Philip Roth

Mein Leben als Sohn

Eine wahre Geschichte

Aus dem Amerikanischen
von Jörg Trobitius

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Patrimony bei Simon and Schuster, New York

© 1991 by Philip Roth

ISBN 978-3-446-25130-4

Alle Rechte dieser Ausgabe:

© 1992/2015 Carl Hanser Verlag München Wien

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

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Inhalt

1
Nun, was hältst du davon?

2
Mama, Mama, wo bist du, Mama?

3
Wird ein Zombie aus mir werden?

4
Ich muß wieder anfangen zu leben

5
Vielleicht kann Ingrid
sich auf Dauer um mich kümmern

6
Sie haben gefightet,
weil sie Fighter waren,
und sie haben gefightet,
weil sie Juden waren

Für unsere Familie,
die Lebenden und die Toten

1
Nun, was hältst du davon?

Als mein Vater sechsundachtzig Jahre alt wurde, hatte er auf dem rechten Auge die Sehkraft fast völlig eingebüßt; doch er erfreute sich für einen Mann seines Alters einer phänomenalen Gesundheit, als er auf einmal Beschwerden entwickelte, die der Arzt in Florida fälschlich als Facialisparese diagnostizierte, eine Virusinfektion, die eine normalerweise vorübergehende Lähmung einer Gesichtshälfte verursacht.

Die Lähmung trat ganz unvermittelt auf, und zwar nachdem er am Vortag von New Jersey nach West Palm Beach geflogen war, wo er die Wintermonate in einer gemeinsam gemieteten Wohnung mit Lilian Beloff verbringen wollte, einer siebzigjährigen pensionierten Buchhalterin, die in Elizabeth das Apartment über ihm bewohnte und mit der er ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter im Jahre 1981 eine Beziehung eingegangen war. Am Flughafen von West Palm hatte er sich so fit gefühlt, daß er nicht einmal einen Gepäckträger bemüht (dem er, nebenbei bemerkt, ein Trinkgeld hätte geben müssen) und seine eigenen Koffer ganz allein von der Gepäckausgabe bis hinaus zum Taxistand getragen hatte. Am nächsten Morgen sah er dann im Badezimmerspiegel, daß eine Hälfte seines Gesichts nicht mehr die seine war. Was am Vortage seine eigenen Züge gewesen waren, hatte jetzt mit niemandem mehr Ähnlichkeit – das untere Lid des rechten Auges war herabgesackt, so daß das Innere des Lids zu sehen war, die Wange hing auf dieser Seite schlaff und leblos herunter, als hätte sich der Knochen darunter vom Fleisch gelöst, und die Lippen waren nicht mehr gerade, sondern zogen sich diagonal über das Gesicht herab.

Mit der Hand schob er die rechte Wange zurück an die Stelle, wo sie sich am Vorabend befunden hatte, hielt sie dort fest und zählte bis zehn. Das tat er mehrere Male an jenem Morgen – und jeden folgenden Tag doch wenn er losließ, blieb sie nicht oben. Er versuchte, sich einzureden, er habe falsch im Bett gelegen, seine Haut sei einfach vom Schlaf gefurcht, doch in Wirklichkeit glaubte er, er habe einen Schlaganfall erlitten. Anfang der vierziger Jahre hatte ein Schlaganfall seinen Vater zum Krüppel gemacht, und als er selbst ein alter Mann geworden war, sagte er mehrmals zu mir: »Ich will nicht so sterben wie er. Ich will nicht so daliegen. Das ist meine schlimmste Befürchtung.« Er erzählte, wie er frühmorgens auf dem Weg zum Büro in der Innenstadt und abends auf dem Heimweg seinen Vater im Krankenhaus besucht hatte. Zweimal am Tag zündete er eine Zigarette an und steckte sie seinem Vater in den Mund, und des Abends saß er neben dem Bett und las ihm aus der jiddischen Zeitung vor. Unbeweglich und hilflos und nur mit seinen Zigaretten als Trost siechte Sender Roth fast ein Jahr lang dahin, und bis ihm eines späten Abends im Jahre 1942 ein zweiter Schlaganfall den Rest gab, saß mein Vater zweimal täglich bei ihm und sah zu, wie er starb.

Der Arzt, der meinem Vater sagte, daß er Facialisparese habe, versicherte ihm, daß die Gesichtslähmung in kurzer Zeit weitgehend verschwinden würde, wenn nicht sogar ganz. Das wurde ihm während der auf die Prognose folgenden Tage von drei verschiedenen Menschen bestätigt, die in seinem Flügel der riesigen Eigentumswohnanlage wohnten, dieselben Beschwerden gehabt hatten und genesen waren. Einer von ihnen hatte sich fast vier Monate gedulden müssen, doch schließlich war die Lähmung auf ebenso geheimnisvolle Weise verschwunden, wie sie gekommen war.

Die seine verschwand nicht.

