Philip Roth

Exit Ghost

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007

unter dem Titel Exit Ghost bei Houghton Mifflin in Boston.

ISBN 978-3-446-25132-8

© Philip Roth 2007

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2008/2015

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für B.T.

Bevor der Tod dich nimmt, nimm dies zurück.

Dylan Thomas: Find Meat on Bones

1 Der gegenwärtige Augenblick

ICH WAR SEIT ELF JAHREN nicht mehr in New York gewesen. Abgesehen von einem Aufenthalt in Boston, wo man mir die von Krebs befallene Prostata entfernt hatte, war ich in diesen elf Jahren kaum je anderswo unterwegs gewesen als auf der kleinen Landstraße in den hügeligen Berkshires, und überdies hatte ich seit dem Attentat vom 11. September drei Jahre zuvor nur selten eine Zeitung gelesen oder eine Nachrichtensendung gesehen; ohne ein Gefühl des Verlustes – es war anfangs lediglich eine Art innerer Dürre gewesen – hatte ich aufgehört, ein Bewohner der großen Welt oder auch nur des gegenwärtigen Augenblicks zu sein. Den Impuls, in dieser Welt zu sein und zu ihr zu gehören, hatte ich längst abgetötet.

Doch nun war ich die zweihundert Kilometer nach Süden, nach Manhattan, gefahren, um einen Urologen am Mount Sinai Hospital aufzusuchen, der sich auf eine Methode zur Behandlung jener Tausende von Männern spezialisiert hatte, die, wie ich, nach einer Prostataoperation inkontinent waren. Er führte einen Katheter in die Harnröhre ein und injizierte am Blasenmund Kollagen in gelatiner Form, wodurch er bei etwa fünfzig Prozent seiner Patienten eine signifikante Besserung des Zustands erreichte. Die Chancen standen nicht überwältigend gut, zumal »signifikante Besserung« lediglich eine teilweise Linderung der Symptome bedeutete: aus »schwerer Inkontinenz« konnte »moderate Inkontinenz« werden, aus »moderater« möglicherweise eine »leichte«. Doch weil seine Resultate besser waren als die anderer Urologen, die so ziemlich dieselbe Technik anwendeten (an der zweiten möglichen Folge einer radikalen Prostatektomie – Impotenz infolge einer Schädigung des Nervengewebes –, von der verschont zu werden mir, wie Zehntausenden von Männern, nicht vergönnt gewesen war, ließ sich ohnehin nichts ändern), fuhr ich zu einer Konsultation nach New York, obgleich ich mir seit langem einbildete, mich mit den praktischen Widrigkeiten dieses Zustands abgefunden zu haben.

In den Jahren seit der Operation hatte ich sogar geglaubt, die Beschämung über die Tatsache, dass ich mir in die Hose pinkelte, überwunden zu haben, den verwirrenden Schock, der in den ersten eineinhalb Jahren besonders groß gewesen war, in jenen Monaten nämlich, als der behandelnde Arzt mir Hoffnungen gemacht hatte, diese Unannehmlichkeit werde im Lauf der Zeit langsam verschwinden, wie es bei einigen wenigen glücklichen Patienten der Fall ist. Doch obwohl die Maßnahmen, die ich traf, um sauber und geruchsfrei zu bleiben, zur täglichen Routine geworden waren, hatte ich mich anscheinend nie wirklich daran gewöhnt, besondere Unterhosen zu tragen, die Einlagen zu wechseln und mit den wiederkehrenden »Malheurs« fertig zu werden, ebensowenig wie es mir gelungen war, die damit verbundene Erniedrigung hinzunehmen, denn da war ich nun, einundsiebzig Jahre alt, zurück in der Upper East Side von Manhattan, nur ein paar Blocks von der Gegend entfernt, wo ich als tatkräftiger, gesunder jüngerer Mann gelebt hatte, und saß im Empfangsbereich der urologischen Abteilung des Mount Sinai Hospital, wo man mir in Kürze versichern würde, dass ich, sofern es gelang, das Kollagen dauerhaft am Blasenmund zu befestigen, Chancen hatte, meinen Harnfluss ein wenig besser unter Kontrolle zu halten als ein Kleinkind. Ich saß da, stellte mir die Prozedur vor, blätterte in den Stapeln von People und New York und dachte: Völlig sinnlos. Geh raus und fahr nach Hause.

In den vergangenen elf Jahren hatte ich allein in einem kleinen Haus an einem Feldweg in der hintersten Provinz gelebt; den Entschluss dazu hatte ich, etwa zwei Jahre bevor der Krebs diagnostiziert wurde, gefasst. Ich komme mit wenigen Menschen zusammen. Seit mein Nachbar und Freund Larry Hollis vor einem Jahr gestorben ist, vergehen manchmal zwei, drei Tage, an denen ich allenfalls mit der Haushälterin, die einmal pro Woche zum Putzen kommt, und ihrem Mann, meinem Hausmeister, spreche. Ich gehe nicht zu Dinnerpartys. Ich gehe nicht ins Kino. Ich sehe nicht fern. Ich besitze weder ein Handy noch einen Videorekorder, einen DVD-Spieler oder einen Computer. Ich lebe weiterhin im Zeitalter der Schreibmaschine und habe keine Ahnung, was das World Wide Web eigentlich ist. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, zur Wahl zu gehen. Den größten Teil des Tages und oft auch des Abends verbringe ich mit Schreiben. Ich lese viel, hauptsächlich die Bücher, die ich als Student entdeckt habe, die Meisterwerke der Literatur, die mich heute nicht weniger und in einigen Fällen sogar mehr faszinieren als bei meinen allerersten erregenden Begegnungen mit ihnen. Unlängst habe ich zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wieder Joseph Conrad gelesen, zuletzt Die Schattenlinie, ein Buch, das ich nach New York mitgenommen hatte, um noch einmal hineinzusehen, nachdem ich es kürzlich an einem Abend durchgelesen hatte. Ich höre Musik, ich wandere in den Wäldern, und wenn es heiß ist, schwimme ich in meinem Teich, dessen Wasser selbst im Sommer nie wärmer wird als knapp über zwanzig Grad. Ich schwimme nackt, denn dort kann mich niemand sehen, und das bedeutet, dass ich, wenn ich eine blasse, schlierige Urinwolke hinter mir herziehe, die das Wasser des Teichs wahrnehmbar verfärbt, weitgehend gelassen bin und mir die Peinlichkeit erspart bleibt, die mich gewiss zu Boden drücken würde, sollte meine Blase sich gegen meinen Willen in einem öffentlichen Schwimmbad entleeren. Für inkontinente Schwimmer gibt es Plastikunterhosen mit starken Gummizügen, die, wie die Werbung verspricht, wasserdicht sind, doch als ich mir, nach langem inneren Hin und Her, eine solche Hose von einem Hersteller für Swimmingpool-Zubehör hatte kommen lassen und im Teich ausprobierte, stellte ich fest, dass das Tragen dieser eher großen weißen Dinger unter der Badehose das Problem zwar verringerte, jedoch nicht in ausreichendem Maße, um meine Befangenheit zu überwinden. Anstatt das Risiko einzugehen, mich bloßzustellen und Anstoß zu erregen, gab ich den Gedanken auf, während des größten Teils des Jahres regelmäßig (und in Unter- und Badehose) im Schwimmbad des örtlichen College zu schwimmen, und fand mich damit ab, in den wenigen Monaten, in denen es in den Berkshires warm genug ist und ich, bei gutem wie schlechtem Wetter, täglich eine halbe Stunde schwimme, zuweilen das Wasser meines eigenen Teichs zu verunreinigen.

