Philip Roth

Die Anatomiestunde

Aus dem Amerikanischen
von Gertrud Baruch

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe:

The Anatomy Lesson

Farrar, Straus & Giroux, New York 1983

© 1983 by Philip Roth

ISBN 978-3-446-25133-5

Alle Rechte vorbehalten

© 1986/2015 Carl Hanser Verlag München Wien

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt

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Für Richard Stern

Die richtige Diagnose bei Schmerzzuständen wird vor allem dadurch erschwert, daß die Symptome oft in einiger Entfernung vom Krankheitsherd auftreten.

James Cyrian: Textbook of
Orthopaedic Medicine

I Der Kragen

Jeder Kranke verlangt nach seiner Mutter. Wenn sie nicht da ist, muß er sich mit anderen Frauen begnügen. Bei Zuckerman waren es vier andere Frauen. Noch nie hatte er so viele Frauen – und so viele Ärzte – auf einmal gehabt, noch nie so viel Wodka getrunken, so wenig gearbeitet und sich in einem so verzweifelten Zustand befunden. Gleichwohl schien er keine ernstzunehmende Krankheit zu haben. Nur Schmerzen, im Nacken, in den Armen und in den Schultern – Schmerzen, die es beschwerlich für ihn machten, weiter als bis zur nächsten oder übernächsten Straßenkreuzung zu gehen oder längere Zeit stehenzubleiben. Allein schon einen Nacken und Arme und Schultern zu haben, war so, als müßte er jemand anderen mit sich herumschleppen. Zehn Minuten unterwegs, um Lebensmittel einzukaufen, und schon mußte er schleunigst nach Hause, um sich hinzulegen. Und jedesmal konnte er bloß eine einzige, leichte Einkaufstüte heimtragen, die er noch dazu auf beide Arme nehmen und an sich drücken mußte – wie ein Achtzigjähriger. Die Tüte mit gestrecktem Arm zu tragen, machte die Schmerzen nur noch schlimmer. Es war qualvoll, sich nach vorn zu beugen und das Bett zu machen. Es war qualvoll, am Herd zu stehen und mit nichts Schwererem als einem Pfannenwender in der Hand zu warten, bis ein Ei fertiggebraten war. Er konnte kein Fenster aufmachen, bei dem man ein bißchen Kraft anwenden mußte. Also öffneten die Frauen die Fenster für ihn. Machten seine Fenster auf, brieten ihm sein Ei, machten sein Bett, kauften sein Essen ein und trugen ihm mühelos und mannhaft die vollen Tüten nach Hause. Eine einzige Frau hätte alles Nötige in ein, zwei Stunden pro Tag erledigen können, aber Zuckerman hatte keine Frau mehr. So kam es, daß er vier hatte.

Um auf einem Stuhl sitzen und lesen zu können, trug er einen orthopädischen Kragen, ein schwammartiges, rautenförmiges Gebilde in einer gerippten weißen Hülle, das er sich umbinden mußte. damit die Halswirbel sich nicht verschoben und er den Kopf nicht ungestützt hin und her bewegte. Durch den Stützkragen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit sollte der stechende Schmerz gelindert werden, der sich vom linken Ohr zum Nacken zog und sich unterhalb des Schulterblattes verästelte wie eine verkehrt herum gehaltene Menora. Manchmal half der Kragen, manchmal nicht, aber allein schon, ihn zu tragen, war genauso zum Verrücktwerden wie die Schmerzen selbst. Zuckerman konnte sich dann bloß noch auf sich selber und den Kragen konzentrieren.

Er hatte sich ein Buch aus seiner Collegezeit vorgenommen: The Oxford Book of Seventeenth Century Verse. Auf dem Vorsatzblatt, über seinem mit blauer Tinte eingetragenen Namen und dem Datum, stand in der Handschrift, die er 1949 gehabt hatte, ein Aperçu des Studienanfängers: »Metaphysischen Dichtern fällt der Schritt vom Lächerlichen zum Erhabenen leicht.« Zum ersten Mal seit vierundzwanzig Jahren nahm er sich die Gedichte von George Herbert vor. Er hatte das Buch aus dem Regal geholt, um das Gedicht Der Kragen zu lesen und darin vielleicht etwas zu finden, was es ihm erleichtern würde, seinen eigenen Kragen zu tragen. Das galt ja allgemein als eine Funktion großer Literatur: Leiden zu lindern mittels der Schilderung unseres gemeinsamen Schicksals. Wie Zuckerman jetzt erfahren mußte, konnten körperliche Schmerzen den Menschen schrecklich primitiv machen, falls sie nicht durch regelmäßige Dosen philosophischen Denkens bekämpft wurden. Vielleicht konnte er bei Herbert ein paar nützliche Hinweise entdecken.

»… Soll still ich sein fortan?
Nichts andres ernten mehr als einen Dorn,
Auf daß ich blute und, was ich verlor,
Durch keine Labsal neu beleben kann?
Ja, da ist Wein gewesen,
Eh’ meine Seufzer ihn vertrocknen ließen. Und Korn,
Eh’ es versunken ist in meinen Tränen.
Ging mir das Jahr denn ganz verloren?
Hab’ keinen Lorbeer ich, es zu bekrönen?
Und keine Blumen, keinen bunten Kranz?
Alles dahin? Alles vertan?
… Doch als ich tobte, vor Verzweiflung blind,
In Wut geriet, bei jedem Worte mehr,
War mir, als riefe jemand: Kind!
Und ich erwiderte: Mein Gott und Herr.«

So gut er es mit seinem schmerzenden Arm vermochte, schleuderte er das Buch quer durchs Zimmer. Er lehnte es ab, aus seinem Kragen oder aus den Beschwerden, die dieser lindern sollte, eine Metapher für etwas Erhabenes zu machen. Metaphysischen Dichtern mochte der Schritt vom Lächerlichen zum Erhabenen leichtfallen, Zuckerman jedoch hatte auf Grund seiner Erfahrungen in den letzten achtzehn Monaten den Eindruck, daß er sich – wenn überhaupt – in die entgegengesetzte Richtung bewegte.

