was mich wohl verriet. Diesmal wurde ich für drei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen.

Dann bekam ich völlig überraschend ein Stipendium für Sayre, die einzige Privatschule in der Stadt. Mein Biologielehrer aus der siebten Klasse war dorthin gewechselt, und die Schule hatte mit einem Stipendienprogramm für zwei Schüler begonnen. Meine Mutter erhielt einen Telefonanruf mit dem Angebot, für mich das volle Schulgeld zu bezahlen.

Larry Flynn, der andere Stipendiat, wurde mein bester Freund. Er hatte Leichtathletik als Schwerpunkt, ich sollte mich auf wissenschaftliche Fächer konzentrieren. Er wurde der Quarterback des bunt zusammengewürfelten Footballteams und der Star im Basketball, während meine Noten schlecht blieben, aber uns beiden gefiel die neue Situation. Die reichen Mädchen waren inspirierend. Diese schlanken süß riechenden blassen sommersprossigen Körper, eingewickelt in Kaschmir und in ägyptischer Baumwolle. Die Girls auf der Privatschule waren rauer und in mancher Hinsicht sexier, aber für jemanden wie mich war es schwer, aus ihnen schlau zu werden. (In der achten Klasse, als sich die erste Chance ergab, Sex mit einem Mädchen zu haben – ein armes Arbeiterkind aus der Schule und eine Jungfrau wie ich –, hörte ich irgendwann auf, weil es sie zu schmerzen schien. Schnell fand sie einen weniger rücksichtsvollen Typ.) Ich war glück­lich an einer so kleinen Schule wie Sayre, wo jeder jeden kannte. Allerdings bekam ich auch dort Ärger.

 

In meinem Viertel konnte man damals innerhalb kurzer Zeit ein Auto mit dem Schlüssel im Zündschloss finden. Ich borgte sie mir für Spritztouren mit Freunden und versuchte dabei, das Fahren zu lernen, wobei ich nicht vergaß, den Wagen zurückzubringen, bevor er vermisst wurde. Spät abends schlich ich aus dem Haus, und manchmal nahm ich auch den Wagen meiner Mutter oder der Eltern meiner Freunde. Ich glaube, mit denen ging ich rücksichtsloser um. Zweimal wurde ich dabei erwischt. Das erste Mal, als ich die Wagenschlüssel meiner Mutter klaute.

 

Bild

Im Sayre Basketball-Team, 1965 - neben mir: Larry Flynn.

© mit freundlicher Genehmigung von Richard Meyers

Nachdem es endlos lange gedauert hatte, von meinem Zimmer auf Zehenspitzen die knarrende Treppe runterzuschleichen, ging es durch die Haustür hinaus in die großartige Nacht. Draußen war es wegen des Vollmondes und der Sterne heller als im Haus, es war kühl, das funkelnde graue Gras und das Auto feucht vom Abendtau. Freunde warteten bereits auf mich. Wir schalteten in den Leerlauf, schoben das Auto aus der Auffahrt und rollten es den Hügel hinunter, bevor wir den Motor kommen ließen und losfuhren.

Wir beschlossen, uns nach Cincinnati aufzumachen, etwa 150 Kilometer Richtung Norden. Auf der vierspurigen Autobahn zu fahren, war wie ein Rennen durch den Gang eines leeren riesigen Supermarkts. Große Schilder, die alle möglichen Optionen ankündigten, flitzten an der Windschutzscheibe vorbei. Wir lachten und tranken und rauchten. Das unausgesprochene Risiko, einen Unfall zu bauen, erhöhte noch den Nervenkitzel. Ich hatte ganz sicher nicht alles im Griff. Als wir endlich Cincinnati erreichten, wusste keiner von uns, was wir dort machen sollten, also kehrten wir um.