Bald schon konnte er auf seinem rechten Ohr nichts mehr hören. Der Arzt in Florida untersuchte das Ohr und maß den Gehörverlust, sagte aber, das habe nichts mit der Facialisparese zu tun. Es sei schlicht eine Alterserscheinung – er habe wahrscheinlich das Gehör des rechten Ohres ebenso allmählich verloren wie die Sehkraft des rechten Auges, es aber erst jetzt bemerkt. Als mein Vater fragte, wie lange er nach Meinung des Arztes noch warten müsse, bis die Facialisparese verschwinde, sagte der Doktor diesmal, daß sie in Fällen, die so lange dauerten wie der seine, manchmal nie wieder verschwinde. Wissen Sie, Sie sollten sich klarmachen, wie gut Sie dran sind, sagte der Arzt; abgesehen von einem blinden Auge, einem tauben Ohr und einem halbgelähmten Gesicht sei er so gesund wie ein zwanzig Jahre jüngerer Mann.

Wenn ich sonntags anrief, hörte ich, daß seine Sprechweise infolge des herabhängenden Mundes verschwommen und er deshalb schlecht zu verstehen war – er klang manchmal wie jemand, der gerade aus dem Zahnarztsessel kam und bei dem die Betäubung noch nicht nachgelassen hatte; als ich nach Florida flog, um ihn zu besuchen, sah er zu meiner Bestürzung so aus, als könne er überhaupt nicht sprechen.

»Nun«, sagte er in der Halle meines Hotels, wo ich mich mit Lil und ihm zum Abendessen verabredet hatte, »was hältst du davon?« Das waren seine ersten Worte, noch während ich mich herabbeugte, um ihm einen Kuß zu geben. Er saß neben Lil zusammengesunken auf einem kleinen, stoffbezogenen Sofa, doch sein Gesicht war direkt zu mir emporgerichtet, so daß ich sehen konnte, was geschehen war. Während des vergangenen Jahres hatte er hin und wieder eine schwarze Klappe über seinem blinden Auge getragen, um es vor Reizung durch Licht und Wind zu schützen, und durch diese Augenklappe, die Wange, den Mund und die Tatsache, daß er stark abgenommen hatte, wirkte er auf mich grauenhaft verändert – in den fünf Wochen, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte – zu einem hinfälligen alten Mann. Es war schwer zu glauben, daß er noch vor etwa sechs Jahren, im Winter nach dem Tod meiner Mutter, als er bei seinem alten Freund Bill Weber in Bal Harbour wohnte, keinerlei Schwierigkeiten gehabt hatte, die wohlhabenden Witwen im selben Gebäude – die sofort angefangen hatten, voller Interesse den geselligen, gerade verwitweten Mann in dem neuen Kreppleinenjackett und der pastellfarbenen Hose zu umschwärmen davon zu überzeugen, daß er gerade erst die Siebzig erreicht habe, obwohl wir uns doch alle im Sommer zuvor in meinem Haus in Connecticut versammelt hatten, um seinen achtzigsten Geburtstag zu begehen.

Beim Abendessen im Hotel begann ich zu verstehen, was für eine Behinderung die Facialisparese war, von der Entstellung ganz abgesehen. Er konnte nur noch trinken, wenn er einen Strohhalm benutzte; sonst rann ihm die Flüssigkeit aus dem gelähmten Mundwinkel. Und das Essen war eine Mühe von Biß zu Biß, belastet von Frustration und Peinlichkeit. Nachdem er seine Krawatte mit Suppe bekleckert hatte, ließ er es sich widerstrebend gefallen, daß Lil ihm eine Serviette um den Hals band – es gab schon eine Serviette auf seinem Schoß, die mehr oder weniger die Hose schützte. Gelegentlich reichte Lil mit ihrer eigenen Serviette hinüber und entfernte zu seiner Verärgerung ein Stück Speise, das ihm aus dem Mund gerutscht war und am Kinn klebte, ohne daß er es merkte. Einige Male erinnerte sie ihn daran, er solle weniger auf die Gabel nehmen und bei jedem Bissen versuchen, etwas weniger als gewohnt zum Mund zu führen. »Ach ja«, murmelte er und starrte unglücklich auf seinen Teller, »ach ja, natürlich«, und nach zwei oder drei Bissen vergaß er es schon wieder. Weil das Essen zu einer deprimierenden Qual geworden war, hatte er soviel abgenommen und sah so erbärmlich unterernährt aus.

Alles wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß sich während der letzten Monate der graue Star in seinen beiden Augen verstärkt hatte, so daß selbst auf seinem guten Auge die Sicht verschwamm. Seit einigen Jahren hatte mein New Yorker Augenarzt, David Krohn, die Entwicklung des grauen Stars bei meinem Vater verfolgt und sich um sein abnehmendes Sehvermögen gekümmert, und als mein Vater im März von seinem unglücklichen Aufenthalt in Florida nach New Jersey zurückkehrte, fuhr er nach New York, um David zu bedrängen, er möge ihm den grauen Star aus dem guten Auge entfernen; da es nicht in seiner Macht stand, etwas wegen der Facialisparese zu unternehmen, war er besonders darauf erpicht, daß man etwas tat, um sein Sehvermögen wiederherzustellen. Doch nachdem mein Vater ihn konsultiert hatte, rief David mich am späten Nachmittag an, um zu sagen, er operiere das Auge nur ungern, ehe nicht durch weitere Tests die Ursache der Gesichtslähmung und des Gehörverlustes ermittelt worden sei. Er sei nicht so ganz überzeugt, daß es sich um Facialisparese handle.

