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Die wirklich wichtigen Fragen bleiben immer ein Geheimnis.

MONSIEUR JEAN

HERBSTTAGE

Als die Türen sich zum letzten Mal hinter Monsieur Jean schlossen, stieg gegenüber ein Schwarm Tauben auf und verlor sich über den Dächern der Bahnhofstraße. Es war einer jener heiter-melancholischen Herbsttage, mit denen die Stadt so reichlich gesegnet war. Normalerweise wäre Monsieur Jean nun hinuntergegangen ans Ufer der Limmat, um sich auf einen Kaffee zu Jacques zu setzen, dem guten Geist seiner blauen Stunden. Doch Jacques hatte er vor wenigen Wochen zu Grabe getragen und das Bistro war verwaist, würde vermutlich in die Hände eines reichen Investors fallen, der daraus ein Touristenlokal machte – oder Schlimmeres.

Also schlug der alte Mann den Weg zum See hin ein und überquerte die Straße, um am Ufer ein Stück spazieren zu gehen, vorbei an den Straßenhändlern und den Liebespaaren. An einem Kiosk hielt er inne und überlegte, ob er sich ein Eis kaufen sollte. Doch dann gab er den Franken, den er schon in der Hand hatte, einer Frau, die – ihr Kind im Arm – am Boden saß und bettelte.

Es war ein besonderer Tag im Leben von Jean Picard, den alle seit vielen Jahren nur »Monsieur Jean« nannten: Es war der Tag seines Abschieds aus dem Hotel. Dreiundvierzig Jahre, länger als jeder andere, hatte er im Tour au Lac gearbeitet, jenem legendären Grandhotel am Zürichsee. Dreiundvierzig Jahre, in denen er selbst zur Legende geworden war, Zeit, in der sein Leben durch das Leben anderer bestimmt worden war. Ein Umstand, der ihm nie Probleme bereitet hatte. Im Gegenteil: Er hatte es stets als ein Privileg betrachtet, das Leben anderer Menschen ein wenig schöner machen zu dürfen.

Außerdem half es ihm, seine eigene Legende aufrechtzuerhalten. Denn er war keineswegs als Jean Picard zur Welt gekommen, sondern weit weg von Frankreich oder gar der Schweiz – und noch viel weiter entfernt vom Reichtum, der ihn in den Zürcher Jahren umgeben hatte. Tatsächlich stammte Giacomo Piccoli aus dem Süden Italiens. Er war einer ärmlichen Kindheit entflohen und hatte sich nach Norden durchgeschlagen, zuerst nach Frankreich, schließlich in die Schweiz. Und nur einem glücklichen Zufall – und seinem alten Freund Jacques – war es zu verdanken, dass er hier hatte bleiben und sich in einem ruhigen, ehrenhaften Leben einrichten können. Denn einige Zeit lang hatte seine Existenz eine wenig glückliche Wendung genommen und ihn auf einen Weg gebracht, den man mit Fug und Recht als den falschen Pfad bezeichnen konnte. Ein Mensch ist so lange Spielball seines Schicksals, bis er es selbst in die Hand nimmt. Und manchmal kann dieses Schicksal die dunkelsten oder doch die beschämendsten Eigenschaften eines Menschen hervorlocken 

All dies ging ihm durch den Sinn, als er auf den See hinausblickte und die Boote betrachtete, deren weiße Segel sich in der milden Abendbrise blähten. Zu dieser Zeit hatte er in den zurückliegenden Jahrzehnten den anderen Weg gewählt, hin zum Hotel, wo er als Nachtmanager dafür sorgte, dass die Gäste Ruhe oder Aufregung genießen konnten, gerade so, wie sie es wollten.

