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ÜBER DIE AUTORIN

Rachel Elliott, 1972 in Suffolk geboren und in den Midlands aufgewachsen, ist Autorin und Psychotherapeutin. Ihre Kurzgeschichten wurden für zahlreiche Preise nominiert, u. a. für den Dundee International Book Prize. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Bath, Flüstern mit Megafon ist ihr erster Roman.

ÜBER DAS BUCH

»Wenn du beschließt zu leben, endlich zu leben, eröffnet sich dir eine Welt voller Möglichkeiten, verlockend und unermesslich. Aber wo ist die Brücke hinüber zu dieser Welt, sieht jemand eine Brücke?« Miriam Delaney

Ralph und Miriam haben vorerst wenig gemeinsam. Sie scheut jeden sozialen Kontakt, er führt eine vermeintlich perfekte Ehe mit Sadie, die ihre Gefühle für Frauen wiederentdeckt. Eines Tages brechen Ralph und Miriam aus ihrem Leben aus und treffen völlig unverhofft aufeinander. Es ist der Beginn einer unerwarteten Freundschaft – und ein Neuanfang, der für beide voller Überraschungen steckt.

Kein & Aber

 

Für meine Familie, mein sicheres Ufer

 

»Wenn du beschließt zu leben, endlich zu leben, eröffnet sich dir eine Welt voller Möglichkeiten, verlockend und unermesslich. Aber wo ist die Brücke hinüber zu dieser Welt, sieht jemand eine Brücke?«

MIRIAM DELANEY

1

DIE ÜBERBORDENDE WELT
DORT DRAUSSEN

Miriam Delaney sitzt an ihrem Küchentisch und starrt auf das Radio. Sie ist fasziniert, gebannt.

Irgendwo in einem Studio – irgendwo in der Welt dort draußen – berichtet eine Frau mit volltönender Stimme von ihrem außergewöhnlichen Leben: den Abenteuern, den Liebschaften, den Lektionen aus ihren Fehlern. Ihre Anekdoten sind mit Musikstücken durchsetzt, sorgfältig ausgewählt, um noch mehr Leben zu offenbaren.

Miriam atmet tief ein, denn vielleicht übertragen die Radiowellen nicht nur die Worte der Frau, sondern auch ihre überbordende Lebensfreude.

Die Vorstellung, sie könnte auch so sprechen.

Die Vorstellung, sie könnte überhaupt richtig sprechen.

Heute ist es drei Jahre her, dass Miriam das letzte Mal dieses Haus verlassen hat.

Nein, das stimmt nicht ganz. Sie ist in den Garten hinausgegangen, um die Kois zu füttern, und auf die Veranda, um die Milch hereinzuholen und den Müllsack bereitzustellen, damit ihn ihr Nachbar zum anderen Ende der Einfahrt bringen kann. Aber auf die Straße hinaustreten? Keine Chance. Ein potenziell katastrophales Aufeinandertreffen mit einem Fremden riskieren? Das soll wohl ein Witz sein! Nicht nach dem, was passiert ist. Nicht nach dem, was sie getan hat. Nein, stattdessen sind ihre Füße in den flauschigen Hausschuhen mit den West-Highland-Terrier-Köpfen nur immer wieder durch die Zimmer von 7 Beckford Gardens gestreift, einer Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern, einer weißen Kuckucksuhr, braun-orange gemustertem Teppichboden und einem lebensgroßen Pappaufsteller von Neil Armstrong.

Miriams Winterschlaf wird heute drei Jahre alt, aber Zahlen können täuschen, und drei Jahre können sich anfühlen wie drei Jahrzehnte. Winterschlafjahre sind wie Hundejahre, also entsprechen drei ungefähr achtundzwanzig, je nach Rasse. Und diese spezielle Rasse ist freundlich und hat einen großen Beschützerinstinkt, denn sie hält ihr die Welt vom Leib.

Die Welt – was für ein interessantes Konzept. Miriam stützt das Kinn in ihre Hände. Wo genau ist die Welt? Drinnen oder draußen? Wo ist die Grenze? Bin ich innerhalb, oder bin ich außerhalb?

Sie wirft eine Münze. Kopf heißt, dass ich Teil der Welt werden könnte, Zahl, dass ich immer außen vor bleiben werde.

Die Zehn-Pence-Münze, die flach in ihrer Handfläche landet, sagt Kopf. Noch zwei Versuche?

Drei hoffnungsfrohe Köpfe, einer nach dem anderen.

Miriam lächelt. Es ist Zeit. Sie weiß es, und die Münze weiß es. Folge der Spur des Geldes. Geld regiert die Welt. Es ist Zeit, zu leben.

Das größte Problem dabei? Andere Menschen. Sie waren immer schon das Problem. Miriams Mitmenschen scheinen einen Wissensvorsprung zu haben. Ihnen ist klar, was ein Leben alles beinhalten sollte, die vielen einfachen und komplizierten Dinge wie Shopping und Zumba und körperliche Intimität. Sie kennen die Regeln, wissen, wie es geht. Miriam ist fünfunddreißig, und wenn sie aus dem Fenster blickt, sieht sie nur eins: eine Welt voller Leute, die Kenntnis von Dingen haben, die sie niemals verstehen wird.

Wieder die Welt. Nachdem Miriam jahrelang nicht hingesehen hat, sieht sie nun nichts anderes mehr. Sie würde gern dazugehören, irgendwie mitmachen.

Also schreibt sie einen Plan auf einen Notizzettel und klebt ihn ans Radio:

1. Etwas tun, wovor ich Angst habe. Angeblich gewinnt man dadurch Selbstvertrauen (ob das stimmt, muss sich erst noch herausstellen – wird ein spannendes Experiment).

2. Die nächsten Tage damit verbringen, das Haus zu entrümpeln – Mutters Sachen loswerden

3. Nächste Woche das Haus verlassen

Das Problem bei Punkt 1: Was soll sie aus der endlos langen Liste auswählen? Allein das Erstellen einer vollständigen Liste mit Dingen, vor denen sie Angst hat, könnte einen weiteren Monat in Anspruch nehmen. Und noch vier Wochen in diesem Haus? Vier Wochen, die sich anfühlen werden wie zehn Monate? Der Gedanke ist unerträglich. Er lässt Miriam frösteln, und sie läuft nach oben, um sich eine ihrer vielen Strickjacken zu holen.

Aber Listen sind gut, das darf man nicht vergessen. Man kann Punkte hinzufügen oder streichen. Fügt man sie hinzu, kommt man sich vor wie ein Mensch mit klaren Zielen, streicht man sie von der Liste, ist es jedes Mal ein kleiner Sieg. Weitere Vorteile? Nun ja, eine Liste ist im Grunde so etwas wie eine persönliche Landkarte. Sie ist eine Leiter, die man nach Belieben hinauf- und hinunterklettern kann. Wenn man Punkte von der Liste streicht, hat man das Gefühl, sich zu bewegen, sich einem Ziel zu nähern, etwas Sinnvolles zu tun – das Gefühl, dass endlich etwas vorangeht.

