Philip Roth

Empörung

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Werner Schmitz

Carl Hanser Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008

unter dem Titel Indignation bei Houghton Mifflin in Boston.

ISBN 978-3-446-25127-4

© Philip Roth 2008

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2009/2015

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

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Inhalt

Unter Morphium

Aus und vorbei

Historische Anmerkung

Für K.W.

Olaf (auf dem was einst Knie waren)

wiederholt schier unablässig

»nicht jeden Mist fress ich«

E. E. Cummings,

»i sing of Olaf glad and big«

Unter Morphium

Ungefähr zweieinhalb Monate nachdem die gutausgebildeten, von den Sowjets und den chinesischen Kommunisten mit Waffen ausgerüsteten Divisionen Nordkoreas am 25. Juni 1950 über den 38. Breitengrad vorgedrungen waren und mit dem Einmarsch in Südkorea das große Leid des Koreakriegs begonnen hatte, kam ich aufs Robert Treat, ein kleines College in Newark, benannt nach dem Mann, der die Stadt im siebzehnten Jahrhundert gegründet hatte. Ich war das erste Mitglied unserer Familie, das nach höherer Bildung strebte. Keiner meiner Vettern hatte es über die Highschool hinaus geschafft, und weder mein Vater noch seine drei Brüder hatten die Grundschule beendet. »Ich habe für Geld gearbeitet«, erzählte mir mein Vater, »seit ich zehn Jahre alt war.« Er hatte eine kleine Metzgerei, für die ich während der ganzen Highschool-Zeit auf meinem Fahrrad Bestellungen auslieferte, jedoch nicht in der Baseball-Saison und an den Nachmittagen, an denen ich als Mitglied des Debattierclubs an Wettkämpfen mit anderen Schulen teilnehmen musste. Praktisch von dem Tag an, als ich das Geschäft verließ – wo ich zwischen meinem Highschool-Abschluss im Januar und dem Beginn des Colleges im September Sechzig-Stunden-Wochen für ihn gearbeitet hatte –, praktisch von dem Tag an, als ich am Robert Treat zu studieren anfing, hatte mein Vater Angst, dass ich sterben würde. Vielleicht hatten seine Befürchtungen etwas mit dem Krieg zu tun, in den die Armee der Vereinigten Staaten unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen eingetreten war, um die Bemühungen der schlechtausgebildeten und unzureichend ausgerüsteten südkoreanischen Armee zu unterstützen; vielleicht hatten sie etwas mit den schweren Verlusten zu tun, die unsere Truppen im Kampf gegen die Feuerkraft der Kommunisten erlitten; vielleicht fürchtete er, dass ich, falls der Konflikt sich ebenso lang hinziehen sollte wie der Zweite Weltkrieg, eines Tages eingezogen und auf dem südkoreanischen Schlachtfeld sterben würde, wie meine Vettern Abe und Dave im Zweiten Weltkrieg gestorben waren. Vielleicht aber waren seine Befürchtungen auch finanzieller Natur: ein Jahr zuvor war nur wenige Straßen von unserem koscheren Metzgerladen entfernt der erste Supermarkt des Viertels eröffnet worden, und seither waren unsere Umsätze stetig zurückgegangen, teils weil die Fleisch- und Geflügelabteilung des Supermarkts die Preise meines Vaters unterbot, teils weil die Zahl der Familien, die auf eine koschere Lebensführung Wert legten und koscheres Fleisch und Geflügel nur in einem Laden kauften, der das Placet des Rabbiners hatte und dessen Inhaber Mitglied des Verbands koscherer Metzger von New Jersey war, nach dem Krieg stark abgenommen hatte. Oder aber er hatte Angst um mich, weil er um sich selbst Angst hatte, denn mit fünfzig Jahren wurde dieser stämmige kleine Mann, nachdem er sich ein Leben lang einer robusten Gesundheit erfreut hatte, zunehmend von einem beharrlichen Husten gequält, der ihn zum Leidwesen meiner Mutter jedoch nicht davon abhielt, auch weiterhin den ganzen Tag lang mit einer glimmenden Zigarette im Mundwinkel herumzulaufen. Was auch immer hinter der abrupten Veränderung seines zuvor so gütigen väterlichen Verhaltens stecken mochte, ob ein einzelner Grund oder eine Kombination mehrerer Gründe, jedenfalls äußerten sich seine Befürchtungen darin, dass er sich Tag und Nacht nach meinem Verbleib erkundigte. Wo warst du? Warum warst du nicht zu Hause? Kannst du mir nicht sagen, wo du hingehst, wenn du das Haus verlässt? Du bist jung und hast eine großartige Zukunft vor dir – wie soll ich wissen, dass du nicht irgendwo hingehst, wo du getötet werden könntest?

