Cover

Stefan Slupetzky

Polivka hat einen Traum

Kriminalroman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Stefan Slupetzky

Stefan Slupetzky, 1962 in Wien geboren, schrieb und illustrierte mehr als ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, für die er zahlreiche Preise erhielt. Seit einiger Zeit widmet er sich vorwiegend der Literatur für Erwachsene und verfasst Bühnenstücke, Kurzgeschichten und Romane. Für den ersten Krimi um seinen Antihelden Leopold Wallisch, «Der Fall des Lemming», erhielt Stefan Slupetzky 2005 den Glauser-Preis, für «Lemmings Himmelfahrt» den Burgdorfer Krimipreis. 2010 gründete Slupetzky ein Wienerliedtrio, das Trio Lepschi, mit dem er seither als Texter und Sänger durch die Lande tourt. Stefan Slupetzky lebt mit seiner Familie in Wien.

Über dieses Buch

Bezirksinspektor Polivka ermittelt: Da möchte man kein Mörder sein!

 

Für den verschrobenen Wiener Bezirksinspektor Polivka steht von Anfang an fest: Der Mann, der sich infolge einer Notbremsung in einem Zugwaggon den Hals gebrochen haben soll, ist tatsächlich brutal ermordet worden. Dass die einzige Zeugin, eine – wie Polivka findet, bezaubernde! – Französin, noch vor ihrer Vernehmung die Flucht ergreift, kann ihn in seiner Meinung nur bestärken. Gegen die Weisung seines Vorgesetzten, den Fall zu den Akten zu legen, begibt er sich auf eine aberwitzige Odyssee quer durch Europa und verstrickt sich dabei immer tiefer in ein mörderisches Netz aus politischen und wirtschaftlichen Machenschaften.

 

«Einer der besten Krimischriftsteller seines Landes.» Die Welt

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Umschlagillustration: Michael Sowa)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-463-40080-8 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-31141-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-31141-1

Willst du endlich lernen, gern zu leben,

sagt der alte Gandhi, lern zu geben.

Ich sag, nimm die Brüder Lehman ernst,

also schau drauf, dass du nehmen lernst.

Trio Lepschi

Teil 1

Paris

1

Wenn der Mikulitsch das Dienstabteil verlässt, um seines Amtes zu walten, hat der Zug in der Regel schon Sankt Andrä-Wördern passiert. Der Mikulitsch ist ein kontemplativer, besonnener Mann; er weiß, was er den Bundesbahnen schuldet: die Würde der Montur und damit der gesamten Schaffnerschaft zu wahren. Zwischen dem Franz-Josefs-Bahnhof und der Spittelau öffnet er seinen schwarzen Lederkoffer. Bis Nußdorf entnimmt er dem Koffer

1. seine Jause (zwei Wurstsemmeln und eine Flasche Bier),

2. eine Rätselzeitschrift (Sudoku),

3. einen Flaschenöffner,

4. einen Kugelschreiber und

5. den ärarischen Fahrscheincomputer.

In Weidling, spätestens in Kierling macht der Mikulitsch eine kleine Verschnaufpause. Sein Werkzeug hat er mittlerweile akkurat im Abteil platziert: die Jause und den Flaschenöffner auf dem Tischchen beim Fenster, die Zeitschrift und den Kugelschreiber auf dem mittleren Sitz, den Computer auf der Ablage neben der Gangtür. Der Mikulitsch setzt sich ans Fenster, betrachtet die Landschaft und sinniert. Er widersteht dem Drang, die Bierflasche schon jetzt zu öffnen; er wird sie später noch brauchen, um die Wurstsemmeln hinunterzuspülen.

Kurz vor der Station Kritzendorf pflegt der Mikulitsch aufzustehen. Er schließt die Augen, atmet durch und spürt dem sanften Schaukeln des Waggons nach. Der Mikulitsch macht sich bereit, er sammelt sich, er transformiert gewissermaßen die kinetische Energie des Zuges in jene konzentrierte Geisteskraft, die auch ein guter Schauspieler vor seinem Auftritt durch den Körper strömen fühlt.

Dann aber geht es Schlag auf Schlag. Höflein: Der Mikulitsch öffnet die Augen und wirft sich in Pose. Greifenstein: Der Mikulitsch hängt sich den Fahrscheincomputer um. Sankt Andrä-Wördern: Der Mikulitsch prüft den Sitz seiner Uniform. Zeiselmauer-Königstetten: Der Mikulitsch streicht sich den Schnurrbart glatt, öffnet die Tür und tritt aus dem Abteil. Mit einem sonoren «Zugestiegen?» beginnt er seine Runde durch den Zug, eine Runde, die naturgemäß eher eine Gerade ist.

Heute aber ist alles anders. Heute ist ein schlechter Tag, ein wolkenverhangener, diesiger, drückend schwüler Tag. Ein Tag, an dem die Statistiker einen signifikanten Tiefpunkt der österreichischen Volkswirtschaftsleistungskurve feststellen könnten, wären sie heute nicht selbst so reizbar und unkonzentriert. Man wartet auf das erlösende Unwetter, aber das Unwetter ziert sich.

Auch der Mikulitsch wartet. Und so kommt es, dass er – ganz entgegen der Usance – sein Coupé erst in Muckendorf-Wipfing verlässt.

«Zugestiegen?» Der Mikulitsch streift durch den Gang, wirft seine Blicke nach links und nach rechts: erfahrene, unbestechliche Adlerblicke, Blicke eines Croupiers am Roulettetisch. «Zugestiegen?»

Die wenigen Passagiere tragen bekannte Gesichter: Schulkinder und Pendler, alle im Besitz von Jahreskarten. «Servus», nickt der Mikulitsch nach links und nach rechts. Der Zug fährt in Langenlebarn ein, und der Mikulitsch wechselt in den zweiten Waggon.

Hier kann er nur einen einsamen Reisenden ausmachen: einen Mann mit Krawatte und Anzug, der – mit gedankenverloren zur Seite geneigtem Kopf – aus dem Fenster starrt.

«Zugestiegen?», sagt der Mikulitsch. Der Mann reagiert nicht. «Zugestiegen, der Herr?», probiert der Mikulitsch es noch einmal. Wieder keine Antwort. Gehörlos, konstatiert der Mikulitsch, der seinen Kunden grundsätzlich mit Wohlwollen begegnet, sie also nie vorab des Schwarzfahrens verdächtigt.

Der Mikulitsch beugt sich vor, um dem Mann ins Gesicht zu sehen. Ein durchaus normales, gut rasiertes, etwa vierzigjähriges Gesicht, normal jedenfalls bis auf den Mund: Von einer unnatürlich dicken, dunkelgrünen Zunge auseinandergezwängt, stehen die Lippen weit offen. Erst bei näherer Betrachtung erkennt der Mikulitsch, dass dieses glänzende, grüne Objekt gar nicht die Zunge des Mannes ist. Der Mikulitsch ist am Land aufgewachsen, er kann eine ausgewachsene Salatgurke selbst dann als solche identifizieren, wenn der Großteil der Gurke im Rachen eines Fahrgasts steckt.

