Philip Roth

Täuschung

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Jörg Trobitius

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe:

Deception, a novel

Simon and Schuster, New York

© 1990 by Philip Roth

ISBN 978-3-446-25134-2

Alle Rechte dieser Ausgabe:

© 1993/2015 Carl Hanser Verlag München Wien

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

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Für David Rieff

»Ich schreibe sie hin. Du fängst an.«

»Wie soll es heißen?«

»Ich weiß nicht. Wie wollen wir es nennen?«

»Fragebogen-zum-Traum-miteinander-durchzubrennen.«

»Fragebogen-für-Liebespaare-zum-Traum-miteinander-durchzubrennen.«

»Fragebogen-für-Liebespaare-mittleren-Alters-zum-Traum-miteinander-durchzubrennen.«

»Du bist nicht mittleren Alters.«

»Aber ganz gewiß doch.«

»Ich finde dich jung.«

»Tatsächlich? Nun, das muß auf jeden Fall mit in den Fragebogen aufgenommen werden. Alle Fragen sind von beiden Bewerbern zu beantworten.«

»Fang an.«

»Was würde dir als erstes an mir auf die Nerven fallen?«

»Wenn du dich von deiner schlimmsten Seite zeigst, was ist deine schlimmste Seite?«

»Bist du wirklich so vital? Entsprechen wir uns im Energieniveau?«

»Bist du ein ausgeglichener und charmanter extrovertierter Mensch, oder bist du eine neurotische Einsiedlernatur?«

»Wie lange wird es dauern, bis du dich zu einer anderen Frau hingezogen fühlst?«

»Oder einem Mann.«

»Du darfst nie älter werden. Denkst du das auch von mir? Denkst du überhaupt daran?«

»Wie viele Männer oder Frauen mußt du auf einmal haben?«

»Von wie vielen Kindern willst du dein Leben beeinträchtigen lassen?«

»Wie ordentlich bist du?«

»Bist du ganz und gar heterosexuell?«

»Hast du irgendeine spezielle Vorstellung von dem, was dich an mir interessiert? Genaue Angaben bitte.«

»Lügst du manchmal? Hast du mich schon belogen? Findest du, daß Lügen ganz normal ist, oder bist du dagegen?«

»Würdest du erwarten, daß man dir die Wahrheit sagt, wenn du sie forderst?«

»Würdest du die Wahrheit verlangen?«

»Hältst du es für Schwäche, wenn jemand großzügig ist?«

»Macht es dir etwas aus, schwach zu sein?«

»Macht es dir etwas aus, stark zu sein?«

»Wieviel Geld kann ich ausgeben, ohne daß du dich darüber ärgerst? Würdest du mir deine Visa-Karte überlassen, ohne Fragen zu stellen? Würdest du mir überhaupt Verfügungsgewalt über dein Geld einräumen?«

»In welcher Hinsicht bin ich jetzt schon eine Enttäuschung?«

»Was bringt dich außer Fassung? Sag es mir. Weißt du es überhaupt?«

»Was sind deine wahren Gefühle Juden gegenüber?«

»Wirst du bald sterben? Bist du geistig und körperlich fit? Detaillierte Angaben bitte.«

»Würdest du jemanden vorziehen, der reicher wäre?«

»Wie ungeschickt wärst du, wenn wir entdeckt würden? Was würdest du sagen, wenn jemand zur Tür hereinkäme? Wer bin ich, und inwiefern ist alles in Ordnung?«

»Welche Dinge erzählst du mir nicht? Fünfundzwanzig. Noch Fragen?«

»Mir fallen keine mehr ein.«

»Ich bin gespannt auf deine Antworten.«

»Und ich auf deine. Ich habe noch eine.«

»Ja?«

»Gefällt dir, was ich trage?«

»Jetzt übertreibst du aber.«

»Ganz und gar nicht. Je trivialer der Makel, desto größer der Ärger, den er erregt. Das ist meine Erfahrung.«

»In Ordnung. Letzte Frage?«

»Ich hab sie. Ich hab sie. Die letzte Frage. Hegst du irgendwie in irgendeinem Winkel deines Herzens immer noch die Illusion, daß die Ehe eine Liebesangelegenheit ist? Falls ja, könnte das sehr viel Ärger mit sich bringen.«