Ein paarmal pro Woche verlasse ich meinen Hügel und fahre hinunter ins zwölf Kilometer entfernte Athena zum Supermarkt oder zur Reinigung; gelegentlich gehe ich etwas essen, kaufe ein Paar Socken oder eine Flasche Wein, benutze die College-Bibliothek. Nach Tanglewood ist es nicht weit, und im Sommer fahre ich etwa zehnmal dorthin, um ein Konzert zu hören. Ich gebe keine Lesungen, ich halte keine Vorträge, ich unterrichte nicht, ich trete nicht im Fernsehen auf. Wenn meine Bücher erscheinen, bleibe ich zu Hause. Ich schreibe jeden Tag – im übrigen schweige ich. Der Gedanke, nichts mehr zu veröffentlichen, erscheint mir verführerisch: Ist das, was ich brauche, nicht das Arbeiten und Überarbeiten? Was spielt es denn noch für eine Rolle, ob ich inkontinent und impotent bin?

Larry und Marylynne Hollis waren von West Hartford in die Berkshires gezogen, nachdem Larry, der sein ganzes Berufsleben als Anwalt bei einer Versicherungsgesellschaft in Hartford verbracht hatte, in Ruhestand gegangen war. Larry war zwei Jahre jünger als ich, ein penibler, ja pedantischer Mann, der zu glauben schien, das Leben sei nur dann sicher, wenn man alles bis ins Letzte plante, und dem ich in den Monaten, als er versuchte, mich an seinem Leben teilhaben zu lassen, nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Schließlich gab ich jedoch nach, nicht nur, weil er so unbeirrbar war in seinem Wunsch, meine Einsamkeit zu lindern, sondern auch, weil ich einen Menschen wie ihn nie kennengelernt hatte – einen Erwachsenen, dessen traurige Kindheit nach eigener Einschätzung jede einzelne Entscheidung beeinflusst hatte, seit er zehn gewesen und seine Mutter an Krebs gestorben war, bloß vier Jahre nachdem sein Vater, Inhaber eines Linoleumgeschäfts in Hartford, auf ebenso qualvolle Weise derselben Krankheit zum Opfer gefallen war. Larry war ein Einzelkind und kam zu Verwandten, die südwestlich von Hartford lebten, am Naugatuck, knapp außerhalb der trostlosen Industriestadt Waterbury, Connecticut, und dort entwarf er in einem Tagebuch einen detaillierten Plan für die Zukunft, an den er sich für den Rest seines Lebens buchstabengetreu hielt; von da an war alles, was er tat, äußerst zielgerichtet. Er war nur mit den besten Noten zufrieden und legte sich schon als Schüler mit allen Lehrern an, die seine Leistungen nicht angemessen beurteilten. Er nahm am Ferienunterricht teil, um die Highschool früher abschließen zu können und noch vor seinem siebzehnten Geburtstag die Zulassung zum College zu bekommen; auch an der University of Connecticut, wo er ein Vollstipendium hatte und das ganze Jahr über im Heizungsraum der Bibliothek für Unterkunft und Verpflegung arbeitete, belegte er Sommerseminare, um so schnell wie möglich den Collegeabschluss zu machen, seinen Namen von Irwin Golub in Larry Hollis ändern zu lassen (wie er es sich bereits mit zehn vorgenommen hatte), in die Air Force einzutreten, sich als Jagdflieger Lieutenant Hollis einen Namen zu machen und ein Militärstipendium für ein Universitätsstudium zu bekommen; nach seiner Dienstzeit schrieb er sich in Fordham ein, und die Regierung bezahlte ihm für seine drei Jahre in der Air Force ein dreijähriges Jurastudium. Als Pilot war er in Seattle stationiert und warb intensiv um ein hübsches Mädchen namens Collins, das gerade die Highschool hinter sich hatte und genau Larrys Vorstellungen von seiner zukünftigen Ehefrau entsprach – dazu gehörte unter anderem, dass sie aus einer irischen Familie stammte und dunkles, lockiges Haar sowie eisblaue Augen hatte wie er selbst. »Ich wollte kein jüdisches Mädchen heiraten. Meine Kinder sollten nicht jüdisch erzogen werden oder sonst irgend etwas Jüdisches haben.« »Warum nicht?« fragte ich ihn. »Weil ich das eben nicht wollte«, lautete seine Antwort. Dass er wollte, was er wollte, und nicht wollte, was er nicht wollte, war seine Antwort auf praktisch alle meine Fragen nach der ungeheuer konventionellen Struktur, die er seinem Leben gegeben hatte, nachdem er seine jungen Jahre in ständiger Eile und mit dem Schmieden von Plänen verbracht hatte. Als er zum erstenmal an meine Tür klopfte, um sich vorzustellen – ein paar Tage nachdem er und Marylynne in das Haus, das meinem am nächsten stand, gezogen waren, etwa achthundert Meter den Feldweg hinunter –, beschloss er sogleich, dass ich nicht jeden Abend allein sein, sondern fortan mindestens einmal pro Woche mit ihm und seiner Frau in ihrem Haus zu Abend essen sollte. Er wollte nicht, dass ich die Sonntage allein verbrachte – der Gedanke, dass irgend jemand so allein sein könnte, wie er selbst es als Waisenkind gewesen war, wenn er mit seinem Onkel, einem staatlichen Milchinspekteur, sonntags im Naugatuck geangelt hatte, war ihm unerträglich –, und so bestand er darauf, dass wir jeden Sonntag morgen eine Wanderung unternahmen oder, wenn das Wetter zu schlecht war, Tischtennis spielten. Das war zwar ein Zeitvertreib, den ich kaum erträglich fand, doch lieber tat ich ihm diesen Gefallen, als mit ihm über das Verfassen von Büchern zu sprechen. Er stellte mir die abgedroschensten Fragen über das Schreiben und gab keine Ruhe, bis ich sie zu seiner Befriedigung beantwortet hatte. »Woher kriegen Sie Ihre Ideen?« »Woher wissen Sie, ob eine Idee gut oder schlecht ist?« »Woher wissen Sie, ob Sie einen Dialog einsetzen oder eine Situation ohne Dialog beschreiben sollen?« »Woher wissen Sie, wann ein Buch fertig ist?« »Wonach wählen Sie den ersten Satz aus? Wonach wählen Sie den Titel aus? Wonach wählen Sie den letzten Satz aus?« »Welches Buch ist Ihr bestes?« »Welches Buch ist Ihr schlechtestes?« »Mögen Sie Ihre Protagonisten?« »Haben Sie je einen Protagonisten umgebracht?« »Im Fernsehen hab ich einen Schriftsteller sagen hören, dass die Personen in dem Buch die Führung übernehmen und es selbst schreiben. Stimmt das?« Er hatte einen Jungen und ein Mädchen haben wollen, und erst nach der Geburt der vierten Tochter hatte Marylynne aufbegehrt und sich geweigert, weiterhin zu versuchen, den männlichen Erben hervorzubringen, den ihr Mann schon im Alter von zehn Jahren geplant hatte. Er war ein großer Mann mit einem viereckigen Gesicht und sandfarbenem Haar, und seine Augen waren verrückt, eisblau und verrückt, ganz anders als Marylynnes eisblaue Augen, die wunderschön waren, oder die eisblauen Augen der vier hübschen Töchter, die allesamt in Wellesley gewesen waren, weil sein bester Freund damals in der Air Force eine Schwester hatte, die in Wellesley gewesen war und die, als Larry sie kennenlernte, genau die guten Umgangsformen und den Schliff hatte, die er von seiner eigenen Tochter erwartete. Wenn wir in ein Restaurant gingen (was wir jeden zweiten Samstagabend taten – auch hier duldete er keinen Widerspruch), konnte man sich darauf verlassen, dass er ein schwieriger Gast war. Jedesmal beschwerte er sich über das Brot. Es war nicht frisch. Es war nicht die Art von Brot, die er mochte. Es war nicht genug für alle da.