Näher als bei der Niederschrift der letzten Seite eines Buches war er noch nie an das Erhabene herangekommen – und das war seit vier Jahren nicht mehr geschehen. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal eine lesbare Seite geschrieben hatte. Selbst wenn er den Kragen trug, war es wegen der Halsmuskelverkrampfung und der stechenden Schmerzen entlang des Rückgrats mühsam für ihn, auch nur die Adresse auf einen Briefumschlag zu tippen. Als ein Orthopäde des Mount-Sinai-Krankenhauses diese Beschwerden darauf zurückgeführt hatte, daß Zuckerman seit zwanzig Jahren auf einer mechanischen Reiseschreibmaschine herumhämmerte, hatte er sich sofort eine IBM Selectric II gekauft, doch als er sich dann zu Hause an die Arbeit machte, hatte er festgestellt, daß ihm das Tippen auf der ungewohnten IBM-Tastatur genau die gleichen Schmerzen verursachte wie das Tippen auf der letzten seiner kleinen Olivettis. Er brauchte bloß einen Blick auf die Olivetti in ihrem ramponierten Köfferchen zu werfen, das er ganz hinten in seinem Schlafzimmerschrank verstaut hatte, und schon überkam ihn ein deprimierendes Gefühl – ähnlich wie es Bojangles Robinson empfunden haben mußte, wenn er seine alten Tanzschuhe betrachtete. Wie einfach war es früher, als er noch gesund gewesen war, der Olivetti einen Schubs zu geben, um auf dem Schreibtisch Platz zu machen für seinen Mittagsimbiß oder seine Aufzeichnungen oder seine Lektüre oder seine Post. Wie gern er sie herumgeschubst hatte, diese stillen Sparringpartner, die sich nie beklagten! Und wie er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr auf ihnen herumgehämmert hatte! Sie waren dabeigewesen, wenn er seine Unterhaltszahlungen überwies und die Briefe seiner Fans beantwortete; dabeigewesen, wenn er den Kopf auf die Schreibtischplatte legte – überwältigt von der Schönheit oder Häßlichkeit dessen, was er gerade geschrieben hatte; dabeigewesen bei jeder Seite, jedem Entwurf für seine vier veröffentlichten und die drei lebendig begrabenen Romane. Wenn Olivettis reden könnten, bekäme man den Romanautor nackt zu sehen. Die IBM hingegen, verordnet von seinem ersten Orthopäden, hatte nichts dergleichen zu bieten – bloß das selbstgefällige, puritanische, fachmännische Summen, mit dem sie auf sich und ihre Tugenden hinwies: Ich bin eine Correcting Selectric II. Ich mache nie etwas falsch. Ich habe keine Ahnung, wer dieser Mensch ist. Und allem Anschein nach weiß er selbst das auch nicht.

Mit der Hand zu schreiben, war auch nicht besser. Selbst in den guten alten Tagen hatte er, wenn er die linke Hand übers Papier bewegte, so ausgesehen wie jemand, der sich tapfer bemüht, den Gebrauch einer Prothese zu erlernen, und was dabei herauskam, war gar nicht so leicht zu entziffern. Bei nichts anderem stellte er sich so ungeschickt an wie beim Schreiben mit der Hand. Er konnte besser Rumba tanzen als mit der Hand schreiben. Er hielt den Füller zu verkrampft. Er biß die Zähne zusammen und schnitt Grimassen. Er streckte den Ellbogen von sich wie beim Brustschwimmen, dann knickte er die Hand ab, um die Buchstaben von oben statt von unten her zu formen – die Verkrümmungsmethode, mittels deren so manches linkshändige Kind sich beigebracht hat, die Wörter nicht zu verschmieren, wenn es beim Schreiben die Hand nahe dem Tintenfaß von links nach rechts bewegte. Ein renommierter Chiropraktiker war sogar zu der Überzeugung gelangt, daß genau dies die Ursache von Zuckermans Problemen sei: der ernsthafte, linkshändige Schuljunge, dessen krampfhafte Bemühungen, das Hindernis »feuchte Tinte« zu überwinden, dazu geführt hätten, daß die Wirbelsäule sich allmählich verschoben und schräg ins Kreuzbein gebohrt habe. Zuckermans Brustkorb war schief. Sein Schlüsselbein war krumm. Sein linkes Schulterblatt stand flügelförmig ab wie bei einem Huhn. Und sogar sein Oberarmknochen steckte schief und viel zu fest in der Schultergelenkkapsel. Dem ungeschulten Auge erschien er wahrscheinlich mehr oder weniger wohlproportioniert, inwendig aber war er so mißgestaltet wie Richard III. Nach Meinung des Chiropraktikers hatte er sich seit seinem siebten Lebensjahr zunehmend verkrümmt. Seit er Hausaufgaben gemacht hatte. Seit er seinen ersten Bericht über das Leben in New Jersey verfaßt hatte. »Im Jahre 1666 bekam Robert Treat vom Gouverneur Cateret einen Dolmetscher und einen Scout zur Verfügung gestellt, die ihn den Hackensack flußaufwärts zu dem Treffen mit dem Abgesandten Oratons, des hochbetagten Häuptlings der Hackensack-Indianer, begleiteten. Robert Treat wollte Oraton wissen lassen, daß die weißen Ansiedler rein friedliche Absichten hätten.« Begonnen hatte er als Zehnjähriger mit Newarks Robert Treat und so kultivierten, wohlklingenden Wörtern wie »Dolmetscher« und »Abgesandter«, geendet hatte er mit Newarks Gilbert Carnovsky und den ordinären einsilbigen Ausdrücken »Schwanz« und »Loch«. Das war der Hackensack, den der Schriftsteller hinaufgerudert war, um schließlich im Hafen der Schmerzen anzulegen.

Wenn es zu qualvoll war, aufrecht zu sitzen, versuchte er, sich im Sessel zurückzulehnen und, so gut es eben ging, mit der Hand zu schreiben. Sein Hals wurde von dem orthopädischen Kragen, seine Wirbelsäule von der gepolsterten Sessellehne gestützt, und eine genau nach seinen Angaben zugeschnittene, über die Armlehnen gelegte Hartfaserplatte diente ihm als tragbare Unterlage für seine Manuskripthefte. Seine Wohnung war so ruhig, daß man sich völlig konzentrieren konnte. Er hatte die großen Fenster seines Arbeitszimmers mit Doppelscheiben verglasen lassen, damit aus dem Wohnhaus, das neben dem braunen Sandsteinhaus stand, kein Fernseh- oder Plattenspielerlärm in seine Wohnung drang. Und die Decke hatte er schalldicht machen lassen, um nicht durch das Gescharr der beiden Pekinesen in der Wohnung über ihm gestört zu werden. Das Arbeitszimmer war mit einem kupferfarbenen wollenen Spannteppich ausgelegt, und an den Fenstern hingen bodenlange cremefarbene Samtvorhänge. Es war ein behaglicher, ruhiger, von Bücherregalen gesäumter Raum. Sein halbes Leben hatte er in Räumen wie diesem verbracht. Auf dem Schränkchen, in dem seine Wodkaflasche und ein Glas standen, hatte er alte Lieblingsfotos in Plexiglasrahmen aufgestellt: seine verstorbenen Eltern als jungverheiratetes Paar im Garten hinter dem Haus seiner Großeltern; seine Ex-Ehefrauen, geknipst in Nantucket und vor Gesundheit strotzend; sein mit ihm entzweiter Bruder, aufgenommen im Jahr 1957 als Absolvent der Cornell-Universität – magna cum laude (und tabula rasa) – in Barett und Robe. Wenn er tagsüber überhaupt ein Wort von sich gab, dann nur, um mit diesen Fotos zu plaudern.