Zurück im Wohnzimmer, fängt sie mit der Liste an.

Schreib schnell, Miriam. Du schaffst das. Listen sind gut. Schreib, bis du auf etwas stößt, was du noch heute Abend in Angriff nehmen kannst. Nein, nicht morgen. Heute Abend.

Dinge, die mir Angst machen

 1. Die Vorstellung, dass meine Mutter noch irgendwo am Leben ist und ich nicht allein bin

 2. Die Vorstellung, dass meine Mutter definitiv tot ist und ich allein bin

 3. An den Ort zurückzukehren, wo es passiert ist

 4. Liebe

 5. Keine Liebe

 6. Shopping

 7. Der Gedanke, dass ich es vielleicht wieder tue, wenn ich aus dem Haus gehe

 8. Mit einer Gruppe gesprächiger Menschen in einem Aufzug stecken zu bleiben

 9. Aufgrund einer schweren Handverletzung nie wieder eine Liste oder einen Brief schreiben zu können

10. Zu werden wie meine Mutter

11. Nicht zu merken, dass ich bereits so bin wie meine Mutter

12. Fingerlose Handschuhe

13. Nacktputzen

Ah! Da ist es. Punkt dreizehn auf der Liste (für manche eine Unglückszahl). Nacktputzen. Eigentlich müsste sie dafür nur ihre Strickjacke ausziehen, ihr T-Shirt, ihre Jeans, müsste Henry den Staubsauger aus dem Schrank holen und ihn einstöpseln. Wie angsteinflößend kann das schon sein?

Antwort: Das hängt ganz von der eigenen Kindheit ab.

Es hängt davon ab, ob man mit acht Jahren erleben musste, wie die eigene Mutter nur mit Laufsöckchen bekleidet den Schulflur fegte. (Hatte sie vorgehabt, joggen zu gehen, und war plötzlich verrückt geworden, nachdem sie die Socken angezogen hatte? Kann Wahnsinn derart unvermittelt über einen Menschen hereinbrechen – wie ein Gewitter, wie ein Sturm?) Da war sie jedenfalls gewesen, Mrs Frances Delaney, und hatte sich stumm durch eine stürmische See aus hysterischen Kindern gefegt, deren Gelächter angeschwollen war, sich aufgetürmt hatte, immer höher und höher und …

Miriam war völlig durchweicht gewesen – nasse Füße, nasse Hände, nasse Augen.

Mutter hier in der Schule. Mutter nackt. Andere Kinder, kichernd und johlend. Arme Mutter. Ich liebe sie und hasse sie.

Der Schulleiter erschien. Ging übers Wasser. Zog sein Jackett aus und verhüllte damit Mrs Delaneys Nacktheit. Er gab sich galant, unbeeindruckt. Vielleicht hatte er das alles schon einmal erlebt (Miriam hoffte es nicht). Frances fegte weiter – immerhin war sie gründlich. Sauberkeit und Ordnung waren ihr immer schon wichtig gewesen. Vielleicht verstand der Schulleiter dies, daher sein Zartgefühl. Vielleicht respektierte er es.

Was die Situation noch schlimmer machte, noch unbegreiflicher für Miriam, war die Tatsache, dass ihre Mutter gar nicht als Reinigungskraft arbeitete. Taucht man unbekleidet am eigenen Arbeitsplatz auf, ist das ein Verstoß gegen die Etikette, eine wohl vorübergehende geistige Störung, Vergesslichkeit in ihrer extremsten Form, aber wenigstens lässt dieses Verhalten einen gewissen roten Faden erkennen: Ich habe getan, was ich normalerweise auch tue, bin am richtigen Ort erschienen, auch wenn heute irgendetwas anders ist. Was das wohl sein kann? Taucht man hingegen an einem völlig willkürlichen Ort auf – in diesem Fall an der Schule der eigenen Tochter –, noch dazu entblößt, splitterfasernackt bis auf kurze Laufsöckchen, dann ist das unerträglich widersinnig.

Miriams Mutter war vollkommen durchgeknallt.

Ob das ansteckend war?

(Hoffentlich nicht, dachte die achtjährige Miriam.)

Spulen wir siebenundzwanzig Jahre vor, was sehen wir dann? Eine Frau, die sorgfältig ihre Strickjacke, ihr T-Shirt, ihren BH und ihre Jeans zusammenfaltet und sie aufs Sofa legt. Sie geht zum Schrank im Flur und zieht Henry den Staubsauger heraus ins Licht, steckt ihn in die Steckdose, schaltet ihn ein. Jetzt staubsaugt sie den braun-orange gemusterten Teppichboden in ihrem Wohnzimmer, mit nichts bekleidet als einem orangefarbenen Schlüpfer und Hunde-Hausschuhen. Ein Kuckuck schnellt aus seinem Haus und erschreckt sie. Es ist zweiundzwanzig Uhr. Nur noch zwei Stunden, bis der Mittwoch zum Donnerstag wird, bis der 1. August zu Ende geht und es drei Jahre und einen Tag her sein wird, dass sie ogottogottogott flüsternd nach Hause gerannt war. Jahrestage kommen und gehen. Wichtige Termine werden vom Strudel des Lebens erfasst und mitgerissen, genau wie wir Menschen: ewige Touristen, die vorgeben, zu Hause zu sein.

Ganz langsam, Miriam, du brauchst dir wirklich nicht den Kopf zu zermartern über die menschliche Existenz. Konzentriere dich lieber auf deine Aufgabe, ausnahmsweise einmal, sonst wirst du dieses Haus nie verlassen. Selbstbeschwichtigung, weißt du nicht mehr? Wie in dem Buch, das Fenella dir geliehen hat und in dem es darum geht, in einer verrückten Welt nicht den Verstand zu verlieren.

Fenella Price. Hauptlieferantin von Gegenständen aus der Welt dort draußen: Lebensmitteln, Kugelschreibern, Schlüpfern et cetera. Fenella ist keine gewöhnliche Freundin, sondern Miriams leuchtendes Vorbild, was gesunden Menschenverstand angeht. Sie ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen, der Beweis dafür, dass Menschen auch vernünftig, rational, beständig sein können. Aber vor allem – und das ist viel wichtiger – ist sie der Beweis dafür, dass Miriam nicht ansteckend ist. Der Wahnsinn ihrer Mutter fließt durch ihre Adern, steckt in ihren Knochen – muss er schließlich, nicht wahr? Fenella hat alles miterlebt, die Höhen und Tiefen, die Dramen und Aussetzer, schon seit sie zusammen zur Grundschule gegangen sind – und sie ist trotzdem noch bei vollem Verstand. Sie trägt schicke Kleider, arbeitet als Bankangestellte bei der örtlichen Barclays-Filiale, besucht dreimal die Woche Abendkurse: Pilates, Tango, Wie bastle ich mir meinen eigenen Lampenschirm. Normaler geht es ja wohl nicht, oder?

