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Debbie Wyrich

mit Tanja Janz

Nur ein halbes Herz

DER KAMPF UM MEINEN SOHN DANIEL

1


Ein Junge mit roten Haaren

Am 21. Februar 1997 verließ ich wie immer morgens unser Haus. Wir lebten in einer schönen Gegend von Port Elizabeth, der fünftgrößten Stadt in Südafrika. Wir, das waren mein Mann Paul, unser gemeinsamer Sohn Ryan und ich. Ich war mit achtzehn Jahren von Deutschland wieder zurück nach Südafrika gegangen, weil dort die meisten meiner Familienmitglieder leben, und dort hatte ich bald darauf Paul kennengelernt. Man könnte sagen, wir waren eine richtig glückliche Familie: Unser Sohn war gesund, mein Mann und ich hatten Arbeit, ein schönes Haus – es fehlte uns an nichts. Ich war selbstständig, und führte einen gut laufenden Kosmetiksalon und freute mich jeden Tag auf meine netten Kunden. Das i-Tüpfelchen unseres Glücks befand sich zu diesem Zeitpunkt unter meinem Herzen. Ich war in der fünfunddreißigsten Schwangerschaftswoche und konnte es kaum abwarten, im nächsten Monat Mutter eines zweiten Sohnes zu werden, für den mein Mann und ich im Vorfeld den Namen Daniel ausgesucht hatten.

»Hallo Debbie! Da bist du ja.«

Carol, meine erste Kundin des Tages, die ungefähr in meinem Alter war, wartete bereits auf meine Ankunft vor dem Kosmetiksalon. Ich mochte sie besonders gern, weil sie so eine positive Art an sich hatte und nie ein böses Wort über irgendjemanden verlor. Ich parkte meinen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beeilte mich, zu ihr zu kommen.

»Guten Morgen«, sagte ich, nahm sie freundschaftlich in den Arm und fischte dabei den Schlüssel zum Salon aus meiner Handtasche. Drinnen nahm Carol an einem Tisch Platz, an dem ich ihre Nägel modellieren wollte.

»Ich setze uns eben noch einen Kaffee auf«, rief ich ihr zu und verschwand im hinteren Teil des Ladens, in dem eine kleine Küche untergebracht war. Als ich gerade den zweiten Löffel Pulverkaffee in den Filter gab, zuckte ich plötzlich zusammen und griff mir reflexartig an den Unterleib. Der gefüllte Löffel fiel scheppernd auf den gefliesten Fußboden und das feine Kaffeepulver verteilte sich auf den hellen Kacheln. Krampfartige Schmerzen durchfuhren mich, ausstrahlend vom Nierenbereich bis in die Oberschenkel hinein. Mir wurde sogleich speiübel und ich spürte, wie mir kalter Schweiß den Rücken hinablief. Stöhnend stützte ich mich auf der Spüle ab und bemerkte ein lautes Pochen an meinen Schläfen.

Bitte, lieber Gott, lass es nicht wieder neue Nierensteine sein, betete ich im Stillen. Dieses Vergnügen hatte ich schon einmal gehabt und seitdem hatte ich gehörigen Respekt vor den Koliken, die die kristallinen Ablagerungen hervorrufen konnten. Es durften einfach keine neuen Nierensteine sein. Schließlich war ich schwanger!

Ich wollte nach Carol rufen, damit sie mir half, aber die Krämpfe nahmen mir den Atem und meine Kehle war in dem Moment wie zugeschnürt. Durch die Schmerzen hindurch nahm ich das klackernde Geräusch von Absätzen war, die sich eilig näherten. Wenige Sekunden später erschien Carol in der Küche, die glücklicherweise mein Stöhnen und das Geräusch des herabfallenden Löffels gehört hatte. »Meine Güte! Was ist mit dir, Debbie?«, rief sie erschrocken aus und lief auf mich zu.

»Ich … ich weiß auch nicht«, brachte ich heraus und stützte mich zitternd auf sie.