Ansonsten herrschte hier eine Stille, die selbst einem Proust genügt hätte. Zuckerman hatte Stille, Bequemlichkeit, Zeit und Geld, aber seine Entwürfe mit der Hand zu schreiben, verursachte ihm so heftige Oberarmschmerzen, daß ihm im Nu übel wurde. Während er mit der rechten Hand den Muskel knetete, schrieb er mit der linken weiter. Er versuchte, nicht an die Schmerzen zu denken. Er tat so, als ob es nicht sein Oberarm sondern der eines anderen wäre. Er versuchte, ihn dadurch zu überlisten, daß er zu schreiben aufhörte, dann wieder anfing, wieder aufhörte, wieder anfing. Lange genug damit aufzuhören, linderte die Schmerzen, schadete aber der Arbeit: Wenn er zum zehnten Mal aufgehört hatte, wußte er nicht mehr, worüber er schreiben sollte, und wenn es für ihn nichts mehr zu schreiben gab, hatte sein Dasein keinen Zweck mehr. Wenn er den Stützkragen herunterriß und sich auf den Fußboden warf, hätte das knirschende Geräusch, mit dem der Klettverschluß aufging, aus seinen Eingeweiden kommen können. Jeder Gedanke, jede Empfindung verstrickt in das Eigenleben des Schmerzes.

In einem Kindermöbelgeschäft in der 56. Straße hatte er eine weiche Spielmatte mit rotem Plastiküberzug gekauft, die jetzt ständig in seinem Arbeitszimmer lag, zwischen dem Schreibtisch und dem Polstersessel. Wenn er nicht mehr aufrecht sitzen konnte, streckte er sich auf der Spielmatte aus, wobei er Roget’s Thesaurus als Kopfstütze benützte. Das meiste, was er tagsüber zu erledigen hatte, erledigte er von der Spielmatte aus. Ohne die Bürde seines Oberkörpers und die fast fünfzehn Pfund, die sein Kopf wog, tragen zu müssen, führte er hier seine Telefongespräche, empfing er Besuche, verfolgte er auf dem Bildschirm den Watergate-Skandal. Statt seiner Brille trug er Prismengläser, die es ihm ermöglichten, rechtwinklig zu sehen. Sie wurden speziell für Bettlägerige von einer Firma in Downtown Manhattan hergestellt, die ihm sein Physiotherapeut empfohlen hatte. Durch seine Prismengläser beobachtete er die Verdrehungstaktik des Präsidenten, sein höllisches Blut-und-Wasser-Schwitzen, seine tolldreiste Lügerei. Er hatte beinahe Mitleid mit ihm, dem einzigen anderen Amerikaner, den er tagtäglich zu sehen bekam und der offenbar genauso tief im Schlamassel steckte wie er selber. Auf dem Fußboden ausgestreckt, konnte Zuckerman auch sehen, welche seiner Frauen gerade auf dem Sofa saß. Was die jeweils anwesende Freundin sah, waren die rechteckigen, undurchsichtigen Rückseiten der weit vorstehenden Prismengläser und Zuckerman, der der Zimmerdecke den Fall Nixon erläuterte.

Von der Spielmatte aus versuchte er, einer Sekretärin seine Prosa zu diktieren, aber er verfügte nicht über die notwendige Geläufigkeit. Manchmal verstrich eine volle Stunde, ohne daß er ein einziges Wort diktierte. Er konnte keinen Text verfassen, ohne ihn geschrieben vor sich zu sehen. Er konnte sich zwar vorstellen, was die Sätze aussagen sollten, aber er konnte sich die Sätze nicht vorstellen, ehe er sah, wie sie sich entfalteten und aneinanderreihten. Die Sekretärin war erst zwanzig und ließ sich, vor allem in den ersten Wochen, allzu leicht von seinem Kummer anstecken. Die Zusammenarbeit war für sie beide eine Qual und endete meist damit, daß die Sekretärin ebenfalls auf der Spielmatte landete. Geschlechtsverkehr, Fellatio und Cunnilingus konnte Zukkerman mehr oder weniger schmerzfrei ertragen, vorausgesetzt, daß er flach auf dem Rücken liegenblieb und den Kopf auf das Synonymwörterbuch stützte. Roget’s Thesaurus war gerade dick genug, um zu verhindern, daß sein Hinterkopf unter Schulterhöhe absank und die Nakkenschmerzen von neuem einsetzten. Auf dem Vorsatzblatt des Wörterbuches stand: »Von Dad – ich setze mein ganzes Vertrauen in Dich.« Und das Datum: »24. Juni 1946.« Ein Buch, das, als er die Grundschule hinter sich hatte, seinen Wortschatz bereichern sollte.

Um mit ihm auf der Spielmatte zu liegen, kamen die vier Frauen zu ihm. Sie waren das einzige, was ihm vom pulsierenden Leben geblieben war. Sekretärin-Vertraute-Köchin-Haushälterin-Gefährtin – neben der täglichen Dosis von Nixons Leiden waren sie sein Zeitvertreib. Auf dem Rücken liegend, kam er sich wie ihre Hure vor, wie jemand, der mit Sex dafür bezahlt, daß ihm die Milch und die Zeitung gebracht werden. Sie erzählten ihm ihre Probleme, zogen sich aus und senkten ihre Spalte, damit Zuckerman sie ausfüllen konnte. In Ermangelung einer anstrengenden Tätigkeit und einer ermutigenden ärztlichen Prognose ließ er alles mit sich machen, was sie wollten. Je größer seine Hilflosigkeit, desto unverhohlener ihre Begierde. Danach rannten sie weg. Wuschen sich, tranken rasch einen Kaffee, knieten sich neben ihn, gaben ihm einen Abschiedskuß und verschwanden schleunigst wieder ins wirkliche Leben. Ließen Zuckerman auf dem Rücken liegen – für den nächsten Besuch, der an der Tür klingelte.

Als er noch gesund war und arbeiten konnte, hatte er für solche Affären keine Zeit gehabt, nicht einmal wenn er in Versuchung geraten war. Zu viele Ehefrauen in zu wenigen Jahren, um sich ein solches Kebsenkonsortium leisten zu können. Die Ehe war sein Bollwerk gegen die enorme Gefahr gewesen, von Frauen abgelenkt zu werden. Er hatte um der Ordnung willen geheiratet, um der Vertrautheit und der zuverlässigen Kameradschaft und der Regelmäßigkeit des monogamen Lebens willen. Er hatte geheiratet, weil er keine Zeit mehr mit irgendeiner Affäre verplempern, sich auf Parties nicht mehr tödlich langweilen und nach einem ganzen Tag allein im Arbeitszimmer am Abend nicht mehr allein im Wohnzimmer herumhocken wollte. Abend für Abend alleine dazusitzen und sich mit der Lektüre zu beschäftigen, die er brauchte, um sich auf die einsame Schreibtischarbeit am nächsten Tag konzentrieren zu können, war sogar für einen so zielstrebigen Menschen wie Zuckerman zu viel. Darum hatte er eine Frau in sein aufreizend asketisches Leben gelockt – jeweils nur eine einzige, eine ruhige, nachdenkliche, ernsthafte, gebildete, selbstgenügsame Frau, die nicht ausgeführt werden wollte, sondern sich damit begnügte, nach dem Abendessen ihm und seinem Buch gegenüberzusitzen und zu lesen.