»Du darfst dich von dieser verrückten Welt nicht um den Verstand bringen lassen«, pflegt Fenella zu sagen. »Wenn deine Gedanken in die Vergangenheit abschweifen, rede einfach leise mit dir selbst. Das mache ich auch immer. Egal wo ich bin. Ich sage: ›Beruhig dich wieder, Fenella Price. Alles ist in bester Ordnung.‹«

Miriam seufzt. Gott sei Dank hat sie Fenella. Wenn sie ihr doch nur die Wahrheit sagen könnte über das, was damals passiert ist, über das, was sie getan hat, heute vor drei Jahren.

Folgendes hat sich ereignet:

Nichts ahnende Schritte auf dem Pfad durch den Wald.

Nichts ahnende Schritte über die Wiese, bis hin zum Pub.

Mittagessen mit Fenella (ein Käsesandwich mit Zwiebelmarmelade, dazu Pommes frites und einen kleinen Cider).

Umarmung zum Abschied, schön war es, wir telefonieren bald.

Und dann das Ganze in umgekehrter Reihenfolge.

Nichts ahnende Schritte über die Wiese.

Nichts ahnende Schritte auf dem Pfad durch den Wald. Widerlich unwissend, unerhört ahnungslos, bis …

Die Welt ist ein sicherer Ort, bis sie es plötzlich nicht mehr ist.

Der Mensch ist gut, bis er es plötzlich nicht mehr ist.

Miriam wünscht sich, sie hätte damals einen letzten Blick auf die Häuser geworfen, die Bäume, die Hunde, die auf der Wiese spielten. Aber man weiß schließlich nie, was kommt. Man geht klein und blind durch die Welt, nimmt sie lediglich als Echo der eigenen Belange wahr.

2

MOVE OVER DARLING

Treacle ist überall, auf Ralphs Beinen, seinen Armen, seinem Bauch. Treacle, die rote Katze, ist gelangweilt von Ralphs Untätigkeit und verlangt nach ihrem Frühstück. Sie tappt auf dem Schlafsack auf und ab, klettert über die Kurven und Kanten ihres neuen Besitzers, fahndet nach einem Lebenszeichen.

Treacle war verloren und allein, eine Streunerin im Wald, zottig und mager. Dann ist sie Ralph Swoon über den Weg gelaufen, der ebenfalls verloren und allein war. Jetzt haben sie sich gegenseitig, sich und eine wackelige alte Bretterbude mitten im Wald, durch deren Ritzen das Licht dringt.

Er hat Treacle eine Büchse Sardinen gekauft.

Es ist eine Liebe, die nach Fisch riecht, aber dennoch eine echte Liebe.

Ralph schält sich aus seinem Schlafsack. Er trägt noch seine Kleider von gestern. Nachdem er sich mit den Fingern durch die Haare gefahren ist, öffnet er die Tür des Bretterverschlags und geht zu dem Blätterhaufen, den er zu seiner Toilette erkoren hat. Treacle sitzt unterdessen auf der Türschwelle und wartet. Sie hat sich bereits an diesen Teil des gemeinsamen Tagesablaufs gewöhnt und weiß, dass Ralph gleich wieder hineinschlurfen und ihr ein wenig Futter aus der Büchse auf den gesprungenen Teller kippen wird, der im Verschlag auf dem Boden steht. Dann wird er in seinen Schlafsack zurückkehren und sie auffordern, sich zu ihm zu gesellen. Gestern haben sie noch drei Stunden zusammen im Schlafsack weitergeschlafen. Allerdings hat Treacle hin und wieder die Augen geöffnet, um sich zu vergewissern, dass Ralph noch atmet.

Ihrer Katzenlogik zufolge hat er sich in den Wald geschleppt, um zu sterben. Warum sonst hätte er am 4. August um halb zwölf Uhr nachts plötzlich ohne Gepäck, ohne Habseligkeiten, abgesehen von einem Geldbeutel, einem Handy und einer Gitarre, hier auftauchen sollen?

Aber die Katze irrt sich.

Er ist nicht hergekommen, um zu sterben.

Vor einer Woche hat Ralph noch an der Frühstückstheke in seiner Küche gesessen und seiner Frau und seinen beiden halbwüchsigen Söhnen im Garten gelauscht. Sadie und Arthur spritzten gerade die Beine ihres neuen Welpen mit dem Schlauch ab, während Stanley ihnen dabei zusah.

»Dieser Hund stinkt«, beschwerte sich Arthur.

»Das ist doch nur Matsch. Hilf mir lieber mit dem Schlauch«, entgegnete Sadie.

»Er ist dein Hund, Mum.«

»Jetzt fang nicht wieder damit an.«

»Wer hat ihn denn angeschleppt?«

»Ich habe ihn für dich und Stan gekauft. Du wolltest doch immer einen Hund.«

»Ich wollte einen Hund, als ich sechs war. Du bist zehn Jahre zu spät dran.«

»Ach, lass mich in Ruhe.«

Arthur grinste, während der Welpe zappelnd versuchte, dem kalten Wasser zu entgehen und stattdessen mit dem Schlauch zu spielen.

Ralph war gegen die Anschaffung eines Hundes gewesen. Hatten sie nicht auch ohne dieses haarige Baby schon genug Probleme? Denn etwas anderes war ein Hundewelpe letztlich nicht. Aber wie üblich hatte sich Sadie durchgesetzt. Sie hatte argumentiert, dass die Aufgabe dem ewig schlechtgelaunten und gelangweilten Arthur guttun würde. Er würde sich entspannen, lernen, Verantwortung zu übernehmen, mehr an die frische Luft kommen. Als Teenager braucht man morgens einen Grund, sich aus dem Bett zu quälen, hatte sie gesagt, sonst schläft man den ganzen Tag und die ganze Nacht, während das Leben an einem vorbeizieht wie ein fader Traum. Das kommt mir bekannt vor, hatte Ralph gedacht.