Carol schaute an mir herab und ihre Augen weiteten sich. »Oh mein Gott!«

Ich folgte ihrem Blick, und erst jetzt spürte ich die warme Flüssigkeit, die an meinen Beinen hinablief. Auf dem Fußboden hatte sich bereits etwas davon angesammelt.

»Oh«, keuchte ich überrascht. »Meine Fruchtblase ist geplatzt. Schon?« Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Durch die Schmerzen war mir nicht in den Sinn gekommen, dass die Krämpfe möglicherweise etwas mit der bevorstehenden Geburt zu tun haben könnten.

»Du musst sofort ins Krankenhaus, Debbie«, sagte Carol in einem Ton, der keine Widerrede duldete.

»Aber ich habe doch noch über einen Monat Zeit, bis Daniel zur Welt kommt«, protestierte ich schwach, während Carol mich schon zu ihrem Wagen führte, um mich zum St. George’s Hospital in Port Elizabeth zu fahren. Ich war völlig durcheinander und konnte nicht mehr logisch denken.

Gegen acht Uhr morgens kamen wir im Krankenhaus an. Auf dem Weg dorthin hatte Carol mit ihrem Toyota vermutlich einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt und sämtliche Verkehrsregeln ignoriert. Im Hospital wurde ich als Notfall sogleich in der gynäkologischen Abteilung untersucht. Der behandelnde Arzt bestätigte meine Befürchtung: Die Fruchtblase war geplatzt.

Der Mediziner legte mir eine Hand auf den Oberarm. »Mrs Meyer, wir müssen Sie zur Beobachtung hierbehalten, um sicherzustellen, dass keine weiteren Komplikationen auftreten. Aber wir kriegen das in den Griff, machen Sie sich keine Sorgen.« Er lächelte mir aufmunternd zu. »So was passiert nicht zum ersten Mal.«

»Herr Doktor, könnten Sie bitte meinem Mann Bescheid sagen?«, fragte ich. »Er denkt doch, ich bin bei der Arbeit.«

Der Arzt versprach mir, sich darum zu kümmern. Eine Schwester rollte ein Bett in den Behandlungsraum, in das ich mich legen sollte. Dann ging es mit einem Fahrstuhl auf die Station, wo ich weiterbehandelt werden sollte. Dort wurde ich an alle möglichen Geräte angeschlossen, die jede kleine Veränderung registrierten und dabei piepsten und surrten. Ich war heilfroh, dass Carol bei mir war und so lange blieb, bis Paul endlich vor meinem Bett stand.

Er griff nach meiner Hand und drückte sie ganz fest. »Was machst du denn für Sachen, Darling? Konntest es wohl wieder nicht abwarten, was?«, sagte er scherzhaft und zwinkerte mir zu.

Ich verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ich bin zwar nicht die Geduldigste, aber den Monat hätte ich schon noch Zeit gehabt.«

Paul seufzte.

»Wo ist Ryan?«, wollte ich wissen.

»Bei Oma und Opa. Sie kommen dich später besuchen. Ich wollte erst mal nach dir sehen.«

»Gut.« Ich nickte. Bei dem Gedanken an meinen großen Sohn, der bereits in die Schule ging, schossen mir sogleich die Tränen in die Augen. Paul strich mir mit einer Hand über die Wange. Ihm war mein emotionaler Ausbruch nicht entgangen.

»Und wie lange sollst du jetzt hier liegen?«, wollte er wissen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Ärzte wollen auf jeden Fall medikamentös die Wehen verlangsamen, um die Geburt hinauszuzögern. Daniel hat ja noch einen Monat Zeit. Es wäre einfach zu früh.«

»Die Ärzte werden wissen, was sie tun.« Paul nickte und versprach mir, dafür zu sorgen, dass es mir gut ging. Dann nahm er mich in die Arme. Ich war ihm unendlich dankbar für seinen Zuspruch und dafür, dass er bei mir war. Außerdem glaubte ich ganz fest an das, was er als Nächstes sagte. »Alles wird gut, Debbie. Du wirst schon sehen.«

In regelmäßigen Abständen kamen Schwestern in mein Zimmer, überprüften die Daten der Geräte, an denen ich angeschlossen war, und verließen dann kurze Zeit später wieder den Raum. Ich wusste, dass ich medizinisch in den besten Händen war; trotzdem spürte ich im Laufe des Abends Unruhe in mir aufsteigen. Ich erschrak, als ich an meinen Beinen auf einmal ganz deutlich eine warme Flüssigkeit fühlte, dieses Mal eine viel größere Menge als zuvor im Kosmetiksalon. Ich klingelte sofort nach einer Schwester, die auch gleich kam, binnen weniger Sekunden wieder aus dem Krankenzimmer flitzte und mit einem Arzt zurückkehrte.