Nach jeder Scheidung hatte er von neuem festgestellt, daß man als Junggeselle mit den Frauen ausgehen muß: in Restaurants, in den Park, ins Museum, in die Oper, ins Kino – und nach dem Kinobesuch mußte er auch noch mit ihnen über die Filme diskutieren. Kam es zu einer Liebesaffäre, dann war das Problem, sich morgens frühzeitig genug zu absentieren, um noch mit frischen Kräften an die Arbeit gehen zu können. Manche Frauen erwarteten, daß er mit ihnen frühstückte und sich dabei mit ihnen unterhielt wie ein normaler Mensch. Manche wollten danach wieder ins Bett. Er wollte das auch. Wieder ins Bett zu gehen, war bestimmt unterhaltsamer als an die Schreibmaschine und zu dem Buch zurückzukehren. Und viel weniger frustrierend! Dort konnte man das, was man sich vorgenommen hatte, schaffen, ohne zehnmal falsch anzufangen und sechzehn Entwürfe zu machen und immer wieder im Zimmer auf und ab zu laufen. So ließ er denn seine Bedenken fallen – und der Vormittag war im Eimer.

In solche Versuchungen war er bei seinen eigenen Frauen nicht gekommen – jedenfalls nicht, wenn die Ehe schon eine Zeitlang gedauert hatte.

Aber die Schmerzen hatten alles verändert. Wer jetzt die Nacht bei ihm verbrachte, wurde nicht nur zum Frühstück eingeladen sondern auch aufgefordert, bis zum Mittagessen zu bleiben, falls sie Zeit hätte (und falls vor dem Abendessen kein anderer Besuch zu erwarten war). Dann schob er einen nassen Waschlappen und einen Eisbeutel unter seinen Frottébademantel, und während das Eis seinen Trapezmuskel betäubte, saß er auf seinem roten Samtsessel und hörte zu. Früher, als er sich immer nur abrackerte, hatte er eine fatale Schwäche für hochherzige Partnerinnen gehabt. Jetzt verschaffte ihm seine Unbeweglichkeit eine ausgezeichnete Gelegenheit, Frauen auszuhorchen, die nicht so unzweifelhaft aufrechte Charaktere waren wie seine drei verflossenen Ehefrauen. Vielleicht konnte er etwas dazulernen, vielleicht auch nicht, jedenfalls aber lenkte es ihn ab, und nach Meinung des Rheumatologen an der New York University konnte Ablenkung – wenn der Patient sich wirklich darum bemühte –, selbst die schlimmsten Schmerzen auf ein erträgliches Maß reduzieren.

Der Psychoanalytiker, den er konsultierte, sah die Sache völlig anders. Er dachte laut darüber nach, ob Zuckerman nicht vielleicht den Kampf gegen die Krankheit aufgegeben habe, weil er seinen »Harem aus lauter Florence Nightingales« ohne große Gewissensbisse behalten wolle. Zuckerman nahm ihm diese Stichelei so übel, daß er beinahe hinausgegangen wäre. Aufgegeben? Was gab es denn noch, das er nicht schon versucht hatte? Seit die Schmerzen vor eineinhalb Jahren wirklich schlimm geworden waren, hatte er bei drei Orthopäden, zwei Neurologen, einem Physiotherapeuten, einem Chiropraktiker, einem Vitamindoktor, einem Akupunkturspezialisten und jetzt auch bei diesem Psychoanalytiker im Wartezimmer gesessen, bis er an die Reihe kam. Der Akupunkturexperte hatte ihm bei jeder der fünfzehn Behandlungen zwölf Nadeln hineingestochen, im ganzen also einhundertachtzig Nadeln, und keine einzige hatte etwas genützt. Jedesmal saß Zuckerman ohne Hemd in einer der achtzehn Behandlungskabinen des Akupunkturspezialisten und las, mit Nadeln gespickt, die New York Times; blieb folgsam fünfzehn Minuten lang sitzen, bezahlte dann seine fünfzehn Dollar und ließ sich wieder uptown fahren, wobei er immer wenn das Taxi über ein Schlagloch ratterte, vor Schmerzen brüllte. Der Vitamindoktor verpaßte ihm fünfmal eine Vitamin B 12-Spritze. Der Chiropraktiker zog ihm mit einem Ruck den Brustkorb nach oben, zerrte an seinen Armen und drehte ihm den Hals nach rechts und links, daß es nur so knackte. Der Physiotherapeut traktierte ihn mit heißen Packungen, Ultraschall und Massagen. Der erste Orthopäde machte ihm mehrere »Schnellschuß«-Injektionen und riet ihm, die Olivetti wegzuwerfen und die IBM zu kaufen; der zweite erzählte ihm zunächst, er habe ebenfalls Bücher geschrieben, wenn auch keine »Bestseller«, dann untersuchte er ihn (wobei der Patient sich zuerst hinlegen, dann aufrecht stehen und sich dann vorbeugen mußte), und als Zuckerman sich wieder angezogen hatte, begleitete er ihn hinaus und erklärte seiner Sprechstundenhilfe, daß er diese Woche keine Zeit mehr mit Hypochondern verplempern könnte. Der dritte Orthopäde verschrieb ihm heiße Bäder (jeden Morgen zwanzig Minuten lang) und danach verschiedene Streckübungen. Die Bäder waren ganz angenehm – Zuckerman hörte sich dabei durch die offene Tür Musik von Mahler an –, aber die Übungen, so einfach sie auch waren, verschlimmerten die Schmerzen derart, daß er schleunigst wieder zu dem ersten Orthopäden ging, der ihm wieder mehrere Schnellschußinjektionen machte, die nichts nützten. Der Röntgenologe röntge Zuckermans Brustkorb, Rücken, Nacken, Schädel, Schultern und Arme. Der erste Neurologe sah sich die Röntgenaufnahmen an und sagte, er wäre froh, wenn seine eigene Wirbelsäule in einem so guten Zustand wäre. Der zweite verordnete ihm eine zweiwöchige Krankenhausbehandlung: eine Nackenstreckung, durch die der Druck auf die Bandscheibe vermindert werden sollte – für Zuckerman zwar nicht die allerschlimmste, aber bestimmt die erniedrigendste Erfahrung, die er jemals gemacht hatte. Er wollte nicht einmal mehr daran denken, obwohl es sonst nicht seine Art war, an Dinge, die ihm passierten, egal, wie schlimm sie waren, nicht mehr denken zu wollen. Aber er war entsetzt über seine Feigheit. Daß er Beruhigungsmittel bekam (die allerdings nichts halfen) machte diese totale Hilflosigkeit für ihn nur noch erschreckender und deprimierender. Er wußte, er würde rasend werden, sobald man die Gewichte an die Gurte hängte, mit denen sein Kopf angeschnallt war. Ans Bett gefesselt, begann er am achten Morgen (obwohl niemand bei ihm im Krankenzimmer war) zu schreien: »Ich will aufstehen! Laßt mich hier raus!«, und innerhalb von fünfzehn Minuten war er angezogen und drunten am Kassenschalter, um seine Rechnung zu bezahlen. Erst als er draußen auf der Straße war und ein Taxi herbeiwinkte, dachte er: »Und wenn dir einmal etwas wirklich Furchtbares passiert, was dann?«