»Pass auf, dass er kein Wasser in die Ohren kriegt«, warnte Sadie. »Das mögen Hunde nicht.«

»Warum springt er dann ständig in den Fluss?«

»Weil Spaniels gerne schwimmen. Sie schwimmen ja nicht unter Wasser.«

Arthur ließ den Schlauch auf den Boden fallen. »Er ist jetzt sauber. Ich gehe rein.«

»Er ist überhaupt nicht sauber. Guck doch mal, da ist noch überall Dreck.«

Während der Welpe zitternd zwischen ihnen stand, funkelten sich Arthur und Sadie wütend an. Stanley war lediglich unbeteiligter Zuschauer, zumal er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Dass diese abschweiften, passierte ihm immer wieder, seit Joe Schwartz ihn letzten Freitag heftig geküsst und danach die Treppe hinaufgeführt hatte, sich neben ihm aufs Bett gesetzt, sich die Converse-Turnschuhe abgestreift und seine Haare zurückgeworfen hatte, um ihm zu sagen: Du bist wunderbar, Stan. Echt, ich finde dich absolut wunderbar.

Joe aus Kanada. Ein Adonis. Mit magischen Fähigkeiten. Er schaffte es, die keifenden Stimmen von Arthur und seiner Mutter so leise zu stellen, dass Stanley sie kaum noch hörte. Es ging um einen schmutzigen Hund, um irgendein Problem, das sein Bruder hatte.

»Ich bin gerade nicht besonders angetan von dir, mein Lieber«, sagte Sadie.

»Ach, echt?«, gab Arthur zurück.

»Du redest mit mir, als wäre ich das Letzte. Was hast du für ein Problem?«

»Ich habe überhaupt kein Problem.«

»Dann geh und mach mir einen Kaffee. Stan kann mir mit dem Hund helfen. Stan, bist du noch bei uns?«

Arthur stapfte mit schlammigen Stiefeln durch die Küche und tippte etwas auf seinem iPhone.

Arthur Swoon @artswoon

Mum ertränkt neuen Hund im Garten bitte Tierschutzverein verständigen

Mark Williams @markwills249

@artswoon Echt? Doch nicht die BEZAUBERNDE Sadie! Ich glaub dir kein Wort

Arthur Swoon @artswoon

@markwills249 Hör auf du PERVERSER das ist meine Mutter! Total uncool dass mein Dad in seinem Alter noch Kapuzenpullis anzieht

Mark Williams @markwills249

@artswoon Vielleicht Midlife-Crisis? Ich sag nur ein Wort: MILF

Bei der Geburt der Zwillinge hatte Ralph noch nicht einmal sein Grundstudium abgeschlossen – er war zwanzig Jahre alt, eher faul und weltfremd. Er hatte es sich nicht ausgesucht, seine Söhne Arthur und Stanley zu nennen, ihm wären Mark, Michael oder Christopher lieber gewesen. Aber er hätte es niemals riskiert, mit Sadie über ein derart wichtiges Thema zu streiten. Es ging ihnen gut in ihrer Beziehung, sie waren glücklich, er konnte sie jederzeit verlieren. Das war der unausgesprochene Kern ihres Zusammenseins. Sechzehn Jahre später stritten sie nur noch, und beim Anblick ihres in die Einfahrt biegenden Minis, dessen Rückbank mit Zeitungen und noch eingeschweißten Gedichtsammlungen übersät war, wurde ihm regelmäßig mulmig.

Sollte einem mulmig werden von der eigenen Frau? Vielleicht am Anfang der Beziehung, wenn man noch Schmetterlinge im Bauch hatte und ein drängendes Verlangen spürte. Aber nach sechzehn Jahren? Was hätte sie gesagt, wenn sie davon gewusst hätte?

»Du löst Übelkeit in mir aus, Schatz.«

»Du in mir auch.«

»Hm, was machen wir denn da? Trockene Kekse, Salzstangen, Magentablette?«

Er zog einen Vollkornkeks aus der Packung und schaltete den Wasserkocher ein. Im Garten erzählte Sadie Stanley gerade von einer Ausstellung, die sie ihm gern zeigen wollte – vielleicht könnten sie ja am Nachmittag zusammen hingehen? Nach einer kurzen Pause folgte die unausweichliche Zurückweisung: Geht leider nicht, tut mir leid, Mum.

»Warum nicht?«

»Weil ich später fürs Kino verabredet bin.«

»Kannst du nicht ein anderes Mal ins Kino?«

»Du könntest doch mit Kristin in die Ausstellung gehen.«

»Ich will die Ausstellung nicht mit Kristin sehen, ich wollte sie dir zeigen.«

»Aber Kristin interessiert sich für Kunst.«

»Jetzt hör endlich auf mit Kristin!«

Kristin Hart. Die Patentante der Jungen. Sie und ihre Lebensgefährtin Carol waren der Inbegriff des zufriedenen, harmonischen Paares, was Sadie gleichzeitig faszinierte und nervte – umso mehr, seit sie sich immer wieder dabei ertappte, wie sie an Kristin im Bett dachte, Kristin unter der Dusche, Kristin beim Stretching vor der morgendlichen Joggingrunde. Eine vorübergehende Verwirrung, mehr war es nicht, die Sexualisierung einer alten Freundin. Allerdings ganz schön aufwühlend.

Ralph schloss die Augen.

Er sah flackernde Lichter, farbige Blöcke.

Gelb, schwarz, rotbraun.

Die Unterhaltung im Garten hatte aufgehört. Es folgte ein Moment der Stille.

Ja, Stille.

Er atmete aus, spürte, wie seine Schultern herabsanken.

Ihm fiel auf, dass sich seine verkrampften Finger zu Fäusten geballt hatten.

»Mann, habe ich miese Laune«, knurrte Sadie und marschierte in die Küche, dicht gefolgt vom Cockerspaniel. »Ich brauche einen Kaffee.«

»Ich mach dir einen.«

»Dieser verdammte Hund treibt mich in den Wahnsinn. Heute Nachmittag kannst du mit ihm rausgehen.«

»Eher nicht.«

»Und warum nicht? Ich muss das Essen und die Getränke für morgen besorgen. Dauert bestimmt eine Ewigkeit.«

Seine Geburtstagsparty – schon wieder etwas, was er nicht gewollt hatte. Aber die Party war nicht wirklich für ihn. Sadie umgab sich gern mit so vielen Leuten wie möglich, um seine anhaltende Anwesenheit besser ertragen zu können.

»Was weißt du über Stans Freundin?«, fragte sie kurz darauf, während sie den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse nahm und sich von dem Hund das Gesicht ablecken ließ.

»Bist du sicher, dass er eine Freundin hat?«

»Ich hoffe, sie ist nicht so langweilig wie das Mädchen, das er letzten Monat zur Grillparty mitgebracht hat.«

»Die war doch vollkommen in Ordnung.«

»Er hat aber etwas Besseres verdient als vollkommen in Ordnung. Sie besaß keinerlei Ehrgeiz.«

»Sadie, das sind Teenager.«

»Weißt du, was sie auf meine Frage geantwortet hat, wo sie sich in fünf Jahren sieht?«

Ralph stand auf und versuchte zu entscheiden, ob er das Geschirr abspülen oder in den ersten Stock hinaufgehen sollte. »Was denn?«, fragte er und ließ heißes Wasser einlaufen.