Er war sehr gerne Concierge gewesen. Die Uniform verlieh ihrem Träger eine gewisse Würde. Man begegnete ungewöhnlichen Menschen. Jeder Tag oder – wie in seinem Fall – jede Nacht war anders. Es gab eine elegante Routine, doch durch Routine wurde man noch kein guter Concierge. Gut, wirklich gut wurde man dadurch, dass man über der Routine stand, dass man Situationen erkannte und sich in Menschen einfühlen konnte. Und Monsieur Jean war ein guter Concierge. Der Beste. Er verstand die Menschen nicht nur, er liebte sie. Auch jene, die schwierig waren. Gerade die. Sie waren seine größten Herausforderungen. Ihnen verdankte er, dass er nicht stehengeblieben war, dass er sich nicht bequem in Mittelmäßigkeit eingerichtet hatte. Vielleicht verdankten sie seine Fürsorge auch ein wenig der vagen Erinnerung an die Zeiten, in denen er selbst ein schwieriger Fall gewesen war.

Die schräge Sonne warf Goldstaub über den See. Ringsumher leuchteten die Gesichter rot. Wie oft hatte er diese Szene gesehen. Doch an jenem Abend betrachtete er sie mit anderen Augen. Von nun an würde er jederzeit am See spazieren gehen können. Er würde jederzeit ein Eis essen oder den Booten zusehen können. Leider. Andere waren glücklich über ihren Ruhestand, Monsieur Jean war es nicht. Als ihn das Management nach oben zitiert hatte, hatte er eine Lagebesprechung erwartet, wie sie vor wichtigen Staatsbesuchen oder bei größeren Veränderungen im Hotel üblich waren. Stattdessen hatte er allein in Herrn Dr. Toblers Büro gestanden, und da war es ihm auf einmal klar geworden: Es geht um mich.

Es wäre ein Missverständnis, Zürich für ein Paradies der Reichen zu halten. Das ist die Stadt natürlich auch. Aber längst nicht jeder Einwohner dieser vermutlich kleinsten Weltstadt der Welt ist reich. Wie überall, so gilt auch hier, dass große Reichtümer nur dort aufgehäuft werden können, wo es genügend Menschen gibt, die sich dafür mit relativ wenig begnügen müssen, um ihr Auskommen zu finden. Anastasia Feodora Baljanina war so ein Mensch. Sie war nicht arm, aber irgendwie doch das Gegenteil von reich, zumindest was den Reichtum im materiellen Sinn betrifft. Als ihre Eltern unter großen Entbehrungen aus der Ukraine in die Schweiz ausgewandert waren, war Ana noch ein Kind gewesen. Sie war in einem Zürcher Vorort eingeschult worden und hatte später in einem anderen Zürcher Vorort die Matura erworben. Nach zwei Semestern Biochemie hatte sie das Studium jedoch abgebrochen und war Hals über Kopf in das Land ihrer Herkunft gereist – mitten in eine politisch schwierige Zeit, in der sich die Menschen der längst Verstorbenen wegen mit den Lebenden nicht mehr vertragen mochten. Sie blieb ein halbes Jahr, um festzustellen, dass es nichts gab, was sie mit der Ukraine verband außer einer gewissen Sentimentalität, die mit der Erinnerung an ein Haus und einen Spielplatz zusammenhingen, die beide nicht mehr existierten.

Als eine große romantische Liebe sich als eine kleine egoistische Affäre entpuppte, hielt sie nichts mehr in der fremd gewordenen Heimat, und sie beschloss, in die heimatliche Fremde zurückzukehren. Denn, man muss sich da nichts vormachen: Wer in der Schweiz lebt und Anastasia heißt, hat entweder sehr viel Geld und wird entsprechend hofiert, oder er arbeitet als Putzfrau. Günstigstenfalls. Entsprechend begegnen einem die Menschen. Mit gemischten Gefühlen saß deshalb Ana im Nachtzug von Kiew nach Warschau. Und seltsam innerlich aufgewühlt stieg sie dort in den Zug nach Berlin um, der sie über Mannheim und Basel nach Zürich bringen würde.

