Seit ihren surrealistischen Anfängen in Paris mit André Breton, Marcel Duchamp und Max Ernst entwickelte sich Meret Oppenheim (1913–1985) zu einer völlig eigenständigen, unvergleichlichen Künstlerin, der anhaltender internationaler Ruhm zuteil wurde. Ebenso wie ihre Bilder gehören ihre Gedichte zum lebendigsten Erbe des 20. Jahrhunderts. Dieser Band enthält sämtliche Gedichte, dazu eine Reihe von Texten Meret Oppenheims, die ihre Welt und die Umgebung ihrer Gedichte näher beleuchten: die Vorlage für ein Filmdrehbuch über Kaspar Hauser, Meret Oppenheims Beschreibung ihres »Nachtessens auf einer nackten Frau« (eines Frühlingsfests) sowie ein Gespräch mit der Herausgeberin Christiane Meyer-Thoss über die Freundschaft zwischen Bettine von Arnim und Karoline von Günderode.

Meret Oppenheim

Husch, husch,
der schönste Vokal
entleert sich

Gedichte, Prosa

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Christiane Meyer-Thoss

Mit Abbildungen

Suhrkamp

Erstveröffentlichung der gesammelten Gedichte 1984 in der edition suhrkamp (Band 1232). Diese erweiterte Ausgabe folgt, neu durchgesehen, der 2002 im Hauptprogramm des Suhrkamp Verlags erschienenen.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2703.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Schutzumschlag: unter Verwendung von Meret Oppenheims Ölgemälde Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich, M. E. par M. O. (1934)

eISBN 978-3-518-74274-7

www.suhrkamp.de

Gedichte

Die Schreie der Hunde steigen

Sie bleiben stehen

Mit starren Hälsen

Aber ihre Schreie steigen.

Kacherache, panache,

Lob dem schüchternen Wallachen.

Langsam naht er – kommt oder kommt nicht.

Aber sicher ist, daß man ihn übersieht.

So verlangts der gute Ton.

Ich kenne ihn.

Er reicht dir die Hand zum Gruß und zieht sie

nicht zurück, obwohl sie stinkt. Auf der Straße

beißt er dich in die Wade.

Der Königin von England hat er ein Taschentuch

geschenkt.

Wir wollen lebenslänglich Stühle flechten.

Ein merkwürdiger Erdteil in

Weiße Tücher gewickelt

Rollt die gewundene Treppe

Eines Hauses hinunter

Man rollt ihn (Zeremonie)

Die gewundene

Treppe eines Hauses hinunter

Pulvrig ungesehen bleibt er auf der Straße liegen

Nachts ein helles Relief

Mühsam

Wie eine bergige Landschaft.

001.tif

Zum Gedicht: »Endlich! Die Freiheit!«, 1935

Endlich!

Die Freiheit!

Die Harpunen fliegen.

Der Regenbogen lagert in den Straßen,

Nur noch vom fernen Summen der Riesenbienen unterhöhlt.

Alle verlieren alles, das sie, ach wie oft,

Vergeblich überflogen hatte.

Aber:

Genoveva:

Steif

Auf dem Kopfe stehend

Zwei Meter über der Erde

Ohne Arme.

Ihr Sohn Schmerzereich:

In ihr Haar gewickelt.

Mit den Zähnen bläst

sie ihn über sich her!

Kleine Fontäne.

Ich wiederhole: Kleine Fontäne.

(Wind und Schreie von ferne.)

Wohin führt der Wagen?

Der Wagen führt in den Wald. Der Wald

gehört dem Winterkoller.

Wie erfährt man seine Adresse?

Man dreht die Türe um.

Man liest die Lobhymnen der Zugvögel, der

Wasserfische, der verdammten und verfluchten

Pustakäfer.

Hier herrscht kein Kastengeist.

Hier darf sich jeder ungehindert äußern.

Wer Heu im Arm hat, darf es verspeisen.

Lebend oder tot macht man seine Reverenz.

Langsam naht das Alter. Aber es kann dich

nicht unterscheiden.

Du verbirgst dich hinter einem Nachtschmetterling,

der sein schönstes Mimikri macht

und dir seinen Schlaf opfert.

Sansibar

Weil er sich den Rücken kehrt

Verliert er

Über den Kaminen

Die roten Ecklein

Die roten Füchslein

Alle leben einsam

Sie zehren am längsten

Sie essen ihren Pelz.

Welch schöne Frau

Nachtwandlerin

Mit ihrem Fächer

Der als Fächer dient

Angelehnt an den Stamm des Herkules.

Dieses Gedicht wurde provoziert
durch einen kleinen Wattebausch,
den ich in den Fingern drehte.

Quelle belle femme

Somnambule

Avec son éventail

Qui sert d’éventail

Appuyée au tronc d’Hercule.

Von Beeren nährt man sich

Mit dem Schuh verehrt man sich

Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich.

Edelfuchs im Morgenrot

Spinnt sein Netz im Abendrot

Schädlich ist der Widerschein

Schädlich sind die Nebenmotten

Ohne sie kann nichts gedeihn.

Schwach, schwächer, links.