Diese Fragen waren absurd, da ich auf der Highschool immer ein vernünftiger, verantwortungsbewusster, fleißiger, sehr guter Schüler gewesen war, der nur mit den nettesten Mädchen ausging, ein engagiertes Mitglied des Debattierclubs und ein vielseitig einsetzbarer Infielder der Schul-Baseballmannschaft, ein junger Mensch, der sich gern in die Normen seines Viertels und seiner Schule fügte. Außerdem waren diese Fragen irritierend – als habe der Vater, dem ich in all diesen Jahren so nahe gewesen war, an dessen Seite ich im Laden praktisch aufgewachsen war, plötzlich keine Vorstellung mehr davon, wer oder was sein Sohn eigentlich war. Im Laden entzückten die Kunden ihn und meine Mutter immer wieder, wenn sie ihnen sagten, was für eine Freude es sei, den Kleinen zu sehen, dem sie gern Kekse mitbrachten – damals, als sein Vater ihm öfter mal fettiges Fleisch zum Spielen gab, das er, freilich mit einem stumpfen Messer, wie ein »großer Metzger« zerkleinern durfte –, was für eine Freude, ihn zu einem wohlerzogenen, höflichen jungen Mann heranwachsen zu sehen, der das Rindfleisch für sie durch den Wolf drehte, der das Sägemehl auf dem Fußboden ausstreute und zusammenfegte und pflichtbewusst die restlichen Federn von den Hälsen der an Haken an der Wand entlang aufgehängten Hühner rupfte, wenn sein Vater ihm zurief: »Machst du bitte für Mrs. Soundso zwei Hühnchen fertig, Markie?« In den sieben Monaten vor dem College ließ er mich mehr als Fleisch hacken und Hühnchen rupfen. Er brachte mir bei, wie man ein Lammkarree auslöst und daraus Koteletts schneidet, wie man die einzelnen Rippen auslöst und wie man, unten angekommen, den Rest mit dem Hackmesser abtrennt. Und immer war er bei diesen Lektionen die Ruhe selbst. »Solange du mit dem Hackmesser nicht deine Hand triffst, ist alles in Ordnung«, sagte er. Er brachte mir bei, mich mit unseren anspruchsvolleren Kunden in Geduld zu üben, insbesondere mit denen, die das Fleisch aus allen Blickwinkeln betrachten wollten, bevor sie es kauften, mit Leuten, denen ich das Huhn so hinzuhalten hatte, dass sie ihm buchstäblich ins Arschloch sehen konnten, um auch ganz sicher zu sein, dass es sauber war. »Du ahnst ja nicht, was manche dieser Frauen dich anstellen lassen, bevor sie ihr Huhn kaufen«, sagte er. Und dann machte er sie nach: »›Drehen Sie es um. Nein, ganz herum. Zeigen Sie mir das Hinterteil.‹« Ich musste die Hühner nicht nur rupfen, sondern auch ausnehmen. Dazu schlitzt man den Hintern ein wenig auf, schiebt die Hand hinein, packt die Eingeweide und zieht sie raus. Eine sehr unangenehme Arbeit. Ekelhaft, widerlich, aber es musste ja getan werden. Das habe ich von meinem Vater gelernt, und ich habe es gern von ihm gelernt: Dass man tut, was zu tun ist.