Zumindest hatte sie einen Begleiter gefunden, der ihr die Zeit vertrieb und die düsteren Gedanken. Einen Begleiter voller Geist und Witz, voller Charme und Esprit, einen Verzweifelten, der sich doch über jede Erniedrigung mit unerreichter Größe hinwegsetzte und sich die Welt ganz nach seiner eigenen Vorstellung formte (wiewohl Ana sein letztlich doch sehr trauriges Ende nicht kannte und vielleicht anders geurteilt hätte, wäre es ihr bekannt gewesen). So aber genoss sie seine Gegenwart, die ihr in Form eines sehr gefälligen, in rotes Leinen gebundenen Buches die Zeit vertrieb: Das Chagrinleder oder: Die tödlichen Wünsche, ein kleiner Roman des wundervollen Honoré de Balzac, der die Geschichte eines jungen Menschen erzählt, dem dank eines zauberischen Talismans jeder Wunsch erfüllt wird. Der Haken an der Sache besteht darin, dass der Talisman, die lederne Haut eines Esels, mit Erfüllung jedes Wunsches schrumpft – und mit ihm die Zeit, die dem Inhaber des faszinierenden Glücksbringers noch auf Erden bleibt. Segen und Fluch also gleichermaßen, wie so vieles auf unserem Planeten.

Lange saß Ana in ihrem ansonsten leeren Abteil und blickte hinaus in die nächtliche Landschaft, in der nur gelegentlich die Lichter eines Dorfes oder eines Bahnhofs vorbeiflogen. Sie dachte darüber nach, wie es wohl wäre, einen solchen Talisman zu besitzen. Bis sie auf die Lösung des Dilemmas kam: Es brauchte keine Eselshaut. Man musste sich seine Wünsche selbst erfüllen. Das war der Zweck des Lebens. Es ging nicht darum, so zu leben, wie andere es sich vorstellten, es ging darum, ein eigenes Leben zu entwerfen und diesem Plan dann zu folgen! Ja, auch sie war, wie sie jetzt erkannte, ihres eigenen Glückes Schmiedin. Sie musste nicht Biochemie studieren, nur weil ihre Mutter das gerne getan hätte, aber keine Möglichkeit dazu gehabt hatte. Sie musste nicht in die Ukraine zurückkehren, nur weil ihr Vater verstorben war, ehe er sich diesen Wunsch erfüllen konnte. Was sie tun musste, war: zu leben, wie sie sich ihr Leben vorstellte. Und damit würde sie in dem Augenblick beginnen, in dem sie auf dem Bahnsteig in Zürich ausstieg.

So kam es, dass Anastasia Feodora Baljanina wenige Stunden später vollkommen neue Pläne für ihr Leben fasste.

Die Tage würden sich umwenden, soviel war klar. Während Monsieur Jean viele Jahre lang seinen »Tag« begonnen hatte, wenn andere den ihren beendeten, würde er von nun an wieder morgens aufstehen und abends zu Bett gehen. Es würde ihm nicht leichtfallen, zumindest für einige Zeit. Doch es war Monsieur Jeans innerste Überzeugung, dass Dinge ganz einfach getan und geregelt werden mussten.

Also lenkte er seine Schritte nach Hause, zu seiner kleinen Wohnung auf der anderen Seite des Flusses. Er lebte im dritten Stock eines alten Hauses in einer der verwinkelten Gassen hinter dem Großmünster in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, die er sich mit mehreren Topfpflanzen und einer unübersehbaren Zahl von Büchern und Schallplatten teilte.

»Ah, Herr Picard«, begrüßte ihn die Hausmeisterin, die, wie nahezu immer, am Fenster stand und die schmale Straße entlangschaute, um die Touristen zu beobachten, die in Scharen durch die Münstergasse zogen und sich bisweilen auch hierher verirrten, um mit ihren Fotoapparaten den Charme der verfallenden Fassaden der Altstadt festzuhalten und zu bewundern. »Heute nicht bei der Arbeit?«

»Nein, Madame«, antwortete Monsieur Jean und hob seinen Hut gerade so viel, dass ein leichter Lufthauch über die wenigen Haare strich, die ihm verblieben waren. Sie trug das geblümte Kleid, eigentlich nur ein Kittel, doch er mochte es, die Farben harmonierten wunderbar mit ihren tiefblauen Augen und dem Hauch von Kupfer, der in ihrem langsam verblassenden Haar schimmerte. »Heute nicht.«

»Man muss auch mal freihaben«, stellte die schmale, beinahe zierliche Frau fest, als hätte sie ihm erlaubt, heute Urlaub zu nehmen. Sie mochte es, wenn er sie »Madame« nannte. »Frau Fuchs« hätte weit weniger vornehm geklungen.