»In einem Swimmingpool.«

»Vielleicht schwimmt sie gern.«

»In fünf Jahren möchte sie in einem Swimmingpool sein? Das kann sie doch jetzt schon haben, Ralph! Was ist denn das für ein Lebensziel? Das wäre genauso, als würde man anstreben, in fünf Jahren auf dem Klo zu sitzen!«

»Sadie …«

»Und weißt du, was sie dann noch gesagt hat? Dass ihr Lieblingsrestaurant Frankie & Benny’s ist. Das ist eine Kette, Ralph.«

Dass sich seine Frau ihres eigenen Snobismus überhaupt nicht bewusst war, lastete Ralph ihren Eltern an, einer Dozentin und einem Mathematiker, die über das Zeitgeschehen diskutierten, Banjo spielten und Pesto selbst zubereiteten, am liebsten alles gleichzeitig. Sie waren gebildet, schlagfertig, sarkastisch, lebten in Frankreich und kamen nie zu Besuch. Kein Kind konnte so viel Narzissmus überstehen, ohne sich selbst zu hassen, und Sadie hatte ihren Selbsthass in etwas Erträglicheres umgewandelt: Snobismus.

Ralphs Mutter war Hausfrau, und sein Vater hatte für eine Polsterei gearbeitet. Das war keinen Deut schlechter als Sadies Hintergrund, nur anders. Aber das wollte natürlich nicht in ihren Kopf.

»Ist doch egal«, sagte er.

»Du klingst schon wie Arthur. Ist das sein Kapuzenpullover, den du da trägst?«

»Natürlich nicht. Ich renne doch nicht in den Klamotten unserer Söhne herum. Den habe ich mir letztes Jahr zum Joggen gekauft, erinnerst du dich nicht mehr?«

»Ich glaube nicht, dass ich dich jemals joggen gesehen habe«, murmelte sie mit gesenktem Kopf und tippte auf ihrem Handy herum.

Ralph ging nach oben und hinterließ ein Becken voll Spülwasser, das eigentlich nach Lavendel und Zitrone duften sollte, aber in Wirklichkeit roch wie der Durchgang zwischen ASDA-Supermarkt und Parkhaus.

Sadie Swoon @SadieLPeterson

Heute NaMi gehts zu MK’s, volles Programm: Farbe, Schnitt, Massage. Brauche dringend bessere Laune!

Kristin Hart @craftyKH

@SadieLPeterson Danach einen Kaffee im Monkey Business? Wir müssen reden.

Mark Williams @markwills249

@SadieLPeterson Sie sind umwerfend, so wie Sie sind
#Wennichdochnur10Jahreälterwäre

Sadie Swoon @SadieLPeterson

@craftyKH Kaffee klingt super, Treffen um 5?

Im ersten Stock hielt Ralph verwirrt inne.

»Leck mich doch am Arsch, ich hab total vergessen, was ich hier oben wollte«, sagte er zu sich selbst.

Leck mich am Arsch. Er hätte diese Redewendung beinahe einmal gegoogelt, um herauszufinden, wie sie entstanden war, hatte sich dann aber doch dagegen entschieden. Nicht auszudenken, auf welchen Seiten er gelandet wäre. In Gegenwart von Patienten verkniff er sich den vulgären Ausdruck natürlich, auch wenn es ihm schwerfiel. Leck mich am Arsch zu sagen, hatte er genauso von seinem Vater geerbt wie seine schmalen Schultern und sein knackiges Gesäß. Frank Swoon war in jungen Jahren berühmt gewesen für seinen Hintern. Die Frauen hatten ihm regelmäßig auf der Straße hinterhergepfiffen und gejohlt: »Da gerät frau ja regelrecht in Verzückung, Mr Swoon. Seht euch diese festen kleinen Pobacken an!« Ein Mann hätte sich eine Ohrfeige eingefangen für so einen Kommentar.

Ralphs Verwirrung hatte nicht nur damit zu tun, dass er vergessen hatte, was er im ersten Stock wollte. Sie saß tiefer.

Genau genommen war sie chronisch.

Er war dauerhaft verstört. Im Grunde wusste er weniger über die eigenen Wünsche und Sehnsüchte als seine Patienten über ihre. Verglichen mit ihm, waren diese ein Ausbund an geistiger Gesundheit, immerhin waren sie in der Lage, sich einmal die Woche vor ihn zu setzen und mit erstaunlicher Deutlichkeit ihre Gefühle auszudrücken. Manchmal hätte er ihnen das gern mitgeteilt, hätte gern gesagt: Wissen Sie eigentlich, wie erstaunlich das ist, dass Sie so genau wissen, was Sie wollen? Sie mögen einen ganzen Katalog an Neurosen haben, dazu Angststörungen und Depressionen, aber Sie wissen wenigstens, was Sie wollen!

Sadie hatte ihre eigene Theorie zu seiner Verwirrung. Sie war überzeugt, dass er nicht mehr derselbe war, seit er an Ostern im Baumarkt gegen einen riesigen Gartenzwerg gelaufen war. Wer stellt auch einen überdimensionalen Gartenzwerg mitten auf den Gang, hatte sich Ralph beim Filialleiter beschwert und von einem »massiven Sicherheitsrisiko« gesprochen. Der Filialleiter hatte gelacht und vergeblich versucht, seine Belustigung durch einen Hustenanfall zu tarnen, worauf Ralph ihm mit der Polizei gedroht hatte. Sicher, er hatte überreagiert, und ja, er hätte aufpassen müssen, wo er hinlief, aber manchmal ist ein Gartenzwerg kein Gartenzwerg, sondern ein Symbol für alles, was schiefläuft im Leben.

Kurz bevor sein Kopf mit dem Zwerg kollidiert war, hatte Ralph noch so getan, als würde er eine Vase mit Plastiknarzissen bewundern. Sadie hatte darauf bestanden, gleich sechs Sträuße davon zu kaufen, und anschließend getwittert, wie echt die Narzissen doch aussähen und wie befriedigend es sei, Blumen zu haben, die nie welkten. Warum sie nicht schon früher auf die Idee gekommen sei? Wildfremde Menschen von überall her hatten auf ihren Tweet geantwortet, und sie hatte laut deren Kommentare vorgelesen. Daraufhin war Ralph den Gang entlanggestürmt, weil er das kuriose Brimborium, das diese Leute um ein paar Plastikblumen machten, nicht mehr ertrug, und in diesem Moment hatte er Julie Parsley entdeckt. Julie Parsley? Bums, war er mit dem Riesengartenzwerg zusammengestoßen.