Und damit hatte er recht. Harold Wasserman, der Arzt meines Vaters in New Jersey, hatte dafür gesorgt, daß die Kernspintomographie, die David verordnet hatte, an Ort und Stelle gemacht wurde, und als Harold den Laborbericht erhielt, rief er mich am frühen Abend desselben Tages an, um mir die Ergebnisse mitzuteilen. Mein Vater habe einen Hirntumor, »einen massiven Tumor«, wie Harold sich ausdrückte; zwar könne man anhand der Aufnahmen der Kernspintomographie nicht zwischen einem gutartigen und einem malignen Tumor unterscheiden, sagte Harold. »Doch so oder so, an solchen Tumoren stirbt man.« Der nächste Schritt sei die Konsultation eines Neurochirurgen, um die Art des Tumors exakt zu bestimmen und festzustellen, was sich unternehmen ließe, falls überhaupt. »Optimistisch bin ich nicht«, sagte Harold, »und das sollten Sie auch nicht sein.«

Es gelang mir, meinen Vater zum Neurochirurgen zu bringen, ohne ihm zu sagen, was die Kernspintomographie schon gezeigt hatte. Ich log und sagte, die Tests hätten nichts erbracht, doch da David besonders vorsichtig sei, wolle er eine letzte weitere Diagnose abwarten, ehe er sich an die Entfernung des grauen Stars mache. Inzwischen richtete ich es so ein, daß die Aufnahmen der Kernspintomographie zum Essex House Hotel in New York geschickt wurden. Claire Bloom und ich lebten dort vorübergehend, während wir nach einer Wohnung suchten – wir hatten vor, etwas in Manhattan zu finden, nachdem wir zehn Jahre lang unser Leben zwischen ihrem Haus in London und meinem in Connecticut geteilt hatten.

Es traf sich, daß Claire, als die Kernspintomographie-Aufnahmen vom Gehirn meines Vaters zusammen mit dem Bericht des Röntgenologen in einem übergroßen Umschlag im Hotel eintrafen, gerade erst vor einer Woche nach London zurückgekehrt war, um ihre Tochter zu besuchen, um Instandsetzungsarbeiten an ihrem Haus zu veranlassen und um ihren Finanzberater wegen langwieriger Verhandlungen mit den britischen Steuerbehörden aufzusuchen. Sie hatte sich schrecklich nach London gesehnt, und der einmonatige Besuch war nicht nur dazu gedacht, praktische Angelegenheiten zu erledigen, sondern sollte auch ihrem Heimweh den Stachel nehmen. Hätte man den Tumor meines Vaters früher entdeckt, als Claire noch bei mir war, dann hätte, so nehme ich an, meine Besorgnis um ihn nicht jene allesverzehrenden Ausmaße angenommen und ich hätte mich wahrscheinlich – zumindest des Abends – von seiner Krankheit nicht ebenso deprimieren lassen wie von meiner eigenen. Doch selbst zur damaligen Zeit schien es mir, daß Claires Abwesenheit – neben der Tatsache, daß ich mich im Hotel im Gefühl des Provisorischen und der Unbehaustheit außerstande sah zu schreiben – ein besonders gelegener Zufall war: ich hatte keine anderen Verantwortlichkeiten, und so konnte ich mich ganz ihm widmen.

Da ich auf mich selbst gestellt war, konnte ich es mir auch erlauben, so emotional zu sein, wie mir zumute war, ohne eine mannhafte oder reife oder philosophische Fassade hervorkehren zu müssen. Ich war allein, und so weinte ich, wenn mir danach zumute war, und mir war niemals stärker danach zumute als in dem Augenblick, da ich die Aufnahmen von seinem Gehirn aus dem Umschlag nahm – und nicht weil ich sofort den Tumor hätte identifizieren können, der in das Hirn eindrang, sondern einfach weil es sein Hirn war, das Gehirn meines Vaters, das ihn veranlaßte, so schlicht zu denken, wie er dachte, so emphatisch zu sprechen, wie er sprach, so emotional zu diskutieren, wie er diskutierte, so impulsiv zu entscheiden, wie er entschied. Das war das Gewebe, das sein Repertoire endloser Besorgnisse hervorgebracht und das seit mehr als acht Jahrzehnten seine unbeugsame Selbstdisziplin aufrechterhalten hatte, die Quelle von alldem, was mich als seinen heranwachsenden Sohn so frustriert hatte, das Gebilde, das damals unsere Geschicke gelenkt hatte, als er allmächtig war und unser Dasein bestimmte, und jetzt wurde es zusammengedrückt und verdrängt und zerstört aufgrund einer »großen Masse, die vornehmlich im Bereich der rechten zerebellopontinen Nischen und präpontinen Höhlen angesiedelt ist. Zu beobachten ist eine Ausdehnung der Masse in die rechte Nebenhöhle unter Einschluß der Kopfschlagader …« Ich hatte keine Ahnung, wo die zerebellopontinen Nischen oder präpontinen Höhlen zu finden waren, doch im Bericht des Röntgenologen zu lesen, daß die Kopfschlagader vom Tumor eingeschlossen war, bedeutete für mich dasselbe, als läse ich sein Todesurteil. »Unverkennbar ist auch die Zerstörung des rechten petrösen Apex. Zu beobachten ist eine signifikante Verschiebung nach hinten und eine Kompression der Pons und des rechten Kleinhirnstiels durch diese Masse …«

