Umschlag

Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. Er wurde 1949 in Hamburg geboren und hat sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Nach einigen Jahren in Münster/Westfalen lebt er nun auf der Insel Nordstrand (Schleswig-Holstein).
www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
 
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel, Lille, Frankreich (www.editio-dialog.com).

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Andreas Weber
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-292-0
Niedersachsen Krimi
Originalausgabe

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Für Barbara und Michael

»Wer keine Visionen hat,
vermag weder große Hoffnungen zu erfüllen
noch große Vorhaben zu verwirklichen.«

Thomas W. Wilson

EINS

Eigentlich hätte es um diese Tageszeit schon heller sein müssen. Graue Wolken zogen am Himmel ostwärts. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Die Straßenlampen gaben ein fahles Licht ab und ließen das feuchte Pflaster dumpf erscheinen. Es passte zu diesem Frühling. Die Natur hing zurück, an den Bäumen zeigte sich kaum das erste Grün.

Auch Ostern hatte nicht das ersehnte schöne Wetter gebracht. Die Ausflugslokale, die auf den ersten Gästeansturm gehofft hatten, waren leer geblieben. Missmutiges Personal hatte an den Fenstern gestanden und durch die regennassen Scheiben nach draußen gesehen.

Kurt Weckholz war es recht gewesen. Er hatte die vergangenen vier Ostertage daheim verbracht, vor dem Fernseher gehockt und geschimpft, dass das Programmangebot für sein Empfinden dürftig war.

»Lass uns etwas unternehmen«, hatte Röschen, seine Frau, gedrängt. Aber Weckholz hatte abgewinkt. Nicht einmal zum Besuch der Tochter und deren Familie in Hameln hatte er sich überwinden können. Warum hätte er sich in die allgegenwärtige Blechlawine, die über Ostern auf allen Straßen anzutreffen war, einreihen sollen? Außerdem hatten die Mineralölkonzerne in schöner Regelmäßigkeit die Benzinpreise vor den Feiertagen kräftig angehoben. Obwohl sein betagter Opel Corsa sparsam im Verbrauch war, wusste er die schmale Rente besser zu verwenden. Zum Beispiel für die geliebte Zigarette. Und für Flecki, die schwarz-weiß gefleckte Promenadenmischung. Der Hund hatte sich ein paar Meter von Weckholz entfernt, schnupperte hier, markierte dort sein Revier und trottete ähnlich gemächlich wie sein Herrchen durch die menschenleeren Straßen.

Wer ging freiwillig bei Nieselregen am Dienstag nach Ostern vor sechs Uhr früh spazieren? Weckholz lächelte bitter. Er! Über vierzig Jahre hatte er im Stammwerk in Hannover-Stöcken in der Reifenproduktion von Conti gearbeitet. Nach der Einstellung der Produktion hatte er Glück gehabt und wurde in die Fertigung von Lkw-Reifen versetzt. Als auch dort die Lichter ausgingen, wurde Weckholz in Rente geschickt. Da war er achtundfünfzig Jahre alt. Wie oft hatte er sich geschworen, morgens auszuschlafen, wenn ihn die Frühschicht nicht mehr bei jedem Wetter rufen sollte. Doch als seine Arbeitskraft nicht mehr gefragt war, hatte er sich nicht mehr umstellen können. Aus lauter Gewohnheit stand er morgens um fünf Uhr auf und drehte die erste Runde mit dem Hund.

Er hustete. Nein, war er überzeugt, die Probleme mit den Bronchien kamen nicht vom Rauchen. Das lag an der schlechten Luft in der Fabrikhalle. Als er wieder Luft bekam, zog er an der Zigarette und sah sich um. Flecki war ein Stück vorausgelaufen und schnüffelte am Fahrradständer der Apotheke.

Weiter unten in der Lister Meile sah er zwei Frauen, die ihm entgegenkamen. Lange bevor er ihnen begegnete, wechselten sie die Straßenseite. Er kannte sie. Die beiden Türkinnen mit den nach Sitte ihres Landes gebundenen Kopftüchern eilten zum Niedergang der U-Bahn-Station Sedanstraße/Lister Meile.

Jetzt tauchte ein Mann auf. Mit schnellen Schritten näherte er sich. Als er auf Weckholz’ Höhe war, zeigte er mit dem Daumen über die Schulter. »Pass auf. Ein Stück weiter liegt ein Penner. Nicht dass dein Köter ihn anpinkelt.«

Weckholz wollte protestieren. Flecki war kein Köter. Aber der Mann war an ihm vorbeigeeilt. Auch er schien zum Bahnhof zu wollen.

Jetzt sah Weckholz das Bündel, das dicht an der Hauswand lag. Irgendjemand hatte über Ostern zu heftig gefeiert und es nicht mehr bis nach Hause geschafft. Offensichtlich waren Kopf und Beine so schwer geworden, dass er sich unterwegs einfach hingelegt hatte. Wie in allen Großstädten gab es auch am nahen Hannoveraner Hauptbahnhof einen Treffpunkt der Menschen, die kein anderes Ziel hatten, die den Tag damit zubrachten, auf sein Verstreichen zu warten, um am nächsten Morgen mit der Trostlosigkeit ihres Daseins fortzufahren. Sie fanden sich auf dieser Seite des Bahnhofs ein, nicht auf der anderen. Dort begann die City, das Entree des Bahnhofs war eines ihrer Aushängeschilder. Aber bis dorthin verirrten sich die Herumlungernden selten.

Während Weckholz langsam in Richtung des Schlafenden trottete, schien Flecki das Objekt auch entdeckt zu haben. Der Hund stutzte kurz, dann lief er zielsicher darauf zu.

»Flecki!«, versuchte Weckholz ihn zurückzurufen.

Aber das Tier hörte nicht. Er blieb vor dem Bündel stehen und bellte. Noch einmal versuchte Weckholz, ihn zur Ordnung zu rufen. Als er sah, wie der Hund eine Ecke der Decke packte, mit der sich der Schläfer vor der nassen Kühle schützte, beschleunigte Weckholz seinen Schritt. Laufen konnte er nicht. Das ließen seine kranken Bronchien nicht zu. Er spürte den Schmerz. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass Flecki an der Decke zerrte und sie wegzog.

»Flecki. Komm sofort hierher«, keuchte Weckholz. Aber der Hund hörte nicht. Er hatte die Decke komplett von dem schlafenden Körper abgezogen, drehte jetzt den Kopf in Weckholz’ Richtung und sah seinem Herrchen erwartungsvoll entgegen.

Der wunderte sich, dass der Schläfer nicht reagierte. Offensichtlich hatte er mächtig etwas intus. Sonst hätte er sich nicht freiwillig auf den Bürgersteig gelegt.

Endlich hatte Weckholz den Platz erreicht. Er bückte sich, um dem Hund die Decke fortzunehmen und den Schläfer wieder zuzudecken. Erst als Weckholz schärfer auf Flecki einredete, gab das Tier das Textil frei.

Weckholz griff zwei Ecken, schüttelte die Decke und wollte sie über den Schlafenden ausbreiten, als er stutzte. Er traute seinen Augen nicht. Ungläubig schloss er die Lider und hoffte, sich geirrt zu haben. Aber auch beim zweiten Blick verschwand das Bild nicht.