 

«Albert Jeschko, Gastronom», brummt Polivka und klappt die Brieftasche des Toten zu. «Und Sie haben den Toten entdeckt?», wendet er sich an den Mikulitsch.

«In Langenlebarn, ja, Herr Kommissar. Ich habe gleich den Zugführer verständigt, und wir haben beschlossen, mit dem verstorbenen Herrn nach Tulln weiterzufahren, um ihn mitsamt dem Tatort, also … dem Waggon, hier abzukoppeln. Sie wissen ja, in Langenlebarn gibt es keine Nebengleise.»

«Passt schon.» Polivka wischt sich den Schweiß von der Stirn. «Wer war sonst noch im Wagen?»

«Keiner. Am Nachmittag ist nicht viel los bei uns.»

«Wann fahren S’ denn immer ab in Wien?»

«Pünktlich um vierzehn Uhr neunundzwanzig. Aber mit ein bisserl Verspätung muss man immer rechnen. Heut waren’s circa fünf Minuten.»

«Und wo ist er eingestiegen, der Herr Jeschko?»

«Das … kann ich nicht ganz genau sagen. Ich hab noch alles Mögliche zu tun gehabt vor meinem ersten Kontrollgang.»

Wäre ihm wohler in seiner dampfenden Haut, in seinem nass geschwitzten Hemd, Bezirksinspektor Polivka käme an dieser Stelle ein Schmunzeln aus. Er kann sich bildhaft vorstellen, was der Mikulitsch alles zu tun hatte. Und seine Vorstellung kommt der Wahrheit ziemlich nahe.

«Wenn ich etwas fragen darf, Herr Kommissar», bringt der Mikulitsch nun das Gespräch auf ein anderes Thema, «haben Sie einen Fahrschein bei dem Herrn gefunden?»

«Nein», sagt Polivka. «Weder in den Anzugtaschen noch im Portemonnaie. Die Leiche war ein blinder Passagier.»

 

Nach Wien zurückgekehrt, fährt der Bezirksinspektor den Computer hoch, um mit dem polizeiinternen Datennetz nach Albert Jeschkos Leben vor dem Tod zu fischen. Geboren 1973 in Floridsdorf, hat Jeschko daselbst die Pflichtschule und eine Ausbildung zum Tischler absolviert. Nach mehreren Jahren als Angestellter einer Baufirma ist er im Jahr 1999 erstmals als Geschäftsmann auf den Plan getreten: Mit Hilfe von Krediten hat er ein desolates Zinshaus erstanden, sich der eingesessenen Mieter entledigt, die Wohnungen renoviert und weiterverkauft. Den stattlichen Gewinn hat Jeschko sofort in ein altes Vorstadtcafé investiert, es umgebaut und sein erstes Lokal namens Bistro La Tomate eröffnet. In Hietzing folgte bald das zweite: Am Standort des Wirtshauses Zum Lampenputzer hat Jeschko das Bistro L’Aubergine errichtet. Weitere Niederlassungen gründete er später in Rodaun und Mariahilf: So mussten das Weinlokal Lustige Lilli und die Gastwirtschaft Sittich in den vergangenen Jahren dem Bistro Le Chou-fleur und dem Bistro La Laitue weichen.

«Paradeis, Melanzani, Karfiol und Häuptelsalat», resümiert Polivka, der sich des Französischen aus seiner Schulzeit noch leidlich entsinnt.

Jeschko ist in der Josefstadt als wohnhaft gemeldet; er war kinderlos und ledig, ledig auch jeglicher Vorstrafe. Ein Auto hat er allerdings gehabt: Auf seinen Namen ist ein Audi Q5 eingetragen, also einer jener sogenannten SUVs, die nicht nur aussehen wie die Kreuzung zwischen einem deutschen Wehrmachtshelm und einem Kühlschrank, sondern auch deren Funktionen vereinen.

«Und dann steigt er ohne Fahrschein in den Zug», brummt Polivka.

Es klopft. Kollege Hammel tritt in Polivkas Büro.

«Wir haben den Wagen gefunden», ächzt der wohlbeleibte Hammel (auch ihm rinnt der Schweiß von der Stirn). «Und jetzt raten S’ einmal, wo.»

«Raten werd ich schon was», Polivka zieht seine Augen zu drohenden Schlitzen zusammen, «aber Ihnen, Hammel. Nämlich, dass Sie mich nicht auf die Folter spannen. Also sagen Sie schon!»

«Gleich neben dem Franz-Josefs-Bahnhof.» Hammel schüttelt den Kopf. «Warum ist der dann in den Zug gestiegen? Ohne Fahrschein?»

 

In der Nordbergstraße gleich beim Spittelauer Platz steht er also, Jeschkos dunkelblauer Panzerwagen. Polivka umkreist das Auto, späht durch die Scheiben ins Innere. Er kann nichts Ungewöhnliches entdecken. Auf der anderen Straßenseite führen mehrere Pforten zu den Fracht- und Betriebsräumen des Bahnhofs; der Wagen selbst aber ist vor dem Gasthaus Orlik geparkt, das zu den wenigen in ihrer schlampigen Würde erhaltenen Beiseln der Wienerstadt zählt.

Beim Anblick des Lokals wird Polivka von einem ganz immensen Drang nach einem weißen Spritzwein übermannt. Schon steuert er auf den Schanigarten des Orlik zu, als sich sein Handy in der Hosentasche meldet. Lass mich dein Badewasser schlürfen, jene Melodie also, die er der Telefonnummer des Pathologen zugewiesen hat.

Das kurze, aber freundliche Gespräch mit Doktor Singh bringt Polivka weitere Aufschlüsse. Der indische Guru der Leichenbeschau bestätigt die Todesursache: Verschluss der Atemwege durch deren gewaltsame Penetration mit einer etwa vierzig Zentimeter langen Cucumis sativus, also einer domestizierten Gurke (deren ursprüngliche Wildform Cucumis hardwickii, wie Doktor Singh nicht ohne Stolz bemerkt, in Indien beheimatet ist). Die Handgelenke des Toten weisen unregelmäßige Druckspuren auf, die darauf schließen lassen, dass die zu erwartende Gegenwehr Jeschkos nicht vermittels mechanischer, sondern – wahrscheinlich dorsal erfolgter – manueller Blockierung seiner oberen Extremitäten unterbunden wurde. Anders gesagt: Jeschkos Arme wurden nicht gefesselt, sondern meuchlings festgehalten, um das solcherart bewegungsunfähige Opfer problemlos zu Tode bringen zu können. Der Exitus ist Doktor Singh zufolge zwischen vierzehn und vierzehn Uhr dreißig eingetreten.