Unser Geschäft lag an der Lyons Avenue in Newark, einen Block vom Beth Israel Hospital entfernt, und im Schaufenster hatten wir eine breite, leicht nach vorn geneigte Fläche für das Eis. Regelmäßig kauften wir von einem Lieferanten gehacktes Eis, verteilten es dort und legten unser Fleisch so darauf aus, dass die Leute es im Vorbeigehen sehen konnten. In den sieben Monaten vor dem College, die ich ganztags im Geschäft arbeitete, dekorierte ich das Schaufenster für ihn. »Marcus ist der Künstler«, sagte mein Vater, wenn Kunden sich zu der Auslage äußerten. Ich legte dort alles hinein. Ich legte Steaks hinein, ich legte Hühnchen hinein, ich legte Lammhaxen hinein – alles, was wir anzubieten hatten, ordnete und arrangierte ich in unserem Schaufenster zu »künstlerischen« Mustern. Das Ganze schmückte ich mit Farnwedeln, die ich aus dem Blumenladen gegenüber dem Krankenhaus besorgte. Und ich schnitt und hackte und verkaufte nicht nur Fleisch und dekorierte das Schaufenster mit Fleisch, sondern in diesen sieben Monaten, in denen ich als sein Handlanger meine Mutter vertrat, begleitete ich meinen Vater frühmorgens auf den Großmarkt und lernte dort auch, Fleisch einzukaufen. Er fuhr dort einmal die Woche hin, um fünf, halb sechs Uhr morgens, denn wenn man selbst auf den Markt ging und das Fleisch aussuchte und zu seinem Laden transportierte und dort im Kühlraum lagerte, sparte man den Aufpreis für die Lieferung. Wir kauften ein ganzes Rinderviertel, und wir kauften ein Vorderviertel vom Lamm für Lammkoteletts, und wir kauften ein Kalb, und wir kauften Rinderlebern, und wir kauften ein paar Hühner und Hühnerlebern, und da wir auch dafür Kunden hatten, kauften wir auch Hirn. Wir öffneten den Laden um sieben Uhr morgens und arbeiteten bis sieben, acht Uhr abends. Ich war siebzehn, jung, eifrig und voller Energie, aber um fünf war ich fix und fertig. Und er, er war noch immer bei Kräften, warf sich hundert Pfund schwere Viertel über die Schultern, schritt damit hinein und hängte sie an den Haken im Kühlraum auf. Und er schwang Hackbeil und Messer und schnitt und zerteilte, und um sieben Uhr abends, wenn ich schon fast zusammenbrach, füllte er noch Bestellungen aus. Aber es war meine Aufgabe, als letztes, bevor wir nach Hause gingen, die Metzgerblöcke zu säubern, sie mit Sägemehl zu bestreuen und dann mit der Eisenbürste abzuschrubben, und immer gelang es mir nur unter Aufbietung meiner letzten Kräfte, das Blut wegzukratzen, damit der Laden koscher blieb.

In der Rückschau erscheinen mir diese sieben Monate als eine wunderbare Zeit – wunderbar bis auf das Ausnehmen der Hühner. Und selbst das war auf seine Weise wunderbar, weil es etwas war, was man tat, und zwar gewissenhaft, an dem einem gar nichts lag. Man lernte also etwas, wenn man das tat. Und ich lernte gern – mehr davon! Und ich hatte meinen Vater gern, und er mich – mehr als jemals zuvor. Im Laden machte ich uns zu essen, ihm und mir. Wir aßen dort nicht nur, wir bereiteten dort auch unser Essen zu, auf einem kleinen Grill im Hinterzimmer, dort, wo wir auch das Fleisch zerteilten und zum Verkauf fertig machten. Ich grillte Hühnerleber für uns, ich grillte kleine Steaks für uns, und nie waren wir beide glücklicher miteinander. Und doch fing nur wenig später der zerstörerische Kampf zwischen uns an: Wo warst du? Warum warst du nicht zu Hause? Kannst du mir nicht sagen, wo du hingehst, wenn du das Haus verlässt? Du bist jung und hast eine großartige Zukunft vor dir – wie soll ich wissen, dass du nicht irgendwo hingehst, wo du getötet werden könntest?

Im Herbst begann ich das erste Semester am Robert Treat, und jedesmal, wenn mein Vater unsere Vorder- und Hintertür doppelt abgeschlossen hatte und ich, wenn ich abends zwanzig Minuten später nach Hause kam, als er gedacht hatte, mit meinen Schlüsseln weder die eine noch die andere zu öffnen vermochte und erst laut klopfen musste, um Einlass zu finden, glaubte ich, dass er verrückt geworden war.

Und das stimmte: verrückt vor Sorge, dass sein zärtlich geliebtes einziges Kind ebensowenig auf die Gefahren des Lebens vorbereitet war wie jeder andere, der ins Mannesalter eintrat, verrückt ob der beängstigenden Feststellung, dass ein kleiner Junge heranwächst, größer wird, seine Eltern in den Schatten stellt und dass man ihn dann nicht mehr halten kann, dass man ihn der Welt überlassen muss.