Eines Abends nach dem Abendessen kam er unangemeldet vorbei und gab mir zwei orangefarbene Kätzchen, ein langhaariges und ein kurzhaariges, etwas über acht Wochen alt. Ich hatte ihn weder darum gebeten, noch hatte er mich zuvor davon in Kenntnis gesetzt, dass er mir dieses Geschenk machen wollte. Er sagte, er sei morgens zu einer Routineuntersuchung beim Augenarzt gewesen und habe am Tisch der Sprechstundenhilfe ein Schild gesehen, auf dem gestanden habe, sie wolle junge Katzen verschenken. Am Nachmittag sei er zu ihr gefahren und habe aus dem Wurf von sechs Kätzchen die beiden schönsten für mich ausgesucht. Beim Anblick des Schildes habe er sofort an mich gedacht.

Er setzte die beiden Kätzchen auf den Boden. »Sie führen nicht das Leben, das Sie führen sollten«, sagte er. »Wer tut das schon?« »Ich, zum Beispiel. Ich habe alles, was ich immer haben wollte. Ich werde nicht zulassen, dass Sie weiterhin einem Leben in solcher Einsamkeit ausgesetzt sind. Sie gehen bis an die verdammten Grenzen. Sie treiben es ins Extrem, Nathan.« »Sie ebenfalls.« »Ganz und gar nicht! Ich bin doch nicht derjenige, der so lebt. Ich sorge nur dafür, dass Sie ein bisschen Normalität haben. Sie leben zu abgeschieden für einen Menschen. Da können Sie wenigstens ein paar Katzen als Gesellschaft haben. Ich hab das ganze Zeug, das Sie brauchen, draußen im Wagen.«

Er ging hinaus, kehrte zurück und leerte einige große Supermarkttüten auf den Boden: ein halbes Dutzend Spielzeugtierchen, denen sie nachjagen konnten, ein Dutzend Dosen Katzenfutter, ein Katzenklo und eine große Tüte Katzenstreu, zwei Plastiknäpfe für das Futter und zwei Plastikschüsseln für Wasser.

»Mehr brauchen Sie nicht«, sagte er. »Sehen Sie nur, wie schön sie sind. Sie werden eine Menge Freude an ihnen haben.«

Er war dabei äußerst bestimmt, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu sagen: »Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, Larry.«

»Wie werden Sie sie nennen?«

»A und B.«

»Nein. Sie brauchen richtige Namen. Sie verbringen schon den ganzen Tag mit dem Alphabet, Nathan. Sie können die Kurzhaarige Shorty und die Langhaarige Longy nennen.«

»Dann werde ich das wohl tun.«

In meiner einzigen engen Beziehung zu einem anderen Menschen erfüllte ich genau die Rolle, die Larry mir zugedacht hatte. Ich fügte mich, wie alle in Larrys Leben, gehorsam in das, was er sagte. Man stelle sich vor: vier Töchter, und nicht eine hatte gesagt: »Aber ich würde lieber nach Barnard gehen. Ich würde lieber nach Oberlin gehen.« Obgleich ich, wenn ich mit ihm und seiner Familie zusammen war, nie das Gefühl hatte, er sei ein schrecklicher Haustyrann, fand ich es doch seltsam, dass meines Wissens keine von ihnen je Einwände erhoben hatte, wenn ihr Vater bestimmte: Du gehst nach Wellesley, und damit basta. Doch ihre Bereitschaft, als Larrys gehorsame Kinder keinen eigenen Willen zu zeigen, war in meinen Augen nicht ganz so bemerkenswert wie meine eigene Willenlosigkeit. Für Larry war Macht der uneingeschränkte Gehorsam der geliebten Menschen in seinem Leben – für mich war Macht, keine Menschen in meinem Leben zu haben.