*

»Mein Mann hat neulich von seiner Freundin ein Geschenk bekommen. Sie ist sehr prätentiös, so eine furchtbar eifersüchtige und ehrgeizige Person. Bei ihr muß alles immer hochdramatisch sein. Sie hat ihm eine bestimmte Schallplatte geschenkt. Ich erinnere mich nicht mehr, aber es ist ein sehr bekanntes, sehr schönes Musikstück. Schubert – und dabei geht alles darum, daß er sie verloren hat, die größte Leidenschaft seines Lebens, die interessanteste Frau des Jahrhunderts, die groß war und schlank – ach, alles bezieht sich darauf. Das geht deutlich aus dem Text des Plattencovers hervor, also inwiefern es die größte Leidenschaft sei, die je habe entstehen können, die traute Vermählung trauter Gemüter, und all dieses ausgesprochen schwülstige Zeugs darüber, welches Elend und welche Ekstase die Trennung durch das grausame Geschick bedeute. Es war ganz eindeutig ein prätentiöses Geschenk. Er macht den Fehler, daß er in all diesen Dingen offen ist, verstehst du? Er hätte einfach sagen können, er habe sie selbst gekauft. Doch er hat mir erzählt, daß sie von ihr stammt. Und ich glaube nicht, daß er sich die Rückseite angesehen hat. Eines Abends war ich betrunken, und ich habe dieses rosa Zeugs, mit dem man Sachen anstreicht und dadurch hervorhebt. Und damit habe ich etwa sieben Sätze angestrichen, die einfach wahnsinnig komisch aussahen, nachdem sie so hervorgehoben waren. Dann zog ich mich ruhig in würdevolle Distanz zurück und überreichte ihm die Schallplattenhülle. Findest du das schrecklich von mir?«

»Warum warst du betrunken?«

»Ich war nicht betrunken. Ich hatte mir nur viele Drinks genehmigt.«

»Du trinkst abends viel.«

»Naja.«

»Wieviel?«

»Ach, ich trinke Unmengen. Kommt darauf an. An manchen Abenden trinke ich gar nichts. Aber wenn ich trinken würde, könnte ich leicht ein paar Doppelte vor dem Abendessen trinken, und danach noch ein paar, und dazwischen Wein. Ich wäre nicht einmal betrunken. Ich wäre nur irgendwie gehobener Stimmung.«

»Dann kommst du in diesen Tagen nicht allzuviel zum Lesen.«

»Nein. Obwohl ich allein nicht trinke. Es ist jemand da, wenn ich trinke. Wenn wir auch eigentlich nicht viel zusammen sind. Nun ja, in letzter Zeit schon – aber das ist ungewöhnlich.«

»Ein seltsames Leben, das du da führst.«

»Ja, seltsam ist es schon. Es ist falsch. Aber so ist es nun mal, das ist mein Leben.«

»Wie unglücklich bist du?«

»Ich stelle fest, daß es in Phasen verläuft. Man hat Phasen, die sind grausig. Und dann lange Phasen von so etwas wie Ruhe und Liebe. Es gab eine lange Zeit, da schien es, daß all diese Dinge immer schlimmer würden. Und dann gab es eine kurze Zeit, da sie sich von selbst zu erledigen schienen. Und jetzt glaube ich, daß keiner von uns beiden sich allzu viele Konfrontationen wünscht. Weil das zu nichts führt. Und das Zusammenleben einfach noch viel schwerer macht.«

»Schlaft ihr nach wie vor miteinander?«

»Ich dachte schon, daß du mich das fragen würdest. Ich werde diese Frage nicht beantworten. Wenn du irgend etwas in Europa sehen möchtest, ich weiß genau, wo ich hinfahren möchte.«

»Du mit mir?«

»Hm. Amsterdam. Da war ich noch nie. Und es gibt dort eine wunderbare Ausstellung.«

*

»Du schaust auf die Uhr, um zu sehen, wie spät es ist.«

»Menschen, die zuviel trinken, schauen oft auf die Uhr, ehe sie ihren ersten Drink zu sich nehmen. Für alle Fälle.«