«Danke, Herr Doktor», sagt Polivka. «Das hilft mir weiter, sogar in zweifacher Hinsicht.»

Wenn nämlich

1. der Zug nach České Velenice, wie der Schaffner Mikulitsch behauptet hat, erst kurz nach halb drei hier losgefahren ist, hat Albert Jeschko seine Reise schon als Leiche angetreten.

2. Albert Jeschko gleichzeitig von hinten umklammert und von vorne erstickt wurde, dann hat es Polivka

a) mit einem überaus großen und kräftigen oder

b) mit mehreren Mördern zu tun.

 

Kurze Zeit später hält Polivka ein frostig beschlagenes Viertelglas mit aufgespritztem Brünnerstrassler in der Hand. Die lächerliche Hoffnung auf eine Klimaanlage hat ihn quer durch den Schanigarten in die Gaststube des Orlik geführt, wo sich nun aber die Gewitterluft von draußen mit diversen warmen Küchendämpfen mischt. Bezirksinspektor Polivka bleibt trotzdem sitzen. Steckt sich eine Zigarette an und leert in einem Zug sein Glas.

«Darf’s noch eines ein?» Der Kellner, eben auf dem Weg in Richtung Garten, legt einen Zwischenstopp ein, um Polivka einen fragenden Blick durch seine Goldrandbrille zu schenken. Der Mann ist eine stattliche Erscheinung, wie Polivka findet: hoch gewachsen und athletisch, aber alles andere als ein Muskelprotz, gepflegt, doch keineswegs geschniegelt, flink und höflich ohne jede Hektik oder Unterwürfigkeit. Der Mann ist kein Kellner, sondern ein Ober. Der Mann ist kein Ober, sondern ein Sir.

«Ja, bitte», gibt Polivka zurück. «Und eines für Sie.»

«Sehr freundlich, der Herr, aber ich bin im Dienst.»

«Dann einen Kaffee?»

«Ein kleines Bier, wenn’s recht ist.»

Nach zwei Minuten kehrt der Kellner, der sich dem Inspektor als Herr Hannes vorgestellt hat, mit den Getränken zurück. «Prost», sagt er, und: «Danke.» Im Stehen hebt er sein Seidel an den Mund.

«Ich tät Sie gern was fragen.» Polivka zückt ein Polaroidfoto der Leiche, das er von der Spurensicherung bekommen hat.

«Wenn’s nicht zu lange dauert», antwortet Sir Hannes. «Unsere Abendgäste kommen gleich.»

«Haben Sie diesen Mann schon einmal hier gesehen?»

«Warum?»

«Weil draußen vor der Tür sein Wagen steht. Und weil er tot ist.»

«Wär mir gar nicht aufgefallen», sagt Sir Hannes und betrachtet Jeschkos Konterfei. «Was hat er da im Mund?»

«Eine Gurke.»

«Und da heißt es immer, dass Salat gesund sein soll.» Sir Hannes legt das Foto auf den Tisch zurück. «Sie kommen von der Presse?»

«Krimineser», antwortet Polivka.

«Dann danke ich doppelt für das Seidel. Feiner Zug; Sie hätten’s ja nicht nötig, mich auf diese Art zu motivieren. Also … Ja, der Herr war in der letzten Zeit ein paar Mal da. Auch heute Mittag. Ein gewisser Jeschko.»

«Und was wollte er?»

Sir Hannes schmunzelt. «Schauen S’, jetzt könnt ich einfach sagen: Was man halt so will, wenn man ins Beisel geht. Ein Gulasch und ein Seidel. Aber der Herr Jeschko ist aus einem anderen Grund gekommen. Er hat überlegt, uns zu kaufen.»

«Wie? Das Orlik?»

«Ja. Er hat schon mit dem Chef verhandelt und allerhand Pläne gemacht für ein neues Lokal.»

«Mein Gott, natürlich …», fällt es Polivka wie Schuppen von den Augen, «eines seiner komischen Bistros!»

«Bistro Le Concombre», nickt Sir Hannes. «Ja, so wollte er es nennen.»

«Bistro … was?»

«Le Concombre», wiederholt Sir Hannes.

«Und wissen Sie auch, was das heißt?»

«Leider nein, Herr Inspektor. Sonst wär ich ja nicht Kellner, sondern Polizist.»

«Concombre», knurrt Polivka, «bedeutet nichts anderes als Gurke.»

«Lustiger Zufall.» Sir Hannes hebt sein Glas zum Mund und trinkt es aus.

«Im Gegensatz zu Kellnern glauben Polizisten nicht an Zufälle. Also sagen S’ einmal, Herr Hannes, wie sind Sie eigentlich persönlich zu den Plänen vom Jeschko gestanden?»

«Gar nicht. Die Dinge verändern sich halt, das ist der Lauf der Welt, und wenn ich meine Arbeit da verlier, werd ich woanders eine neue finden. Im Übrigen», fügt Sir Hannes hinzu, «war ich den ganzen Tag hier im Lokal, falls Ihnen damit geholfen ist.»

«Und wer kann das bestätigen?»

«Der Stammtisch. Jedenfalls von zwölf bis vier, da waren die meisten Herren von der Runde da.»

«Und der Jeschko?»

«Ist so gegen eins gekommen und hat sich dazugesetzt.»

«Zum Stammtisch?»

«Sicher. Unser Schankraum ist ja nicht so groß, da muss ein jeder schauen, wo er sein Platzerl findet.»

«Sagen S’, kommen die Herren heute Abend vielleicht wieder?»

«Mit den Herren ist es wie mit dem Teufel. Wenn man von ihm spricht …» Sir Hannes deutet zur Tür, durch die gerade vier Männer in blauer Arbeitskleidung den Raum betreten. «So, jetzt bitt ich Sie, mich zu entschuldigen, und noch einmal danke für das Bier.»

Während sich Sir Hannes zur Budel begibt, setzen sich die vier Männer an Polivkas Nebentisch. «Hannes, vier Seideln!», ruft einer.

«Und noch ein fünftes für unseren Freund von der Mordkommission!», fügt ein anderer hinzu.

Polivka stutzt. Er starrt in die Augen des hageren Mannes, der seinen Blick durchaus freundlich, ja fröhlich erwidert.

«Gell, da schauen Sie, Herr Inspektor. Den Dorfklatsch gibt’s halt auch bei uns in Wien; die Stadt ist eine einzige Bassena. Übrigens: Franz Meier mein Name.»

«Polivka», sagt der noch immer konsternierte Polivka. «Und woher wissen Sie …»

Franz Meier grinst. «Wir sind vom Bahnhof drüben. Wartung und Verschub. Da weiß man’s bald, wenn irgendwo in einem Zug ein Mord passiert. Und dass dann in den Bahnhofsbeiseln ein paar Herren in Zivil auftauchen, ist kein Wunder, also haben wir vorher schon gewettet, ob das Orlik heut am Abend einen dezenten Zuwachs kriegt.»