Ich war allein und ohne Hemmungen, und so unternahm ich, während die aus allen Blickwinkeln aufgenommenen Photos von seinem Hirn über das Hotelbett verstreut lagen, keinerlei Anstrengung, gegen irgend etwas anzukämpfen. Vielleicht war die Wucht des Eindrucks nicht ganz dieselbe, als wenn ich jenes Gehirn in meinen Händen gehalten hätte, doch es ging in diese Richtung. Gottes Wille brach aus einem brennenden Busch hervor, und Herman Roths Wille war nicht weniger wundersam all die Jahre über aus diesem knolligen Organ hervorgegangen. Ich hatte meines Vaters Hirn gesehen, und alles und nichts wurde offenbart. Ein kaum weniger als göttliches Mysterium, das Gehirn, selbst im Falle eines Versicherungsagenten im Ruhestand mit achtjähriger Schulausbildung in Newarks Thirteenth Avenue School.

Mein Neffe Seth fuhr meinen Vater nach Millburn, wo er den Neurochirurgen, Dr. Meyerson, in seiner Vorortspraxis aufsuchte. Ich hatte es so eingerichtet, daß mein Vater ihn dort konsultieren konnte statt im Universitätshospital von Newarks, weil ich dachte, daß er allein schon aus der Lage des Arztsprechzimmers in der Klinik, das sich, wie man mir gesagt hatte, im selben Flügel wie die onkologische Abteilung befand, darauf schließen würde, er habe Krebs, während doch eine solche Diagnose gar nicht gestellt worden war und er noch nicht einmal wußte, daß er den Tumor hatte. Auf diese Weise würde er nicht heillos erschrecken, jedenfalls vorläufig nicht.

Und als ich an jenem Tag später mit Dr. Meyerson am Telephon sprach, sagte er mir, daß ein Tumor wie der meines Vaters, der sich vor dem Hirnstamm befinde, in etwa fünfundneunzig Prozent der Fälle gutartig sei. Laut Meyerson war es möglich, daß der Tumor dort schon seit immerhin zehn Jahren wuchs; doch das jetzige Auftreten der Gesichtslähmung und der Taubheit auf dem rechten Ohr ließ darauf schließen, daß er »in relativ kurzer Zeit«, wie er sich ausdrückte, »sehr viel schlimmer werden wird.« Es sei jedoch immer noch möglich, den Tumor chirurgisch zu entfernen. Er sagte, daß fünfundsiebzig Prozent der Operierten überleben und daß es ihnen besser geht, zehn Prozent sterben auf dem Tisch, und weitere fünfzehn Prozent sterben entweder kurz danach, oder es geht ihnen hinterher schlechter.

»Wenn er überlebt«, fragte ich, »wie sieht dann die Rekonvaleszenz aus?«

»Es ist nicht leicht. Er wird einen Monat lang in einem Genesungsheim sein – vielleicht sogar zwei oder drei Monate.«

»Es ist die Hölle, mit anderen Worten.«

»Es ist hart«, sagte er, »aber wenn man nichts tut, könnte es noch härter werden.«

Ich hatte nicht die Absicht, Meyersons Neuigkeiten meinem Vater am Telephon mitzuteilen, und so sagte ich, als ich am nächsten Morgen gegen neun Uhr anrief, daß ich nach Elizabeth kommen würde, um mit ihm zu sprechen.

»So schlimm ist es also«, sagte er.

»Ich komme mit dem Auto zu dir, und wir werden uns hinsetzen und darüber sprechen.«

»Habe ich Krebs?« fragte er mich.

»Nein, du hast keinen Krebs.«

»Was ist es dann?«

»Hab noch eine Stunde Geduld, und ich bin da und erkläre dir genau die Situation.«

»Ich will es jetzt wissen.«

»Es dauert nur eine Stunde – weniger als eine Stunde«, sagte ich in der Überzeugung, daß es für ihn besser war zu warten, wie erschrocken er auch immer war, als wenn ich mit ihm am Telephon Klartext spräche und ihn im Schock allein dort sitzenließe, bis ich eintraf.

Angesichts der Aufgabe, die vor mir lag, war es wahrscheinlich kein Wunder, daß ich, als ich in Elizabeth von der Autobahn abfuhr, die Abzweigung des Zubringers verpaßte, der mich in die North Avenue und direkt zum Apartmentgebäude meines Vater ein paar Blöcke weiter gebracht hätte. Statt dessen fand ich mich auf einem Abschnitt des New-Jersey-Highway wieder, der nach ein oder zwei Meilen direkt am Friedhof vorbeiführte, auf dem vor sieben Jahren meine Mutter beerdigt worden war. Ich glaubte nicht, daß es irgend etwas Mystisches hatte, wie ich dorthin gelangt war, doch war es gleichwohl erstaunlich zu sehen, wohin mich die zwanzigminütige Autofahrt von Manhattan aus geführt hatte.