Er hatte mir die Katzen an einem Donnerstag gebracht. Ich behielt sie bis zum nächsten Sonntag. In dieser Zeit arbeitete ich praktisch überhaupt nicht an meinem Buch. Statt dessen verbrachte ich die Tage damit, ihnen ihr Spielzeug hinzuwerfen, sie gleichzeitig oder abwechselnd auf dem Schoß zu haben und zu streicheln oder einfach dazusitzen und ihnen zuzusehen, wie sie fraßen, spielten, sich putzten oder schliefen. Ich stellte das Katzenklo in eine Ecke der Küche, und abends brachte ich die beiden ins Wohnzimmer und schloss die Schlafzimmertür. Nach dem Aufwachen ging ich als erstes hinüber, um zu sehen, was sie machten. Und dann saßen sie neben der Tür und warteten darauf, dass ich sie öffnete.

Am Montag morgen rief ich Larry an und sagte: »Bitte kommen Sie und holen Sie die Katzen ab.«

»Sie hassen sie.«

»Im Gegenteil. Wenn ich sie behalte, werde ich nie wieder ein Wort schreiben. Ich kann diese Katzen nicht im Haus haben.«

»Warum nicht? Was haben Sie denn bloß, verdammt?«

»Sie sind einfach zu süß.«

»Gut. Hervorragend. Das war ja auch der Sinn der Sache.«

»Kommen Sie und holen Sie sie ab, Larry. Wenn Sie wollen, bringe ich sie selbst der Sprechstundenhilfe von Ihrem Augenarzt zurück. Aber ich kann sie nicht behalten.«

»Was soll das sein? Trotz? Wollen Sie mich provozieren? Ich bin ja selbst ein disziplinierter Mensch, aber Sie schlagen mich um Längen. Ich hab Ihnen doch – Gott bewahre – nicht zwei Menschen ins Haus gebracht, sondern zwei Katzen. Kleine Kätzchen

»Und ich habe sie freundlich aufgenommen, oder nicht? Ich hab’s versucht, oder nicht? Aber jetzt holen Sie sie bitte wieder ab.«

»Das werde ich nicht.«

»Ich habe Sie nicht um zwei Katzen gebeten.«

»Das heißt gar nichts. Sie bitten nie um etwas.«

»Geben Sie mir die Telefonnummer der Sprechstundenhilfe.«

»Nein.«

»Na gut, dann werde ich mich selbst darum kümmern.«

»Sie sind verrückt«, sagte er.

»Larry, zwei junge Katzen machen mich nicht zu einem neuen Menschen.«

»Doch, das ist genau das, was passiert. Das ist genau das, was Sie nicht zulassen wollen. Ich verstehe das nicht – dass ein Mann von Ihrer Intelligenz es zulässt, so zu werden. Das begreife ich nicht.«

»Es gibt im Leben viele unerklärliche Dinge. Sie sollten sich über diesen kleinen blinden Fleck in meiner Person keine Gedanken machen.«

»Na gut. Sie haben gewonnen. Ich komme und hole die Katzen ab. Aber ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Zuckerman.«

»Ich habe auch keinen Grund zu der Annahme, dass Sie mit mir fertig sind oder es je sein könnten. Sie sind ebenfalls ein bisschen verrückt, müssen Sie wissen.«

»Ganz und gar nicht!«

»Hollis, bitte. Ich bin zu alt, um mich umzukrempeln. Kommen Sie und holen Sie die Katzen ab.«

Kurz bevor die vierte Tochter in New York heiratete – einen jungen Anwalt aus einer irisch-amerikanischen Familie, der, wie Larry, in Fordham studiert hatte –, wurde bei Larry Krebs diagnostiziert. An dem Tag, an dem die Familie zur Hochzeit nach New York fuhr, wies Larrys Onkologe ihn in das Universitätskrankenhaus in Farmington, Connecticut, ein. Am ersten Abend im Krankenhaus nahm Larry, nachdem die Schwester Blutdruck und Temperatur gemessen und ihm eine Schlaftablette und ein Glas Wasser gegeben hatte, etwa hundert Schlaftabletten, die er in seinem Reisenecessaire verwahrt hatte, löste sie auf und trank das Glas in dem dunklen Zimmer. Früh am nächsten Morgen erhielt Marylynne einen Anruf vom Krankenhaus, in dem man ihr mitteilte, ihr Mann habe sich umgebracht. Sie bestand darauf, dass die Hochzeit und das Hochzeitsessen wie geplant stattfanden – schließlich war sie nicht umsonst all die Jahre seine Frau gewesen –, und kehrte erst danach in die Berkshires zurück, um die Beerdigung in Angriff zu nehmen.

Später erfuhr ich, dass Larry seinen Arzt gebeten hatte, ihn an diesem Tag anstatt am Montag der folgenden Woche einzuweisen, was durchaus möglich gewesen wäre. Auf diese Weise war sichergestellt, dass die Familie an einem Ort versammelt war, wenn die Nachricht von seinem Tod eintraf; außerdem hatte Larry, indem er sich im Krankenhaus umbrachte, wo Fachleute sich um seinen Leichnam kümmern würden, Marylynne und den Kindern die mit einem Selbstmord verbundenen Groteskerien soweit wie möglich erspart.

Bei seinem Tod war er achtundsechzig und hatte, mit Ausnahme des in seinem Tagebuch vermerkten Plans, eines Tages einen Sohn namens Larry Hollis jun. zu haben, erstaunlicherweise jedes einzelne Ziel erreicht, das er sich als zehnjähriger Waisenjunge gesteckt hatte. Es war ihm gelungen, so lange zu warten, bis seine jüngste Tochter verheiratet war und die ersten Schritte in ein neues Leben tat, und dennoch war er imstande gewesen, zu vermeiden, was er am meisten fürchtete: dass seine Kinder würden zusehen müssen, während ein Elternteil unter Qualen starb, so wie er hatte zusehen müssen, als sein Vater und seine Mutter langsam und unter Schmerzen an Krebs gestorben waren. Sogar mir hatte er eine Nachricht hinterlassen. Am Montag nach dem Sonntag, an dem wir von seinem Tod erfuhren, fand ich diesen Brief in der Post: »Nathan, mein Junge, ich lasse Sie nicht gern so zurück. In dieser großen weiten Welt darf man nicht allein sein. Man darf nicht ohne Kontakt mit allem anderen sein. Sie müssen mir versprechen, dass Sie nicht so weiterleben werden wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Ihr treuer Freund Larry.«

Blieb ich also darum im Wartezimmer der urologischen Abteilung sitzen – weil Larry mir beinahe auf den Tag genau ein Jahr zuvor diesen Brief geschrieben und sich dann umgebracht hatte? Ich weiß es nicht, und hätte ich es damals gewusst, so hätte das auch keinen Unterschied gemacht. Ich saß da, weil ich eben da saß, und blätterte in Zeitschriften, wie ich sie seit Jahren nicht gesehen hatte: Ich sah Fotos von berühmten Schauspielern, berühmten Models, berühmten Modedesignern, berühmten Köchen und Wirtschaftsbossen, ich erfuhr, wo ich das teuerste, billigste, hipste, engste, weichste, witzigste, geschmackvollste und geschmackloseste von praktisch allem kaufen konnte, was für den amerikanischen Markt produziert wurde, und wartete darauf, dass man mich aufrief.