Nach nur einem Jahr verließ ich das Robert Treat. Ich verließ das College, weil mein Vater plötzlich den Glauben daran verloren hatte, dass ich auch nur allein die Straße überqueren konnte. Ich verließ das College, weil die Überwachung durch meinen Vater unerträglich geworden war. Dieser sonst so gelassene Mann, der nur selten aus der Haut fuhr, machte bei der Aussicht auf meine Selbständigkeit den Eindruck, als sei er fest entschlossen, Gewalt anzuwenden, sollte ich es wagen, ihn im Stich zu lassen, während ich – dessen Fähigkeiten als kaltblütiger Logiker mich in der Highschool zur tragenden Säule des Debattierclubs gemacht hatten – angesichts seiner Beschränktheit und Unvernunft vor Enttäuschung nur noch heulen konnte. Ich musste von ihm weg, bevor ich ihn noch umbrachte – wie ich ungestüm meiner verzweifelten Mutter erklärte, die ihren Einfluss auf ihn ebenso unerwartet verloren hatte wie ich meinen.

Eines Abends kam ich gegen halb zehn mit dem Bus aus der Stadt nach Hause. Ich war in der Hauptfiliale der Newark Public Library gewesen, da das Robert Treat nicht über eine eigene Bibliothek verfügte. Ich hatte das Haus morgens um halb neun verlassen und den ganzen Tag am College verbracht, und meine Mutter empfing mich mit den Worten: »Dein Vater ist losgegangen, um dich zu suchen.« »Wie bitte? Wo sucht er mich denn?« »Im Billardsalon.« »Aber ich kann doch gar nicht Billard spielen. Was denkt er sich? Ich habe gelernt, Herrgott noch mal. Ich habe einen Aufsatz geschrieben. Ich habe gelesen. Was glaubt er eigentlich, was ich Tag und Nacht mache?« »Er hat mit Mr. Pearlgreen über Eddie gesprochen, und das hat ihn völlig aus der Fassung gebracht.« Eddie Pearlgreen, dessen Vater unser Klempner war, hatte mit mir zusammen die Highschool besucht und war dann nach Panzer in East Orange gegangen, um am dortigen College Sportpädagogik zu studieren. Wir hatten schon als Kinder miteinander Baseball gespielt. »Ich bin nicht Eddie Pearlgreen«, sagte ich, »ich bin ich.« »Aber weißt du, was er getan hat? Ohne jemandem ein Wort zu sagen, ist er mit dem Auto seines Vaters nach Pennsylvania gefahren, nach Scranton, um dort in irgendeinem besonderen Salon Billard zu spielen.« »Aber Eddie ist ein As am Billardtisch. Wundert mich gar nicht, dass er nach Scranton gefahren ist. Eddie denkt schon morgens beim Zähneputzen ans Billardspielen. Würde mich nicht wundern, wenn er zum Mond fliegen würde, um Billard zu spielen. Wenn Eddie mit Leuten spielt, die ihn nicht kennen, tut er zuerst so, als sei er auch nicht besser als sie, und dann spielen sie um fünfundzwanzig Dollar pro Runde, und er nimmt sie nach Strich und Faden auseinander.« »Mr. Pearlgreen sagt, er wird noch als Autodieb enden.« »Ach, Mutter, das ist doch lächerlich. Egal, was Eddie treibt, es hat doch nichts mit mir zu tun. Werde ich als Autodieb enden?« »Natürlich nicht, mein Junge.« »Ich bin nicht wie Eddie, ich mag dieses Spiel nicht, ich mag diese ganze Atmosphäre nicht. Diese Halbwelt interessiert mich nicht, Ma. Mich interessieren Dinge, die wichtig sind. In einen Billardsalon würde ich nicht mal einen Blick werfen. Hör mir gut zu, ich werde nicht noch einmal erklären, was ich bin und was ich nicht bin. Ich werde mich nicht noch einmal erklären. Ich werde niemandem mehr meine Eigenschaften aufzählen, und mein verdammtes Pflichtgefühl werde ich auch nicht mehr erwähnen. Ich werde mir seinen absurden Mist nicht ein einziges Mal mehr gefallen lassen!« Wie aufs Stichwort trat in diesem Augenblick mein Vater durch die Hintertür ins Haus; er stank nach Zigarettenrauch und war immer noch außer sich, jetzt allerdings nicht, weil er mich in einem Billardsalon gefunden hatte, sondern weil er mich dort nicht gefunden hatte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, in die Stadt zu fahren und mich in der Bibliothek zu suchen – und zwar deshalb, weil man in der Bibliothek nicht mit einem Queue verprügelt wird, wenn man seine Mitspieler über seine wahren Fähigkeiten getäuscht hat, und weil dort auch niemand mit dem Messer auf einen losgeht, wenn man ein vom Lehrer aufgegebenes Kapitel aus Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Imperiums liest, wie ich es seit sechs Uhr an diesem Abend getan hatte.