Vor ihm lag ein Mann auf dem Rücken. Es war schon ungewöhnlich, dass er sich nicht zusammengekauert hatte, wie man es zu tun pflegt, wenn man sich in der Kälte zum Schlafen niederlegt. Die Augen waren geöffnet und starr gen Himmel gerichtet. Weckholz fuhr ein eiskalter Schauder über den Rücken, als sein Blick am Körper des Mannes abwärtswanderte. Die Hose war geöffnet und die Genitalien freigelegt. Nein. Das stimmte nicht. Von denen war nichts zu sehen. Stattdessen befand sich überall Blut – dunkelrotes, fast schwarzes, verkrustetes Blut.

Weckholz würgte. Nur mühsam unterdrückte er, dass er sich übergeben musste. Sein Blick wurde noch einmal magisch von dem schrecklichen Bild angezogen. Er riss sich davon los und sah sich um. Niemand war zu sehen. Was sollte er machen? Telefonzellen gab es kaum noch welche, ein Handy besaß er nicht. Sollte er nach Hause laufen und die Polizei rufen? Jetzt tauchten Scheinwerfer auf. Langsam rollte ein Pkw durch die Lister Meile.

Weckholz taumelte Richtung Fahrbahn, hob die Arme über den Kopf und schwenkte sie hin und her.

»Hallo. Hilfe«, keuchte er kaum wahrnehmbar.

Dann brach ein heftiger Hustenanfall aus. Er versuchte, zur Fahrbahn zu gelangen, und hatte Glück, dass der Mazda langsam fuhr. Der Fahrer hielt an, ließ die Seitenscheibe herunter und wollte fluchen, als er den um Luft ringenden Weckholz gewahrte.

»Mein Gott. Was ist los? Brauchen Sie Hilfe?« Rasch verließ er sein Fahrzeug und ging auf Weckholz zu. Er blieb vor ihm stehen, ließ die Arme seitlich am Körper herunterpendeln und musterte den Rentner ratlos.

Weckholz hob den Arm und zeigte in Richtung des leblosen Bündels auf dem Bürgersteig.

»Da«, keuchte er.

* * *

Frauke Dobermann sah in den Spiegel aus Kristallglas. Dann zog sie das Handtuch vors Gesicht und frottierte es vorsichtig. Schließlich nahm sie das Handtuch wieder herab und hielt es vor den Hals. Erneut blickte sie in den Spiegel und betrachtete sich. Das schmale Gesicht, die nackenlangen rötlichen Haare und die etwas zu spitze Nase. Dann ließ sie ihre Hände mit dem Handtuch sinken und betrachte ihren Oberkörper, die weibliche Figur.

So sieht eine Frau aus, die sich auf Mitte fünfzig zubewegt, überlegte sie. Und trotzdem! Genau das mochte Georg, der feinsinnige, aristokratische, weltgewandte und ungemein liebevolle Georg. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich an die Umstände ihrer ersten Begegnung erinnerte. Und an die Zeit, als Georg geheimnisvoll mit ihrem ersten großen Fall in Hannover verwoben war. Sie hatte ihn nicht einordnen, seine Rolle nicht abschätzen können. Erst viel später hatte sie erfahren, weshalb er sich so merkwürdig verhalten hatte.

Und heute? Es war für sie fast eine Selbstverständlichkeit geworden, in seinem großzügigen Haus im Isernhagener Birkenweg zu übernachten. Schon lange besaß sie einen Haustürschlüssel und hatte sich häuslich eingerichtet. Ihre Kleidung hing in den Schränken, die linke Seite im Ehebett gehörte ihr, und im Badezimmer hatten die Utensilien Einzug gehalten, die eine Frau für unerlässlich erachtet.

Erneut lächelte sie. Georg hatte mit einem Schmunzeln ihre Okkupation zur Kenntnis genommen und keine Einwände dagegen gehabt, dass seine Hygiene- und Kosmetikartikel einen Platz am Rand fanden.

Frauke gab sich einen Ruck, schloss ihre Morgentoilette ab und kehrte ins angrenzende Schlafzimmer zurück, um sich anzukleiden. Zu guter Letzt setzte sie die Brille auf und ging die mit dicken Teppichen belegte Treppe ins Erdgeschoss hinab. Sie durchquerte die großzügige Diele und schenkte der antiken Vitrine aus geschnitztem dunklem Holz keine Beachtung. Gut gelaunt warf sie der mannshohen Holzfigur mit dem breitrandigen Hut und dem langen Bart einen Handkuss zu.

»Guten Morgen, Don«, sagte sie, nachdem sie irgendwann beschlossen hatte, die Ähnlichkeit mit Don Quichotte sei frappierend.

Schnuppernd sog sie den Kaffeeduft ein, der aus dem Speisezimmer herüberwehte. Sie verharrte einen Moment auf der Schwelle. Wie so oft musste sie sich erst vergewissern, dass es kein Traum war. Georg hatte den Frühstückstisch gedeckt. Durfte man jeden Morgen so opulent frühstücken? »Ja«, hatte Georg irgendwann einmal ihre Skepsis zerstreut. Jetzt tauchte er mit zwei Gläsern frisch gepresstem Orangensaft in der zur Küche führenden Tür auf.

»Na, mein Kleines«, sagte er mit seiner wohlklingenden sonoren Stimme.

Sie ging auf ihn zu, gab ihm einen Kuss und schmiegte sich kurz an ihn. »Du bist kein Geschenk des Himmels, du selbst bist der Himmel«, sagte sie.

»Dann lass uns auf die Erde zurückkehren und bodenständig frühstücken«, erwiderte er.

Sie nahm auf einem der hochlehnigen Lederstühle Platz und griff zum Brötchenkorb. Georg bemerkte ihr kurzes Zögern.

»Du musst dich nicht kasteien. Ich meine, wegen der Linie. Ich mag dich auch mit ein wenig mehr auf den Hüften.«

»Schmeichler.«

Während sie die Morgenmahlzeit einnahmen, führte sie ihr Gespräch durch einen bunten Themenstrauß, bis sie durch das Schnarren von Fraukes Handy unterbrochen wurden.

»Da ruft eine Leiche an und verlangt dringend, Frau Hauptkommissarin zu sprechen«, scherzte Georg und nahm den nächsten Löffel Obstsalat zu sich.

Frauke angelte in ihrer Handtasche nach dem Telefon, während sie mit der anderen Hand zur Serviette griff und sich die Lippen abtupfte.

»Hellmann vom KDD«, meldete sich eine Männerstimme. Der junge Kommissar war seit einem Jahr beim Kriminaldauerdienst. Frauke kannte ihn vom Sehen. »Herr Büdinger bat mich, Sie zu informieren. Sie wohnen doch in der Lister Meile in dem Haus mit dem Herrenmodengeschäft?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Sie sind aber nicht zu Hause?«

»Das hat Sie nicht zu interessieren«, sagte sie barsch.

»Wo stecken Sie denn?«, zeigte sich Hellmann stur. »Direkt vor Ihrer Haustür liegt ein Toter.«

»Bitte?« Frauke war überrascht.