Am Nachmittag zuvor war ich in die Stadt gekommen. Ich hatte ein Zimmer im Hilton reserviert, und nachdem ich meine Reisetasche ausgepackt hatte, war ich die Sixth Avenue entlangspaziert, um die Stadt in mich aufzunehmen. Doch wo sollte ich anfangen? Sollte ich die Straßen aufsuchen, wo ich früher gewohnt hatte? Die Cafés und Restaurants, wo ich zu Mittag gegessen hatte? Den Stand, wo ich meine Zeitung gekauft, und die Buchhandlungen, wo ich herumgestöbert hatte? Sollte ich noch einmal die Wege gehen, die ich bei meinen langen Spaziergängen am Ende des Arbeitstages eingeschlagen hatte? Oder sollte ich, da ich nicht mehr so viele von ihnen zu sehen bekam, einige andere Angehörige meiner Zunft aufsuchen? In den Jahren meiner Abwesenheit hatte ich Anrufe und Briefe erhalten, aber mein Haus in den Berkshires ist klein, und ich hatte niemanden ermuntert, mich zu besuchen, und so war der persönliche Kontakt im Lauf der Zeit sehr sporadisch geworden. Lektoren, mit denen ich lange zusammengearbeitet hatte, waren zu anderen Verlagen gegangen oder im Ruhestand. Viele Kollegen hatten, wie ich, die Stadt verlassen. Die Frauen in meiner Bekanntschaft arbeiteten in anderen Berufen, hatten geheiratet oder waren fortgezogen. Die beiden Menschen, die mir zuerst einfielen, als ich überlegte, wen ich besuchen könnte, waren tot. Ich wusste, dass sie gestorben waren, dass es ihre unverwechselbaren Gesichter und ihre vertrauten Stimmen nicht mehr gab – und doch, als ich vor dem Hotel stand und nachdachte, wie und wo ich für ein, zwei Stunden noch einmal in das Leben eintauchen könnte, das ich hinter mir gelassen hatte, wie ich am einfachsten wieder zurückkehren könnte, fühlte ich mich für einen Augenblick wie Rip Van Winkle, der zwanzig Jahre geschlafen hatte, als er, in dem Glauben, er sei nur eine Nacht fort gewesen, die Berge verließ und durch sein Heimatdorf ging. Erst als er sich überrascht über den langen grauen Kinnbart strich, ging ihm auf, wieviel Zeit vergangen war, und wenig später erfuhr er, dass er nicht mehr Untertan der britischen Krone, sondern Bürger der neugegründeten Vereinigten Staaten war. Ich hätte mich nicht fremder fühlen können als er, wenn ich mit Rips rostigem Gewehr und in seinen alten Kleidern an der Ecke Sixth Avenue und West 54th Street gestanden hätte, umgeben von einer Heerschar Neugieriger, die mich begafften, diesen zwischen ihnen umherwandelnden abgezehrten Fremden, dieses Relikt aus vergangenen Zeiten inmitten des Lärms und der Gebäude, inmitten der Arbeiter und des Verkehrs.

Ich ging in Richtung U-Bahn, um zum Ground Zero zu fahren. Fang da an, wo das größte Ereignis stattgefunden hat – doch weil ich mich, als Beteiligter wie als Zuschauer, aus allem zurückgezogen hatte, schaffte ich es nicht mal bis zur U-Bahn. Zu dem Menschen, der ich geworden war, hätte das nicht gepasst. Statt dessen fand ich mich, nachdem ich den Park durchquert hatte, in den vertrauten Räumlichkeiten des Metropolitan Museum wieder, wo ich den Nachmittag herumbrachte wie jemand, der nichts aufzuholen hat.

Als ich am Tag darauf das Sprechzimmer des Arztes verließ, hatte ich einen Termin für eine Kollageninjektion am nächsten Morgen. Ein anderer Patient hatte abgesagt, und der Arzt konnte mich einschieben. Die Krankenschwester sagte mir, er halte es für ratsam, nach der Behandlung nicht sogleich in die Berkshires zurückzukehren, sondern noch eine Nacht im Hotel zu bleiben – Komplikationen träten zwar nur selten auf, doch sei es vorsichtshalber empfehlenswert, in der Nähe des Krankenhauses zu bleiben. Wenn alles glatt verlaufen sei, könne ich anschließend nach Hause fahren und meinen gewohnten Tätigkeiten nachgehen. Der Arzt rechnete mit einer erheblichen Verbesserung und schloss nicht aus, dass ich nach der Injektion wieder nahezu vollständige Kontrolle über meine Blase haben würde. Gelegentlich komme es vor, dass das Kollagen »wandere«, erklärte er mir, und in diesem Fall müsse er dann eine zweite oder dritte Injektion vornehmen, um das Material dauerhaft am Blasenmund zu befestigen; andererseits sei es aber auch gut möglich, dass eine einzige Behandlung ausreiche.

Gut, sagte ich, und anstatt die Entscheidung erst zu treffen, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, mir das alles zu Hause durch den Kopf gehen zu lassen, überraschte ich mich selbst, indem ich den frei gewordenen Termin annahm, und nicht einmal später, als ich die ermutigende Umgebung des Sprechzimmers verlassen hatte und im Aufzug hinunter ins Erdgeschoss fuhr, gelang es mir, das Gefühl der Verjüngung mit etwas Nüchternheit zu dämpfen. Im Aufzug schloss ich die Augen und sah mich am Ende eines Tages im College-Schwimmbad, sorglos und ohne Angst vor Peinlichkeiten.

Dieses Triumphgefühl war lachhaft und vielleicht weniger auf die verheißene Veränderung als auf den Preis zurückzuführen, den ich für die Selbstdisziplin eines zurückgezogenen Lebens und den Entschluss zu zahlen hatte, alles aus meinem Leben zu verbannen, was zwischen mir und meiner Aufgabe stand – einen Preis, der mir bis dahin gar nicht bewusst gewesen war (und gewollte Nichtwahrnehmung war ja ein wesentlicher Bestandteil der Selbstdisziplin). Auf dem Land gab es nichts, was mich in Versuchung geführt hätte, zu hoffen. Ich hatte mich von der Hoffnung verabschiedet. Doch dann war ich nach New York gefahren, und New York hatte innerhalb von Stunden getan, was es bei allen Menschen tut: Es hatte mir Möglichkeiten bewusst gemacht. Die Hoffnung hatte sich Bahn gebrochen.