Ich war nur zweimal auf dem Friedhof gewesen, das erste Mal am Tage ihrer Beerdigung 1981 und dann im darauffolgenden Jahr, als ich meinen Vater hinausfuhr, damit er ihren Stein sehen konnte. Beide Male waren wir direkt von Elizabeth selbst und nicht von Manhattan aus gefahren, und deshalb hatte ich nicht gewußt, daß der Friedhof sogar von der Autobahn aus zu erreichen war. Und wäre ich tatsächlich an jenem Tag aufgebrochen, um den Friedhof zu finden, ich hätte mich höchstwahrscheinlich in dem Gewirr von Abzweigungen zum Newark Airport, nach Port Newark, nach Port Elizabeth und zurück in die Stadtmitte von Newark völlig verirrt. Obwohl ich weder bewußt noch unbewußt nach jenem Friedhof suchte, hatte ich an dem Morgen, an dem ich mit meinem Vater über den Hirntumor sprechen wollte, der ihn töten würde, fehlerfrei die kürzestmögliche Strecke von meinem Hotel in Manhattan zum Grab meiner Mutter genommen und zu der Grabstelle neben der ihren, wo er beerdigt werden würde.

Ich hatte nicht vorgehabt, meinen Vater länger warten zu lassen als unbedingt nötig, doch nachdem ich nun einmal ausgerechnet dort angelangt war, konnte ich nicht einfach weiterfahren, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Ich erwartete nicht, etwas Neues zu erfahren, indem ich an jenem Morgen von der Straße abbog und vor dem Grab meiner Mutter stand; ich erwartete nicht, durch die Erinnerung an sie getröstet oder gestärkt zu werden oder irgendwie besser gerüstet, um meinem Vater in seiner Krise beizustehen; noch stellte ich mir vor, daß es mich ernstlich schwächen würde, wenn ich seine Grabstelle neben der ihren sähe. Der Zufall einer falschen Abzweigung hatte mich dorthin gebracht, und indem ich aus dem Auto stieg und den Friedhof betrat, um ihr Grab zu finden, beugte ich mich nur der zwingenden Macht dieses Zufalls. Meine Mutter und die anderen Toten waren hierhergebracht worden aufgrund der zwingenden Macht der Tatsache – die schließlich ein noch unwahrscheinlicherer Zufall ist –, daß sie einmal gelebt hatten.

Ich habe festgestellt, daß man bei Grabbesuchen Gedanken hat, wie sie mehr oder weniger jeder hegt und die sich, läßt man den Aspekt der Beredsamkeit beiseite, nicht sehr von Hamlets Betrachtungen angesichts von Yoricks Schädel unterscheiden. Es wird offenbar wenig gedacht oder gesagt, was nicht eine Variante von »er hat mich tausendmal auf dem Rücken getragen« wäre. Auf einem Friedhof wirst du im allgemeinen schlicht daran erinnert, wie eng und banal dein Denken zu diesem Thema ist. Oh ja, du kannst versuchen, zu den Toten zu sprechen, wenn du das Gefühl hast, daß das hilft; du kannst anfangen, wie ich es an jenem Morgen tat, indem du sagst: »Nun, Ma …«, doch es fällt schwer, sich nicht einzugestehen – selbst wenn du über einen ersten Satz hinausgelangst –, daß du dich ebensogut mit der Wirbelsäule unterhalten könntest, die im Sprechzimmer des Osteopathen hängt. Du kannst ihnen Versprechen ablegen, ihnen die neuesten Nachrichten mitteilen, um ihr Verständnis bitten, um Vergebung, um ihre Liebe – oder du kannst dich für das andere, das aktive Verhalten entscheiden, du kannst Unkraut zupfen, den Kies glätten, die in den Grabstein gemeißelten Buchstaben betasten; du kannst dich sogar hinknien und deine Hände direkt oberhalb ihrer Überreste auf das Grab legen – und indem du den Boden berührst, ihren Boden, kannst du die Augen schließen und dich daran erinnern, wie sie waren, als sie noch bei dir waren. Doch nichts ändert sich durch diese Erinnerungen, außer daß die Toten noch ferner zu sein scheinen, noch unerreichbarer als auf dem Hinweg im Auto zehn Minuten zuvor. Wenn niemand auf dem Friedhof ist, der dich beobachten könnte, kannst du ein paar reichlich verrückte Dinge tun, um die Toten als etwas anderes denn als tot erscheinen zu lassen. Doch selbst wenn es dir gelingt, dich weit genug hineinzusteigern, um ihre Gegenwart zu empfinden, du gehst doch immer ohne sie fort. Friedhöfe bestätigen – Menschen wie mir zumindest – nicht, daß die Toten gegenwärtig sind, sondern daß sie fort sind. Sie sind fort, und wir sind es noch nicht. Das ist eine fundamentale Tatsache und, wie unannehmbar auch immer, leicht genug zu begreifen.

2
Mama, Mama, wo bist du, Mama?

Mein Vater bekam von der Metropolitan Life eine Pension, die ihm mehr als genug bescherte, um den bescheidenen, unaufwendigen Lebensstil fortführen zu können, der ihm als natürlich erschien und ausreichend für jemand, der in nahezu armen Verhältnissen aufgewachsen war, über vierzig Jahre lang geschuftet hatte, um seiner Familie ein gesichertes, wenn auch einfaches häusliches Leben zu ermöglichen, und der nicht das geringste Interesse an ostentativem Konsumverhalten, Angeberei oder Luxus hatte. Zusätzlich zu der Pension, die er mittlerweile seit dreiundzwanzig Jahren empfing, bezog er eine Rente der Sozialversicherung und die Zinsen seines gesparten Vermögens – etwa achtzigtausend Dollar an Sparbüchern, Festgeldern und Kommunalobligationen. Trotz seiner soliden finanziellen Situation war er mit fortschreitendem Alter befremdlich knauserig geworden, was Ausgaben für ihn selbst anging. Obwohl er ohne zu zögern seinen beiden Enkeln großzügige Zuwendungen machte, wann immer sie Geld brauchten, sparte er ständig unbedeutende Summen, wobei er auf Dinge verzichtete, die ihm gefielen oder die er brauchte.