»Es wäre gut, meint Herr Büdinger, wenn Sie einmal vor die Tür kämen, da Sie auf unser Klingeln nicht reagiert haben.«

»Ich bin in zwanzig Minuten da«, sagte Frauke und stand auf.

Georg zog eine Augenbraue in die Höhe und sah sie erstaunt an. »Kann in Hannover ohne deine Hilfe nicht gestorben werden?«, fragte er ironisch.

»Nicht, wenn der Tote vor meiner Haustür liegt.«

»Ich habe dir schon oft gesagt, du sollst ganz zu mir ziehen. Heirate mich doch einfach«, rief er ihr hinterher, während sie eilig ihre Sachen zusammensuchte, ihm einen Kuss auf die Wange hauchte und zu ihrem Audi A3 eilte.

Zu dieser Stunde war es mühsam, voranzukommen. Der Berufsverkehr floss zäh. Stellenweise ging es nur im Schritttempo voran.

Georg heiraten? Unterwegs hatte sie Zeit zum Nachdenken. Das wäre Bigamie, da in Flensburg Herr Dobermann lebte. Sie hatte schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Es gab keinen Telefonanruf, keine Glückwünsche zum Geburtstag und kein Hallo zu Weihnachten. Trotzdem war sie verheiratet.

Flensburg war mittlerweile unendlich weit weg. Wie schwer war ihr der unfreiwillige Wechsel nach Hannover gefallen. Sie war mit dieser Stadt nicht warm geworden. Alles war anders hier. Die Stadt, die Hektik, die Menschen. Und die Art der Kriminalität. Die Mitarbeiter ihres Teams hatten auch nicht dazu beigetragen, den Neuanfang in der Landeshauptstadt flüssiger zu gestalten. Inzwischen hatte sie sich aber den nötigen Respekt verschafft und sich als Leiterin der Ermittlungsgruppe für organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt durchgesetzt.

Für ihren Sinneswandel gab es einen triftigen Grund. Georg. Sie lächelte erneut und registrierte den irritiert wirkenden Blick des Nachbarn auf der Nebenfahrbahn, der für einen kurzen Moment sogar seinen mürrischen Ausdruck ablegte.

Es dauerte ewig, bis sie die Lister Meile erreichte, jene lebendige und urbane Straße östlich des Hauptbahnhofs, in der sie eine Altbauwohnung gefunden hatte. In diesem bunten Teil der Stadt lebte der Mittelstand, aber auch alte Menschen, Migranten und junge Menschen. Es war ein schillerndes liebenswürdiges Miteinander.

Vor dem Haus mit den roten Backsteinen und der kunstvoll gestalteten Fassade standen zahlreiche Einsatzfahrzeuge. Sie stellte ihren Audi auf die Fahrbahn quer vor dort parkende Fahrzeuge. Ein uniformierter Polizist bemerkte es und kam auf sie zu.

»Fahren Sie weiter«, forderte er sie höflich, aber bestimmt auf. Frauke verschloss ihren Wagen und ging dem Beamten entgegen.

»Dobermann, Kripo«, erklärte sie.

»Ja, denn …«, hörte sie hinter ihrem Rücken.

Frauke zwängte sich durch die Menschenansammlung hindurch, die sich an der Polizeiabsperrung gebildet hatte, nickte einem dort postierten Schutzpolizisten zu und erklärte: »Kripo.«

»Darf ich?«, fragte der junge Beamte.

Nachdem sie ihm ihren Dienstausweis gezeigt hatte, durfte sie passieren. Vor dem Eingang ihres Hauses wuselten die Beamten der Spurensicherung herum. Man hatte ein Zelt als Sichtschutz aufgebaut. Davor stand Hellmann, der sie angerufen hatte. Neben ihm hatte sich Hauptkommissar Büdinger, der Schichtleiter des Kriminaldauerdienstes, postiert. Mit seinem unscheinbaren Aussehen ähnelte er einem der hinter der Absperrung wartenden Passanten.

»Guten Morgen. Wo kommen Sie jetzt her?«, begrüßte Büdinger sie.

»Persönliche Neugierde? Oder gehört das zur Sache?«, antwortete sie, ohne seinen Gruß zu erwidern.

»Ich frage Sie als Zeugin.«

»Schießen Sie immer so schnell aus der Hüfte wie Wyatt Earp?« Sie zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Sie haben doch gesehen, dass ich eben eingetroffen bin. Was haben wir denn?«

»Eine unappetitliche Leiche, und das direkt vor Ihrer Haustür. Ich gehe davon aus, dass das kein Zufall ist. Insbesondere nicht unter Berücksichtigung des Zustands des Toten.«

»Lassen Sie mal sehen.«

Büdinger protestierte nicht, als Frauke ihren Kopf in das Zelt hineinstreckte und die dort tätigen Beamten mit einem »Guten Morgen« grüßte. Sie erhielt als Antwort ein mehrstimmiges Gemurmel.

Sie musste sich nicht dem Opfer nähern, um das Bild zu erfassen, das sich ihr bot. Der Mann hatte dichtes dunkles Haar mit einem Ansatz von Geheimratsecken. Die braunen Augen lagen ein wenig tief in den Höhlen, um die sich dunkle Schatten gebildet hatten. Hohe Wangenknochen und eine breite Nase erweckten den Eindruck, dass es sich um einen Osteuropäer handeln könnte. Mit ein wenig Phantasie ähnelte die Physiognomie der des Boxweltmeisters Klitschko. Die Oberlippe zierte ein Schnauzbart. Das Sakko war von der Stange, das weiße Hemd darunter, dessen Kragen über dem des Sakkos lag, ebenfalls. Die braunen Schuhe konnten aus einem Verbrauchermarkt stammen. Die gesamte Kleidung schien nach dem Kriterium »günstig und zweckmäßig« zusammengestellt zu sein. Von der Hose war nicht viel zu sehen. Sie war zerschnitten und zerfetzt. Dort, wo man den Reißverschluss erwartete, war alles mit vertrocknetem Blut bedeckt.

Es war ein grauenvoller Anblick. Das, was den Mann ausmachte, war herausgeschnitten worden. Fraukes Blick wanderte zurück zum Gesicht. Die Lippen waren zerbissen. Die Augen, die zum Himmel starrten, hatten einen sonderbaren Ausdruck. Oder bildete sie sich das nur ein? Spontan kam Frauke die Frage in den Sinn, ob man dem Opfer die fürchterlichen Verletzungen bei vollem Bewusstsein beigebracht hatte. Sie ließ ihren Blick weiterwandern zu den Handgelenken. Dort waren keine Fesselungsspuren zu erkennen. Der Mann musste sich doch gewehrt haben? Dann entdeckte sie an den Oberarmen, dass der Stoff des Sakkos zerknittert war. Es sah aus, als hätte man ihn festgehalten, während … Doch das war alles hypothetisch.

»Kennen Sie ihn?«, fragte Büdinger, der neben sie getreten war.