Jenny war vom Land in die Stadt gekommen, um ihm während der zwei Wochen, die er im Streckverband bleiben sollte, beizustehen. Vormittags besuchte sie Kunstgalerien und Museen, nach dem Mittagessen kam sie zu ihm ins Krankenhaus und las ihm zwei Stunden lang aus dem Zauberberg vor. Zuckerman hatte diesen berühmten Roman für genau die richtige Lektüre in dieser Situation gehalten, aber als er angeschnallt und bewegungslos in dem schmalen Bett liegen mußte, ärgerte er sich mehr und mehr über Hans Castorp und den Reifeprozeß, zu dem ihm die Tuberkulose verhalf. Und mit der luxuriösen Ausstattung eines Schweizer Sanatoriums aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg konnte es Zimmer 611 des New Yorker Krankenhauses natürlich nicht aufnehmen, auch wenn man 1500 Dollar pro Woche dafür berappen mußte. »Klingt wie eine Kreuzung zwischen den Salzburger Seminaren und der prächtigen alten ›Queen Mary‹«, sagte er zu Jenny. »Fünf große Mahlzeiten am Tag, und dann langweilige Vorträge europäischer Intellektueller – samt hochgelehrsamen Scherzen. So viel Philosophie! So viel Schnee! Erinnert mich an die Universität von Chicago.«

Er hatte Jenny während eines Besuches bei Freunden kennengelernt, die ein Landhaus auf einem bewaldeten Hügel in Bearsville, einem Dorf am Hudson, hatten. Jenny, Tochter eines Dorfschullehrers, hatte die Kunstakademie des Cooper Union College besucht und war dann drei Jahre lang mit dem Rucksack in Europa herumgezogen. Jetzt war sie wieder dort, wo ihr Leben begonnen hatte, und hauste – mit ihrer Katze, ihren Farben und einem Franklin-Ofen – in einer Holzhütte. Sie war achtundzwanzig, robust, einsam, kraß. Sie hatte einen rosigen Teint, gesunde längliche weiße Zähne, babyfeine karottenfarbene Haare und eindrucksvolle Armmuskeln. Keine langen Verführerinnenfinger wie seine Sekretärin Diana – nein, Jenny hatte Hände. »Wenn Sie wollen«, hatte sie damals zu Zuckerman gesagt, »erzähle ich Ihnen irgendwann einmal Geschichten über meine Jobs: ›Meine Bizepse und wie ich sie bekam.‹« Bevor er nach Manhattan zurückgekehrt war, hatte er sie – unangemeldet – in ihrer Hütte besucht, angeblich, um sich ihre Landschaftsbilder anzusehen. Himmel, Bäume, Hügel und Feldwege, genauso kraß wie sie selber. Van Gogh ohne die vibrierende Sonne. Zitate aus van Goghs Briefen an seinen Bruder waren an ihre Staffelei geheftet, und ein Exemplar der französischen Ausgabe der Briefe, dasselbe, das sie im Rucksack durch Europa geschleppt hatte, lag bei den Kunstbüchern, die neben dem Sofa aufgestapelt waren. An den Wänden aus Holzfaserplatten hingen Bleistiftzeichnungen: Kühe, Pferde, Schweine, Vogelnester, Blumen, Gemüse- und alle verkündeten mit dem gleichen aufrichtigen Charme: »Hier bin ich und ich bin wirklich!«

Sie schlenderten durch den verwahrlosten Obstgarten hinter der Hütte und kosteten das verschrumpelte Obst. »Warum fassen Sie immer wieder nach Ihrer Schulter?« Zuckerman hatte gar nicht gemerkt, daß er das tat. Die Schmerzen hatten damals erst ungefähr ein Viertel seiner Existenz mit Beschlag belegt, und er hielt sie noch für so etwas ähnliches wie einen Flecken auf seinem Mantel, den man bloß abzubürsten brauchte. »Irgendeine Zerrung«, erwiderte er. »Vom Eindreschen auf die Kritiker?« »Wohl eher vom Eindreschen auf mich selber. Wie ist das eigentlich, hier oben ganz alleine zu leben?« »Viel malen, viel im Garten arbeiten, viel onanieren. Es muß schön sein, Geld zu haben und alles mögliche kaufen zu können. Was ist das Extravaganteste, das Sie jemals getan haben?« Das Extravaganteste, das Dümmste, das Schmutzigste, das Aufregendste – er erzählte es ihr, und dann erzählte sie es ihm. Stundenlang Fragen und Antworten, aber danach eine Zeitlang nichts weiter. »Unsere fabelhafte sexlose Beziehung«, nannte sie es, wenn sie nachts lange Telefongespräche führten. »Mein Pech vielleicht, aber ich möchte keine Ihrer Spielgefährtinnen sein. Ich bin besser dran, wenn ich mit meinem Hammer einen neuen Fußboden zimmere.« »Wo haben Sie gelernt, einen Fußboden zu zimmern?« »Das ist leicht.«

Einmal rief sie um Mitternacht an, um ihm zu berichten, daß sie im Garten gewesen sei und das Gemüse bei Mondschein abgeerntet habe. »Die Einheimischen hier oben sagen, wir bekommen in ein paar Stunden Frost. Ich komme hinunter nach Lemnos, um zuzusehen, wie Sie Ihre Wunden lecken.« »Lemnos? Ich erinnere mich nicht an Lemnos.« »Wo die Griechen Philoktet und seinen Fuß ausgesetzt hatten.«

Sie blieb drei Tage auf Lemnos. Sie sprühte seinen Nacken mit schmerzbetäubendem Chloräthyl ein: sie setzte sich unbekleidet auf seinen verkrampften Rücken und massierte ihn zwischen den Schulterblättern; sie kochte coq au vin und cassoulet – Gerichte, die stark nach Speck schmeckten –, dazu das Gemüse, das sie vor Einsetzen des Frostes geerntet hatte; sie erzählte ihm von Frankreich und von den Abenteuern, die sie dort mit Männern und Frauen erlebt hatte. Als er vor dem Zubettgehen aus dem Badezimmer kam, erwischte er sie dabei, wie sie in den Terminkalender auf seinem Schreibtisch spähte. »Erstaunlich verstohlen für jemanden, der sonst so geradeheraus ist«, bemerkte er. Sie lachte bloß und sagte: »Du könntest keine Bücher schreiben, wenn du nicht noch schlimmere Methoden anwenden würdest. Wer ist ›D‹? Wer ist ›G‹? Wie viele sind es denn im ganzen?« »Wieso? Möchtest du einige von ihnen kennenlernen?« »Nein, danke. Darauf möchte ich mich lieber nicht einlassen. So etwas habe ich mir dort oben auf meinem Berg abgewöhnen wollen.« Am letzten Morgen ihres ersten Besuches wollte er ihr etwas schenken – etwas anderes als ein Buch. Sein Leben lang hatte er Frauen Bücher geschenkt (samt den Vorträgen, die er darüber gehalten hatte). Er gab Jenny zehn Hundertdollarscheine. »Wozu?« »Du hast mir gerade gesagt, wie gräßlich du es findest, in die Stadt zu kommen und wie ein Bauerntrampel auszusehen. Und auch wegen deiner Neugier in puncto Extravaganz. Van Gogh hatte seinen Bruder, du hast mich. Nimm das Geld!« Drei Stunden später kam sie mit einem scharlachroten Kaschmircape, burgunderroten Stiefeln und einer großen Flasche Bal à Versailles zurück. »Ich habe bei Bergdorf eingekauft«, sagte sie etwas zaghaft, aber stolz. »Hier ist das übrige Geld.« Sie gab ihm zwei Fünfzigcentstücke, ein Zehncentstück und zwei Cents. Dann legte sie ihre gesamte Bauerntrampelgarderobe ab und zog bloß das Cape und die Stiefel an. »Ich komme mir hübsch vor.« »Du bist hübsch.« Sie öffnete die Flasche, betupfte sich mit dem Stöpsel und parfümierte ihre Zungenspitze. Dann wieder zum Spiegel. Betrachtete sich lange. »Ich komme mir groß vor.« Das war sie nicht und würde es auch nie sein. Am Abend rief sie aus dem Dorf an, um ihm zu berichten, wie ihre Mutter reagiert hatte, als sie ihr, in dem Cape und nach Bal à Versailles duftend, einen kurzen Besuch abgestattet und ihr erzählt hatte, das habe sie von einem Mann geschenkt bekommen. »Sie hat gesagt: ›Was wird deine Großmutter zu diesem Mantel sagen?‹« Na schön, dachte Zuckerman, ein Harem ist eben ein Harem. »Frag deine Großmutter nach ihrer Konfektionsgröße, dann schenke ich ihr auch einen.«