Zu den ärgerlicheren Einsparungen gehörte die Weigerung, sich seine eigene New York Times zu kaufen. Er verehrte diese Zeitung und verbrachte gern den ganzen Morgen damit, sie von vorne bis hinten durchzulesen, doch statt sich seine eigene zu kaufen, wartete er jetzt den ganzen Tag darauf, daß er ein gelesenes Exemplar von einem der Hausbewohner bekam, der so schwach gewesen war, die fünfunddreißig Cents dafür zu blechen. Er hatte es auch aufgegeben, den Star-Ledger zu kaufen, eine Tageszeitung für fünfzehn Cent, die er, seit ich mich erinnern konnte und seit sie Newark Star-Eagle hieß, zusammen mit den ehemaligen Newark News gelesen hatte. Er weigerte sich auch, die Zugehfrau auf wöchentlicher Basis zu behalten, die meiner Mutter beim Putzen der Wohnung und bei der Wäsche geholfen hatte. Die Frau kam jetzt einmal im Monat, und er putzte die Wohnung die übrige Zeit selbst. »Was habe ich denn sonst zu tun?« fragte er. Doch da er auf einem Auge nahezu blind war und im anderen einen sich verstärkenden grauen Star hatte und nicht mehr so beweglich war, wie er es gern wahrhaben wollte, war das Ergebnis seiner Arbeit, so sehr er sich auch mühen mochte, schrecklich. Die Toilette roch, die Teppiche waren schmutzig und nur wenige der Küchengeräte hätten der Prüfung durch einen nicht bestochenen Inspektor der Gesundheitsbehörde standgehalten.

Es war eine gemütlich eingerichtete, eher gewöhnliche Dreizimmerwohnung, die weder mit Flair noch mit schlechtem Geschmack eingerichtet war. Der Wohnzimmerteppich war von einem gefälligen Avocadogrün, die Möbel waren zumeist in antikem Stil gehalten, und an den Wänden gab es zwei große Reproduktionen (ausgewählt für meine Eltern vor etwa vierzig Jahren von meinem Bruder, der die Kunsthochschule besucht hatte) von Gauguin-Landschaften in Wermutholzrahmen sowie ein expressionistisches Porträt meines Vaters mit Anfang siebzig, das mein Bruder gemalt hatte. Es gab gedeihende Pflanzen vor der Fensterreihe, die auf eine ruhige, von Bäumen gesäumte Wohnstraße nach Süden hinausging; es gab Photos in jedem Zimmer – von Kindern, Enkeln, Schwiegertöchtern, Neffen, Nichten –, und die wenigen Bücher auf dem Regal in der Eßecke waren entweder von mir oder über jüdische Themen. Abgesehen von den Lampen, die ein wenig arg prunkvoll verziert und überraschend untypisch für den auf Ordnung bedachten, praktischen Schönheitssinn meiner Mutter waren, stellte das Apartment eine warme, behagliche Wohnung dar, deren blitzblankes Aussehen – zumindest als meine Mutter noch am Leben war – einigermaßen im Gegensatz zu der bedrückenden Eingangshalle und den Fluren des dreißig Jahre alten Gebäudes stand, die abweisend kahl waren und immer mehr einen heruntergekommenen Eindruck machten.

Seit mein Vater allein war, ergab es sich zuweilen, wenn ich zu Besuch kam, daß ich, nachdem ich die Toilette benutzt hatte, das Waschbecken putzte, den Seifennapf reinigte und das Zahnputzglas ausspülte, ehe ich mich im Wohnzimmer wieder zu ihm setzte. Er bestand darauf, seine Unterwäsche und seine Strümpfe im Badezimmer zu waschen, statt sich von den paar Vierteldollarmünzen zu trennen, die es kostete, um die Wasch- und Trockenmaschine im Waschkeller zu benutzen; jedesmal wenn ich ihn besuchen kam, hingen seine graugewordenen, formlosen Sachen auf Drahtbügeln an der Duschstange oder den Handtuchhaltern. Obwohl er stolz darauf war, schmuck gekleidet zu sein, und es immer genoß, wenn er ein neues Sportjackett von flottem Schnitt oder einen Dreiteiler von Hickey-Freeman anzog (er genoß es besonders, wenn er sie bei einem Saisonschlußverkauf erstanden hatte), hatte er es sich angewöhnt, überall dort zu knausern, wo es für andere nicht sichtbar war. Seine Schlafanzüge und Taschentücher wie seine Unterwäsche und Strümpfe sahen aus, als wären sie seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr ersetzt worden.