Sadie machte mit ihrem Handy geistesgegenwärtig ein Foto davon, wie er sich den Kopf hielt, bevor sie zur Kundentoilette davoneilte.

Was machte Julie hier in seinem lokalen Baumarkt? War sie nicht weggezogen? Er erinnerte sich, wie sie auf der Bühne des King’s Head einmal Move Over Darling gesungen hatte; wie sie einmal auf eine spontan erfundene Melodie »Ralph, du bist so liebenswert, so absolut liebenswert« geträllert hatte.

Inzwischen waren ihre Haare kurz und wellig wie bei dieser französischen Schauspielerin – wie hieß sie noch gleich? Audrey Tautou. Ja, die meinte er. Ralphs Gedächtnis funktionierte noch, trotz der Beule am Kopf, aber Julie Parsley war nirgendwo mehr zu sehen. Ihr Verschwinden machte ihn wütend, auch wenn sie natürlich viel länger verschwunden gewesen war als bloß seit zwei Minuten. Und deshalb brüllte er herum. Beschwerte sich über GESUNDHEIT und SICHERHEIT und die GRENZENLOSE DUMMHEIT, einen Gartenzwerg aufzustellen, der so HART war wie eine VERDAMMTE MAUER.

Nein, Ralphs derzeitige Verwirrung hatte nichts mit jenem Tag im Baumarkt zu tun.

Auch nichts mit Julie Parsley, seiner ersten großen Liebe, damals, mit fünfzehn.

Und sie hatte nichts mit Gartenzwergen zu tun.

3

VERGANGEN IST VERGANGEN

Als der Schulleiter Frances Delaney erblickte, wie sie unbekleidet bis auf ein Paar Laufsocken den Schulflur fegte, blieb er wie angewurzelt stehen und beobachtete sie. Er hatte noch nie etwas so Sonderbares und so Wunderschönes gesehen. Normalerweise war sein Gesicht grau, aber nicht heute. Frances Delaney hatte Farbe hineingezaubert. Überall um sie herum benahmen sich die Kinder, wie sich Kinder nun einmal benahmen: wild, hartherzig, verachtenswert. Kinder waren wie Käfer, wie herumkrabbelnde Wanzen mit harten Panzern. Sie sprachen aus, was sie dachten, mit niederträchtiger Ungezwungenheit. Bis auf die kleine Miriam Delaney natürlich. Sie war still und artig, auf fast schon gespenstische Weise. Wer hätte bei einer solchen Mutter auch etwas anderes erwartet?

Er ging auf Frances Delaney zu, verscheuchte die Kinder, zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Sie war warm, weil sie so schwungvoll gefegt hatte. Wenn Frances putzte, wusste das Ungeziefer sicherlich sofort, dass sie im Anmarsch war. Zu ihren Füßen glänzte der Schulboden.

»Sie kommen wohl besser mit mir«, erklärte der Schulleiter und führte Frances den Flur entlang zu seinem Büro. Ihre Augen waren glasig, und in ihrem Mund waren keine Worte. Er zog seine kratzige und nach Tabak riechende blau-weiße Wolldecke vom National Trust aus dem Schrank. »Hier«, sagte er und hielt sie Frances hin. »Wir suchen jetzt Ihre Kleider, und dann fahre ich Sie nach Hause. Klingt das nach einem guten Plan, Mrs Delaney?« Seine Handflächen waren feucht, und er atmete schneller als sonst. »Hatten Sie denn beim Verlassen Ihres Hauses überhaupt Kleider an?«

Als an diesem Nachmittag die Schule zu Ende war, ging Miriam wie üblich allein nach Hause. Sie machte sich Sorgen um die Sicherheit der Katzen, die den ganzen Tag im Freien verbracht hatten, grübelte darüber nach, was ihre Mutter ihr diesmal Seltsames zum Tee auftischen würde, befürchtete, dass die anderen Kinder nach diesem Tag noch gemeiner zu ihr sein würden. Wie sich das wohl äußern würde? So schlimm wie heute war es noch nie gewesen. Kein Wunder, dass du so komisch bist, Delaney! Deine Mutter ist eine Irre! Zeig uns doch mal, was du zu bieten hast! Ihr seid wohl beide Nudistinnen, was?

Nachdem sie die Haustür von 7 Beckford Gardens geöffnet hatte, ging sie durch den Flur zur Küche.

Sie waren auf dem Tisch.

Obendrauf.

Genau wie ihr weich gekochtes Ei mit Toaststreifen an diesem Morgen.

Genau wie ihre Malbücher und Stifte.

Kein Desinfektionsspray der Welt konnte das wieder in Ordnung bringen.

Daran dachte sie, während sie in der Tür stand.

An Putzmittel. Daran, wie viele Flaschen Desinfektionsspray es wohl auf der Welt gab.

Irgendwann hörten sie auf zu stöhnen.

Er taumelte nach hinten und machte den Reißverschluss seiner Hose zu.

Sie trug immer noch ihre Laufsöckchen.

Und auf dem Kopf ihre schwarze Melone.

»Ach, hallo Miriam«, sagte der Schulleiter. »Hattest du einen schönen Schultag?«

Miriam hat das ganze Wohnzimmer und den Flur gesaugt. Es ist Zeit, diese Leistung mit einer Tasse Tee zu feiern. Sie flitzt an der gläsernen Küchentür vorbei und erhascht einen Blick auf ihren eigenen Körper. Mit weit aufgerissenen Augen bleibt sie stehen. Bin ich das? Eine Frau in Unterhose und lustigen Hausschuhen, die gerade mithilfe eines Haushaltsgeräts namens Henry gestaubsaugt hat, als gäbe es nichts auf der Welt, wovor man Angst haben müsste.

Ihr fällt etwas ein, was Fenella einmal gesagt hat: »Die Vergangenheit ist die Vergangenheit.« Es macht Fenella glücklich, Tatsachen auszusprechen, was Miriam eigenartig und verwirrend findet. »Es ist, wie es ist«, sagt ihre Freundin häufig.

Miriam hat auch eine Zeit lang versucht, Offensichtliches auszusprechen, um herauszufinden, ob ihr Wohlbefinden davon positiv beeinflusst wird. Stattdessen ist sie sich nur noch schrulliger vorgekommen als sonst:

»Das ist eine Packung Weetabix.«

»Die Zukunft ist die Zukunft.«

»Wenn jemand stirbt, sieht man ihn nie wieder.«

»Das ist eine Flasche Milch.«

»Die Gegenwart ist die Gegenwart.«

»Aus meinem Mund kam noch nie etwas Lauteres als ein Flüstern.«

»Ich meine damit doch nur, dass niemand ohne deine Erlaubnis dieses Haus betreten darf«, hatte Fenella damals erklärt. »Deine Mutter ist tot. Die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«

Die einzelnen Aussagen dieser Erklärung schienen nichts miteinander zu tun zu haben. Miriam verstand trotzdem: Es kann lange dauern, bis man endlich glaubt, dass etwas vorbei ist. Aber es ist vorbei. Vergangen ist vergangen.