Wieder in Lexington, beschlossen wir, das Viertel der Schwarzen unter dem Viadukt zu erkunden. Ich verfuhr mich in den schlecht beleuchteten, halbgepflasterten Straßen und bei dem Versuch, aus einer Sackgasse herauszukommen, rammte ich einen Mast und würgte den Motor ab. Als ich ihn wieder anließ, hatte das Auto eine Fehlzündung und beschleunigte unkontrollierbar. Schon eine Minute später rasten wir durch die Stadtmitte. Ich hatte Angst, die Bremsen zu benutzen, weil ich glaubte, das könnte das Auto völlig ruinieren. Also schaltete ich die Zündung aus. Als das Auto im Leerlauf ein vernünftiges Tempo erreichte, startete ich den Motor erneut, wieder gab es eine Fehlzündung, und mit Vollgas ging es weiter. Ziemlich schnell erregte dieses Stop-and-Start Dragsterrennen die Aufmerksamkeit der Polizei, und zwei oder drei Streifenwagen tauchten hinter uns auf. Nach einer kurzen Verfolgungsfahrt von vielleicht einem Kilometer trat ich auf die Bremse, wir sprangen aus dem Wagen und rannten weg. Sie jagten uns mit Hunden und schnappten uns.

 

Bei dem zweiten Vorfall war Leslie Woolfolk beteiligt. Sie war ein blasses, spindeldürres Mädchen, das sich mit einer Gruppe freiwilliger Außenseiterinnen von Sayre herumtrieb. Sie verhöhnten alles und waren wie eine wilde Herde kleinwüchsiger Giraffen mit hübschen, flachen Kätzchengesichtern. Ich mochte sie alle.

Sie war einverstanden, sich mit mir um Mitternacht mit den Autoschlüsseln ihrer Eltern zu treffen. Wir wollten aufs Land nahe der Stadt Versailles fahren, wo ein weiteres Giraffenmädchen auf einer Pferdefarm lebte. Das Auto ihrer Eltern hatte allerdings eine Handschaltung, und das war neu für mich. Wir schafften es bis zur Farm, aber als ich in der Dunkelheit rückwärts aus einer falschen Einfahrt fuhr, vergaloppierte ich mich und blieb hoffnungslos in einem Graben stecken.

Wir verbrachten die kalte Nacht in einer Heuhütte und wärmten uns gegenseitig; leider zog sie die Grenze für Berührungen frustrierend eng. Wir malten uns aus, dass wir den Wagen am nächsten Morgen von einem Traktor herausziehen lassen und dann nach Florida flüchten würden. Im Morgengrauen, als wir wieder im Wagen saßen, klopfte ein Polizist an die Scheibe.

Die Schule drohte mit Ausschluss. Das verstand ich nicht, denn die Sache hatte ja nichts mit der Schule zu tun. Unsere freundlichen Mitschüler jedenfalls protestierten mit einer Petition und der Direktor lenkte ein. Wir wurden beide für zwei Wochen suspendiert.

Als Strafe für das erneute Schulverbot befahl mir meine Mutter, die Holzfassade unseres Hauses zu streichen – die Fenster- und Türrahmen und die Paneelen unter den Dachrinnen. Immerhin erlaubte sie mir, Musik zu hören. Ich hatte einen kleinen tragbaren Plattenspieler mit einem Verlängerungskabel. Ich besaß nur drei LPs: The Rolling Stones, Now!; Bringing It All Back Home von Bob Dylan und Kinks-Size (mit »All Day and All of the Night« und »Tired of Waiting for You«) von den Kinks. Ich spielte sie wieder und wieder, während ich in der Sonne auf der Leiter stand und das Holz anstrich. Die Stones-Platte begann, sich zu wellen. Ich legte sie zwischen zwei Bratpfannen in den heißen Ofen, und am nächsten Tag klang sie sogar noch besser.