»Nein. Nie gesehen.«

»Das ist eine merkwürdige Konstellation, die Art der Verletzung und der Fundort: genau vor der Haustür einer weiblichen Kommissarin.«

»Wenn Sie Ihre Phantasie in die richtigen Bahnen lenken, wäre es der Sache dienlicher«, sagte Frauke barsch und wandte sich an einen der Spurensicherer. »Wie sieht die Blutlache unter dem Opfer aus?«

»Endgültig können wir das erst sagen, wenn wir die Leiche beiseitegeschafft haben«, erwiderte der Mann. »Es sieht aber so aus, als ob da nichts ist.«

»Das bedeutet, dass er woanders so zugerichtet und erst nach dem Tod hierhergeschafft wurde«, überlegte sie laut. »Hatte er etwas in den Taschen, was auf seine Identität schließen lässt?«

»Zigaretten und Streichhölzer. Das ist alles. Und einen handgeschriebenen Zettel.«

»Welche Zigarettenmarke?«

»West. Mit deutscher Steuerbanderole. Und die Streichhölzer sind normale Zündhölzer ohne Werbung.« Der Beamte lächelte. »Keine Werbung einer geheimnisvollen Nachtbar auf der Verpackung, wie man es aus alten Krimis kennt.«

»War er Raucher?«

Der Spurensicherer beugte sich zu den Händen hinab. Dann nickte er. »Sieht so aus. Zeige- und Mittelfinger sind nikotingelb.«

»Was steht auf dem Zettel?«

»Keine Ahnung«, erwiderte der Spurensicherer und ergänzte, bevor Frauke nachfragen konnte: »Das ist kyrillisch.«

Frauke ließ sich die bereits in einer Tüte gesicherte Notiz zeigen.

»Und? Übersetzen Sie«, forderte Büdinger sie auf. »Oder schreibt man dort, wo Sie herkommen, anders?«

Frauke drehte sich um.

»Wann haben Sie den Bericht fertig?«, fragte sie den Hauptkommissar.

»Das interessiert Sie doch nicht.«

Sie hielt zwei Finger in die Höhe. »Können Sie das zusammenzählen? Das ist eins und eins. Falls ja, wissen Sie auch, dass ich den Bericht erwarte.« Sie sah sich um. »Haben Sie schon Zeugen gefunden?«

»Das können Sie alles im Bericht nachlesen. Jetzt sollten Sie gehen, da Sie die Arbeit der Spurensicherer und meines Teams stören.«

Sie unterdrückte eine Antwort. Hier konnte sie nichts ausrichten. Deshalb machte sie sich auf den Weg zum Landeskriminalamt.

Der unscheinbare Zweckbau mit den weißen Riemchenziegeln lag in der Schützenstraße. Hinter dem hohen Zaun kündeten nicht nur die zahlreichen Überwachungskameras, sondern auch die hohen Masten mit den starken Scheinwerferbatterien davon, dass das LKA ein besonderer Sicherheitsbereich war.

Auf dem Weg zu ihrem Büro traf sie Uschi Westerwelle-Schönbuch. Sie wechselte mit der Bürokraft ein paar Worte über das verregnete Osterfest, und ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht, da sie zwei Minuten später zu ihrem Vorgesetzten gerufen wurde. Frau Westerwelle, die das Vorzimmer des Kriminaloberrats hütete, hatte dem Dezernatsleiter von Fraukes Eintreffen berichtet. Die Mitarbeiter wussten von der Neigung der Frau »Außenministerin«, wie Frau Westerwelle insgeheim genannt wurde, auch ungefragt ihr bekannt gewordene Dinge an den Chef weiterzutragen.

Manfred Ehlers erhob sich, umrundete seinen Schreibtisch und streckte Frauke die Hand entgegen.

»Guten Morgen, Frau Dobermann. Haben Sie die Feiertage gut verlebt?«

»Danke.«

»Waren Sie über Ostern in Flensburg?«

»Hatten Sie auch ein paar ruhige Tage?«, antwortete Frauke mit einer Gegenfrage. Die Zeit nach Dienstschluss gehörte ihr. Sie sah keinen Anlass, darüber zu sprechen.

»Hauptkommissar Büdinger hat mich angerufen«, begann Ehlers ohne Umschweife. »Er hat von dem Einsatz vor Ihrer Haustür und den besonderen Umständen berichtet, die sich aus dem Zustand des Opfers ergeben.«

»Und?« Frauke zog eine Augenbraue in die Höhe. Sie war sich bewusst, dass ihre Frage zu aggressiv klang.

Ehlers ließ sich Zeit. Mit den kurz geschnittenen Haaren, die sein in der Mitte kahles Haupt krönten, und der randlosen Brille wirkte er eher wie ein Intellektueller. Das karierte Hemd war am Kragen geöffnet. Auf eine Krawatte verzichtete Ehlers, wenn nicht besondere Termine es erforderlich machten.

Der Kriminaloberrat wies auf seinen Bildschirm. »Herr Büdinger hielt es für so bedeutsam, dass er mir Bilder vom Tatort geschickt hat.«

Mit einem Anflug von Belustigung sah Frauke, wie Ehlers das Gesicht verzog. Beamte des höheren Dienstes kamen selten mit dem rauen Alltag in Kontakt. Deshalb wirkten solche Bilder auf sie genauso abstoßend wie auf unbeteiligte Bürger.

»Die Art der Verstümmelung könnte Symbolcharakter haben. Meinen Sie nicht auch?«

»Es ist außergewöhnlich. In Verbindung mit dem Fundort ist es denkbar, dass die Täter ein Zeichen setzen wollten.«

»Das Ihnen gilt.«

Frauke nickte.

»Fällt Ihnen spontan etwas ein? Könnte es in Verbindung mit einem aktuellen und vor Kurzem abgeschlossenen Fall stehen?«

»Da sehe ich keine Zusammenhänge. Natürlich hat sich in den entsprechenden Kreisen die Tätigkeit unserer Ermittlergruppe herumgesprochen.«

Der Kriminaloberrat zeigte mit der Spitze eines Kugelschreibers auf Frauke. »Die Ermittlungsgruppe Organisierte Kriminalität hat ein Gesicht: Sie!«

»Ach«, tat Frauke die Behauptung ab. »Natürlich stören wir mit unserer Arbeit gewisse Kreise. Die Gegenseite weiß, dass es ihr Risiko ist, von uns gestellt zu werden. Auch die Folgen gehören bei denen zum Geschäft. Das nimmt niemand persönlich. Selbst in den Fällen, in denen Morddrohungen gegen die ermittelnden Polizisten ausgesprochen werden, resultiert das nur aus der ersten Enttäuschung, enttarnt und gefasst worden zu sein. Hinter Gefängnismauern verraucht der Groll ziemlich schnell, zumal die Täter wissen, dass unsere Arbeit nie persönlich gemeint ist.«

Ehlers wiegte nachdenklich den Kopf. »Ähnliche Gedanken hatte ich auch.« Er zögerte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, bevor er sie zusammenpresste. Angestrengt sah er auf seinen Kugelschreiber. »Ich spreche es nicht gern an, aber könnte es sein, dass das Motiv für diesen ungewöhnlichen Mord in Ihrem Privatleben begründet ist?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Frauke, obwohl sie Ehlers’ Gedanken verstanden hatte.