Im Stockwerk unter der Abteilung für Urologie hielt der Aufzug an, und eine gebrechliche ältere Frau stieg ein. Der Stock, auf den sie sich stützte, und ein verblasster roter Regenhut, den sie weit über den Kopf gezogen hatte, verliehen ihr ein exzentrisches, wunderliches Aussehen, doch als ich sie leise mit dem Arzt sprechen hörte, der mit ihr in den Aufzug getreten war – einem Mann von Mitte Vierzig, der sie leicht am Arm stützte –, nahm ich eine schwache ausländische Färbung ihres Englisch wahr und fragte mich, ob ich sie von früher her kannte. Die Stimme war so unverwechselbar wie der Akzent, besonders da sie nicht zu ihrer gespenstischen Erscheinung passte, sondern die eines jungen Menschen war, ganz unpassend mädchenhaft und unberührt von Not und Strapazen. Ich dachte: Ich kenne diese Stimme. Ich kenne diesen Akzent. Ich kenne diese Frau. Im Erdgeschoss ging ich hinter den beiden durch die Eingangshalle zum Ausgang und hörte den Arzt den Namen der Frau sagen. Und darum folgte ich ihr hinaus auf die Straße und ein paar Blocks weit die Madison Avenue entlang zu einem Schnellimbiss. Ich kannte sie tatsächlich.

Es war halb elf, und in dem Lokal waren nur vier oder fünf Gäste, die frühstückten. Die Frau setzte sich in eine Nische. Ich nahm an einem freien Tisch Platz. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass ich ihr gefolgt war, schien mich, der ich nur wenige Meter von ihr entfernt saß, nicht einmal wahrzunehmen. Sie hieß Amy Bellette. Ich war ihr nur einmal begegnet. Ich hatte sie nie vergessen.

Amy Bellette trug keinen Mantel, nur den roten Regenhut, eine helle Strickjacke und etwas, was ein dünnes Baumwollkleid zu sein schien, bis ich merkte, dass es sich um ein blassblaues Krankenhausnachthemd handelte, dessen Bandverschlüsse auf dem Rücken durch Knöpfe ersetzt waren. Um die Taille hatte sie einen Gürtel geschnürt, der wie ein Stück Seil aussah. Ich dachte: Sie ist entweder völlig verarmt oder verrückt.

Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf, und als er gegangen war, öffnete sie ihre Handtasche und zog ein Buch hervor. Während sie darin las, setzte sie den Hut ab und legte ihn neben sich. Die mir zugewandte Seite ihres Kopfes war kahl, vor nicht allzu langer Zeit rasiert, dort wuchs nur ein zarter Flaum, und über den Schädel zog sich eine geschwungene Operationsnarbe, eine frische, sich scharf abzeichnende Narbe von einem Punkt hinter dem Ohr bis zum Rand der Stirn. Alles längere Haar, das sie noch besaß, war auf der anderen Seite des Kopfes, ergrauendes Haar, lose zu einem Zopf geflochten, über den die Finger ihrer rechten Hand jetzt geistesabwesend strichen – die Hand spielte mit dem Haar wie es die eines lesenden Kindes tun mochte. Ihr Alter? Fünfundsiebzig. Als wir uns 1956 kennengelernt hatten, war sie siebenundzwanzig gewesen.

Ich bestellte einen Kaffee, nippte daran, ließ ihn eine Weile stehen, trank ihn aus, stand dann auf, ohne sie anzusehen, und verließ den Schnellimbiss und die überraschend wieder in meinem Leben aufgetauchte und mitleiderregend veränderte Amy Bellette, deren Leben – das bei unserer ersten Begegnung so reich an Aussichten und Verheißungen gewesen war – offenbar eine Wendung zum unverkennbar Schlechten genommen hatte.

Der Eingriff am nächsten Morgen dauerte fünfzehn Minuten. So simpel! Ein Wunder! Ein medizinisches Wunder! Wieder sah ich mich im College-Schwimmbad, bekleidet nur mit einer ganz normalen Badehose, und ich zog keine Urinspur hinter mir her. Ich sah mich unbekümmert durch den Tag schreiten, ohne die Watteeinlagen, die ich neun Jahre lang Tag und Nacht in meinen Plastikunterhosen hatte tragen müssen. Ein fünfzehn Minuten währender schmerzloser Eingriff, und das Leben erschien mir wieder frei von Einschränkungen. Ich war ein Mann, der nicht mehr machtlos war, wenn es um so elementare Dinge ging wie um die Fähigkeit, in eine Kloschüssel zu pinkeln. Die Beherrschung der Blasenfunktion – welcher gesunde Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte denkt je über die damit verbundene Freiheit nach oder über das Gefühl ängstlicher Verletzlichkeit, das der Verlust dieser Fähigkeit auch in den Selbstsichersten unter uns erzeugen kann? Ich, der ich nie über dergleichen nachgedacht hatte, der ich schon mit zwölf Jahren darauf aus gewesen war, meine Einzigartigkeit zu unterstreichen und alles Ungewöhnliche an mir willkommen geheißen hatte – ich konnte jetzt sein wie jeder andere.

Als wäre der ständig drohende Schatten der Demütigung nicht in Wirklichkeit das, was einen mit allen anderen verbindet.

Lange vor Mittag war ich wieder in meinem Hotel. Ich hatte genug, um mich den Tag über zu beschäftigen, bevor ich nach Hause zurückkehrte. Am Nachmittag zuvor war ich – nachdem ich beschlossen hatte, Amy Bellette in Ruhe zu lassen – zum Antiquariat Strand gegangen, dem ehrwürdigen Geschäft südlich des Union Square, wo ich für nicht einmal hundert Dollar eine Originalausgabe der sechsbändigen Sammlung von E.I. Lonoffs Kurzgeschichten erstanden hatte. Diese Bücher hatte ich auch zu Hause in meinem Regal, aber ich kaufte sie trotzdem und trug sie ins Hotel, denn ich wollte in der restlichen Zeit, die ich in New York verbringen müsste, in chronologischer Reihenfolge darin lesen.