»Hier steckst du also«, stellte er fest. »Ja. Schon seltsam, oder? Zu Hause. Ich schlafe hier. Ich wohne hier. Ich bin dein Sohn, weißt du noch?« »Ach ja? Ich habe überall nach dir gesucht.« »Warum? Warum? Kann mir bitte mal einer erklären, warum ›überall‹?« »Weil, falls dir was zustoßen sollte – falls dir jemals etwas zustoßen sollte –« »Aber mir wird nichts zustoßen. Dad, ich bin nicht diese Landplage Eddie Pearlgreen! Ich spiele nicht Billard! Mir wird nichts zustoßen.« »Ich weiß, dass du nicht er bist, Herrgott. Ich weiß besser als jeder andere, dass ich Glück gehabt habe mit meinem Sohn.« »Worum geht es denn dann, Dad?« »Es geht um das Leben, wo der kleinste Fehltritt tragische Folgen haben kann.« »O Gott, du redest wie ein Glückskeks.« »Tu ich das? Tu ich das wirklich? Nicht wie ein besorgter Vater, sondern wie ein Glückskeks? So hört sich das also an, wenn ich mit meinem Sohn von der Zukunft rede, die vor ihm liegt und die jede Kleinigkeit zerstören kann, jede winzige Kleinigkeit?« »Ach, hör doch endlich auf!« rief ich und lief aus dem Haus und überlegte, wo ich auf die Schnelle ein Auto klauen konnte, um zum Billardspielen nach Scranton zu fahren und mir nebenbei auch gleich einen Tripper zu holen.

Später erfuhr ich von meiner Mutter die ganzen Umstände dieses Tages: dass Mr. Pearlgreen am Morgen vorbeigekommen war, um die Toilette im hinteren Teil unseres Geschäfts zu reparieren, und mein Vater dann bis zum Feierabend über ihr Gespräch nachgegrübelt hatte. Er muss drei Päckchen Zigaretten geraucht haben, so aufgewühlt war er, sagte meine Mutter. »Du ahnst nicht, wie stolz er auf dich ist«, sagte sie. »Jeder Kunde bekommt das zu hören – ›Mein Sohn, nur Einsen in der Schule. Enttäuscht uns nie. Braucht gar nicht in seine Bücher zu sehen – kann das alles so. Nur Einsen.‹ Junge, wenn du nicht dabei bist, lobt er dich über den grünen Klee. Das musst du mir glauben. Du bist sein ganzer Stolz.« »Und wenn ich dabei bin, verkörpere ich alle seine verrückten neuen Ängste, und das steht mir bis hier, Ma.« Meine Mutter sagte: »Aber ich habe ihn gehört, Markie. Er hat zu Mr. Pearlgreen gesagt: ›Gott sei Dank muss ich mir bei meinem Sohn keine Sorgen wegen solcher Dinge machen.‹ Ich war bei ihm im Laden, als Mr. Pearlgreen kam, um die undichte Stelle zu reparieren. Genau das hat er gesagt, nachdem Mr. Pearlgreen ihm von Eddie erzählt hatte. Das waren seine Worte: ›Ich muss mir bei meinem Sohn keine Sorgen wegen solcher Dinge machen.‹ Aber was antwortet Mr. Pearlgreen ihm darauf – und das hat ihn so aus der Fassung gebracht –, er sagt: ›Hören Sie, Messner. Ich mag Sie, Messner, Sie waren gut zu uns, Sie haben meine Frau im Krieg mit Fleisch versorgt, hören Sie auf einen, der Bescheid weiß, weil es ihm selbst passiert ist. Auch Eddie geht aufs College, aber das bedeutet nicht, dass er klug genug ist, sich vom Billard fernzuhalten. Wie haben wir Eddie verloren? Er ist kein schlechter Junge. Und was ist mit seinem jüngeren Bruder – was für ein Beispiel gibt er seinem jüngeren Bruder? Was haben wir falsch gemacht, dass er plötzlich in einem Billardsalon in Scranton auftaucht, drei Stunden von zu Hause? Mit meinem Auto! Woher hat er das Geld fürs Benzin? Vom Billardspielen? Billard! Billard! Hören Sie auf meine Worte, Messner: die Welt wartet nur darauf, Ihnen Ihren Jungen wegzunehmen, die leckt sich schon die Lippen.‹« »Und mein Vater glaubt ihm«, sagte ich. »Mein Vater glaubt nicht, was er sein Leben lang mit eigenen Augen sieht, statt dessen glaubt er, was ihm der Klempner erzählt, der auf den Knien herumrutscht und die Toilette in seinem Laden repariert!« Ich konnte mich nicht mehr bremsen. Er hatte sich von der hingeworfenen Bemerkung eines Klempners verrückt machen lassen! »Ja, Ma«, sagte ich schließlich, als ich schon aus dem Zimmer stürmte, »die winzigsten Kleinigkeiten haben wirklich tragische Folgen. Er ist der leibhaftige Beweis dafür!«