Als ich an jenem Morgen in seiner Wohnung ankam – nach dem unverhofften Besuch am Grab meiner Mutter –, entschuldigte ich mich rasch und verschwand in der Toilette. Erst hatte ich eine Abzweigung verpaßt, und jetzt ließ ich mir im Badezimmer noch ein paar Minuten, um ein letztes Mal zu proben, wie ihm die Tumordiagnose am besten beizubringen sei. Während ich über der Schüssel stand, hing seine Unterwäsche überall um mich herum wie die Lumpen, die ein Farmer aufhängt, um die Vögel zu verscheuchen. Auf den offenen Regalbrettern über der Toilette, wo es eine Ansammlung von Arzneimitteln gab sowie sein Polident, seine Vaseline und sein Ascriptin, seine Schachteln mit Papiertüchern, Q-Tips und Watte, entdeckte ich den Rasiernapf, der einmal meinem Großvater gehört hatte; darin bewahrte mein Vater sein Rasierzeug und eine Tube Rasiercreme auf. Der Napf war aus blaßblauem Porzellan; ein zartes Blumenmuster umschloß eine breite, weiße Fläche auf der Vorderseite, und auf dieser Fläche stand der Name »S. Roth« und das Datum »1912« in verblaßten gotischen Goldbuchstaben geschrieben. Von ein paar antiken Schnappschüssen abgesehen war der Napf, soweit ich wußte, unser einziges Familienerbstück, das einzig Anfaßbare aus den Jahren nach der Einwanderung in Newark, das irgend jemand der Aufbewahrung für würdig erachtet hatte. Er hatte mich immer fasziniert, schon seit mein Großvater einen Monat vor meinem siebten Geburtstag gestorben und der Napf in unser Newarker Badezimmer geraten war, damals, als mein Vater sich noch mit Rasierpinsel und -seife rasierte.

Sender Roth war für mich als kleinen Jungen eine ferne, mysteriöse Gegenwart gewesen, ein hochaufgeschossener Mann mit zu klein geratenem Kopf – der Vorfahre, dem mein eigenes Skelett am meisten ähnelt –, von dem ich lediglich wußte, daß er den ganzen Tag lang rauchte, daß er nur Jiddisch sprach und nicht allzu sehr geneigt war, die amerikanischen Enkel zu streicheln, wenn wir alle sonntags mit unseren Eltern erschienen. Nach seinem Tod machte ihn der Rasiernapf in unserem Badezimmer für mich viel lebendiger, nicht als Großvater, sondern, was damals noch interessanter war, als gewöhnlichen Mann unter Männern, als Kunden in einem Barbiergeschäft, wo sein Napf zusammen mit den Näpfen der anderen Einwanderer aus der Nachbarschaft aufbewahrt wurde. Für mich als Kind hatte der Gedanke etwas Beruhigendes, daß in jenem Haushalt, wo allen Berichten zufolge niemals ein Penny übrig war, jede Woche ein Zehner beiseite gelegt wurde, damit er in das Barbiergeschäft gehen und sich seine Sabbatrasur gönnen konnte.

Mein Großvater Roth hatte in Polnisch-Galizien Talmud studiert, um Rabbi zu werden, in einer Kleinstadt unweit von Lemberg, doch als er 1897 allein in Amerika ankam, ohne seine Frau und seine drei Söhne (meine Onkel Charlie, Morris und Ed), suchte er sich eine Arbeit in einer Hutfabrik, um das Geld für die Überfahrt seiner Familie zu verdienen, und dort arbeitete er wohl fast den größten Teil seines Lebens. Zwischen 1890 und 1914 wurden sieben Kinder geboren, sechs Söhne und eine Tochter, und bis auf die letzten beiden Jungen und das Mädchen gingen alle nach der achten Klasse von der Schule ab, um mit ihrer Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen. Der Rasiernapf mit der Inschrift »S. Roth« hatte offenbar meinen Großvater – wenn auch nur einen Moment lang, wenn auch nur für jene paar Minuten, die er spät am Freitagnachmittag ruhig dasaß und sich im Barbiersessel rasieren ließ – von den harten Anforderungen befreit, in denen er gefangen war und die, so stellte ich mir vor, für sein karges, wenig mitteilsames Wesen verantwortlich waren. Sein Napf strahlte die Aura eines archäologischen Fundes aus, eines frühen Gebrauchsgegenstandes, der auf ein unerwartetes Niveau kultureller Verfeinerung schließen ließ, auf einen erstaunlichen Überfluß in einer ansonsten eingeschränkten und kärglichen Existenz – in unserem gewöhnlichen kleinen Newarker Badezimmer übte er auf mich die Wirkung einer griechischen Vase aus, auf der die mythischen Ursprünge der Rasse abgebildet waren.

Was mich 1988 an dem Napf so erstaunte, war die Tatsache, daß mein Vater ihn nicht weggeworfen oder fortgegeben hatte. Im Laufe der Jahre hatte er, wenn es in seiner Macht stand, so ungefähr alles »Nutzlose« abgestoßen, woran einer von uns, wie man hätte annehmen können, vielleicht sentimental gehangen hatte. Wenn seine Anfälle von Freigebigkeit auch ingesamt gesehen ihrer Motivation nach bewundernswürdig waren, ermangelten sie doch zuweilen eines Feingefühls gegenüber angestammten Eigentumsrechten. Er war so beflissen, das (reale oder nur eingebildete) Bedürfnis des Empfängers zu erfüllen, daß er nicht immer an die Wirkung seiner Impulsivität auf den ahnungslosen Spender dachte.