Die für die Nackenstreckung vorgesehenen zwei Wochen begannen damit, daß Jenny ihm nachmittags im Krankenhaus aus dem Zauberberg vorlas und abends in seine Wohnung zurückkehrte, wo sie Skizzen seines Schreibtisches, seines Stuhls, seiner Bücherregale und seiner Kleidungsstücke auf ihren Skizzenblock zeichnete, um sie bei ihrem nächsten Besuch im Krankenhaus an die Wand seines Zimmers zu heften. Jeden Tag zeichnete sie für ihn eines jener altmodischen amerikanischen Tücher mit Stickereimustern und einem erhebenden Sinnspruch in der Mitte, und auch diese Skizzen heftete sie an die Wand, die er vom Bett aus sehen konnte. »Um deinen Ausblick zu vertiefen«, erklärte sie.

Das einzige Mittel gegen Seelenschmerz
ist körperlicher Schmerz.

KARL MARX

Einen Ort, wo man gelitten hat, liebt man
deshalb nicht weniger.

JANE AUSTEN

Wenn man stark genug ist, gewissen Erschütterungen zu widerstehen, mehr oder weniger komplizierte körperliche Probleme zu bewältigen, dann ist man zwischen vierzig und fünfzig wieder in einem neuen, relativ normalen Fahrwasser.

V. VAN GOGH

Sie entwarf eine Tabelle, die zeigen sollte, welche Fortschritte sein »Ausblick« durch diese Behandlungsmethode machte. Nach sieben Tagen sah diese Tabelle so aus:

Tabelle

Als sie am achten Nachmittag mit ihrem Skizzenblock in Zimmer 611 erschien, war Zuckerman fort. Sie fand ihn zu Hause vor, auf der Spielmatte, halb betrunken. »Zuviel Einblick, um Ausblick zu haben«, sagte er. »Zu allumfassend. Zu isolierend. Bin zusammengebrochen.«

»Ach«, sagte sie leichthin, »ich glaube nicht, daß man das als Zusammenbruch bezeichnen kann. Es kann keine Stunde gedauert haben.«

»Das Leben kleiner und kleiner und kleiner. Ich denke beim Aufwachen an meinen Nacken. Ich denke beim Einschlafen an meinen Nacken. Einziger Gedanke, zu welchem Arzt, wenn auch das meinem Nacken nicht helfen kann. War dort, um gesund zu werden, und habe gemerkt, es geht mir schlechter. Hans Castorp kann das alles besser als ich, Jennifer. Nichts in diesem Bett, bloß ich. Bloß ein Nacken, der Nackengedanken hat. Kein Settembrini, kein Naphta, kein Schnee. Keine glanzvolle intellektuelle Reise. Ich versuche, da herauszufinden, und gerate bloß noch tiefer hinein. Geschlagen. Beschämt.« Er tobte vor Zorn.

»Nein, ich war das Problem.« Sie goß ihm noch ein Glas ein. »Ich wollte, ich wäre unterhaltsamer. Wenn ich bloß nicht so ein grober Klotz wäre! Vergiß es! Wir haben’s versucht, aber es hat nicht funktioniert.«

Er saß am Küchentisch, rieb sich den Nacken und trank den Wodka aus, während sie ihr speckiges Lammragout zubereitete. Er wollte sie nicht aus den Augen lassen. Vernünftige Jenny, laß uns aus der Kehrseite der Häuslichkeit das Beste machen – leb mit mir zusammen und sei mein lieber grober Klotz! Er war nahe daran, sie zu bitten, zu ihm zu ziehen. »Im Bett habe ich mir gesagt: ›Komme, was mag – wenn ich hier herauskomme, stürze ich mich wieder in die Arbeit. Wenn’s weh tut, tut’s eben weh, zum Teufel damit! Nimm deinen ganzen Verstand zusammen und steh es einfach durch!«

»Und?«

»Zu simpel. Der Verstand hat überhaupt nichts damit zu tun. Sich Sorgen darüber machen, sich den Kopf darüber zerbrechen, dagegen ankämpfen, sich behandeln lassen, es zu ignorieren versuchen, dahinter kommen wollen, was es eigentlich ist – verglichen damit kommt mir meine übliche Introvertiertheit wie der Times Square am Silvesterabend vor. Wenn man Schmerzen hat, kann man nur noch daran denken, daß man keine mehr haben will. Man ist nur noch von diesem Gedanken besessen. Ich hätte dich nicht bitten sollen, herzukommen. Ich hätte allein damit fertigwerden müssen. Aber sogar in dieser Hinsicht war ich zu schwach. Du als Augenzeuge!«

»Augenzeuge wovon? Meinem Ausblick hat es ganz gut getan. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich es genossen habe, hier in einem Rock herumzulaufen. Ich habe lange genug auf meine ernsthafte, polternde Art für mich selbst gesorgt. Für dich kann ich sanfter und ruhiger sein – du hast mir die Chance gegeben, mich weiblicher zu benehmen. Niemand braucht sich deshalb Vorwürfe zu machen. Es ist Zeit, sich frei von Schuld zu fühlen, Nathan, Zeit für dich und für mich. Ich werde dir beistehen, und du mir, und über die Konsequenzen sollten wir beide uns keine Sorgen machen. Das können wir getrost meiner Großmutter überlassen.«

Sich für Jenny entscheiden? Wäre verlockend – falls sie überhaupt darauf einginge. Ihr Mumm, ihre Gesundheit, ihre Unabhängigkeit, die Van Gogh-Zitate, die Willenskraft – wie beruhigend das alles auf ihn, den von seiner Krankheit Besessenen, wirkte! Aber was würde passieren, wenn es ihm wieder besser ging? Sich für Jenny entscheiden, weil sie in vieler Hinsicht mit Mrs. Zuckerman Nr. 1, Nummer 2 und Nummer 3 vergleichbar ist? Der triftigste Grund, sich nicht für sie zu entscheiden! Eine Wahl treffen wie ein Patient, der eine Pflegerin braucht? Die beste Entscheidung in einer solchen Zwangslage ist, keine Entscheidung zu treffen. Abwarten. Status quo.