Ich wollte weg, wusste aber nicht, wohin. Für mich waren alle Colleges gleich. Auburn. Wake Forest. Ball State. SMU. Vanderbilt. Muhlenberg. Für mich waren das bloß Namen von Football-Teams. Jedes Jahr im Herbst saß ich samstagabends gespannt vorm Radio und lauschte den Ergebnissen der College-Spiele in Bill Sterns Sportsendung, hatte aber kaum eine Vorstellung von den Unterschieden in der wissenschaftlichen Ausrichtung zwischen den teilnehmenden Schulen. Louisiana State 35, Rice 20; Cornell 21, Lafayette 7; Northwestern 14, Illinois 13. Diese Unterschiede sagten mir etwas: die Spielergebnisse. Ein College war ein College – dass man eins besuchte und am Ende einen Abschluss machte, war alles, was in einer so weltfremden Familie wie der meinen von Bedeutung war. Ich sollte auf das College in der Stadt gehen, weil es gut zu erreichen war und wir es uns leisten konnten.

Und mir war das recht. Am Anfang meines Erwachsenenlebens, bevor plötzlich alles so kompliziert wurde, besaß ich ein großes Talent darin, mit allem zufrieden zu sein. Das war schon während meiner ganzen Kindheit so, und in meinem ersten Jahr am Robert Treat hatte ich es immer noch in meinem Repertoire. Ich ging mit Begeisterung dorthin. Bald verehrte ich meine Professoren, und Freunde fand ich auch, die meisten von ihnen kamen wie ich aus Arbeiterfamilien und waren mir, was ihren Bildungsstand betraf, kaum oder gar nicht überlegen. Einige waren Juden und mit mir auf die Highschool gegangen, die meisten aber nicht; anfangs fand ich es aufregend, mit ihnen zusammen zu Mittag zu essen, weil sie Iren oder Italiener waren – für mich eine ganz neue Kategorie nicht nur von Einwohnern Newarks, sondern von Menschen überhaupt. Und ich fand es aufregend, Kurse am College zu besuchen; gewiss, das waren Anfängerkurse, aber sie bewirkten etwas in meinem Gehirn, ähnlich wie zu der Zeit, als ich zum erstenmal das Alphabet erblickte. Zudem hatte ich in diesem Frühjahr – nachdem der Trainer mir beigebracht hatte, den Schläger ein wenig höher zu packen und den Ball übers Infield und ins Outfield zu schlagen, statt wie auf der Highschool einfach blindlings drauflos zu schmettern – die Position eines Stammspielers im kleinen Baseball-Team der Erstsemester errungen und spielte als Secondbaseman neben einem Shortstop namens Angelo Spinelli.

Vor allem aber lernte ich; und in jeder Stunde jedes Schultags entdeckte ich etwas Neues, und ebendeshalb gefiel es mir auch, dass das Robert Treat so klein und unauffällig war, eher wie ein Nachbarschaftsclub als ein College. Robert Treat lag ziemlich versteckt am Nordrand der geschäftigen Innenstadt mit ihren Bürogebäuden, Warenhäusern und von Familien betriebenen Spezialgeschäften, eingeklemmt zwischen einem kleinen dreieckigen Park zur Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg, wo sich die verwahrlosten Penner herumtrieben (von denen wir die meisten beim Namen kannten), und dem schlammigen Passaic. Das College bestand aus zwei wenig bemerkenswerten Gebäuden: das eine war eine ehemalige Brauerei, ein rauchgeschwärzter Backsteinbau in der Nähe des Industriegebiets am Flussufer, der nun Klassenzimmer und Labore beherbergte, in denen wir Biologieunterricht bekamen, und das andere, einige Blocks davon entfernt auf der anderen Seite der Hauptdurchgangsstraße der Stadt und gegenüber dem kleinen Park, den wir anstelle eines Campus besaßen – und wo wir mittags saßen und die belegten Brote verzehrten, die wir im Morgengrauen eingepackt hatten, während die Penner neben uns auf der Bank ihre Muskatellerflasche herumgehen ließen –, ein vierstöckiges neoklassizistisches Steingebäude mit Säulen vorm Eingang, das von außen noch genauso aussah wie das Bankhaus, das es in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lange Zeit gewesen war. Darin befanden sich die Verwaltungsräume des Colleges und die behelfsmäßigen Klassenzimmer, in denen Geschichte, Englisch und Französisch von Professoren unterrichtet wurde, die mich nicht mit »Marcus« oder »Markie«, sondern mit »Mr. Messner« anredeten, und deren schriftliche Aufgaben ich jedesmal vorauszuahnen und vor der bestimmten Zeit zu erledigen versuchte. Ich wollte unbedingt erwachsen sein, ein gebildeter, reifer, selbständiger Erwachsener, also genau das, was mein Vater so fürchtete, er, der so unermesslich stolz war auf meinen Fleiß in der Schule und meinen in der Familie einmaligen Status als Collegestudent, auch wenn er mich zur Strafe dafür, dass ich die geringfügigsten Privilegien des jungen Erwachsenenalters auszuprobieren begann, aus unserem Haus aussperrte.