Meine zweibändige Briefmarkensammlung beispielsweise, die von mir während meiner letzten Grundschuljahre mit großem Eifer angelegt worden war – eine Sammlung, die zum Teil auch durch das Beispiel des berühmtesten Philatelisten des Landes, Franklin Delano Roosevelt, inspiriert war und für die ich praktisch all meine Reichtümer aufgewandt hatte –, gab er einem seiner Großneffen, und zwar genau in dem Jahr, als ich von zu Hause fortging, um das College zu besuchen. Das erfuhr ich aber erst zehn Jahre später, als ich für eine Episode in einer Erzählung auf meine schulischen Entdeckungen als jugendlicher Briefmarkensammler zurückgreifen wollte und zum Haus meiner Eltern in Moorestown fuhr, um die Alben vom Dachboden zu holen. Erst nachdem ich die Kartons, die ich dort zur Aufbewahrung untergestellt hatte, gründlich, aber vergeblich durchsucht hatte, erklärte mir meine Mutter widerstrebend – und erst als wir allein zusammen aus dem Haus gegangen waren –, wie es zu ihrem Verschwinden gekommen war. Sie versicherte mir, sie habe versucht, ihn aufzuhalten, sie habe zu ihm gesagt, er könne nicht einfach über meine Briefmarken verfügen, doch er habe nicht hören wollen. Er sagte zu ihr, ich sei jetzt erwachsen, ich sei fortgegangen aufs College, ich »gebrauche« die Marken nicht mehr, wogegen Chickie, sein Großneffe, sie mit zur Schule nehmen könne, et cetera, et cetera, et cetera. Ich nehme an, ich hätte herausfinden können, ob überhaupt noch irgendein Teil meiner Sammlung existierte, indem ich mich mit Chickie in Verbindung gesetzt hätte – einem Verwandten, der praktisch ein Fremder für mich und inzwischen ein verheirateter junger Mann war –, doch ich entschloß mich, die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen. Es irritierte mich maßlos zu hören, was er getan hatte – und wenn ich daran dachte, wie viel von meiner Kindheit in jene Sammlung eingegangen war, tat es mir wirklich weh –, doch da seither schon so viel Zeit vergangen war und ich mit schwierigeren Problemen fertigzuwerden hatte (ich befand mich inmitten einer bitteren ehelichen Trennung), sagte ich nichts zu ihm. Und selbst wenn ich dazu geneigt hätte, es wäre für mich im Alter von achtundzwanzig Jahren nicht leichter gewesen, ihn von Angesicht zu Angesicht zu kritisieren, als es mit achtzehn oder mit acht Jahren der Fall war, denn selbst seine offenkundigsten Gedankenlosigkeiten rührten ausnahmslos von seinem spontanen Impuls her, zu unterstützen, beizustehen, zu retten, zu bewahren, ausgelöst von der Überzeugung, daß das, was er tat – meine Briefmarken wegzugeben, beispielsweise –, großzügig war, hilfreich und moralisch oder erzieherisch wirkungsvoll.

Ein anderes Motiv war, wie ich glaube, in ihm wirksam – schwerer zu ergründen und zu benennen –, als wir im Mai 1981 von der Beerdigung meiner Mutter nach Hause kamen und er, selbst als Familienmitglieder und Freunde das Haus zu füllen begannen, im Schlafzimmer verschwand und anfing, ihre Kommodenschubladen zu leeren und die Kleider in ihrem Schrank auszusortieren. Ich war noch mit meinem Bruder an der Tür, um die Trauergäste zu begrüßen, die uns vom Friedhof nach Hause gefolgt waren, und so hätte ich nicht gleich erfahren, was er im Sinne hatte, wäre nicht Millie, die Schwester meiner Mutter, aus dem Schlafzimmer in den Flur gestürzt, um nach Hilfe zu rufen. »Du gehst besser da hinein und unternimmst etwas, Darling«, flüsterte sie mir ins Ohr; »dein Vater wirft alles weg.«

Nicht einmal die Tatsache, daß ich die Schlafzimmertür öffnete, den Raum betrat und mit fester Stimme sagte: »Dad, was tust du da?«, ließ ihn innehalten. Das Bett war schon übersät mit Kleidern, Mänteln, Röcken und Blusen, die er aus dem Schrank gezogen hatte, und jetzt warf er geschäftig Dinge aus der untersten Schublade ihrer Kommode in einen Plastikmüllsack. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und packte fest zu. »Die Menschen sind deinetwegen hier«, sagte ich; »sie wollen dich sehen, mit dir sprechen –« »Wozu nützt das Zeug noch? Es nützt mir nichts, wenn es hier hängt. Dieses Zeug kann zur jüdischen Armenhilfe – es ist in nagelneuem Zustand –« »Hör auf damit, bitte – hör doch auf. Für all das ist später noch Zeit. Wir werden es später gemeinsam machen. Hör auf, Sachen wegzuwerfen«, sagte ich. »Faß dich doch. Geh ins Wohnzimmer, wo du gebraucht wirst.«

Doch er war gefaßt. Er war offenkundig weder benebelt noch von einem hysterischen Anfall geschüttelt – er tat einfach nur, was er sein ganzes Leben lang getan hatte: er erledigte die nächste schwierige Aufgabe. Dreißig Minuten zuvor hatten wir ihren Körper beerdigt; jetzt mußte man ihre Sachen loswerden.