Monsieur Jean nickte nur und trat in das Dunkel des jahrhundertealten Treppenhauses, wo ihm der Geruch gediegener Schweizer Küche entgegenschlug: Brave Hausfrauen erwarteten ihre Männer nach der Arbeit mit selbstgekochtem Essen zu Hause. Das Leben verlief hier nach überkommenen Regeln, die sich längst nicht so schnell änderten wie anderswo auf der Welt. Monsieur Jean war eine Ausnahme in diesem Haus. Alleinstehende Männer gab es hier sonst nicht. »Sie sind mit Ihrem Beruf verheiratet«, pflegte die Hausmeisterin gelegentlich festzustellen. Und auch dann nickte Monsieur Jean, lächelte und ging seiner Wege.

Er machte kein Licht in der Wohnung. Durch eines der Fenster fiel ein greller Lichtstreifen, der das gegenüberliegende Dach gerade noch überwand, auf einen Winkel der Decke, wo der schmale Stuckrand abbröckelte. Seufzend legte Monsieur Jean seinen Hut auf die Kommode neben der Tür und ließ sich dann auf einen der beiden Stühle in der Küche sinken. »Zwei Stühle«, murmelte er. Wozu überhaupt hatte er zwei Stühle? Solange er sich zurückerinnern konnte, hatte niemals jemand mit ihm in dieser Küche gesessen. Nicht, seit seine Frau gestorben war. Und das war achtundzwanzig Jahre her.

»Achtundzwanzig Jahre und elf Tage.«

Er nahm den Teekessel zur Hand und betrachtete sich in dessen mattem Silberglanz: Sein Kopf war oben fast kahl, nur wenige weiße Haare umschwebten ihn. Er war alt geworden. Müde sah er aus, viel müder, als er sich fühlte. Gefühlt hatte. Bis gestern. Jetzt, da er plötzlich nicht mehr gebraucht wurde, spürte er, wie die Jahre ihn hinabzerrten. Sie hängten sich wie Gewichte an ihn, die er früher nicht bemerkt hatte.

Er stand auf und ließ Wasser in den Kessel, setzte ihn auf und gab Tee in die Kanne. Einen kräftigen schwarzen Tee würde er sich machen, einen Earl Grey, wie ihn einer seiner Stammgäste immer erwartet hatte, wenn er spätabends aus der Oper gekommen war: Enzo Rinaldi, ein großer Tenor, der – anders als alle anderen Gäste des Hauses – schon nach wenigen Bemerkungen von ihm erkannt hatte, dass »Monsieur Jean« keineswegs aus Frankreich oder der französischen Schweiz stammte, sondern aus Italien. »Un figlio della patria«, hatte er gesagt und ihn zu einer Vorstellung des Rigoletto im Opernhaus eingeladen.

Dass Monsieur Jean Italiener war, hatte Rinaldi für sich behalten, vielleicht war es für ihn auch einfach kein Thema gewesen. Seit jenem Abend war die Oper die große Liebe des Concierges geworden. Und Enzo Rinaldi hatte nach jedem Auftritt eine Kanne feinsten Earl-Grey-Tees auf seinem Zimmer vorgefunden, daneben ein Kärtchen mit den Worten: Con gran ammirazione – Mit der größten Bewunderung.

Nun also war alles das Vergangenheit, was Monsieur Jeans Leben ausgemacht hatte: die Zuvorkommenheit am Empfang, die Wünsche und Aufträge am Haustelefon, die späten Ankömmlinge, die frühen Abreisenden mit ihren Koffern und ihrer Verwirrung, der Glanz des luxuriösen Hotels, der Glamour der berühmten Gäste, die Bewunderung und die Diskretion, die Fürsorge und die strenge Organisation. Alles vorbei. Zeit, die Jahre in einem Rückblick zu betrachten? Monsieur Jean saß in seiner Küche, beobachtete den Sonnenstreifen an der Decke, der zu einem schmalen Blitz zusammengeschmolzen war, und den Dampf des Tees, der sich aus seiner Tasse in die hereinbrechende Dunkelheit emporkringelte. Nein, dachte er, dafür ist es zu früh. Er hatte nie zurückgeblickt und würde es auch jetzt nicht tun. Der Unterschied zu gestern war, dass er mit einem Mal nicht mehr wusste, was am nächsten Tag geschehen würde.