Mein erstes Collegejahr war das beglückendste und zugleich furchtbarste Jahr meines Lebens, und das war der Grund, weshalb ich im Jahr darauf in Winesburg landete, einem kleinen, auf Geisteswissenschaften und Technik spezialisierten College im landwirtschaftlich geprägten Norden von Ohio, achtzehn Meilen vom Erie-See und fünfhundert Meilen entfernt von der doppelt abgeschlossenen Hintertür unseres Hauses. Der malerisch auf einem Hügel gelegene Campus von Winesburg mit seinen hohen, wohlgeformten Bäumen (später erfuhr ich von einer Freundin, dass es sich um Ulmen handelte) und seinen efeuumrankten Innenhöfen hätte den Hintergrund für einen jener farbenfrohen College-Musicalfilme abgeben können, in denen die Studenten nichts als Singen und Tanzen im Kopf haben, statt sich ihren Studien zu widmen. Um mein Studium fern von zu Hause zu finanzieren, musste mein Vater Isaac entlassen, den höflichen, stillen orthodoxen jungen Mann mit Scheitelkäppchen, der nach meinem Eintritt ins College als Gehilfe eingestellt worden war, und meine Mutter, deren Arbeit Isaac nach und nach hätte übernehmen sollen, musste wieder als Vollzeitmitarbeiterin meines Vaters anfangen. Nur so konnten sie über die Runden kommen.

Ich wurde in der Jenkins Hall untergebracht, wo ich erfuhr, dass die drei anderen Jungen, mit denen ich das Zimmer teilen sollte, Juden waren. Das kam mir merkwürdig vor, erstens, weil ich erwartet hatte, im Wohnheim nur einen Zimmergenossen zu haben, und zweitens, weil ich mir von dem Abenteuer, ein College im fernen Ohio zu besuchen, auch die Chance erhofft hatte, unter Nichtjuden zu leben und herauszufinden, wie das war. Meine Eltern hielten dies für einen befremdlichen, wenn nicht gar gefährlichen Wunsch, aber ich als Achtzehnjähriger fand das vollkommen vernünftig. Spinelli, der Shortstop – der wie ich später Jura studieren wollte –, war am Robert Treat mein bester Freund gewesen, und als er mich einmal in den italienischen First Ward der Stadt nach Hause mitgenommen und ich seine Familie kennengelernt, ihr Essen gegessen und sie mit ihrem Akzent reden und auf italienisch herumalbern gehört hatte, war das für mich nicht weniger faszinierend gewesen als der zweisemestrige Einführungskurs in die Geschichte der westlichen Zivilisation, wo der Professor von Stunde zu Stunde ein wenig mehr darüber enthüllte, wie es auf der Welt zugegangen war, bevor ich existierte.

Das Zimmer im Wohnheim war ein muffiger, schlechtbeleuchteter Schlauch mit abgenutztem Holzfußboden, zweistöckigen Etagenbetten an den beiden Schmalseiten und vier klobigen, zerschrammten Schreibtischen an den tristen grünen Wänden. Ich nahm die Koje unter dem bereits von einem schlaksigen, bebrillten schwarzhaarigen Jungen besetzten Bett, der Bertram Flusser hieß. Als ich mich ihm vorstellen wollte, machte er sich nicht die Mühe, mir die Hand zu geben, sondern bedachte mich mit einem Blick, als gehörte ich einer Spezies an, die ihm bisher zum Glück noch nie über den Weg gelaufen war. Die anderen beiden musterten mich ebenfalls, aber keineswegs geringschätzig, und als ich mich ihnen vorstellte, erwiderten sie das auf eine Weise, die mich halbwegs davon überzeugte, dass es sich bei Flusser um eine Ausnahme handelte. Alle drei hatten Englisch als Hauptfach und arbeiteten in der Theatergruppe des Colleges mit. Keiner von ihnen war in einer Verbindung.