«Umso mehr, als der Tote heut Mittag mit Ihnen am Tisch gesessen ist.» In Polivka regt sich ein Anflug von Unmut. Es ärgert ihn, wenn andere sich für klüger halten, als er selbst es tut.

Ein spöttisches Schmunzeln umspielt jetzt die Mienen der Männer. Franz Meier zündet sich gemächlich eine Zigarette an. «Das stimmt», nickt er dann. «Und wissen S’ was? Es ist nicht so wahnsinnig schad um den Jeschko. Stimmt’s, Hannes?»

Sir Hannes, der gerade die Getränke ablädt, zuckt die Achseln. «Der eine frisst die Krot», meint er ruhig, «der andere kriegt die Gurken.»

«Gurken ist gut», lacht der stämmige Glatzkopf auf, der neben Franz Meier sitzt. «Wirklich gut. Ist Ihnen eigentlich klar», wendet er sich an Polivka, «was der Jeschko aus dem Orlik machen wollte?»

Polivka schweigt.

«Eine keimfreie Bedürfnisanstalt, Herr Inspektor. Eine Intensivstation für Gesundheitsfaschisten. Ich weiß das, ich war nämlich letzthin in Mariahilf und hab mir eines von seinen sogenannten Bistros angeschaut. Beton und Fliesen, Glas und Edelstahl, man glaubt, man ist in einem chemischen Versuchslabor. Natürlich absolutes Rauchverbot, kein Alkohol, nur selbst gepresste Safterln, und ein Schnitzel oder Gulasch sucht man dort vergeblich: alles vegetarisch, Hirselaibchen mit Tofu und Sojasprossen, das ist schon das höchste der Gefühle. Also der perfekte Ort, um sich nach einem harten Arbeitstag mit seinen Freunden zu entspannen. Übrigens», kommt der Glatzkopf zum Ende, «Franz Meier mein Name.»

«Franz Meier. Verstehe», knurrt Polivka. «Sie heißen dann wahrscheinlich auch Franz Meier?», fragt er die zwei Männer, die Franz Meier und Franz Meier gegenübersitzen.

«Ja, woher wissen Sie das?» Der jüngere der beiden heuchelt Überraschung. «Also wirklich, unserer Polizei ist nicht so leicht was vorzumachen.»

Der Ältere, ein grau melierter Schnurrbartträger, hebt sein Glas und prostet Polivka zu. «Nicht ärgern, Herr Inspektor, wir meinen’s nicht böse. Aber dass uns um den Mörder Jeschko leid ist, können Sie auch nicht verlangen.»

«Mörder? Wieso Mörder?» Polivka greift langsam zu den Zigaretten, ohne den Mann aus den Augen zu lassen: alter Polizeitrick.

«Weil der Jeschko davon gelebt hat, das Lebendige zu Tode zu bringen.»

«Und was meinen S’ da genau?»

Der Graumelierte beugt sich vor. «Den Schmutz, Herr Inspektor, den unkontrollierbaren Schmutz. Die Biotope des unhygienischen Denkens, die abgründigen Ecken dieser Stadt, in denen früher Leute wie der Kraus, der Kuh, der Zweig, der Polgar und der Altenberg gesessen sind, um da zu rauchen und zu streiten und zu trinken und zu lachen. Wir sind keine Künstler, Herr Inspektor, aber das heißt nicht, dass wir kulturlos sind. Und Leute wie der Jeschko richten unsere Kultur zugrunde, selbstverständlich mit der tatkräftigen Unterstützung von Politikern und Presseleuten.»

Zustimmendes Nicken der drei anderen Franz Meiers. Einzig Polivka bleibt ungerührt. Er leert sein Seidel, setzt es dann bedächtig auf dem Resopaltisch ab. «Und deshalb», sagt er mit heiserer Stimme, «habt ihr ihn gemeinsam abserviert. Wahrscheinlich hier, im Orlik. Habt ihn dann hinüber zu den Gleisen transportiert und in den leeren Zugwaggon gesetzt. Ein kleiner Mord, die Leiche auf dem Weg nach Tschechien, und jeder hat ein Alibi.»

Normalerweise müsste seinen Worten jetzt ein fassungsloses, ein empörtes oder schuldbewusstes Schweigen folgen, aber nein: Die unverblümte Anklage ruft nichts als allgemeine Heiterkeit hervor. «Und wenn’s so wäre», lacht der Hagere, «was täten S’ denn dann machen, Herr Inspektor?»

Diese Frage stellt sich Polivka freilich auch gerade. Wenn die vier vorgeblichen Meiers schuldig sind und er

1. sie arretieren wollte, müsste er

a) sich vorher um Verstärkung oder wenigstens um eine ausreichende Zahl an Handschellen bemühen.

b) in Zukunft damit leben, seine persönliche Meinung der amtlichen Dienstpflicht geopfert zu haben. Er kann sie nämlich irgendwie verstehen, diese Männer, mehr noch: Er kann ihrer Affinität zum unkontrollierbaren Schmutz, zum unhygienischen Denken nur beipflichten.

2. sie laufen ließe, würde das seine ohnehin schon inferiore Aufklärungsrate noch weiter verschlechtern. Die Folge wäre eine Flut an Vorwürfen und Rügen:

a) vom Obersten an den Bezirksinspektor Polivka,

b) vom Polizeipräsidenten an den Obersten,

c) vom Innenminister an den Polizeipräsidenten,

d) vom Bundeskanzler an den Innenminister,

e) von den Zeitungsredakteuren an den Bundeskanzler.

«Ich weiß es nicht», sagt Polivka nun also wahrheitsgemäß. «Ich weiß nicht, was ich machen tät.»

«Na gut», ertönt mit einem Mal die Stimme von Sir Hannes, der sich unbemerkt genähert hat und hinter ihn getreten ist, «dann werden wir Ihnen halt helfen.» Noch ehe sich Polivka umwenden kann, durchzuckt seine Arme ein stechender Schmerz: Sir Hannes hat sie umklammert und biegt sie jetzt schmerzhaft nach hinten.

Franz Meier, Franz Meier, Franz Meier und Franz Meier sehen Polivka mitfühlend an. Wie auf ein Zeichen stehen sie von ihren Stühlen auf und greifen in die Innentaschen ihrer blauen Arbeitsjacken.

«Um Himmels willen», stöhnt Polivka, die Augen schreckgeweitet. «Gurken!» Nie zuvor hat er so lange, dicke Exemplare der Cucumis sativus gesehen. Waffen sind das, ekelhafte Mordwerkzeuge, angeblich gesund und umweltfreundlich, aber zugleich die entsetzlichsten Inkarnationen moderner biologischer Kriegsführung.