»Wir müssen Sie noch einmal untersuchen, Mrs Meyer«, sagte der Mann im weißen Kittel zu mir.

Mein Herz klopfte vor Aufregung mittlerweile wie nach einem Dauerlauf. »Ist es etwas Schlimmes?«, fragte ich ihn ängstlich.

»Wir müssen schauen, wie viel Fruchtwasser Ihrem Kind noch zur Verfügung steht, und dann die weitere Vorgehensweise an die Ergebnisse anpassen. Sorgen Sie sich nicht. Sie sind bei uns gut aufgehoben«, sagte er und begann mit der Ultraschall-Untersuchung. Danach runzelte er die Stirn. »Ich möchte noch einen Kollegen hinzuholen. Moment bitte.«

Wenig später erschien der Chefarzt der Gynäkologie im Behandlungszimmer, ein braungebrannter und schlanker Mann mit schütterem Haar. Er führte die gleiche Untersuchung noch einmal durch, die zuvor der andere Arzt vorgenommen hatte. »Wir sind gleich wieder bei Ihnen, Mrs Meyer«, sagte er dann und verließ mit seinem Kollegen kurz den Raum.

»Keine Angst. Doktor Baldwin ist ein guter Arzt. Er wird dafür sorgen, dass Ihnen und Ihrem Kind nichts passiert«, sagte die blonde Schwester zu mir, die den Ärzten assistierte. »Alles wird gut«, fügte sie aufmunternd hinzu. Da ich diesen Satz heute schon zum wiederholten Male zu hören bekam, entschied ich mich, darauf zu vertrauen, dass es so sein würde. Ich nickte der Krankenschwester zu und schloss dann kurz Augen, um mich etwas zu entspannen.

Einige Minuten später betraten die Ärzte wieder den Raum. Als ich die Augen öffnete, fiel mir sogleich der besorgte Gesichtsausdruck von Dr. Baldwin auf. Seine Stirn zeigte eine tiefe Falte, die ich zuvor nicht bei ihm gesehen hatte. Außerdem konnte ich fühlen, wie sich die Stimmung im Raum verändert hatte. Der Arzt redete zunächst leise mit der Schwester, die daraufhin das Zimmer verließ. Dann kam er zu mir und griff nach meiner Hand.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. »Was ist mit mir los, Herr Doktor?«

»Sie haben sehr viel Fruchtwasser verloren. Man könnte auch sagen: Es ist gar keins mehr vorhanden.«

Ich schluckte. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was war mit meinem Baby? »Was bedeutet das?«

Dr. Baldwin schaute mich ernst an und sagte dann mit ruhiger und klarer Stimme. »Wir müssen Ihr Kind holen. Jetzt.«

Ich riss die Augen auf. »Wie? Jetzt? Aber es ist noch ein Monat …«

»Kinder kommen eben nicht immer nach Zeitplan«, sagte er beschwichtigend und lächelte mich an, sodass ich für einen Moment beruhigt war. »Das Fruchtwasser ist für Ihr Baby lebensnotwendig. Wenn es fehlt, besteht eine akute Gefahr für das Kind. Verstehen Sie das?«

Ich nickte und atmete tief ein und aus. »Was passiert als Nächstes?«

»Der OP wird gerade für Sie vorbereitet. Wir holen Ihr Baby per Kaiserschnitt.«

»Werde ich bei der Geburt wach sein?«, fragte ich leise. Zum einen freute ich mich darauf, so schnell wie möglich mein kleines Baby in den Armen zu halten. Zum anderen hatte ich schon immer gehörigen Respekt vor Vollnarkosen.