Sie sitzt am Küchentisch und nippt an ihrem Tee. Ausnahmsweise spürt sie gerade nicht ihre eigene Geschichte im Nacken, wenn auch nur für ein paar Minuten. Ihre Vergangenheit kriecht nicht über ihre Haut, stochert nicht in ihrem Mund herum. Sie wird sie im Handumdrehen wieder einholen, so schnell, wie Miriam »Frances Delaney« flüstern kann, doch kleine Momente, kleine Siege wie dieser müssen gefeiert werden. Sie signalisieren Fortschritt, sind Wegweiser Richtung Normalität.

Der Briefkasten klappert.

Wer bekommt um elf Uhr abends noch Post?

Es ist wieder eine Postkarte, die sechste, die Miriam im Laufe der vergangenen Wochen erhalten hat. Das Motiv ist ein Foto von einem altmodischen Fahrrad, das an der Wand eines französischen Cafés lehnt. Auf der Rückseite steht in grüner Tinte:

Du könntest in einem Café sitzen
und ein Buch lesen, Miriam. Du könntest
mit dem Fahrrad durch die Straßen sausen
und den Wind in Deinen Haaren spüren.

Genau wie die übrigen Postkarten ist auch diese von einem anonymen Absender. Miriam steckt sie zu den anderen an die Pinnwand und blickt auf ihre Hausschuhe hinunter. Die sind wirklich nicht sexy, denkt sie. Aber war ich denn je sexy? Sie wackelt mit den Zehen und lässt ihre beiden West-Highland-Terrier nicken und sagen: Natürlich warst du das, Miriam, natürlich.

Sex. Das hätte zuoberst auf der Liste mit Dingen auftauchen müssen, die ihr Angst machen. Dabei ist nicht der Sex an sich das Problem, sondern die Tatsache, dass er automatisch eine andere Person involviert. Das hat sie Fenella letzte Woche am Telefon zu erklären versucht.

»Wie meinst du das?«, fragte Fenella.

»Na ja, es ist nicht der sexuelle Akt an sich«, antwortete Miriam und bereute den Anruf bei ihrer Freundin. Fenella war gerade vom Zumba nach Hause gekommen und entwaffnend energiegeladen.

»Aha.«

»Sondern die Tatsache, dass man dabei mit jemandem zusammen sein muss.«

»Dir würde also eine Gummipuppe reichen, ist das deine Aussage?«

»Das ist ganz sicher nicht meine Aussage.«

Fenella lachte. Sie riss eine Tüte Kartoffelchips auf und machte es sich in ihrem Sessel gemütlich.

»Was ist das für ein Geräusch?«

»Ich esse Chips.«

»Widerspricht das nicht völlig dem Sinn und Zweck von Zumba?«

»Warum sollte es?«

»Keine Ahnung.«

»Eben. Also zurück zum Thema Sex: Es ist nie zu spät, damit anzufangen«, versicherte Fenella, die gut reden hatte. Sie selbst hatte schon mit sechzehn in einem Wohnwagen in Newquay angefangen, mit einem Jungen, der Lucy genannt werden wollte. Die Familie Price hatte dort die Sommerferien verbracht, und Fenellas Eltern waren an besagtem Abend zum Bingo im Gemeindehaus gewesen, während ihr Bruder sich mit einem Mädchen, das Pattie genannt werden wollte, in einem Pub amüsierte. Es hatte geregnet, sie hatten im Wohnwagen Karten gespielt, und Lucy (sonst unter dem Namen Martin Henley bekannt) hatte vorgeschlagen, dass sie es miteinander trieben, also hatten sie genau das getan.

»Einfach so?«, fragte Miriam.

»Einfach so«, bestätigte Fenella. »Es war schrecklich, aber danach kam ich mir ziemlich toll vor.«

»Du machst nicht gerade Werbung für Sex.«

»Ich muss auch keine Werbung dafür machen. Sex ist überall und verkauft sich von selbst.«

»Warum wollte er, dass man ihn Lucy nennt?«

»Warum nicht?«

Das war eine gute Frage, wie so oft bei Fenella. Sie fragte gern Sachen, die die vorgefassten Meinungen ihres Gegenübers entlarvten und keine Antwort verlangten.

»Wenigstens wäre ich gut im Bettgeflüster«, merkte Miriam an, woraufhin sie beide traurig wurden und verstummten.

»Eines Tages …«, sagte Fenella.

»Und was, wenn es nie dazu kommt?«

»Es ist kein Verbrechen, zu flüstern.«

Warum fühlt sie sich dann wie eine Verbrecherin?

Miriam läuft nach oben und zieht sich ihren Pyjama an. Genug geputzt für heute Abend, sie muss es ja nicht gleich übertreiben. Sie stellt ein Lied auf ihrem CD-Player ein: Wicked Game von Chris Isaak. In dem Song geht es darum, wie boshaft die Liebe sein kann: Eine Frau verdreht einem Mann so sehr den Kopf, dass er an nichts anderes mehr denken kann als an sie. Diese Art von Boshaftigkeit kennt Miriam gut – die Macht über Körper und Geist, die manche Menschen ausüben. Nur über die Liebe weiß sie nichts. Sie hat die Gefühle, über die Chris Isaak singt, nie erlebt, war noch nie verliebt, und es war auch noch nie jemand in sie verliebt. Ist sie überhaupt schon einmal einer verliebten Person begegnet? Sie ist sich nicht sicher. Sehen solche Menschen anders aus? Erkennt man sie leicht? Ihre Mutter hat immer gesagt, die Liebe sei etwas für Leute mit schmutzigen Häusern.

Miriam blickt in den Spiegel und weiß, was sie ist: zugeknöpft. Knöpfe über Knöpfe, bis zum Mond. Man stelle sich einen mit Knöpfen gespickten Nachthimmel vor. Man stelle sich vor, Miriams Zugeknöpftheit würde in einem Einweckglas leben – das Glas wäre voll mit dunkelblauer Tinte, der Art von Tinte, mit der man einen Brief an seine Großmutter schreiben würde, einen Brief auf edlem Schreibpapier von Basildon Bond, mit blauem Wasserzeichen, um ihr zu sagen, dass einem alles leidtue, so unendlich leid.