Man mag es kaum glauben, doch sieben oder acht Jahre später, als ich selbst eine Band gründete, traf auf diese drei Platten, die ersten, die mir gehörten und die eine Zeitlang meine einzigen waren, immer noch zu, was mich an Musik begeisterte – die Stücke waren schnell, aggressiv und höhnisch, aber komplex und voller Gefühle. Im Jahr 1965 waren sie nur der beiläufige Soundtrack zum Zeit totschlagen; sie bedeuteten mir nicht viel mehr als die Frage, was für ein Hemd jemand trug oder was für ein Fremder neben mir im Bus saß. Klar, wenn ich damals darüber nachgedacht hätte, was ich da hörte, hätte ich gesagt, ich wollte das Leben dieser Jungs haben, die solche Platten machten, bzw. das Leben, das diese Jungs meiner Vorstellung nach hatten, aber ich hielt die Musik einfach für selbstverständlich. Die Musik war alles, was ich wollte – sie erfüllte mich mit Selbstvertrauen und Unruhe und dem Gefühl, ein besonderes Wissen und einen besonderen Sexappeal zu haben, aber ich nahm sie als gegeben hin. Und ich glaubte, ich könnte sie unter den richtigen Umständen selbst machen. Allerdings glaubte ich nicht, dass ich es je versuchen würde. Ich wusste aus Erfahrung, dass das Üben auf einem Instrument langweilig war (ich hatte etwa ein Jahr lang Klarinettenunterricht), und es schien sehr unwahrscheinlich zu sein, ja sogar unvorstellbar, dass jemand, den ich kannte, (nämlich ich) je Platten machen würde.

Kapitel Vier

Eines Tages, auf mir lag der Schatten meiner Teenager-Vergehen, fuhr mich meine Mutter schweigend durch den Verkehr zu einem Einkaufszentrum. Ich saß auf dem großen Vordersitz des ‘55 Buick, der den Kaiser ersetzt hatte. Wortlos hielt sie plötzlich am Straßenrand an und schlug immer wieder heftig ihren Kopf gegen das Lenkrad. Von ihrer Stirn rann Blut. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

 

Es war wahrscheinlich mein letztes Missgeschick in Lexington, das zu der verzweifelten Reaktion meiner Mutter führte. Rebecca, die Kellnerin bei Big Boy, mit der ich als Fünfzehnjähriger den ganzen Sommer verbrachte, war eines Abends früher von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte mich trinkend mit ein paar Mädchen in ihrem Apartment erwischt. Aus Rache rief sie meine Mutter an und behauptete, von mir schwanger zu sein. Sie rief auch den Leiter der Englischabteilung an der Universität an, wo meine Mutter studierte.

Zu dieser Zeit schloss meine Mutter ihre Doktorarbeit ab und bekam eine Stelle als Dozentin für Amerikanische Literatur am Old Dominion, einer staatlichen Universität in Norfolk (Virginia). Dorthin fuhren wir im Sommer 1965 in unserem ersten nagelneuen Wagen, einen roten kleinen Chevy Corvair, den Onkel Dick und Tante Phyllis ihr zur Promotion geschenkt hatten. Wir zogen in ein Apartment im zweiten Stock eines alten zweistöckigen Hauses an der Jamestown Crescent, der Hauptavenue von Larchmont, einem ruhigen, baumbeschatteten Wohnviertel aus den zwanziger Jahren. Das College lag ganz in der Nähe.

Norfolk war ein Nicht-Ort. Dagegen sah selbst Lexington elegant aus. Sein Herz war eine riesige Marinebasis, die größte der Welt, und der Rest der Stadt war eine genaue Entsprechung dieser Trostlosigkeit in Stahl und Beton. Alle Standorte waren durch kleine Tunnel und Brücken über einem Netzwerk verschmutzter Buchten und Wasserstraßen miteinander verbunden. Es gab nur noch wenige Backsteinzeugnisse eines alten Virginia, das mindestens so konservativ war wie das anonyme Militär. Selbst Virginia Beach, die zwanzig Meilen entfernte Atlantikküste, derentwegen meine Mutter den Job überhaupt attraktiv fand, war hässlich: eine schäbige Ansammlung protziger Mittelklassehotels oder schmuddeliger Billigpensionen, umgeben von Reklameschildern, T-Shirt- und Souvenirläden, Fast-Food-Ketten und anein­andergereihter öder Strandhäuser.

Ich wurde für die elfte Klasse in einer riesigen öffentlichen High School angemeldet. Ich war nie fähig gewesen zu lernen, und ich wusste, ich würde wieder sozial nicht dazugehören. Ich hätte lieber ein Zimmer allein in einer billigen Pension irgendwo in den USA gehabt als Schulbücher durch diese scheußlichen Korridore zu tragen.