»Nun ja. Enttäuschte Liebe, Zurückweisung, nicht erwiderte Zuneigung … Das erleben wir immer wieder als Motiv für Tötungsdelikte. Sie wissen, dass die Täter oft aus dem Umfeld des Opfers stammen. Kennen Sie den Toten?«

»Sie trauen mir allerhand zu«, sagte Frauke mit spöttischem Unterton.

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie sind zwar verheiratet, aber ich habe den Eindruck, Ihre Ehe existiert nur noch auf dem Papier. Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als würden Sie … nun ja … äh«, suchte der Kriminaloberrat nach den geeigneten Worten, »am Leben vorbeigehen. Sie sind eine attraktive Frau und noch nicht jenseits von Gut und Böse.«

»Sie meinen, ein abgewiesener Liebhaber könnte sich auf diese Weise dafür gerächt haben, dass ich mit einem anderen ins Bett gestiegen bin?«

Ehlers wandte den Kopf ab und sah angestrengt auf seine Schreibtischplatte. »So habe ich das nicht formulieren wollen.«

Frauke hatte ihren Vorgesetzten mit der harschen Ausdrucksweise aus dem Konzept gebracht.

»Es gehört zur Polizeiarbeit, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Wie gesagt –«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Ich stimme Ihnen zu, dass es wahrscheinlich ist, dass man den Toten nicht zufällig vor meine Haustür gelegt hat. In Verbindung mit der Tatausführung tauchen viele Fragen auf, deren Klärung mich brennend interessiert.«

»Halt!« Der Kriminaloberrat hatte seine Selbstsicherheit wiedergewonnen. Das verriet seine Stimme. »Wir sind für eine ganz bestimmte Art von Straftaten zuständig. Hier handelt es sich um einen Mord, der nicht dem organisierten Verbrechen zuzuordnen ist.«

»Und warum führen Sie eine informatorische Befragung durch?«

»So würde ich es nicht nennen«, wand sich Ehlers.

»Doch«, widersprach ihm Frauke. »Genau das haben Sie getan. Misstrauen Sie mir?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Gut. Dann lassen Sie mein Team ermitteln. Wenn man mir schon eine Leiche vor die Tür legt, möchte ich auch wissen, warum.«

»Sie werden nicht aktiv werden. Das übernimmt die zuständige Kriminalfachinspektion 1 der hiesigen Polizeidirektion. Das ist kein Diskussionspunkt. Hierzu gibt es nichts weiter anzumerken.«

Frauke stand auf. »Dieses Gespräch hat Sie Ihren persönlichen Kredit bei mir gekostet.«

»Aber, Frau Dobermann, verstehen Sie doch …«, rief er ihr hinterher, als sie das Büro verließ.

Von ihrem Schreibtisch aus loggte sie sich in das polizeiliche Informationssystem ein und suchte nach Straftaten, die ein ähnliches Muster wie der Mord von heute Morgen aufwiesen. Sie beschränkte sich zunächst auf Niedersachsen.

Es dauerte zwei Stunden, in denen sie immer wieder die Parameter veränderte, das Anforderungsprofil erweiterte, bis sie schließlich fündig wurde. Seit Karfreitag bearbeitete der Zentrale Kriminaldienst der Hildesheimer Polizeiinspektion, unterstützt von der zuständigen Fachinspektion aus Göttingen, einen merkwürdigen Todesfall. Spaziergänger hatten am Karfreitag am Kalenberger Graben in Hildesheim eine Leiche entdeckt, die fürchterlich zugerichtet war. Es handelte sich um einen unbekannten Mann.

Frauke recherchierte zunächst im Internet und rief mehrere Presseseiten auf. Neben der Boulevardpresse hatte die Hildesheimer Allgemeine Zeitung der Berichterstattung über den Vorfall viel Raum gegeben. Auch das Fernsehen hatte ausführlich darüber berichtet.

Frauke hielt einen Moment inne. Hatten sie und Georg während der vier Osterfeiertage die Welt um sich herum total vergessen, dass ihnen solch spektakuläre Ereignisse verborgen geblieben waren? Ja!, gestand sie sich ein.

Sie nahm Kontakt zur Hildesheimer Kripo auf und wurde mit Hauptkommissar Ulmer verbunden.

»Wir sind sehr beschäftigt«, begrüßte er sie unwirsch. »Wenn es möglich ist, würde ich Sie bitten, es in ein paar Tagen erneut zu versuchen.«

»Es geht um Ihren aktuellen Fall. Wir haben hier in Hannover einen ähnlichen.«

»Warum steht darüber nichts im System?«

Frauke erklärte ihm, dass der Leichenfund in Hannover ganz frisch war.

»Wer bearbeitet den? Kollege Büdinger?« Ulmer wartete die Antwort nicht ab. »Ich werde mich mit ihm kurzschließen.«

»Mich würden vorab ein paar Einzelheiten interessieren«, blieb Frauke hartnäckig.

»Beschreiten Sie den Dienstweg«, wimmelte Ulmer sie ab. »Und jetzt entschuldigen Sie mich. Aber wir stehen hier wirklich unter Zeitdruck. Da ist keine Zeit für Small Talk.« Immerhin verabschiedete er sich noch, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.

Frauke suchte den Kriminaloberrat auf. Ehlers hörte sich ihre Vermutung, dass es Zusammenhänge geben könnte, an.

»Das ist sehr vage«, meinte er.

Leider musste sie ihm recht geben. Fraukes Vermutung beruhte lediglich auf der ungewöhnlichen Tatausübung.

»Ich würde trotzdem gern untersuchen, ob wir es mit einem zweiten Mord innerhalb einer ungewöhnlichen Serie zu tun haben.«

Ehlers seufzte. »Gut. Ich werde über meine Verbindungen versuchen, etwas mehr in Erfahrung zu bringen.« Er legte die Stirn in Falten, suchte dann im Computer nach einer Telefonnummer und begrüßte einen »Hans-Dieter«.

Frauke lauschte dem einseitigen Teil eines kurzen Dialogs über Familie, Gesundheit, Hobby und Urlaub, bevor Ehlers auf die Hildesheimer Tat zu sprechen kam. Dann vernahm sie nur mehrfach ein »Ja – ja« und »Hm« oder »Verstehe«. Schließlich wünschte Ehlers dem »alten Haudegen Hans-Dieter« alles Gute. Zufrieden legte er auf.

»Das war mein Kollege aus Göttingen«, erklärte er. »Noch gibt es keine weiter gehenden Erkenntnisse. Das Opfer ist männlich. Es handelt sich vermutlich um einen Osteuropäer.«

»Moment«, unterbrach ihn Frauke. »Davon würde ich bei unserem Toten von heute Morgen auch ausgehen. Also scheint es einen Zusammenhang zu geben.«

Der Kriminaloberrat lächelte in sich hinein und faltete die Hände wie zu einem Gebet zusammen. »In Deutschland leben Millionen von Menschen, die ihre Wurzeln im Osten Europas haben.«

»Schon, aber die werden nicht innerhalb kürzester Zeit auf eine besonders perfide Weise ermordet.«

»Wenn ich meinen Göttinger Kollegen richtig verstanden habe, wurde der Hildesheimer Tote regelrecht ausgeweidet. Man hat ihm die Bauchdecke geöffnet und –« Ehlers winkte ab. »Ich glaube, ich muss es nicht im Detail erklären. Bei Ihrem Toten sah es anders aus, wenn ich Sie richtig verstanden habe«, schob er leise hinterher.