Es gab auf dem Campus zwölf Verbindungen, aber nur zwei davon nahmen Juden auf: eine kleine, rein jüdische Verbindung mit etwa fünfzig Mitgliedern und eine etwa halb so große, konfessionell nicht gebundene, gegründet von einer Handvoll Idealisten, die jeden aufnahmen, den sie bekommen konnten. Die übrigen zehn waren ausschließlich männlichen weißen Christen vorbehalten, eine Regelung, die auf einem Campus, der so viel Wert auf Tradition legte, niemand als provozierend empfinden konnte. Die beeindruckenden christlichen Verbindungshäuser mit ihren Feldsteinfassaden und schlossartigen Eingangsportalen beherrschten die von Bäumen gesäumte Buckeye Street, in deren Mitte sich ein kleiner Park mit einer Kanone aus dem Bürgerkrieg befand, die einer jedem Neuling gegenüber wiederholten schlüpfrigen Bemerkung zufolge jedesmal losdonnerte, wenn eine Jungfrau vorbeiging. Die Buckeye Street führte vom Campus durch die Straßen der Wohngebiete mit ihren großen Bäumen und gepflegten alten Holzhäusern zur Main Street, der einzigen Geschäftsstraße der Stadt, die sich über vier Blocks hinweg von der Brücke über den Wine Creek am einen Ende bis zum Bahnhof am anderen Ende erstreckte. Das auffälligste Gebäude der Main Street war das New Willard House, das Gasthaus, in dessen Schankraum sich an Football-Wochenenden ehemalige Studenten trafen, um in angeheiterter Stimmung von ihren Collegezeiten zu schwärmen, und wo ich durch die Stellenvermittlung des Colleges einen Job bekam und an Freitag- und Samstagabenden für den Mindestlohn von fünfundsiebzig Cent die Stunde plus Trinkgeld als Kellner arbeitete. Das gesellschaftliche Leben der rund zwölfhundert Collegestudenten spielte sich hauptsächlich hinter den wuchtigen, mit Ziernägeln beschlagenen schwarzen Türen der Verbindungshäuser und auf den weiten grünen Rasenflächen dahinter ab – wo man praktisch bei jedem Wetter zwei oder drei Jungen sehen konnte, die sich einen Football zuwarfen.

Mein Zimmergenosse Flusser hatte für alles, was ich sagte, nur Verachtung übrig und machte sich gnadenlos über mich lustig. Wenn ich versuchte, freundlich zu ihm zu sein, nannte er mich Märchenprinz. Wenn ich ihn bat, mich in Ruhe zu lassen, sagte er: »So ein großer Junge, und so dünnhäutig.« Abends, wenn ich schon im Bett lag, musste er unbedingt Beethoven auf seinem Plattenspieler spielen – in einer Lautstärke, die meine anderen beiden Zimmergenossen nicht so zu stören schien wie mich. Ich hatte von klassischer Musik keine Ahnung, sie gefiel mir auch nicht besonders, und außerdem brauchte ich meinen Schlaf, falls ich den Wochenendjob weitermachen und auch hier die Noten bekommen wollte, die mir am Robert Treat in den zwei Semestern, die ich dort war, besonderes Lob eingebracht hatten. Flusser selbst stand nie vor Mittag auf, auch nicht, wenn er Unterricht hatte, und von seinem stets ungemachten Bett hingen die nachlässig zurückgeschlagenen Decken weit über die Kante, so dass ich von meiner Koje aus kaum etwas vom Zimmer sehen konnte. Das Leben in solcher Nähe zu ihm war noch schlimmer als das Zusammenleben mit meinem Vater während meines ersten Collegejahrs – mein Vater hatte wenigstens den ganzen Tag in der Metzgerei verbracht und sich, wenn auch übertrieben, um mein Wohlergehen gesorgt. Meine drei Zimmergenossen wirkten an der für den Herbst geplanten Aufführung von Was ihr wollt mit, einem Stück, von dem ich noch nie gehört hatte. An der Highschool hatte ich Julius Cäsar gelesen, am Robert Treat im Einführungskurs Englische Literatur Macbeth, und das war’s. Flusser sollte in Was ihr wollt