Wenn man das Werk eines Schriftstellers zwanzig oder dreißig Jahre lang nicht mehr gelesen hat und dann ein solches Experiment unternimmt, weiß man nicht, was dabei herauskommen wird: Vielleicht stellt man fest, dass der einst bewunderte Autor völlig veraltet ist oder dass die damalige Begeisterung von Naivität gespeist war. Gegen Mitternacht war ich allerdings nicht weniger als in den fünfziger Jahren überzeugt, dass die schmale Bandbreite von Lonoffs Prosa, die Begrenztheit seiner Interessen und die eiserne Zurückhaltung, die er sich auferlegte, weder die Implikationen einer Erzählung in sich zusammenstürzen ließen noch ihre Wirkung schmälerten, sondern im Gegenteil den geheimnisvollen Widerhall eines Gongs erzeugten, einen Widerhall, der einen mit Verwunderung erfüllte, wie so viel Ernst und so viel Leichtigkeit sich auf so engem Raum mit einem so weitgreifenden Skeptizismus verbinden konnte. Ebendiese Beschränkung der Mittel war es, die jede der kleinen Erzählungen nicht hemmte oder lähmte, sondern in ein Wunderwerk verwandelte – als würden ein Märchen oder ein Kinderlied von innen erleuchtet durch den Geist von Pascal.

Er war so gut, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war besser. Es war, als hätte in unserem literarischen Spektrum eine Farbe gefehlt, als wäre sie uns vorenthalten worden, als wäre Lonoff der einzige, der über sie verfügte. Lonoff war diese Farbe, ein amerikanischer Autor des 20. Jahrhunderts, der nicht seinesgleichen hatte, und dabei war sein Werk seit Jahrzehnten vergriffen. Ich fragte mich, ob er so vollständig in Vergessenheit geraten wäre, wenn er seinen Roman vollendet und die Veröffentlichung erlebt hätte. Und ich fragte mich, ob er gegen Ende seines Lebens überhaupt an einem Roman gearbeitet hatte. Wenn nicht, wie sollte man dann das Schweigen vor seinem Tod verstehen, in jenen fünf Jahren, in denen er, von seiner Frau Hope getrennt, ein neues Leben an der Seite von Amy Bellette begonnen hatte? Ich erinnerte mich noch gut, wie er mir, einem jungen, respektvollen Verehrer, der entschlossen war, ihm nachzueifern, mit nüchternen, sarkastischen Worten die Monotonie eines Lebens geschildert hatte, das daraus bestand, tagsüber gewissenhaft Erzählungen zu schreiben, abends eifrig zu lesen und sich dabei Notizen zu machen und, beinahe stumm vor geistiger Erschöpfung, Tisch und Bett mit einer treuen, schrecklich einsamen Frau von fünfunddreißig Jahren zu teilen. (Denn die Disziplin erlegt man nicht nur der eigenen Person auf, sondern auch den Menschen in seiner Umgebung.) Bei einem außergewöhnlichen Schriftsteller von so beeindruckender Kraft, der noch nicht einmal sechzig war, der endlich den Ausbruch aus dem Gefängnis der Bevormundung durch seine Frau geschafft hatte (oder vielmehr von ihr, die ihn wütend und überstürzt verlassen hatte, hinausgestoßen worden war) und nun sein Leben mit einer charmanten, intelligenten, verehrungsvollen Gefährtin teilte, halb so alt wie er, hätte man meinen können, die Intensität würde wieder erstarken. Nachdem er sich mit einem Kraftakt aus der Einengung durch die ländliche Umgebung und seine Ehe befreit hatte – zwei Dinge, die seine künstlerische Arbeit zu einem so gewaltigen Opfer hatten werden lassen –, hätte man meinen können, es sei nicht nötig, E.I. Lonoff für diesen Ausbruch so schwer zu bestrafen, ihn zu einem so vollständigen Schweigen zu verurteilen, nur weil er gewagt hatte zu glauben, es sei ihm vielleicht gestattet, einen Absatz fünfzigmal an einem Tag umzuschreiben, ohne dabei in einem Käfig leben zu müssen.

Was war in jenen fünf Jahren wirklich geschehen? Wenn diesem ruhigen, zurückgezogen lebenden Schriftsteller, der sich – gestützt von der bitteren Ironie, die seine gesamte Weltsicht beherrschte – tapfer damit abgefunden hatte, dass ihm nie etwas widerfahren würde, schließlich doch etwas widerfahren war, was war dann geschehen? Amy Bellette würde es wissen – sie war es ja immerhin gewesen, die ihm widerfahren war. Und sofern es irgendwo ein fertiges oder unfertiges Manuskript eines Lonoff-Romans gab, dann würde sie auch dies wissen. Wenn nicht der gesamte Nachlass an Hope und die drei Kinder gefallen war, befand sich das Manuskript in ihrem Besitz. Und selbst für den Fall, dass die Rechte an dem Roman nicht bei ihr lagen, sondern bei den Familienangehörigen des Autors, würde Amy, die an seiner Seite gewesen war, als er das Buch geschrieben hatte, jede Seite eines jeden Entwurfs gelesen haben und wissen, wie gut oder schlecht das neue Projekt verlaufen war. Aber selbst wenn sein Tod die Fertigstellung des Romans verhindert hatte – warum waren dann abgeschlossene Passagen nicht in den literarischen Vierteljahreszeitschriften erschienen, die regelmäßig seine Erzählungen gedruckt hatten? War der Roman so schlecht, dass sich niemand um eine Veröffentlichung bemüht hatte? Und wenn ja, war dieses Scheitern die Folge davon, dass Lonoff alles hinter sich gelassen hatte, was ihn zuverlässig an sein Talent band, dass er endlich die Freiheit und die Freude gefunden hatte, vor denen ihn seine Gefangenschaft hatte bewahren sollen? Oder hatte er nie die Beschämung darüber verwinden können, dass er sein Leiden auf Hopes Kosten beendet hatte? Aber war es nicht Hope gewesen, die es für ihn beendet hatte, indem sie ihn verlassen hatte? Wie hatte es bei einem derart entschlossenen und erfahrenen Schriftsteller, für den die Gestaltung seines unverkennbaren, lakonischen umgangssprachlichen Stils eine nie endende Schwerarbeit gewesen war, die er nur durch überaus gewissenhaft eingesetzte Geduld und Willenskraft zu bewältigen vermochte, zu einer fünfjährigen Schreibblockade kommen können? Warum sollte eine so gewöhnliche Veränderung – ein in mittleren Jahren eingeschlagener, gewöhnlich frische Energie verleihender neuer Lebenskurs, eine neue Partnerin, ein Umzug in eine neue Umgebung – einen Mann, der über Lonoffs Geduld verfügte, brechen?

Wenn es das war, was ihn gebrochen hatte.