»Es wäre ein großer Zufall, wenn zwei Osteuropäer um Ostern herum auf denkwürdige Weise ermordet werden und es keinen Zusammenhang gäbe«, wandte Frauke ein. »Ich würde gern mit der Göttinger Rechtsmedizin sprechen, sofern man dort schon weiter ist.«

Ehlers stimmte zu, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das Hildesheimer Opfer gerade obduziert wurde, machte sie sich auf den Weg gen Süden.

Für die etwa einhundert Kilometer benötigte der ICE eine halbe Stunde. Die Verbindungen waren ausgesprochen komfortabel. Nahezu alle zwanzig Minuten verkehrte ein Hochgeschwindigkeitszug auf dieser wichtigen Nord-Süd-Verbindung.

Der Taxifahrer am Göttinger Hauptbahnhof zeigte sich nicht begeistert, als sie ihr Ziel nannte. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte er ungnädig. »Dafür habe ich über eine Stunde in der Schlange gewartet.«

»Sie hätten Millionär werden sollen«, antwortete Frauke. »Dann hätten Sie das nicht nötig.«

Fünf Minuten später setzte er sie am Haupteingang der Universitätsmedizin Göttingen, wie die Einrichtung hieß, ab. Widerwillig stellte er eine Quittung aus. Als er davonfuhr, ließ er betont den Motor aufheulen.

Frauke hatte Mühe, sich in dem gewaltigen Gebäudekomplex zu orientieren, bis sie schließlich in der Nähe des Westeingangs der Beschilderung »Rechtsmedizin« folgte. Sie betätigte die Klingel. Kurz darauf öffnete ein schlaksig wirkender junger Mann mit Wuschelkopf die Tür.

»Ja? Bitte?«, fragte er freundlich.

Sie stellte sich vor. »Ich möchte den Arzt sprechen, der die Obduktion des Hildesheimer Opfers durchgeführt hat.«

»Ah. Dr. Fröhlich. Kleinen Moment.« Er ließ sie vor der Tür stehen, die er sorgfältig ins Schloss fallen ließ. Wenig später erschien er erneut und forderte sie auf, ihm zu folgen.

Der Flur war weiß gekachelt. Frauke hatte oft genug bei Leichenschauen mitgewirkt. Irgendwie schien die Atmosphäre überall gleich zu sein. Während sie dem jungen Mann folgte, schmunzelte sie über den Namen des Arztes. Ein Pathologe namens Fröhlich.

Der Arzt erwartete sie in einem Büro, das er sich mit einem anderen Mediziner zu teilen schien. Er bot ihr einen Stuhl an seinem Schreibtisch an. Auf einen Händedruck verzichtete er.

»Kripo Hannover?«, fragte er. »Wie kommt das?«

»Landeskriminalamt. Uns interessiert, ob es Parallelen zu anderen Fällen gibt.«

»Aha.« Dr. Fröhlich sprach mit unverkennbarem rheinischem Akzent. Frauke schätzte ihn auf Ende vierzig. Die Haare lichteten sich. Er musterte sie durch die Gläser der dunklen Hornbrille, die fast das Gesicht beherrschte. Es wirkte, als würde er sich noch einmal kurz sammeln.

»Ein ungewöhnlicher Fall. Das Opfer ist männlich. Ich schätze, zwischen dreißig und vierzig. Größe ein Meter zweiundsiebzig. Der Allgemeinzustand … Er mag für die Gegend, aus der er stammt, befriedigend sein. Für unsere Verhältnisse würde ich sagen, er ist nicht optimal medizinisch betreut worden. Seine Unterarme, aber auch die Beine weisen viele Spuren von kleineren Verletzungen auf.«

»Schussverletzungen?«, unterbrach ihn Frauke.

Dr. Fröhlich schüttelte den Kopf. »Nein. Es sieht eher nach Verletzungen aus, die man sich bei schwerer körperlicher Arbeit holen kann. Schnittwunden, ein Unterarmbruch. Ein Leistenbruch ist nicht richtig behandelt worden und verwachsen. Den Zahnarzt scheint das Opfer nie besucht zu haben. Deutlich sind Spuren von nicht ausreichender Ernährung erkennbar.«

»Hat er gehungert?«

»Nein. Aber der Körper wirkt ausgemergelt. Wäre er älter, hätte er sicher massive gesundheitliche Probleme bekommen. So hat er es dank der in diesem Alter noch vorhandenen Widerstandsfähigkeit wegstecken können.«

»Was war die Todesursache?«

Dr. Fröhlich schob mit dem Mittelfinger die Brille hinauf. »Das kann ich noch nicht sagen. Dazu ist die toxikologische Untersuchung erforderlich.«

»Er wurde vergiftet?«

»Könnte man vermuten. Merkwürdig ist, dass ihm im rechten Ellenbogen ein Zugang gelegt wurde.«

»Ein … was?« Frauke war überrascht.

»Sie haben richtig gehört. Jemand, der etwas davon versteht, hat eine Venüle zur intravenösen Applikation von Medikamenten gelegt.«

»Die war noch vorhanden?«

Der Arzt nickte. »Richtig. Das macht kein Laie. Das war jemand, der etwas davon verstand.«

»Ein Arzt oder eine Krankenschwester?«

»Kann sein. Aber kein sehr guter. Ich habe festgestellt, dass beim Legen des Zugangs mit der Kanüle herumgestochert wurde, bis die Vene gefunden wurde. Aber das passiert täglich in zahlreichen Arztpraxen und Krankenhäusern.«

»Und darüber wurde ein Gift oder tödlich wirkendes Medikament gespritzt?«

»Das wäre denkbar. Aber dazu müssen wir das Ergebnis der toxikologischen Untersuchung abwarten.«

»Hat sich das Opfer gewehrt?«

»Ich habe keine derartigen Spuren festgestellt.«

»Das würde heißen, dass sich der Tote freiwillig den Zugang hat legen lassen.«

»Denkbar.«

»Aber warum?«

Dr. Fröhlich zuckte mit den Schultern. »Das passt ins Bild. Schließlich hat man dem Opfer die Bauchdecke geöffnet und es innen, wenn ich es sarkastisch formuliere, ausgeweidet.«

»Können Sie das etwas genauer erklären?«, bat Frauke.

Erneut schob Dr. Fröhlich die Brille die Nase hinauf. »Dem Toten fehlen Herz, Lunge, Nieren und Leber.«

Frauke fragte ungläubig nach, aber der Rechtsmediziner bestätigte es noch einmal. »Die Organe sind verschwunden.«

»Was macht man damit?«, fragte Frauke mehr sich selbst.

»Ich bin kein Psychologe. Ein religiöses Ritual? Sollte etwas geopfert werden? Ein kranker Täter? Ein wenig weiter südlich von Göttingen gab es den spektakulären Fall, dass jemand aus sexuellen Motiven eine Internetbekanntschaft mit dessen Zustimmung aufgegessen hat.«

»Der Kannibale von Rotenburg«, erinnerte sich Frauke. Dann sah sie Dr. Fröhlich an.