»Was ist los?«

»Ach, nichts. Zwei Kindermädchen, zwei Kinder und zwei Putzfrauen, alle zanken, und dann das übliche feuchte englische Wetter. Außerdem hat sich meine Tochter seit ihrer Krankheit angewöhnt, mich zu jeder beliebigen Zeit zu wekken, um drei, vier, fünf. Es macht mich richtig müde, daß ich mich in all meinen Verantwortlichkeiten so verantwortlich fühle. Ich brauche einen Ruhetag. Und ich glaube nicht, daß wir unsere sexuelle Beziehung fortsetzen können. Dafür ist der Tag zu kurz.«

»Ist das wahr? Das wäre aber schlimm.«

»Nein, ich glaube nicht, daß es geht. Bist du nicht im Grunde auch der Meinung? Das letzte Mal, als wir darüber geredet haben, sind deine eigenen Worte da nicht etwa in dieselbe Richtung gegangen?«

»Ach, ich verstehe. Das ist jetzt ein Präventivschlag. In Ordnung. Was immer du willst.«

Lacht. »Nun, ich glaube, es ist das beste so. Ich glaube, du hast dich sehr treffend ausgedrückt, als du sagtest, es würde dich wahnsinnig machen.«

»Was würde mich wahnsinnig machen?«

»Naja, all diese sexuellen Dinge. Du hast gesagt, du glaubst nicht, daß du auf eine bloß romantische Freundschaft sehr scharf wärest.«

»Ich verstehe.«

»Das ist jetzt irgendwie dein Wir-lassen-das-mal-auf-uns-zukommen-Gesichtsausdruck.«

»Nein, nein, ganz und gar nicht. Es ist mein Ich-höre-im-mer-noch-zu-Gesichtsausdruck.«

»Naja, ich hätte vielleicht nicht so vereinfachen sollen.«

»Tatsächlich? Oh, ich werde es für dich vereinfachen, wenn du es einfach haben willst.«

»Sag nicht nichts. Ich finde es gräßlich, wenn du nichts sagst.«

*

»Es ist sehr seltsam, dich zu sehen.«

»Seltsamer, als wenn man sich nicht sieht, oder?«

»Nein, normalerweise sehe ich dich nicht

»Du siehst ein bißchen anders aus. Was ist vorgefallen?«

»Daß ich so anders aussehe? Sag du mir, was anders ist, und ich werde dir sagen, was die Ursache ist. Bin ich größer, kleiner, dicker, breiter?«

»Nein, es ist sehr subtil.«

»Etwas Subtiles? Soll ich ernst sein? Du hast mir gefehlt.«

*

»Ich habe eine Freundin von uns besucht, die ihren Mann verlassen hat. Sie ist sehr klug, sie ist sehr schön, und sie ist sehr erfolgreich. Und sie hat extrem viel Mut und Selbstdisziplin. Und sie hat viel Geld. Und sie sieht schrecklich aus.«

»Wie lange ist sie jetzt allein?«

»Zwei Monate.«

»Sie wird noch schlimmer aussehen.«

»Und dabei hat sie nicht nur eine interessante Arbeit, mit der sie diese Unmenge von Geld verdient, sondern sie hatte schon vorher viel Geld, so daß es diese Art von Problemen nicht gibt.«

»Kinder?«

»Sie hat zwei Kinder.«

»Ein umsichtiger Besuch.«

»Also, wenn sie es nicht schafft, dann … also, wirklich. Sie war gerade furchtbar krank, sie ist umgezogen, sie ist gerade geschieden worden, ihre Kinder sind ganz aus dem Häuschen, weil sie unglücklich sind und … Also, ich könnte nicht mal den ersten Schritt tun. Ich könnte nicht mal den ersten Schritt tun.«

*

»Du willst nicht, daß er sie aufgibt, oder? Du willst dich nicht hinstellen und sagen: ›Wenn du sie nicht aufgibst, werde ich im anderen Zimmer schlafen. Du kannst entweder mich fikken, oder du kannst sie ficken. Triff deine Wahl.‹«

»Nein. Nein. Ich glaube, daß sie wirklich ein wichtiger Teil seines Lebens ist, und es wäre nicht nur verrückt von mir, sondern auch egoistisch.«