Liebe Granny,

es tut mir so leid, dass Mummy mich nicht zu Dir zu Besuch kommen lässt. Sie sagt, Du wärst zu normal und würdest mir nicht guttun. Ich habe »normal« im Schullexikon nachgeschlagen und die Bedeutung abgeschrieben, für den Fall, dass Du sie nicht mehr weißt.

angepasst, gewöhnlich, typisch, vorhersehbar, frei von physischen oder geistigen Störungen

Ich finde, normal klingt super, können wir uns bald heimlich treffen und zusammen normal sein? Bitte schreib zurück und sag mir, ob Du das auch schön fändest.

Alles Liebe,

Miss Miriam Delaney

Chris Isaak hat eine aufwühlende Stimme. Manche Menschen können das – einem direkt in die Seele greifen und kräftig darin herumwühlen. Er klingt wirklich beseelt. Meine Stimme ist voll von deiner Seele – von den Stücken, die ich dir entrissen habe. Sein schmachtender Gesang löst in Miriam die Frage aus, wie es wohl wäre, jemanden in ihrem Bett liegen zu sehen. Jemand anderen. Was für ein boshafter Song! Er bildet den Soundtrack zu einer Zukunft, die ihr furchterregend, aufregend, möglich, unmöglich vorkommt. Ihre Zehen kribbeln in ihren flauschigen Hausschuhen.

Liebe Granny,

ich habe immer noch nichts von Dir gehört, seit zwei langen Tagen. Bitte antworte sofort, danke. Ich muss wissen, ob Du gerne mit mir normal sein und ein geheimes Leben führen würdest.

In Liebe,

Miriam xxx

Liebe Mrs Betty Hopkins,

jetzt sind es schon drei Tage, und ich hoffe, dass Du nicht krank bist. Du bist meine Heldin. Mehr schreibe ich nicht, Du bist sicher sehr beschäftigt. Ich hab Dich lieb.

M xxxxXxxxx

Meine liebste Miriam,

wie wunderbar, von Dir zu hören! Ich rufe lieber nicht mehr an, weil es Deiner Mutter nicht gut geht und weil sie sagt, dass meine Anrufe sie aufregen. Mach Dir nicht immer solche Sorgen, Miriam. Deine Mutter probiert gerade ein neues Medikament aus, bald wird alles gut. Wenn sie wieder gesund ist, gehe ich mit Dir in den Park oder in die Stadt, und dann sind wir ganz ausgelassen in unserer Normalität. Schlag mal »ausgelassen sein« in Deinem Schullexikon nach, Miriam – ich glaube, es wird Dir gefallen. Es bedeutet, sich so richtig auszutoben und herumzulärmen. Deine Mutter mag keinen Lärm. Das ist bestimmt nicht leicht für Dich, aber denk bitte daran, dass sie krank ist und Du nichts dafür kannst. Wir bleiben in Kontakt, und wenn etwas Schlimmes passiert, rennst Du einfach aus dem Haus und steigst in ein Taxi, und ich bezahle dann den Taxifahrer, wenn Du hier ankommst, einverstanden? Einstweilen habe ich ein paar neue Knöpfe für Deine Sammlung beigelegt. Ich habe sie gekauft, als ich in Scarborough Urlaub gemacht habe. Oben im Norden gibt es jede Menge Knöpfe.

In Liebe, wie immer,

Granny

Miriam seufzt. Sie vermisst ihre Großmutter immer noch. Beim Anblick der eintreffenden Briefumschläge, ihres eigenen Namens und ihrer Adresse in jener kleinen, ordentlichen Handschrift, hat sie sich wie ein echtes Mädchen in einem echten Haus gefühlt – wie eine Person mit festem Wohnsitz, eine Person, die offiziell existiert. Mindestens ebenso wichtig war, was beim Schreiben in ihr vorging. Wenn Miriam Briefe an ihre Großmutter verfasste, klang die Stimme in ihrem Kopf wie die jedes anderen Mädchens. Im Inneren von Miriam Delaney gab es eine unversehrte Fremde – gleich alt, aber lauter, gleich groß, aber aufrechter.

Diese Fremde ist inzwischen eine Frau und immer noch tief in Miriam vergraben. Eine Puppe in einer Puppe. Zieh eine Schnur an der äußeren Puppe, und nichts passiert. Zieh eine Schnur an der inneren Puppe, und sie spricht. Das Dumme ist nur, dass niemand die innere Puppe hören kann. Niemand weiß von ihrer Existenz.

Wie lang ist ein Stück Schnur?

Die Leute ziehen daran und lassen mich zappeln.

Vergangen ist eben nicht vergangen.

Sie vertreibt blinzelnd ihre Gedanken, geht durch ihr Schlafzimmer zum Fenster. Was passiert dort draußen in den Häusern anderer Leute? Sie stellt sich eine Parallelwelt vor, noch eine Miriam und noch eine. Die Vervielfältigung einer Person. Alle möglichen Versionen von Miriam Delaney. Längere Haare, kurze Haare, ganz in Schwarz, mehrfarbig, jungenhaft, mädchenhaft, eine Frau mit kraftvoller Stimme, eine Anführerin, eine Mitläuferin, eine Künstlerin, eine Hebamme, eine Kellnerin, eine Fahrerin, eine Bäckerin, eine Wissenschaftlerin, eine Polizistin. Nein, keine Polizistin – dann hätte sie sich selbst verhaften müssen für das, was passiert ist. Eine Frau mit einem Freund, einer Freundin, einem Sohn, einer Tochter, einer Katze, einem Hund. Eine Frau, die eingeladen wird und sagt: »Ja, gerne, vielen Dank für die Einladung.« Eine Frau, die Komplimente erhält und »Danke, das ist aber nett« erwidert, statt zu erröten und ihr Gegenüber dafür zu hassen, dass es sie auf die Schippe nimmt.

Welche Version wäre sie wohl jetzt, wenn Frances Delaney sie ihrem Vater ausgehändigt und die Flucht ergriffen hätte? Ein ganz neues Baby, ein ganz neues Leben. Er hat nach ihrer Geburt noch fast ein Jahr lang in diesem Haus gewohnt, bevor er in den Garten gegangen und nie wieder zurückgekehrt ist. Geplatztes Hirnaneurysma. Er war gerade dabei, die Wäsche aufzuhängen – Miriams Strampelanzug, gelb, mit einem braunen Äffchen auf der Brust, der danach noch einmal gewaschen werden musste, weil er in den Dreck fiel. So viele Details, aber keins davon ist von Bedeutung.

Er war hier, und er war weg.

Es war, wie es war.

Es ist, wie es ist.

Sie schließt die Augen, sieht ihm dabei zu, wie er sie lächelnd in die Luft wirft, lauscht seinem Schlaflied, als er sie ins Bett bringt.

Erfundene Erinnerungen an einen Vater.

Wie dumm von ihr.