»Konnten Sie feststellen, ob derjenige, der diese Tat vollbracht hat, ein Arzt war?«

Dr. Fröhlich verzog das Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher. Grundlegende anatomische Kenntnisse waren sicher vorhanden. Dafür sprechen die Schnittränder. Offenbar wurde auch medizinisches Gerät verwandt. Es ist schlecht zu beurteilen. Also ich würde mich von einem solchen Chirurgen nicht operieren lassen. Das war stümperhaft. Ich hätte meine Zweifel, ob der Akteur den Patienten im Ernstfall wieder zusammengeflickt bekommen hätte.«

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber könnte es ein Pathologe oder ein Sektionsgehilfe gewesen sein?«

Dr. Fröhlich maß sie mit einem langen Blick. »Ich würde mich dagegen verwahren, dass man mir oder meinen Kollegen aus der Rechtsmedizin solch stümperhafte Arbeit unterstellt. Auch wenn unsere Kunden schon tot sind, gehen wir anders vor.«

»Danke«, sagte Frauke.

»Wollen Sie das Opfer noch einmal sehen? Noch liegt es auf dem Seziertisch.«

Frauke winkte ab. Eine Inaugenscheinnahme hätte ihr keine weiteren Erkenntnisse vermittelt. »Eine Frage habe ich noch. Ist das Opfer im Genitalbereich verstümmelt worden? Unser Fall in Hannover wies solche Verletzungen auf.«

»Das trifft hier nicht zu«, erklärte Dr. Fröhlich.

»Könnten Sie – rein hypothetisch – sich der Vermutung anschließen, dass es sich um einen ethnischen Osteuropäer handelt? Russland? Weißrussland? Ukraine? Kasachstan?«

»Es ist gewagt, wenn ich jetzt ›Ja‹ sage. Aber ein Schwede ist das nicht.«

»Hat man beim Toten Hinweise auf seine Herkunft gefunden? Papiere? Sonstige Gegenstände?«

»Nein. Nicht dass ich wüsste. Nur die Etiketten in der Kleidung waren in fremder Sprache abgefasst.«

»Mit kyrillischen Schriftzeichen?«, fragte Frauke und dachte an den Zettel in der Tasche des Hannoveraner Opfers.

»Nein. Alles in unserer Druckschrift.«

»Gab es andere Merkmale beim Toten? War er abhängig von Rauschgiften? Tätowierungen?«

»Ich habe keine Anzeichen dafür gefunden, dass er an der Nadel hing. Und Tattoos hatte er auch keine.«

»Die sind häufig bei Leuten anzutreffen, die sich in dunklen Kreisen bewegen und selbst als Straftäter in Erscheinung getreten sind«, sagte Frauke mehr zu sich selbst.

Dr. Fröhlich lächelte amüsiert. »Heißt das, dass jeder, der ein Tattoo hat, ein potenzieller Straftäter ist?«

Frauke wehrte die Frage mit einem Lächeln ab. »Um Himmels willen. So ist das nicht zu verstehen. Aber wir treffen selten auf Leute, die sich in der kriminellen Szene tummeln und keine Tätowierung haben. Daraus darf man aber nicht im Umkehrschluss folgern, dass –«

Der Arzt winkte ab. »Ich habe Sie schon verstanden.«

»Ich stelle nur hypothetische Überlegungen an«, sagte Frauke. »Die sind nicht durch Fakten abgesichert. Das Opfer scheint aus Osteuropa zu stammen. Es wirkt, nach unseren Maßstäben, unzureichend ernährt, scheint aber harte körperliche Arbeit gewohnt zu sein. Die Kleidung und der Allgemeinzustand könnten vermuten lassen, dass es sich um jemanden handelt, der eher aus einfachen Verhältnissen stammt. Vielleicht würden wir es mit ›Landbevölkerung‹ umschreiben.«

»Das ist alles sehr gewagt, aber ich kann Ihren Ausführungen nicht widersprechen«, sagte Dr. Fröhlich.

Frauke bedankte sich. Den Weg zum Bahnhof legte sie zu Fuß zurück.

Wenig später saß sie im Zug nach Hannover. Im LKA rief sie die Mitarbeiter ihres Teams im Besprechungsraum zusammen. Auch Kriminaloberrat Ehlers war zugegen.

»So geht das aber nicht«, beklagte sich Kriminalhauptmeister Putensenf. »Wir rackern uns hier ab, und Sie gondeln durch unser schönes Niedersachsen.«

»Das noch attraktiver dadurch wird, dass Sie hier im Hause arbeiten und nicht da draußen herumlaufen.«

»He, he. So nicht.«

Frauke baute sich vor dem Kriminalhauptmeister auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Wie groß sind Sie, Putensenf? Und wie alt?«

»Was soll das jetzt?«

»Ich denke, Sie sind groß und alt genug, um selbstständig arbeiten zu können.«

»Herrschaften!« Ehlers klopfte mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Das ist kein Kindergarten.«

Frauke setzte sich und berichtete vom Fund des Toten in Hannover und von ihrem Besuch in Göttingen.

»Zwei Tote sind schon ein Fall von organisierter Kriminalität«, moserte Putensenf.

»Jakob. Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?«

Die Augen aller Anwesenden wanderten zum schwergewichtigen Nathan Madsack. Der Hauptkommissar, wie immer adrett in einem heute mittelbraunen Sakko mit einem zartgelben Hemd und passender Krawatte, war sonst ein Mann der eher leisen Töne. Deshalb traf ihn auch ein irritierter Blick Putensenfs.

Immerhin ersparte Madsacks Zurechtweisung Frauke eine Antwort auf Putensenfs Einwurf.

»Bei beiden Opfern haben wir es mit ungewöhnlichen Schändungen des Körpers zu tun«, fuhr Frauke fort.

»Aber doch in unterschiedlicher Art und Weise«, warf Madsack ein.

Frauke nickte. »Stimmt. Aber vermutlich stammen beide aus Osteuropa.«

»Haben die es Ihnen erzählt?« Putensenf verschränkte die Arme vor der Brust und sah Frauke herausfordernd an.

»Ja«, antwortete Frauke und schmunzelte über Putensenfs verständnislosen Gesichtsausdruck. Mit dieser Erwiderung konnte er nichts anfangen.

Frauke erklärte, worauf sich ihr Verdacht stützte.

Madsack hatte aufmerksam zugehört. Er wies auf die fehlende Übereinstimmung hin. »Der eine hatte Etiketten in der Kleidung, die in lateinischer Schrift gedruckt waren. Beim anderen wurde ein Zettel mit kyrillischen Schriftzeichen gefunden. Ist das nicht ein Widerspruch? Zumindest deutet das auf zwei unterschiedliche Länder hin.«

Frauke rief eine Kopie des Bildes, das die Spurensicherer von dem Zettel aufgenommen hatten, auf den Bildschirm ihres Notebooks.

»Wir wissen noch nicht, was das heißt«, sagte Frauke.

»Die kann doch Schwarczer übersetzen«, knurrte Putensenf. »Der ist doch Russe.«

Der junge Kommissar funkelte Putensenf aus seinen dunklen Augen an. Er antwortete aber nicht.