Er hatte beim besten Willen keine Ahnung, was er mit all der Zeit anfangen sollte, die ihm nun auf Erden noch blieb. Er wusste ja nicht einmal, wie viel Zeit es war. Nun, immerhin gab es ein paar Dinge, die er noch zu erledigen hatte. Denn einfach so gehen, das wäre nicht sein Stil gewesen. Monsieur Jean war stolz darauf, Angelegenheiten stets zu einem Ende zu bringen. Zu einem guten Ende. Und es gab da einiges, was offen geblieben war.

Er nahm noch einen Schluck Tee, pflückte seinen Mantel vom Haken hinter der Tür, warf ihn sich über, setzte seinen Hut auf und verließ seine kleine Wohnung, um sich ans Werk zu machen.

DELIKATE FRAGEN

Zürich bei Nacht ist eine Schönheit. Die Stadt leuchtet in zartem Gold. Der hektische Verkehr lässt nach, auf den Straßen und Plätzen flanieren Passanten, vom See her weht ein sanfter Wind, und die großen, prachtvollen Gebäude der Stadt erheben sich majestätisch über Fluss und Tal, beflaggt in Weiß und Rot und voller Stolz auf die geglückte Gegenwart.

Monsieur Jean ließ die Tram passieren, sah ihr hinterher und bemerkte zum ersten Mal, dass beinahe alle, die damit fuhren, alleine unterwegs waren. Er machte noch eine Besorgung in einem kleinen Lokal in der Schneggengasse, wo es auch Wein zu kaufen gab, überquerte dann, zwei Papiertüten in der Hand, den Fluss am Rathaus und schlug den Weg am Kai entlang zum Sprüngliplatz ein. Wenig später trat er durch die Tür des Tour au Lac und warf einen Blick in die Runde. Es mochte nur wenige Stunden her sein, dass er das Gebäude verlassen hatte. Doch es war in einem anderen Leben gewesen.

Ein Page eilte herbei. »Monsieur Jean …«, sagte er. Doch der so Angesprochene hob nur leicht die Hand und erwiderte: »Ich denke, ich weiß, wo die Halle ist.« Und er ging hinüber in die Hotellobby und setzte sich an einen Tisch, von dem aus er das Kommen und Gehen gut beobachten konnte, bestellte sich eine heiße Schokolade, stellte die Papiertüten neben sich auf den Boden und nahm sein Notizbüchlein zur Hand, in dem er seit Jahren alle Besonderheiten, Vorlieben und Empfindlichkeiten seiner wiederkehrenden Gäste festhielt.

Aus Lyon war am Vortag – oder vielmehr in der letzten Nacht, als er noch seinen Dienst als Concierge versehen hatte – ein Ehepaar angereist, das er seit vielen Jahren kannte. Der Mann war Unternehmer, reich, erfolgreich und gewöhnt, dass die Welt sich nach seinem Willen formte, die Frau war nur wenige Jahre jünger als er und welkte an seiner Seite langsam dahin, da sie aus nichts als altbekannter Schönheit bestand, die mit der Zeit immer größerer Anstrengungen bedurfte. Oftmals war Madame des Nachts noch auf einen einsamen Spaziergang durchs Foyer geschritten, die schmalen Schultern mit einem seidenen Schal bedeckt. Manchmal hatte Monsieur Jean ihr einen Schirm mit auf den Weg gegeben: »Es könnte regnen, Madame.«