Schon dringen die vier Meiers auf ihn ein, schon steigt ihm der penetrante Geruch des Gemüses in die Nase, schon spürt er, wie sich glatte, kalte Gurkenhaut in seinen Rachen zwängt. Sir Hannes hebt nun an, ein Lied zu trällern, und die Meiers fallen frohgemut mit ein. «Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett», singen die Mörder, während Polivka langsam erstickt. Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett …

 

Seit drei Nächten geht das nun schon so. Der arme Polivka ist schweißgebadet, sein Pyjama vollkommen durchnässt. «Scheiß Grünzeug», murmelt er, «Scheiß schlanke Linie» und «Scheiß Blutfettwerte.»

Eine Woche Rohkost und Gemüsesäfte haben, wie von der Diätberaterin versprochen, einen neuen Menschen aus ihm gemacht. Einen schlaflosen, nervösen und gereizten nämlich. Heute Mittag, so sinniert er, könnte er eine Auszeit nehmen. Könnte sich beim Orlik einen Schweinsbraten bestellen und ein Krügel Bier, um seine Batterien wieder aufzutanken. Die unerlaubte Phantasie hebt augenblicklich seine Stimmung, sie vertreibt die Todesangst aus seinen Gliedern.

«Vier Gurkenmörder namens Meier», schmunzelt Polivka, «so etwas muss einem einfallen.» Nach und nach verblassen die Erinnerungen an die Einzelheiten seines Albtraums – alle bis auf eine: Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett, tönt es nach wie vor in Polivkas Ohren.

Das also hat ihn aufgeweckt. Das Handy auf dem Nachtkästchen, der Klingelton des Kommissariats. Polivka seufzt und setzt sich auf, um den Anruf entgegenzunehmen.

«Polivka», meldet er sich mit unwirscher Stimme.

«Sagen Sie jetzt bitte nichts, Chef, ja, ich weiß, es ist noch nicht einmal halb sechs. Wir haben aber einen Toten. Drüben in der Franz-Josefs-Bahn, in einem Zugwaggon.»

2

Die Wiener Endstation der einstigen «k.k. privilegierten Kaiser Franz-Josephs-Bahn» hat schon in Polivkas Jugendzeit ihren Bahnhofscharakter verloren. 1978, hundert Jahre nach seiner Eröffnung, wurde das kaisergelbe Prunkstück des monarchischen Verkehrsverbunds durch einen unförmigen Glaspalast ersetzt, dessen Außenhaut weniger seine Funktion als vielmehr die Geschmacklosigkeit seiner Bauherren widerspiegelte. Die späten Siebziger des 20. Jahrhunderts waren nun einmal die Götterdämmerung des kommunalen Schönheitssinns, ein Zeitalter, in dem man alles für ästhetisch zu halten begann, was im Entfernten einer Discokugel ähnelte.

Die folgenden Jahrzehnte über füllte sich die nichtssagende Form mit dem ihr adäquaten Inhalt: erst die Filiale einer Kaufhauskette und die Büros einer Großbank, dann ein Fitnesscenter, ein Fastfood-Lokal und ein Supermarkt. Der Bahnhof selbst war unter Abertonnen Stahlbeton und Glas versteckt worden – geduckt wie ein ins Unterholz gejagtes Tier. Dass nun, gut dreißig Jahre später, auch das neue Bauwerk abgerissen werden soll, bedeutet nicht, dass Banken, Hamburger und Fitnesscenter aus der Mode sind. Im Gegenteil: Es gilt, mehr Platz für sie zu schaffen. Eines nur soll nach den Absichten der Stadtplaner beseitigt werden, und das ist – die Bahnstation.

 

Bezirksinspektor Polivka krault sich das Kinn. Er hat seinen Kollegen Hammel schon zweimal gefragt, ob man hier wirklich richtig sei. Ob dieser Tote wirklich hier in Wien und nicht etwa in Langenlebarn aufgefunden worden sei.

«Wie kommen Sie auf Langenlebarn? Dort wären wir ja nicht einmal ermittlungsbefugt.»

«Ermittlungsverpflichtet», hat ihn Polivka verbessert. «Und das hieße, dass die niederösterreichischen Kollegen eine Leiche und wir zwei ein akkurates Frühstück hätten.»

«Stimmt schon … Schauen Sie, da ist eh gleich ein McDonald’s. Wollen wir nicht noch rasch …»

«Ich bitt Sie, Hammel! Akkurat hab ich gesagt.»

Sie queren die niedrige Ankunftshalle und zwängen sich durch eine Schwingtür zu den Bahnsteigen, als ihnen ein uniformierter Polizist entgegentritt. «Wenn ich die Herren ersuchen darf, wir müssen hier entlang …» Mit einer devoten Verbeugung deutet er nach links und eilt voraus.

«Mir scheint, im Polizeidepot werden jetzt auch schon Livreen verteilt», brummt Polivka und trottet dem Beamten hinterher.

Auf Bahnsteig Nummer 1, dem sogenannten Betriebsgleis, ist der Frühzug aus Tulln abgestellt. Es handelt sich um eine jener älteren Garnituren, die noch nicht wie riesige Massagestäbe wirken, ein Zug wie eine Eisenbahn, bei dem die Fenster wenigstens von außen suggerieren, dass man sie von innen öffnen kann. Vor dem zweiten der beiden Waggons blickt den Männern ein schweigendes Grüppchen entgegen: zwei weitere Polizisten und drei Bahnbeamte, wie Polivka anhand der Uniformen konstatiert.

«Guten Morgen allerseits.»

Die beiden Polizisten salutieren. Der kleinste der drei Eisenbahner tut es ihnen gleich, um nach erfolgter Huldigung auf Polivka und Hammel zuzutreten und ihnen die Hand zu reichen. «Die Herren sind vom Kommissariat?»

Ein Wichtigmacher – höchstwahrscheinlich Innendienst, denkt Polivka. Er nickt.

«Franz Josef Parnow. Fahrdienstleiter der Betriebsstelle Franz-Josefs-Bahnhof.»

Kurz stockt Polivka der Atem. Gerade noch befriedigt, mit der Einschätzung des Mannes recht gehabt zu haben, fühlt er nun, wie ihm die Zornesader schwillt. Ein Wichtigmacher und ein Scherzbold also. Nicht, dass Polivka grundsätzlich etwas gegen Scherze einzuwenden hätte, aber

1. nicht bei einer Mordermittlung um sechs Uhr morgens

2. und schon gar nicht, wenn der Scherz auf seine Kosten geht.

«Ist das Ihr Ernst?», fragt er mit steinerner Miene.

«Es hat sich so ergeben, meine Eltern haben mich so getauft. Sie können gerne meinen Ausweis sehen.»