»Leider nicht. Wir müssen den Kaiserschnitt unter Vollnarkose durchführen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, …«

»… alles wird gut«, beendete ich den Satz und wunderte mich selbst über meinen Optimismus in dieser Situation.

»Stimmt genau«, bestätigte Dr. Baldwin.

Danach ging alles ganz schnell. Meine Schwiegermutter, mein Vater und Ryan waren inzwischen im Hospital angekommen und erfuhren zusammen mit Paul von dem bevorstehenden Kaiserschnitt.

Was für ein Tag, dachte ich, als mich die blonde Schwester für die Operation fertig machte. Hätte mir jemand vor vierundzwanzig Stunden gesagt, dass ich heute schon ein Kind zur Welt bringen würde, ich hätte ihn höchstwahrscheinlich ausgelacht und für komplett verrückt erklärt. Natürlich hätte ich die Geburt lieber bei vollem Bewusstsein erlebt, aber das Leben war eben kein Wunschkonzert, und so akzeptierte ich die überraschende Wendung.

»Wir bleiben hier und warten auf dich, Debbie!«, rief mir meine Schwiegermutter nach, als ich im Bett zum OP geschoben wurde. »Du schaffst das!«

Da stand sie, meine Familie. Ich hob kurz die Hand und lächelte ihnen tapfer zu. Dann schlossen sich die automatischen Türen des OP-Trakts und wenig später beförderte mich ein Narkosemittel in einen traumlosen Schlaf.

Das Erste, was ich nach dem Kaiserschnitt wahrnahm, war das monotone Piepsen der Geräte, an die ich angeschlossen war. »Hallo, können Sie mich hören?«, fragte eine weibliche Stimme. »Sie müssen die Augen aufmachen!«

Ich befolgte ihren Rat und blickte auf eine grün gekleidete Frau. »Wissen Sie, wie Sie heißen?«, wollte sie von mir wissen.

»Debbie«, brachte ich hervor. Blöde Frage, dachte ich beduselt. Wieso sollte ich meinen eigenen Namen nicht kennen? Doch dann wurde mir klar, wo ich mich hier befand: Ich lag auf der Intensivstation und hatte mein zweites Kind zur Welt gebracht. Sofort lief mein Gehirn wieder auf Hochtouren. »Mein Kind – ist es gesund?«

»Ihrem Sohn geht es gut. Er ist kerngesund. Wollen Sie ihn sehen?«

Ich nickte und spürte, wie ich auf einmal ganz aufgeregt wurde. Daniel. Gleich würde ich ihn endlich sehen. Die Schwester wandte sich zum Gehen ab, als mir blitzartig ein Gedanke durch den Kopf schoss. »Moment noch!«, rief ich ihr nach.

Sie drehte sich um. »Ja?«

»Mein Baby hat aber keine roten Haare, oder?«, fragte ich. Pauls Haare waren nämlich rot und bei Ryan hatte sich meine Haarfarbe durchgesetzt. Eigentlich mochte ich rote Haare. Doch ich wusste, dass rothaarige Kinder oftmals von anderen Kindern aufgrund ihrer Haarfarbe gehänselt wurden, deswegen wünschte ich mir für Daniel, dass er eher meinen unauffälligen Haarfarbton geerbt hatte.

»Ich hole Ihnen Ihr Baby«, sagte die Schwester.

Nach einigen Minuten hielt ich Daniel zum ersten Mal in den Armen. Ich vergoss ein paar Freudentränen und bedeckte sein kleines Köpfchen immerzu mit Küssen. Vom ersten Moment an war ich bis über beide Ohren in meinen Sohn verliebt. Er war zauberhaft. Einfach perfekt. Trotz der roten Haare.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass der 21. Februar 1997 der letzte Tag in meinem Leben sein würde, an dem ich mir über eine Banalität wie rote Haare Gedanken machen würde. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung davon, was auf mich zukommen würde. Aber eins spürte ich von der ersten Sekunde an: Daniel war ein ganz besonderes Kind.