Die tiefe Depression, in die er durch die achttägige Gefangenschaft im Streckverband (und durch den Gedanken ans Abwarten) geriet, ließ ihn zum Psychoanalytiker rennen. Aber mit dem vertrug er sich überhaupt nicht. Der redete davon, daß eine Krankheit auch ihre guten Seiten hätte, und erzählte Zuckerman vom seelischen Gewinn für den Patienten. Zuckerman räumte ein, daß in ähnlich rätselhaften Fällen vielleicht mit einem solchen Gewinn zu rechnen sei. Aber was ihn betreffe – er hasse es, krank zu sein. Keinerlei Gewinn könnte ihn für die Schmerzen entschädigen, die ihn körperlich derart behinderten. Für ihn wäre der »sekundäre Gewinn«, von dem der Analytiker gesprochen habe, beileibe kein Ausgleich für den primären Verlust. Aber, gab der Analytiker zu bedenken, es bestände doch die Möglichkeit, daß das letztlich davon profitierende Ich gar nicht das Ich sei, für das Zuckerman sich halte, sondern das unausrottbare Kind im Manne oder der sühnende Büßer, der schuldbeladene Ausgestoßene – vielleicht der reumütige Sohn seiner verstorbenen Eltern, der Verfasser von Carnovsky.

Es hatte drei Wochen gedauert, bis der Seelendoktor sich endlich entschloß, damit herauszurücken. Und es würde vielleicht Monate dauern, bis er sich entschloß, ihm etwas über das hysterische Bekehrungssymptom zu erzählen.

»Abbüßung durch Leiden?« sagte Zuckerman. »Die Schmerzen als ein Urteil über mich selbst und dieses Buch?«

»Stimmt das?« fragte der Psychoanalytiker.

»Nein«, sagte Zuckerman und machte drei Wochen nachdem sie begonnen hatte Schluß mit der Analyse. Er stand auf und ging.

Ein Arzt verordnete ihm zwölf Aspirintabletten pro Tag, ein anderer verschrieb ihm Butazolidin, ein anderer Robaxin, ein anderer Percodan, ein anderer Valium und wieder ein anderer Prednison. Der nächste Arzt riet ihm, sämtliche Tabletten, insbesondere das giftige Prednison, ins Klo zu werfen und »zu lernen, mit diesen Beschwerden zu leben«. An etwas zu leiden, dessen Ursache unbekannt sei und das daher nicht behandelt werden könne, gehöre eben zu den Wechselfällen des Lebens – aber derlei Beschwerden seien, auch wenn sie die Bewegungsfähigkeit einschränkten, durchaus vereinbar mit einem tadellosen Gesundheitszustand. Zuckerman sei ganz einfach ein gesunder Mensch, der Schmerzen habe. »Und ich habe es mir«, fuhr der unbeirrbare Doktor fort, »zum Prinzip gemacht, niemals jemanden zu behandeln, der nicht krank ist. Im übrigen rate ich Ihnen, von jetzt an die Psychosomologen zu meiden. Von denen sollten Sie inzwischen genug haben.« »Was ist das, ein Psychosomologe?« »Ein konfuser kleiner Arzt. Die Freudsche Personifikation jedes Schmerzes, jedes Wehwehchens ist das primitivste ärztliche Rüstzeug, das diesen Burschen seit dem Tiegel mit Blutegeln hinterlassen worden ist. Wenn Schmerzen nur der Ausdruck von etwas anderem wären, dann wäre ja alles in Ordnung. Aber so übersichtlich ist das Leben leider nicht angelegt. Schmerzen kommen zu allem anderen hinzu. Es gibt natürlich Hysteriker, die jede Krankheit imitieren können, aber bei denen handelt es sich um eine viel exotischere Chamäleonart, als die Psychosomologen euch leichtgläubigen Leidenden weismachen wollen. Sie sind keines dieser Reptilien. Klage abgewiesen!«

Kurz nachdem ihm der Psychoanalytiker zum ersten Mal vorgeworfen hatte, den Kampf aufgegeben zu haben, setzte sich Zuckerman (der zwar noch im Vorwärtsgang, aber, weil er nicht mehr imstande war, den Kopf zur Seite zu drehen, nicht mehr im Rückwärtsgang fahren konnte) mit Diana, seiner Teilzeitsekretärin, in einen Mietwagen und ließ sich von ihr zum Long Island-Laboratorium chauffieren, wo man gerade einen elektronischen Schmerzdämpfer erfunden hatte. Im Wirtschaftsteil der Sonntagsausgabe der New York Times hatte er gelesen, daß das Patent von diesem Laboratorium erworben worden war, und gleich am nächsten Morgen hatte er sich telefonisch dort angemeldet. Der Direktor und der Chefingenieur warteten bereits auf dem Parkplatz, um ihn zu begrüßen. Sie waren entzückt, daß Nathan Zuckerman ihr erster »Schmerzpatient« sein würde und knipsten ihn vor dem Eingang mit einer Sofortbildkamera. Der Chefingenieur erklärte, die Idee zu dieser Erfindung sei ihm gekommen, weil er die Gattin des Direktors von ihren Migräneschmerzen befreien wollte. Man sei noch im Experimentierstadium und erforsche Möglichkeiten, das Gerät technisch so zu perfektionieren, daß es die am häufigsten auftretenden chronischen Schmerzen dämpfen würde. Er half Zuckerman aus dem Hemd und erklärte ihm die Bedienung des Gerätes. Nach der Probebehandlung fühlte sich Zuckerman weder besser noch schlechter, aber der Direktor beteuerte ihm, daß seine Frau sich bereits wie ein neuer Mensch fühle, und bestand darauf, daß Zuckerman einen Schmerzdämpfer auf Probe mit nach Hause nahm. Er könne das Gerät so lange behalten wie er wollte.

Christopher Isherwood ist eine Kamera mit offener Blende, ich bin ein Versuchskaninchen für chronische Schmerzen.

Das Gerät war ungefähr so groß wie ein Wecker. Er stellte den Zeitmesser ein, legte zwei angefeuchtete Elektrodenpolster über und unter die schmerzende Stelle und versetzte sich sechsmal am Tag einen fünfminütigen Schwachstromschock. Und sechsmal am Tag wartete er darauf, daß die Schmerzen vergehen würden (eigentlich wartete er hundertmal am Tag darauf). Wenn er lange genug gewartet hatte, nahm er Valium ein, oder Aspirin oder Butazolidin oder Percodan oder Robaxin. Um fünf Uhr nachmittags sagte er: »Hol’s der Teufel!« und begann Wodka einzunehmen. Und wie Abermillionen Russen in Jahrhunderten erprobt haben, ist das der beste Schmerzdämpfer, den es gibt.