So rasch kann sich Verdrossenheit in Zorn und Zorn in Heiterkeit verwandeln. Polivkas Mundwinkel zucken. «Ich nehme an, Ihr Herr Papa war auch schon bei der Eisenbahn?»

«Das nicht. Nur Monarchist», erwidert Parnow.

Ein kurzes, verhaltenes Quietschen ist hinter Polivkas Rücken zu hören: Hammel, hochrot im Gesicht, versucht, seine Lachmuskeln unter Kontrolle zu bringen.

«Gut, Herr Parnow. Oder besser: Nichts für ungut.»

«Keine Ursache, ich bin es ja gewohnt», seufzt Parnow und streift seine beiden Kollegen mit einem resignierten Seitenblick. Die zwei stehen da und grinsen ihre Schuhe an, als hätten die gerade einen Witz erzählt.

«Wie auch immer, lassen S’ uns zur Sache kommen. Was ist heute früh geschehen?»

«Jemand hat die Notbremse betätigt. Kurz vor fünf hat mich der Zugführer angefunkt, dass der Regio aus Tulln zwischen dem Bahnhof Spittelau und hier auf offener Strecke zum Stillstand gekommen ist und dass es – offenbar aufgrund des Notstopps – einen Toten gibt.»

«Ja, das war ich», wirft der kleinere der beiden hinter Parnow stehenden Eisenbahner ein. «Ich meine, der Zugführer … Winter mein Name.»

«Woher wussten Sie von dem Toten, Herr Winter?»

«Nach der Notbremsung hat unser Zugbegleiter nachgeschaut, was los ist. Er hat mich dann gleich informiert, dass einer im hinteren Wagen zu Tode gestürzt ist. Worauf ich – natürlich im Einvernehmen mit der Fahrdienstleitung – zum Franz-Josefs-Bahnhof weitergefahren bin. Es waren ja nur noch ein paar hundert Meter.»

«Irgendetwas Ungewöhnliches vor Ihnen auf der Strecke?»

«Nichts Besonderes. Alles ganz normal.»

Polivka runzelt die Stirn und wendet sich dem letzten der drei Bahnbeamten zu, einem hageren Mann mit glattem, haarlosem Schädel. «Sie sind dann also der Schaffner, der Herr … Mikulitsch?»

«Wie kommen Sie auf Mikulitsch?», raunt Hammel Polivka ins Ohr.

«Wie kommen Sie auf Mikulitsch, Herr Kommissar?», fragt auch der Glatzkopf.

«Eine … Dings, eine Verwechslung. Ich kannte einmal einen … Na, egal. Wie heißen Sie?»

«Benkö. Hans Benkö.»

«Auch gut. Notieren Sie das, Hammel. Also, was ist Ihnen aufgefallen, Herr Benkö?»

«Zuerst einmal, dass wir heut pünktlich waren. Um siebzehn nach vier sind wir aus Tulln abgefahren; um vier Uhr sechsundfünfzig waren wir in der Spittelau.»

«Waren viele Fahrgäste?»

«Hat sich in Grenzen gehalten. Gestern Fronleichnam, morgen Samstag, da muss ja fast niemand zur Arbeit. Nur die Eisenbahner.»

«Und die Polizisten», wirft Polivka ein. «Also weiter.»

«Wir sind gerade aus der Spittelau heraus und nehmen Fahrt auf, da gibt’s einen Ruck, dass mir mein Dienstkaffee überschwappt, direkt auf meine Montur. Schauen Sie, da …» Benkö deutet auf einen der Flecken, die seine Uniformhose zieren. «Ich also grantig nach vorne ins Führerhaus, aber der Zugführer Winter sagt, er war’s nicht, er hat nicht gebremst. Also geh ich nach hinten, den Schuldigen finden. Im ersten Wagen drei verschreckte Leute, brav auf ihren Sitzen, keiner weiß von irgendwas.»

«Wo sind die jetzt?»

«Im Warteraum», antwortet einer der Polizisten. «Der Kollege Zach passt auf sie auf.»

«Um die werden wir uns später kümmern. Also war im ersten Wagen alles ganz normal. Und dann?»

«Im zweiten liegt der Woditschka am Boden …»

«Woditschka?», ruft Polivka verwundert aus. «Heißt das, Sie kennen den Toten?»

«Sicher. Karl Woditschka aus Kritzendorf. Der Woditschka fährt jeden Morgen nach Wien. Er hat im zwanzigsten Bezirk ein kleines G’schäft, so was wie Wolle, glaub ich, oder Knöpfe …»

«Werden wir schon herausbekommen. Woran haben Sie denn so rasch gesehen, dass er tot ist? Und warum aufgrund des Notstopps?»

«Schauen Sie selbst, Herr Kommissar. Ein Simulant scheint mir die Leiche nicht zu sein.» Hans Benkö deutet auf die Wagentür.

«Moment noch. War der Woditschka allein im hinteren Waggon?»

Der Schaffner zögert. «Wie ich ihn gefunden habe, schon.»

«Was heißt: da schon! Und vorher? Oder wissen Sie das nicht, weil Sie die ganze Zeit mit Ihrem heiligen Dienstkaffee herumgesessen sind?»

«Was soll ich machen, wenn ich schon in Wördern mit meinem ersten Kontrollgang fertig war?»

«Verstehe. Und ein zweiter hätte sich natürlich nicht mehr ausgezahlt bei circa zehn verbleibenden Stationen. Aber gut, wir sind ja nicht die Dienstaufsicht. Die Frage ist: Wer hat die Notbremse gezogen?»

«Wieso nicht der Woditschka selber?», meldet sich Hammel zu Wort. «Vielleicht war ihm nicht gut, er wollte raus, und dann …»

«Das glaub ich nicht», wehrt Benkö ab.

«Warum denn nicht?»

«Weil die Waggontür offen war», sagt der Schaffner mit selbstzufriedenem Grinsen.

Vom Zugang zum Bahnsteig her ist jetzt ein dumpfes Poltern zu hören. Zwei mausgrau gekleidete Männer mühen sich mit einem Blechsarg ab, der sich in einer der Schwingtüren verkeilt hat. Sie fluchen.

«Also gehen Sie davon aus», meint Polivka zu Benkö, «dass noch jemand anderer im Waggon war. Jemand, der die Notbremse betätigt und dann rasch den Zug verlassen hat. Das klingt plausibel.»

«Vielleicht war’s ja nur ein Bubenstreich», mischt Hammel sich schon wieder ein. «Und wie der kleine Racker dann die Leiche gesehen hat, ist er vor lauter Schreck weggelaufen.»

Polivka seufzt auf. Wie immer strapazieren Hammels Phantasien seine Nerven. Umso willkommener sind ihm die mausgrauen Männer: Sie haben die Hürde der Schwingtür nun endlich bewältigt und tragen den leicht deformierten Sarg den Bahnsteig entlang.