Die Lebenden links.

Die Toten voran.

Der Störrische wird bald sich nahn.

Wer einmal pfeift, gehört nicht her.

Er wird gesiebt, geachtet

Und neun und gut geschlachtet

Und endlich sind die Haare leer.

Und kommen sie am Abend

Am Morgen kommen sie nicht

An jedem leisen Raben

Zerbricht ja ihr Gesicht.

Nie wird sich das Unglück enthüllen, das, ohne sich um die Syllabel zu kümmern, in das reizende Städtchen R. einbrach.

Ruhig nagten die Narzissen, und die Dächer waren gut gedeckt. Bürger, Bauer und Bettelmann schliefen. Als um 2 h nachmittags die Helden anstürmten, wagte niemand, ihnen ihr Monogramm zu entreißen.

Ohne auf Widerstand zu stoßen, drangen sie vor, bis sie den Ausblick auf das unendliche Domino hatten.

Für dich – wider dich

Wirf alle Steine hinter dich

Und laß die Wände los.

An dich – auf dich

Für hundert Sänger über sich

Die Hufe reißen los.

ICH weide meine Pilze aus

ICH bin der erste Gast im Haus

Und laß die Wände los.

Wenn Sie mir das Richtige nennen, kann ich

Ihnen das Lob vom Raben mit den veränderlichen

und schillernden Füßen singen.

Am liebsten sind mir diese kalten Lachblumen

und ihre Winke, deren Schatten im Dunkeln

leuchten.

Wer nimmt den Wahnsinn von den Bäumen?

Wen beschenkt der Himmel mit Dampfveilchen?

Wie rät ein Untergang dem nächsten?

Diese und andere Fragen werden so gelöst:

Man trenne den Duft von seiner Fahrt und

versuche sein Ohr im Lauf um eine Meile

zu schürzen. Jetzt kann die Luft ihre Grenzen

um zwei Grad verengen, und das Ergebnis läßt nicht

auf sich warten.

Hörst du die Löwen brüllen

Vereint verbannt verzehrt

Der Tag hat sie geschlagen

Ohne Wiederkehr.

Die Arche Noah

Immer mehr und weniger

Salz am Knie und Wachs am Kopf –

Warum trinkst du nicht, mein Lieber?

Sieh, schon wächst der Baum im Kropf.

Nimm die Schöne aus dem Wasser,

Trockne ihre nasse Hand

Und vergieß die schwarzen Algen

In den eisernen Bestand.

Der Tau auf der Rose

Wer berührte sie vorher

Vor der Nacht?

Sie behielt ihr bleiches Fleisch

Ihr Wachs

Weiß und schwarz

Sieht man sie wieder in den Wolken

Marzipan essend.

La rosée sur la rose

Qui l’a touché avant

Avant la nuit?

Elle a gardé sa chair

Sa cire

Blanche et noire

Elle reparaît dans les nuages

Mangeant du massepain.

Verlassen, vergessen –

So schwarz am Haferstrand.

Ich will die Zeit nicht messen,

Die diesen Schmerz erfand.

Die gelben Wellen schlagen

Das neue Netz entzwei.

Sie kommen, gehn und sagen:

Das arme Allerlei!

Mit Blumen und Blüten

Wer auch mit den Spangen eilt:

Immer wird das Licht ihn spalten.

Aber nie kann man ihn fassen,

Lebend oder tot ihn halten.

Ich spüre, wie sich mein Auge den Wäldern

und dem Mond zuwendet.

Ich fühle meinen Kompaß sich gegen diese

nahrhaften Sprichwörter richten.

Aber mein schönes Krokodil

Mein Krokodil aus Herz –

Wohin geht dein Stolz?

Je sens mon œil se tourner vers les forêts

et la lune.

Je sens ma boussole se diriger vers ces

proverbes nourrissants.

Mais mon beau crocodile

mon crocodile en cœur –

Où va ta fierté?

Eine Dame in den Vierzigern,

unauffällig gekleidet,

die rote und silberne Münzen herstellt

die innen aus Schokolade sind.

Sie hat eine Abhandlung geschrieben über

die weißen Mäuse aus »R«.

Une dame dans la quarantaine, modestement

habillée, qui fabrique des pièces rouges

et argent qui ont du chocolat à l’intérieur.

C’est elle qui a écrit un traité sur les

souris blanches faites en »R«.

Sie hält mir ihren Gürtel hin

schimmernd

wie eine Heuschrecke

über die Meere

fern ihrer Insel.

Elle me tend sa ceinture

brillante

comme une sauterelle

à travers les mers

loin de son île.

Wer ihre weißen Finger sieht, ist bereit, sich zu

verwandeln. Alle entsteigen ihrer Haut, um sich der

neuen Welt hinzugeben. Alle wissen, daß kein Schiff

sie zurückbringt, aber das Füllhorn winkt. Es öffnet

seine Fächer und läßt seinen Duft ausströmen. Die

grünen Vögel zerreißen die Segel, und die große

Sonne fällt ins Wasser. Aber solange einer die

Trommel rührt, kann die Nacht nicht sinken.

Der Himmel ist gelb, das Meer ist grau.