Im Dezember 1973 schwand seine letzte Hoffnung auf eine wirksame Behandlungsmethode, ein Medikament, einen Arzt – und eine respektable Krankheit. Er lebte damit, aber nicht, weil er es gelernt hatte. Was er gelernt hatte, war, daß etwas Entscheidendes mit ihm passiert war und daß, aus einem unerforschlichen Grund, er und seine Existenz nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit seinem Leben zwischen 1933 und 1971 hatten. Was Einzelhaft bedeutet, wußte er, weil er, seit er Anfang zwanzig gewesen war, fast täglich ganz allein in seinen vier Wänden gesessen und geschrieben hatte. Fast zwanzig Jahre lang hatte er, folgsam und manierlich, seine Strafe abgesessen. Aber das hier war Einzelhaft ohne Schreibarbeit, und damit fand er sich kaum besser ab als mit den acht Tagen, die er angeschnallt in Zimmer 611 zugebracht hatte. Er konnte einfach nicht aufhören, sich mit der Frage zu geißeln, die ihn seit seiner Flucht aus dem Krankenhaus verfolgte: Und wenn dir einmal etwas wirklich Furchtbares passiert – was dann?

Obzwar das alles auf der Waagschale des Elends in der Welt nicht besonders schwer wog, empfand er es als schrecklich. Er kam sich zwecklos, wertlos, bedeutungslos vor, war erstaunt darüber, daß ihm das so schrecklich erschien, wunderte sich, daß er besiegt worden war, ohne überhaupt gewußt zu haben, daß er Krieg führte. Er hatte schon in jungen Jahren die sentimentalen Ansprüche abgeschüttelt, die seine konventionelle, fürsorgliche, bewundernde Familie an ihn gestellt hatte; er hatte sich der verlockenden Lauterkeit der berühmten Universität entzogen; er hatte sich aus dem Puzzlespiel dreier leidenschaftsloser Ehen mit mustergültigen Frauen und aus der Wohlanständigkeit seiner ersten Bücher befreit. Er hatte hart gearbeitet, um sich als Schriftsteller einen Namen zu machen – als aufstrebender Zwanziger erpicht auf Anerkennung, als gefeierter Dreißiger verzweifelt um Gelassenheit bemüht –, und jetzt, mit vierzig, mußte er sich von einer grundlosen, namenlosen, nicht behandelbaren Phantomkrankheit besiegen lassen. Es war keine Leukämie, kein Lupus, kein Diabetes; es war keine multiple Sklerose, kein Muskelschwund und auch keine rheumatische Arthritis – es war nichts. Aber dieses Nichts brachte ihn um sein Selbstvertrauen, seine Zurechnungsfähigkeit und seine Selbstachtung.

Noch dazu gingen ihm die Haare aus. Entweder wegen der vielen Sorgen oder wegen der vielen Medikamente. Wenn er nach einem Intermezzo auf der Spielmatte aufstand, sah er Haare auf dem Wörterbuch liegen. Wenn er sich vor dem Badezimmerspiegel für den bevorstehenden leeren Tag zurechtmachte, war sein Kamm jedesmal voller Haare. Wenn er sich unter der Dusche die Haare wusch, hielt er ausgegangene Strähnen in der Hand, und bei jedem Nachspülen waren es doppelt oder dreimal so viel. Er hoffte, es würde allmählich wieder besser werden, aber bei jedem Haarewaschen wurde es schlimmer.

In den Gelben Seiten entdeckte er die Eintragung »Anton und Co., Trichologische Klinik« – das am wenigsten fremdartig klingende Inserat in der Rubrik »Kopfhautpflege«. Daraufhin begab er sich ins Untergeschoß des Hotels Commodore, um festzustellen, ob Anton und Co. ihr bescheidenes Versprechen, »alle bekämpfbaren Haarprobleme in den Griff zu bekommen«, einlösen konnten. Er hatte genug Zeit, er hatte das Haarproblem, und außerdem war es für ihn fast so etwas wie ein Abenteuer, einen Nachmittag pro Woche seiner Spielmatte ade zu sagen und midtown zu fahren. Weniger wirksam als das, was man in den besten medizinischen Instituten Manhattans gegen seine Nacken-, Arm- und Schulterschmerzen unternommen hatte, konnte die Haarkur ja gar nicht sein. In glücklicheren Tagen hätte er sich vielleicht – wenn auch ein bißchen schockiert – mit seinem veränderten Aussehen abgefunden, aber jetzt, da sein Leben ohnehin schon stark beeinträchtigt war, sagte er sich: »Nein, das nicht auch noch!« Beruflich lahmgelegt, körperlich behindert, sexuell passiv, geistig träge, seelisch niedergeschlagen – aber nicht von einem Tag auf den anderen kahlköpfig, das nicht auch noch!

Die erste Beratung fand in einem hygienisch weißen Büro mit allerlei Diplomen an den Wänden statt. Beim Anblick Antons, der nicht nur Kopfhautspezialist sondern auch Vegetarier und Yoga-Anhänger war, hatte Zuckerman das Gefühl, daß er von Glück sagen konnte, wenigstens noch Zähne im Mund zu haben. Anton war ein kleiner, quirliger Mann in den Sechzigern, der wie ein Vierziger aussah. Seine Haare, die ihm fast bis zu den Brauen und den Backenknochen reichten, wirkten wie ein schimmernder schwarzer Helm. Wie er Zuckerman erzählte, war er als Junge in Budapest Meisterturner gewesen. Danach habe er es sich zum Prinzip gemacht, sich durch Turnübungen, Diät und eine moralische Lebensführung sein körperliches Wohlbefinden zu erhalten. Als er sich Zuckermans Geschichte anhörte, war er besonders über dessen starken Alkoholkonsum beunruhigt. Er fragte ihn, ob er unter übermäßigem Druck stünde – das sei nämlich eine der Hauptursachen vorzeitigen Haarausfalls. »Ich stehe unter Druck«, erwiderte Zuckerman, »weil ich an vorzeitigem Haarausfall leide.« Er wollte nicht von seinen Schmerzen sprechen, wollte nicht noch einem Spezialisten mit einer Wand voller Diplome von seinem rätselhaften Fall berichten. Wäre er bloß daheimgeblieben! Seine Haare als Mittelpunkt seines Lebens! Statt seiner Prosa plötzlich seine beginnende Glatze im Mittelpunkt!

Anton richtete seine Lampe auf Zuckermans Kopfhaut und kämmte die schütteren Haare vorsichtig von einer Seite auf die andere. Dann zog er die ausgegangenen Haare aus dem Kamm und legte sie sorgfältig auf ein Kosmetiktuch – für die Laboruntersuchung.

Zuckerman kam sich nicht größer als die kahle Stelle ganz oben auf seinem Kopf vor, als er durch einen langen weißen Korridor in die Klinik geführt wurde – ein Dutzend Kabinen mit Vorhängen und Waschbecken, eine jede gerade groß genug für einen trichologisch geschulten Assistenten und einen Patienten, dem die Haare ausgingen. Zuckerman wurde einer zierlichen jungen Frau vorgestellt, die in ihrem bis unter die Knie reichenden weißen Kittel und ihrem weißen Kopftuch wie eine gestrenge Nonne wirkte, wie die Novizin eines Krankenpflege-Ordens. Jaga stammte aus Polen. Anton buchstabierte Zuckerman ihren Vornamen. Mr. Zuckerman, erklärte er Jaga, »der bekannte amerikanische Schriftsteller«, leide unter Haarausfall.