«Zu früh, meine Herren!», ruft Polivka ihnen entgegen. «Ihr wisst ja: zuerst der Arzt, dann die Ermittler und die Spurensicherung, dann lange nichts, und irgendwann so gegen Abend ihr.»

«Entschuldigung, Herr Kommissar …» Der Fahrdienstleiter Parnow hebt die Hand, als wolle er vom Lehrer aufgerufen werden.

«Bitte, Parnow», schmunzelt Polivka.

«Der Doktor ist schon drin, Herr Kommissar, der war nämlich vor Ihnen da.»

«Vor uns? Unglaublich.» Polivka schickt sich an, den Wagen zu erklimmen, als er merkt, dass Hammel ihm zu folgen droht. «Momenterl, Hammel … Bitte gehen S’ derweil hinüber in den Warteraum und nehmen Sie sich die drei Passagiere vor.»

Problem gelöst, Kollege Hammel abgeschoben. Unzufrieden wuchtet Hammel seine hundert Kilo an den Sargträgern vorbei in Richtung Eingangshalle.

«Entschuldigung, Herr Kommissar …» Schon wieder Parnow.

«Ja, was ist denn noch?»

«Ich wollte Herrn Kommissar nur fragen, ob Sie uns hier noch benötigen.»

«Nicht im Moment. Wo kann ich Sie erreichen, falls noch Fragen sind?»

«Gleich hier.» Franz Josef Parnow deutet auf den Seitentrakt, der Bahnsteig Nummer 1 flankiert – ein Trakt wie die Berliner Mauer, allerdings von Osten her betrachtet.

«Und Sie?», fragt Polivka die beiden anderen Eisenbahner.

Winter und Benkö wechseln einen kurzen, einmütigen Blick. «Beim Orlik drüben», sagen sie dann unisono.

 

Die Tür zum Fahrgastraum ist innen blutverschmiert: ein sternförmiger Fleck in Bauchhöhe, von dem sich eine rote Schleifspur abwärts zieht. Sie endet knapp über dem Boden, wo die aufgeplatzte Nase Karl Woditschkas am Türrahmen klebt. Obwohl Woditschka am Bauch liegt, ist sein Kopf so weit zurückgeknickt, dass man die Augen sehen kann: zwei zartgelbe Schlitze, die auf das Metall starren, als befände sich dahinter eine bessere Welt. Und vielleicht tut sie das ja auch.

«Eine Zugfahrt, die ist lustig, eine Zugfahrt, die ist schön.» Doktor Rakesh Singh streift sich die Schutzhandschuhe ab und blendet Polivka mit seinen strahlend weißen Zähnen. «Jedenfalls bei uns in Indien, da können solche Dinge nämlich nicht passieren. Bei uns sind die Waggons zwar nicht gepolstert wie die Wände einer Gummizelle, aber dafür chronisch überfüllt. Wer nicht mehr in den Zug passt, klammert sich von außen daran fest, und wenn da auch kein Platz mehr ist, dann klettert man eben aufs Dach.»

«Ein raffiniertes Sicherheitskonzept», brummt Polivka.

«Man kann vielleicht hinunterfallen und gerädert werden, aber dass sich einer im Waggon den Hals bricht, habe ich noch nie erlebt.» Doktor Singh reicht Polivka die Hand. «Sie sehen müde aus, Herr Bezirksinspektor. Müde und hungrig.»

Wie viel Abscheu vier Buchstaben ausdrücken können: «Diät», sagt Polivka. «Seit einer Woche schon.»

«Wahrscheinlich nicht die richtige. Sie sind ein Vata-Typ …»

«Ich habe keine Kinder.»

Doktor Singh lacht auf. «Nein, nein, das Wörtchen Vata stammt aus dem Sanskrit. Im Ayurveda, der indischen Weisheit des Lebens, haben Vata-Typen einen wachen Geist, aber ein schläfriges Verdauungsfeuer. Essen Sie nach Möglichkeit gekochte Speisen, warm und leicht verdaulich, und Sie werden sehen, Sie sind schon bald ein neuer Mensch.»

«Ich wusste nicht, dass Sie auch Lebende behandeln, Doktor Singh.»

«Nur, wer die Melodie beherrscht, kann auch die Pausen spielen.» Und wieder dieses Lächeln: eine Kavalkade blank geputzter Lipizzanerzähne.

«Schön gesagt. Und diese Pause?» Polivka zeigt auf den Toten. «Kann man da schon etwas hören?»

«Des Pathologen Weisheitsquell erschließt sich erst mit dem Skalpell. Solange ich den Patienten nicht geöffnet habe, müssen Sie mit Improvisationen vorliebnehmen. Also, im Moment sind folgende Läsionen festzustellen: zunächst eine Fraktur des zweiten Halswirbels, die auch den Tod verursacht haben dürfte. Ferner eine weitere Fraktur des Nasenbeins und eine Riss-Quetschwunde an der Nase, beides höchstwahrscheinlich Folgen eines Anpralltraumas.»

«Hier am Rahmen …» Polivka geht in die Knie und inspiziert die Blutspur.

«Dieser Schluss ist naheliegend.»

«Welcher noch?»

«Das wissen Sie doch, Herr Bezirksinspektor.»

«Trotzdem möchte ich es auch von Ihnen hören – als Bestätigung.»

«Der Mann ist auf dem Weg zur Tür gestolpert und gestürzt. Im Fallen hat er den Kopf gehoben und ist mit dem Gesicht frontal gegen den Türrahmen geprallt. Der Stoß war stark genug, ihm das Genick zu brechen. Exitus.»

«Ein Unfall also?»

Doktor Singh macht eine abwehrende Geste. «Mein Berufsprofil sieht keine kriminologischen Folgerungen vor. Nur anatomische.»

«Dann sagen Sie mir bitte, wie man anatomisch reagiert, wenn man das Gleichgewicht verliert.»

«Worauf wollen Sie hinaus?»

«Man streckt die Arme vor», sagt Polivka, «und fängt sich mit den Händen ab.»

«Das scheint er ja wohl nicht getan zu haben», stimmt der Doktor zu.

«Ich frage mich, warum.»

«Der Zweifel, Herr Bezirksinspektor, ist das Wartezimmer der Erkenntnis. Altes indisches Zitat. Sie können also warten, bis Sie aufgerufen werden, oder …»

«Oder?»

«Oder Sie behaupten, dass das hier ein Unfall war, und gehen nach Hause.»

Polivka verfällt in Schweigen. Etwas irritiert ihn, aber nicht in seinem Kopf, sondern in seiner Hose: das Verdauungsfeuer.

«Bin gleich wieder da, Herr Doktor.»