»Danke, wie aufmerksam von Ihnen.«

»Wünschen Sie ein Taxi?«

»Nein, ich möchte mir nur ein wenig die Füße vertreten.«

Dann war sie hinausgegangen in die Nacht, doch bald schon wieder zurückgekehrt, hatte sich ein Glas warme Milch aufs Zimmer bestellt und gelegentlich auch eine Schlaftablette, während ihr Mann, kaum dass sie eingecheckt hatten, schon zu geschäftlichen Terminen unterwegs war und oft erst in den frühen Morgenstunden wiederkam. Monsieur Jean fragte sich, wozu er seine Frau dabeihatte, wenn er doch nie Zeit für sie hatte. Gewiss, sie ging einkaufen, wie es die meisten Frauen taten, die im teuren Tour au Lac abstiegen. Man konnte es sich leisten, man hatte Zeit. Vielleicht war es aber doch auch die Frau, die ihn ganz einfach gerne begleiten wollte.

Während er noch darüber nachdachte, stellte das Serviermädchen die heiße Schokolade vor ihm ab. »Darf ich Ihnen noch etwas Sahne dazu bringen, Monsieur Jean?« Sie hieß Sophie und arbeitete erst seit kurzem im Hotel. Sie war eine junge Frau aus dem Zürcher Oberland und gab sich Mühe, nicht allzu provinziell zu klingen und nicht allzu unerfahren zu wirken, was ihr schwerfiel, weil sie erkennbar unter schmerzenden Füßen litt, dem Fluch aller Neuen in dem Gewerbe, in dem man unvorstellbar viele Stunden auf den Beinen zubrachte.

»Danke, Sophie. So, wie Sie sie gebracht haben, ist sie wunderbar.« Er warf einen Blick durch die Halle, die im Übrigen leer war. »Es ist nicht viel los heute Abend.«

»Nein, Monsieur Jean. Es sind auch viele Herrschaften abgereist.«

»Natürlich.« Ein Sonntag im Spätsommer, da war das üblich. »Die Herrschaften Tournel sind sicher noch da?«

»O ja, das heißt, Madame Tournel ist da, Monsieur …« Sie hielt inne, offensichtlich kam ihr in diesem Augenblick in den Sinn, dass Monsieur Jean nicht mehr im Hotel arbeitete und es sich nicht gehörte, gegenüber Außenstehenden über Gäste zu sprechen. Doch Monsieur Jean lächelte nur.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Nein, danke, Sophie … Oder doch – wären Sie so freundlich, mir zwei von den Ansichtskarten zu bringen, die es beim Concierge gibt?«

»Aber gerne.«

»Danke. Und merci für die heiße Schokolade. Grüßen Sie Bruno.«

Bruno war der für den Barbetrieb zuständige Chef der Küche. Er stammte aus dem Piemont und galt als Zauberer seiner Zunft. Es gab niemanden, der es mit seiner Fertigkeit hätte aufnehmen können, Gästen die ausgefallensten Wünsche zu erfüllen. Vor allem diejenigen Wünsche, die diese nicht einmal geäußert hatten. Ein Kaffee war für Bruno nicht einfach ein Kaffee, ein Cappuccino keineswegs etwas Bestimmtes. Wenn er wusste, wer der Gast war, dann gehörte es für ihn zum Berufsethos, die Bohne, die Röstung, die Stärke des Kaffees genau auf dessen Temperament und Vorlieben abzustimmen. Eine erschöpfte Frau, die Stunden durch die Stadt gewandert war, würde er mit einer kräftigen Moccanote und einem Hauch Karamell erquicken; Arabern mischte er eine Ahnung von Kardamom in die Crema; nervöse Gäste beruhigte er mit ausgesuchter Milde der Bohne, geringerer Säure und niedrigerer Temperatur beim Servieren.

Neugierig rührte Monsieur Jean mit dem Löffel in seiner heißen Schokolade und betrachtete die Dampfwölkchen, die über der Tasse aufstiegen. Dann nahm er sie hoch und sog das Aroma ein: Natürlich, Sophie hatte Bruno gesagt, wer da in der Halle saß – und Bruno hatte ihm eine Schokolade mit viel dunklem Kakao gemacht, einigen Stücken feinster Bitterschokolade und weniger Zucker, so wie er sie liebte.