Die Fahrt dauert schon über hundert Jahre. Die

Menschen schwimmen wie Haifische um ihr Schiff,

und das Meer ist rot von Blut. Nur die braunen Hunde

strecken die Köpfe über den Schiffsrand. Sie halten

kleine Messer im Maul und lassen sie von Zeit zu Zeit

auf die Menschen unter ihnen fallen. Die Messer

bleiben in der Sonne stecken, die tief unten auf dem

Meeresgrund liegt. Die Sonne bekommt

kleine Flossen.

Dort oben in jenem Garten

Dort stehen meine Schatten

Die mir den Rücken kühlen.

Sie stehen in dem Garten

Sie streiten um ein altes Brot

Und krähen wie die Hähne.

Heut will ich sie besuchen

Heut will ich sie begrüßen

Und ihre Nasen zählen.

In der Juninacht

zirpen die Grillen

und der Liguster blüht.

Weiß-und-grün heißt der Liguster

und duftet süß

an der staubigen Straße

im trockenen Flußbett.

In der Juninacht

Wetterleuchten wie Wellen

am Ufer des Himmels.

Jammer und Drohung –

Wer ruft um Hilfe?

Ein Tal voller Blitze

jenseits der Berge.

Oh große Ränder an meiner Zukunft Hut!

Wie sprießen die Blumen, der Himmel wälzt sich im Meer. Die Fische tragen seinen Schleier, und ohne die Korallen zu verletzen, eilen sie hurtig von Stein zu Stein und saugen den Quallen ihren Honig aus, um ihn auf ungehobelten Brettern ihrem König darzubringen. Seine goldnen Tressen klettern an ihm auf und ab, die Ringe rollen um sein breites Haupt, seine Füße werden von seinen Händen liebkost, und die Sonne selbst erwärmt sein Herz.

Soviel wie wach im Schlafe sehen hören

Astor sah ihn im Schlafe hören. Er beobachtete ihn einige Zeit mit den Augen, – um sich dann um so schneller in den Wind unter dem blühenden Rosenstrauch zu legen, so schnell, daß er seine künstlichen Ohren erst nach einiger Zeit aus der entgegengesetzten Richtung wieder auf sich zukommen sah. Er nahm es ihnen aber nicht übel und befestigte sie, nach kurzem Nachdenken, an dem letzten Brief seiner Mutter oder am knorrigen Stamm des Rockefeller Buildings. Als er die Augen erhob, sah er, daß sich ein paar Fenster aus dem Hause gebeugt hatten und ihm Zeichen machten. Obwohl er wußte, daß der Igel im Innern des Hauses immer dicker wurde und seine Borsten die Haut des guten Kindes zu ritzen begannen, so hatte er doch bis jetzt geglaubt, daß dieser davor zurückschrecken werde, die Fenster in die Wüste und in den offenen Rachen des Aetna zu jagen. Da – schon fielen die ersten Tropfen, und ein Fenster nach dem andern entstieg seiner sterblichen Hülle unter Zurücklassung von mindestens einer Schiffsladung Vogelmist. Astor bedeckte sich mit einem durchsichtigen Maulwurfshügel und begab sich ungesehen an die Stätte des Unglücks.

Viravorabilis:

In Gedanken versunken hatte sich Astor seinem Heim genähert. Er legte sich nieder und schlief bald ein. Als er am andern Tag erwachte, hing er auf einem fremden Kleiderbügel. In der Tasche fand er eine Visitenkarte, auf der sein neuer Name gedruckt stand: Caroline.

Mit dem Radau-Gott um die Welt

Fische an den Sohlen

Flossen am Absatz

Die goldne Sonne in der Mitte.

Sein Herz bekränzt mit Efeu

Sein Gesicht gefüllt mit roten Beeren

Seine nächsten Hände liegen auf den Felsen.

Wenn er die Spur verliert

Flüchtet er zum Abgrund

Und läßt alle Löffel fallen.

Der Hund meiner Freundin

Ich liebe den Hund meiner

Freundin. Er kann so schön

»ja« sagen. Er sagt »ja«, wenn

man ihn vergißt. Er verdammt

keinen, der sich mit ihm vergleicht.

Wo er hinkommt, da kehrt der

Frühling ein. Weint er, verliert

die Natur ihre Federn. Ist er

hingegen wohlgelaunt, schiebt

er mit viel Geschick die Hand zum

Mund, um ihm seine tiefsten

Geheimnisse abzulauschen.

Wie jeder brave Mann hat er

zwei Seelen in jeder Brust,

fünfundzwanzig an Händen und Füßen.

Getreuer Kapitän

Sage es mir

Zeige mir die Stelle in den Wolken

Die der Flügel der Schwalbe öffnete

Das Wellental in den Haaren der Göttin

Die grünen Lichter im Wald.

Hier ist Nacht –

Böse Besen erschlagen die Kobolde

Kein Rad dreht sich mehr.

Das Dunkel kennt sich nicht

Es fragt auch nicht

Es ist eine Faust in einer Faust

Die niemand sieht.

Sommer

Der Löwe stützt seine Nase auf den Tischrand