Eilig durch die Schiebetür und in den Vorraum, dann ein kurzer Blick hinaus zum Bahnsteig, wo die Streifenpolizisten stehen. Sie haben Polivka bereits bemerkt und nehmen Haltung an. Der Magen drückt. Schon wieder einer dieser Winde, die sich seit Beginn seiner Diät zu regelrechten peristaltischen Orkanen auswachsen. Wenn man erst fünfzig ist, so hat der Vorgänger von Doktor Singh, der legendäre Professor Bernatzky ihm einmal geraten, soll man aufhören, seinen Fürzen zu vertrauen. Also ab in die Toilette, nur zur Sicherheit.

Doch die Toilettentür ist zugesperrt.

Wahrscheinlich Sparmaßnahmen, mutmaßt Polivka. Seit sich die Bundesbahnen auf dem – von der Europäischen Union geforderten und von den neoliberalen Kräften in der österreichischen Regierung durchgesetzten – Weg in die Privatisierung befinden, investieren sie eben lieber in milliardenschwere Bauprojekte als in Putztrupps oder Wartungspersonal. Mit jeder stillgelegten Spülung werden also ein paar Euro in die Geldspeicher der Bauwirtschaft gespült: ein weiterer Beweis dafür, dass es uns allen gut geht, wenn es nur der Wirtschaft gut geht.

Außer, wir müssen aufs Klo.

Polivka klopft und lauscht, er rüttelt an der Klinke. Kurzerhand greift er zu seinem Schlüsselbund, an dem nebst einem Taschenmesser und verschiedenen anderen Gerätschaften ein Vierkantschlüssel hängt. Ein kleiner Ruck, ein leiser Klick, und Polivka tritt ein.

«Oh, Verzeihung!»

Noch bevor ihm die Details des Bildes ins Bewusstsein dringen, weicht er auf den Gang zurück: Kaum etwas löst so heftige Reflexe im modernen Menschen aus wie eine unvermutete Begegnung auf der Toilette. Nach Sekunden erst beginnt er, das Gesehene zu reflektieren – und stürmt erneut in die Kabine.

Auf der Klobrille sitzt eine Frau mit rötlich braunem Pagenkopf und starrt ihn an. Sie ist rund vierzig Jahre alt und trägt einen dezenten grauen Hosenanzug, gegen den die Turnschuhe an ihren Füßen seltsam stillos wirken. Doch der Grund für Polivkas rasante Rückkehr sind nicht ihre Schuhe, sondern das silberfarbene Klebeband, mit dem die Frau geknebelt und an den Toilettensitz gefesselt ist.

 

«Wie heißen Sie?», fragt Polivka zum zweiten Mal.

Mit Hilfe Doktor Singhs hat er die Frau aus dem Klosett befreit und in den vorderen Zugwaggon geführt. Erst dabei stellte sich heraus, wie groß sie war: ein Meter neunzig, schätzte Polivka; sie überragte ihn bei weitem. Die zwei Männer mussten sie so lange stützen, bis das Blut wieder in ihren Beinen zirkulierte. Dann, nachdem der Doktor eine kurze Untersuchung an ihr vorgenommen und sie – abgesehen von leichten Blutergüssen an den Handgelenken – für gesund befunden hatte, stellte Polivka zum ersten Mal die Frage. Antwort gab es keine.

«Vielleicht ist sie durstig.» Doktor Singh nimmt eine Flasche Mineralwasser aus seinem schwarzen Arztkoffer, um sie der Frau zu reichen. Dankbar greift sie zu und trinkt mit einem Zug die halbe Flasche leer.

«Wie heißen Sie? Ihr Name?»

Endlich eine Reaktion. Die Frau sieht Polivka bedauernd an und zuckt die Achseln. «Je ne parle pas allemand.»

Das ist es also.

Hätte er sein Schulfranzösisch doch von Zeit zu Zeit ein wenig aufgefrischt. Dass Gurke mit concombre übersetzt wird, fällt ihm allenfalls in seinen Träumen ein, im Wachzustand dagegen wird die einstige Gelehrtheit zur Geleertheit; die Vokabeln kleben ihm am Gaumen wie ein Stück vertrocknetes Baguette.

«Je … je … police. Bureau des assassins … Verflucht! Do you speak English?»

«No English», antwortet die Frau.

«Herr Doktor, können Sie mir vielleicht helfen?», wendet Polivka sich an den Pathologen.

«Leider nein. Mein einschlägiger Wortschatz beschränkt sich auf chapeau und trottoir. Wir Inder sind ja von den Briten kultiviert worden, bei uns haben die Franzosen nichts zu sagen.»

«Gut», brummt Polivka, «dann muss sie eben mit aufs Kommissariat, dort gibt es einen Dolmetscher.» Tarzan, überlegt er jetzt, ist ohne Übersetzer ausgekommen, als er Jane ihren Namen entlockte. Die Erinnerung an die berühmte Leinwandszene stachelt seinen Ehrgeiz an. Er dreht sich also wieder zu der Frau, schiebt seinen Unterkiefer vor, schlägt sich ein paar Mal auf die Brust und grunzt mit tiefer Stimme: «Je – Polivka.» Herausfordernd nickt er ihr zu.

Die Frau scheint zu verstehen. Sie lächelt. Bernsteinaugen, denkt Bezirksinspektor Polivka.

«Amélie.» Sie legt sich nun ihrerseits die Hand auf die Brust. «Je m’appelle Amélie.»

«Aha, Amélie ! Alors, Madame Amélie, tu et je … aller commissariat … aller bureau translateur.»

«Translateur?»

«Translator, I mean Dolmetscher.»

«Vous voulez dire, un traducteur! Ah oui, c’est bien. Comme ça, nous pourrons parler.»

Als sie entlang des Bahnsteigs Richtung Ausgang gehen, spürt Polivka mit einem Mal die Hand von Doktor Singh auf seiner Schulter.

«Ja, Herr Doktor?»

«Chapeau, Monsieur Weißmüller», schmunzelt Singh.

3

Er kann es einfach nicht verstehen. Seit Stunden überlegt er, was er anders hätte machen, wie er das Geschehene verhindern hätte können. Unaufhörlich kehrt er in Gedanken zu der kurzen Szene vor dem Bahnhofsgebäude zurück.

Kaum ist er mit Madame Amélie und Doktor Singh ins morgendliche Sonnenlicht hinausgetreten, ist ihm Hammel eingefallen, der arme, dumme Hammel, der noch immer mit den Passagieren des Todeszugs im Warteraum verweilt. Sich von Hammel hie und da erholen zu wollen, war eine Sache, ihn mit einem Mindestmaß an Anstand zu behandeln, eine andere. Er musste also wenigstens vom Aufbruch Polivkas verständigt werden. Um nun aber die Vernehmung Madame Amélies nicht weiter zu verzögern, hat sich Polivka an Doktor Singh gewandt und ihn darum ersucht, noch einmal umzukehren und Hammel über die Ereignisse im Zugwaggon zu informieren.