Frauke sah der Reihe nach die Mitglieder des Teams an. »Putensenf wird uns in der nächsten Zeit nur vormittags zur Verfügung stehen«, sagte sie gedehnt.

»Hä?« Der Kriminalhauptmeister war erstaunt.

»Er wird nachmittags einen Volkshochschulkursus besuchen, in dem geografisches Grundwissen vermittelt wird, zum Beispiel, dass Hannover nicht in Kasachstan liegt. Sie wissen doch, wo der Kollege Schwarczer geboren wurde.«

Putensenf schluckte heftig, während Madsack breit grinste und selbst Schwarczer den Anflug eines Lächelns zeigte.

»Ich habe die Übersetzung in die Wege geleitet«, erklärte Frauke. »Vielleicht bringt sie uns eine neue Erkenntnis. Mehr wissen wir derzeit noch nicht. Es gibt auch noch keine Hinweise auf die Identität der Opfer. Wir werden jetzt wie folgt vorgehen: Madsack recherchiert, ob es weitere Todesfälle gibt, die Ähnlichkeiten mit diesen beiden Fällen aufweisen.« Sie verschwieg dabei, dass sie selbst bereits gesucht hatte. Vielleicht fand der Hauptkommissar andere Zusammenhänge. »Putensenf sucht das KTI auf«, damit meinte sie das Kriminaltechnische Institut des LKA, »und besorgt die Auswertungen der Fingerabdrücke und der DNA

»Hochspannend«, knurrte der Kriminalhauptmeister.

»Schwarczer versucht, etwas über die kyrillische Schrift in Erfahrung zu bringen. Außerdem kümmern Sie sich um die Etiketten der Kleidung. Und zwar beider Opfer.«

»Und was machen Sie?«, wollte Putensenf wissen.

Frauke lehnte sich zurück. »Sie wissen doch immer ganz genau, was Frauen machen, die bei der Kripo tätig sind.«

»Und das wäre?«

»Ich gehe Schuhe kaufen.«

»Moment.« Ehlers zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. »Wer hat eigentlich gesagt, dass wir in diesen Fällen ermitteln?«

Frauke lächelte ihren Vorgesetzten charmant an. »Ich gehe davon aus, dass Sie das Verfahren an sich ziehen.«

Der Kriminaloberrat stöhnte theatralisch auf. »Darüber sprechen wir noch.«

Anschließend fuhr Frauke zur Lister Meile. Ihr Bemühen, von Büdinger Einsicht in die Vernehmungsprotokolle der Zeugen zu erhalten, war gescheitert. Sie hatte nicht einmal die Namen erfahren. Der Hauptkommissar hatte sich schlicht geweigert.

Sie fand einen Parkplatz direkt vor ihrer Wohnung. Die Mitbewohner des Hauses, die sie befragte, hatten nichts bemerkt. Lediglich im gegenüberliegenden Seniorenstift hatte sie Glück.

Bruno Seydlitz hieß der alte Herr, zu dem sie eine Mitarbeiterin der Einrichtung führte.

»Ja. Ich habe alles genau gesehen«, sagte er mit seiner dünnen Stimme. »Ich habe gestern die Nachrichten gesehen. Adenauer und Schmidt waren bei de Gaulle. Sie haben den deutsch-französischen Vertrag geschlossen. Das war im Januar 1963 im Élysée-Palast.« Er beugte sich vor und fasste sich an den Kopf. »Da ist alles drin. Ich habe nichts vergessen. Kaum jemand erinnert sich an das entscheidende Spiel Deutschland gegen Schweden während der Weltmeisterschaft 1958, als unser Verteidiger Juskowiak vom Platz gestellt wurde.«

»Schön, Herr Seydlitz. Aber was haben Sie heute Nacht beobachtet?«

»Heute Nacht?«, wiederholte der Greis. Dann bewegte er heftig den Kopf. »Da war Robert Lembke.«

»Ich meine, draußen auf der Straße. Genau gegenüber wurde ein Bündel abgelegt. Haben Sie das mitbekommen?«

Erneut nickte er. »Ja. Genau.«

»Und was ist Ihnen aufgefallen?«

»Mir? Alles. Das war wie mein Nachbar Walter Basedow. Die sind nach dem Krieg aus …«

Frauke wollte den Redefluss des alten Mannes unterbrechen, aber der erzählte ihr bis ins kleinste Detail längst vergangene Begebenheiten aus seinem Leben.

»Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?«

Er sah sie mit großen Augen an. »Heute? Jaaa. Heute ist ein Tag.«

Es fiel Frauke schwer, Bruno Seydlitz mit seinen Erinnerungen allein zu lassen. Warum hatte man ihr nicht gesagt, dass der alte Herr dement war und sich nur an Vergangenes erinnern konnte?

»Manchmal hat er lichte Momente«, entschuldigte sich die Pflegerin. »Aber versuchen Sie es doch einmal bei Frau Becher.«

»Ist die auch dement?«

Frau Becher saß in einem Stuhl am Fenster und hatte eine Wolldecke über die Beine gebreitet. Frauke lauschte geduldig dem ausführlichen Bericht über die schmerzhafte Rheumaerkrankung der Seniorin, bis sie die entscheidende Frage stellen konnte.

»Dr. Krüger versucht alles Mögliche, aber gegen die Schmerzen ist er machtlos. So stehe ich nachts manchmal auf, weil ich nicht mehr liegen kann. Das war auch in der letzten Nacht der Fall. Ich habe draußen ein Geräusch gehört und zuerst gedacht, das ist der Zeitungslieferant. Aber er war es nicht. Komisch, habe ich noch überlegt. Mitten auf der Straße hat eine Art Lieferwagen gehalten, direkt vor den Betonpollern beim Imbiss.«

»Was für einer?«, unterbrach Frauke die Frau.

Sie lächelte, dass sich die zahlreichen Falten im Gesicht verzogen.

»Das weiß ich nicht. Da kenne ich mich nicht aus. Das war so ein kleiner Lieferwagen, mehr ein Personenwagen. Wie heißen die noch gleich?«

»Kombi«, half Frauke aus.

»Richtig. Ich kam nicht drauf. Ich habe meine Lesebrille aufgehabt. Deshalb konnte ich es auch nicht genau erkennen.«

»Haben Sie die Farbe gesehen? Das Kennzeichen?«

Erneut huschte ein Lächeln über das Antlitz der alten Dame. Das reichte als Antwort. »Der Wagen hielt mitten auf der Straße. Dann stieg ein Mann aus, öffnete die hintere Klappe, zog ein Bündel heraus und schleifte es an die Hauswand. Warum legt der das dorthin?, habe ich mich noch gefragt. Aber der Mann ist wieder eingestiegen und davongefahren.«

»Haben Sie irgendjemandem Ihre Beobachtungen mitgeteilt? Zum Beispiel meinen Kollegen von der Polizei?«

»Hier war keiner. Mich hat niemand befragt.«

»Wann war das etwa?«

»Zehn Minuten nach fünf.«

Frauke sah sie erstaunt an.

»Ich hatte auf die Uhr gesehen«, erklärte Frau Becher.

Zum Abschied lud sie Frauke ein, sie erneut zu besuchen. Frauke stimmte mit schlechtem Gewissen zu. Sie wusste, dass das nicht der Fall sein würde.