Als ich mich daranmachte, zu Bett zu gehen, wusste ich, wie wenig diese Fragen geeignet waren, mir zu einem Verständnis dessen zu verhelfen, was Lonoff in seinen letzten Jahren zum Schweigen gebracht hatte. Wenn es ihm zwischen seinem sechsundfünfzigsten und einundsechzigsten Lebensjahr nicht gelungen war, einen Roman zu schreiben, so lag das vermutlich daran, dass (wie er vielleicht schon immer vermutet hatte) die Leidenschaft des Romanschriftstellers für Verstärkungen und Vergrößerungen eine Form von Übertreibung darstellt, die im Widerspruch zu seinem eigenen besonderen Talent für die Verdichtung und Reduktion stand. Die Leidenschaft des Romanschriftstellers für Verstärkungen und Vergrößerungen erklärte wahrscheinlich auch, warum ich den Tag überhaupt mit Gedanken über diese Fragen verbracht hatte.

Was sie nicht erklärte, war, warum ich Amy Bellette in jenem Schnellimbiss nicht angesprochen und versucht hatte, wenn schon nicht alles, so doch wenigstens das herauszufinden, was sie mitzuteilen bereit war.

Als ich Lonoff und Hope 1956 kennenlernte, waren ihre drei Kinder bereits erwachsen und hatten das Haus verlassen, und obwohl diese Tatsache ebensowenig an der harten Disziplin seines täglichen Lebens als Schriftsteller änderte wie das Verschwinden der Leidenschaft, zu dem es im Verlauf einer Ehe kommt, war während der wenigen Stunden, die ich dort verbrachte, deutlich zu spüren, wie sehr Hope unter der Isolation in der Abgeschiedenheit dieses Bauernhauses in den Berkshires litt. Beim Essen an dem Abend, an dem ich dort eintraf, hatte sie sich noch tapfer bemüht, ruhig und liebenswürdig zu sein, doch schließlich war sie zusammengebrochen und, nachdem sie ihr Weinglas an die Wand geworfen hatte, in Tränen aus dem Zimmer gestürzt. Sie überließ es Lonoff, mir zu erklären, was eigentlich los war – wobei sich allerdings herausstellte, dass er keineswegs der Ansicht war, er müsse mir irgend etwas erklären. Beim Frühstück am nächsten Morgen, bei dem Amy und ich anwesend waren und die hinreißende junge Frau, wie ich zu Gast in diesem Haus, mit ihrer bezaubernden Heiterkeit und Selbstbeherrschung, mit der Klarheit ihres Geistes, ihrer Schauspielerei, ihrem geheimnisvollen Wesen und dem Esprit ihrer witzigen Bemerkungen eine besonders angenehme Gesellschaft war, bröckelte Hopes stoische Fassade abermals, und als sie diesmal vom Tisch aufstand, packte sie eine Reisetasche, zog einen Mantel an und verließ, trotz der Kälte und der verschneiten Straßen, das Haus, wobei sie verkündete, sie übergebe hiermit den Posten der vernachlässigten Frau des großen Schriftstellers an niemand anderen als seine ehemalige Studentin und (nach allem Anschein) gegenwärtige Geliebte. »Dies ist jetzt offiziell dein Haus!« erklärte sie der jungen Siegerin und machte sich auf den Weg nach Boston. »Du bist jetzt diejenige, mit der er nicht zusammenlebt!«

Ich ging eine Stunde später und sah keinen von ihnen wieder. Es war ein purer Zufall, dass ich bei dieser Szene anwesend war. Ich wohnte damals in einer nicht weit entfernten Schriftstellerkolonie und hatte Lonoff ein Päckchen mit meinen ersten veröffentlichten Kurzgeschichten sowie einen eifrigen Brief geschickt, in dem ich mich ihm vorstellte. Auf diese Weise war ich zu einer Einladung zum Abendessen gekommen – über Nacht geblieben war ich nur, weil schlechtes Wetter mich daran gehindert hatte, nach Hause zurückzukehren. Von den späten vierziger Jahren bis zu seinem Tod an Leukämie im Jahr 1961 war Lonoff wahrscheinlich Amerikas angesehenster Kurzgeschichten-Autor – wenn schon nicht für die breite Öffentlichkeit, so doch für die meisten Angehörigen der intellektuellen und akademischen Elite. Er hatte sechs Sammlungen veröffentlicht, in denen die Mischung aus Komödie und Düsterkeit die sattsam bekannten Geschichten vom harten Los der jüdischen Einwanderer vollkommen ihrer Sentimentalität beraubt hatte; seine Erzählungen waren wie ein Panorama aus unzusammenhängenden Träumen, ohne dass er allerdings die Sachlichkeit von Ort und Zeit zugunsten von surrealistischem Hokuspokus oder magisch-realistischen Knalleffekten geopfert hätte. Seine jährliche Produktion von Geschichten war nie groß gewesen, und in den letzten fünf Jahren, als er angeblich an seinem ersten Roman arbeitete, der ihm, wie seine Bewunderer behaupteten, internationale Anerkennung und den Nobelpreis einbringen würde, den er schon längst hätte bekommen sollen, publizierte er gar nichts. In dieser Zeit lebte er mit Amy in Cambridge und hatte eine lose Verbindung zur Harvard University. Er heiratete Amy nicht; anscheinend war er in diesen fünf Jahren juristisch nicht imstande gewesen, irgend jemanden zu heiraten. Und dann war er tot.

Am Abend vor meiner Heimfahrt ging ich zum Essen in ein kleines italienisches Restaurant unweit des Hotels. Es hatte noch immer denselben Besitzer wie damals, in den frühen neunziger Jahren, als ich zuletzt dort gewesen war, und zu meiner Überraschung wurde ich von Tony, dem jüngsten Sohn der Familie, mit Namen begrüßt und zu dem Tisch in der Ecke geführt, an dem ich immer am liebsten gesessen hatte, weil er der ruhigste war.

Man verlässt einen Ort, während andere – wenig verwunderlich – dort bleiben und weiterhin tun, was sie immer getan haben. Und wenn man zurückkehrt, ist man überrascht und für einen Augenblick ganz aufgeregt, wenn man sieht, dass sie noch immer da sind, und auch beruhigt, weil es jemanden gibt, der sein ganzes Leben an einem Ort verbringt und nicht den Wunsch hat, von dort fortzugehen.

»Sie sind weggezogen, Mr. Zuckerman«, sagte Tony. »Wir kriegen Sie gar nicht mehr zu sehen.«

»Ich bin in den Norden gezogen. Ich lebe jetzt in den Bergen.«

»Muss schön sein dort. Schön und ruhig, so dass Sie gut schreiben können.«

»Stimmt«, sagte ich. »Wie geht’s der Familie?«