Ein anderer Gast, der zurzeit das Hotel beehrte, war Oscar Schwab, ein bekannter Schauspieler, der in diesem Herbst eine Reihe von Vorstellungen als Bassa Selim in Mozarts Entführung aus dem Serail in Zürich gab und für die Dauer dieses Engagements eine Suite im vierten Stock gebucht hatte.

Schwab erfreute sich höchsten Ansehens, obwohl seine großen Erfolge inzwischen viele Jahre zurücklagen. Nach einer fulminanten Darstellung in einem oscarprämierten europäischen Film war Hollywood auf ihn aufmerksam geworden. Man hatte ihn Bösewichter und Widerlinge spielen lassen, also das für deutschsprachige Schauspieler übliche Genre im amerikanischen Kino. Auch in diesen Rollen brillierte er. Doch dann, irgendwann, schlich sich ein Flackern in die kometenhafte Karriere, und sein Licht am internationalen Filmhimmel erlosch. Er kehrte ans Theater zurück, wo er vom Publikum geliebt und von den Feuilletons zerrissen wurde und sich zunehmend als der große Verkannte empfand. Seit dem tragischen Tod seiner Frau vor etlichen Jahren sah man ihn in den Klatschgazetten häufiger mit wechselnden Partnerinnen, jüngeren zumeist, doch wirklich glücklich schien er selten.

Ein eigentümlicher Mann, der von so vielen bewundert wurde und doch so vielen mit Misstrauen begegnete. Auch ihm war er zunächst mit Argwohn gegenübergetreten. Monsieur Jean erinnerte sich noch gut daran, wie er Schwab zum ersten Mal am Empfang hatte begrüßen dürfen. Es war in einer rauen Winternacht gewesen, und so eisig die Luft draußen gewesen war, so eisig war auch die Miene des großen Mimen gewesen.

»Sie haben reserviert, Monsieur?«

Schwab, dessen Gesicht hinter einem grauen Vollbart verborgen und dessen pelzbesetzter Kragen eines riesigen Mantels bis über die Ohren hochgeklappt war, hatte ihn mit schier tödlichen Blicken gemustert und dann befunden, dass dieser Concierge es nicht wert war, sich über seine Unwissenheit aufzuregen.

»Gewiss. Schwab, Oscar.«

»Herr Schwab. Natürlich, Sie haben reserviert. Ich freue mich, Sie im Tour au Lac begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise.«

Monsieur Jean hatte mit einem Blick erkannt, dass die Assistentin, die Schwab begleitete, keineswegs nur seine Assistentin war. »Ich sehe gerade, dass wir die Möglichkeit hätten, das Zimmer Ihrer Sekretärin upzugraden. Wenn Sie möchten, könnte ich ihr das Zimmer neben Ihrem geben, Herr Schwab.« Ein Blick, gerade lange genug, um Vertraulichkeit zu signalisieren, und doch so kurz, dass jede Unverschämtheit ausgeschlossen war. Mit wem jemand verreiste, konnte so viele Gründe haben, wie jemand auf einer solchen Reise bezeichnet wurde, konnte so unterschiedlich sein – Monsieur Jean versuchte nicht zu werten. Er war nicht das Gewissen seiner Gäste und schon gar nicht ihr Prediger. Und doch: Wenn es eine Möglichkeit gab, auf unauffällige Weise und mit einem charmanten Ergebnis einen Fehler zu verhindern oder wenigstens wiedergutzumachen, dann war er es, der den Weg dahin fand. Bei allem Bemühen, stets das Richtige zu tun, wäre er der Letzte gewesen, den ersten Stein zu werfen.

Gegen elf Uhr am Abend ging die Tür auf und Oscar Schwab trat ins Foyer. Monsieur Jean hatte sein Notizbüchlein weggesteckt und sich noch einen Cognac bringen lassen. Die Rechnung hatte er bezahlt, obwohl ihn zuerst Sophie und dann Alfred, der neue Chefconcierge, hatten nötigen wollen, es aufs Haus gehen zu lassen. Nun hatte er gewartet – und tatsächlich kam der große Mime zurück ins Hotel und war allein.