»Egoistisch von dir?«

»Ja.«

»Wirklich? Ist das deine Einstellung? Wenn es so ist, dann kannst du mich heiraten. Eine nette Einstellung – das ist mir noch nie begegnet. Eine Frau, die sagt: ›Es wäre egoistisch von mir, wenn ich von meinem Mann verlangen würde, seine Freundin aufzugeben.‹«

»Trotzdem, ich finde, das wäre es.«

»Normalerweise findet man es vom Mann egoistisch, daß er sie will und sie haben kann, und nicht egoistisch von der Frau, von ihm zu verlangen, daß er sie aufgibt.«

»Eine Einstellung, die vernünftig und richtig ist, kommt nicht von selbst. Meine erste Reaktion war auch so. Aber so denke ich wirklich … Ich kann ja einsehen, daß ich mich meinem Mann gegenüber sehr dumm verhalten habe, aber vielleicht liegt es daran, daß ich nicht weiß, was ich falsch gemacht habe. Er mußte jahrelang damit fertig werden, daß ich furchtbar depressiv und einsam war. Ich glaube nicht, daß es völlig überraschend kam – ich war so oft allein, und er war so oft fort und hat so schwer gearbeitet. Ich habe keine Affären nebenbei gehabt, weil ich immer dachte, er sei so verletzlich und müsse beschützt werden.«

»So verletzlich klingt er für mich nun auch wieder nicht.«

*

»Er ist also wohlbehütet in einem Krankenhauszimmer untergebracht. Glaubst du, daß die Tootsie bei ihm ist?«

»Tootsie ist ein herrliches Wort.«

»Ich dachte, es würde dir vielleicht gefallen. Da hast du schließlich doch deinen kleinen Urlaub.«

»Nun, ich glaube, er ist in meiner Darstellung ungehörig schlecht weggekommen. Er hat viele, viele gute Eigenschaften. Doch die Wahrheit ist dabei die, daß ich seit langem nicht so gut geschlafen habe. Als ich heute morgen aufwachte, fühlte ich mich absolut normal.«

*

»Hast du dir die Schallplatte angehört, die ich dir geschenkt habe?«

»Nein. Ich mußte sie verstecken.«

»Warum mußt du sie verstecken?«

»Weil es ungewöhnlich wäre, daß ich mir eine Schallplatte kaufe. Das kommt bei mir nicht oft vor.«

»Was wirst du damit tun?«

»Nun, ich werde sie am Abend spielen, wenn ich allein bin.«

»Was machst du, wenn man sie findet? Mit Pfeffer und Salz bestreuen und sie aufessen?«

»Früher habe ich mir Platten gekauft, doch dann habe ich mich eine Zeitlang so aufgeregt, daß – naja, das gehört jetzt der Geschichte an.«

»Was? Darüber habt ihr auch gestritten?«

»Ja.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Das ist nicht nötig.«

»Nein.«

*

»Du bist nett anzusehen. Hübsche Sachen trägst du. Hast du sie verkehrt herum an?«

»Nein. Ich habe viele Kleidungsstücke, bei denen die Nähte außen sitzen. Hast du nur nie bemerkt. Das ist schrecklich raffiniert. Suggeriert, daß man irgendwie anarchistisch ist.«

»Also, du bist nett anzusehen, aber du klingst furchtbar müde. Und du magerst wieder ab. Nimmst du keine Vitamine und all diese anderen Sachen?«

»Mit Unterbrechungen nehme ich sie. Es liegt daran, daß ich seit drei Tagen nichts gegessen habe. Ich habe so viel zu tun.«

»Zu viel zu tun.«

»Tja. Ich sitze da in meinem Zimmer und versuche zu tippen, und dann kommt die Kleine herein, und als erstes pinkelt sie auf den Teppich. Und dann geht sie hinaus und weint noch ein bißchen, und dann kommt sie wieder herein. Dann wirft sie ein paar Manuskriptseiten umher, dann nimmt sie den Telefonhörer von der Gabel, und dann will sie zu mir und kackt mir das ganze Sofa voll. Dann muß ich los zur Arbeit und acht Stunden lang sykophantische Geräusche für meinen Chef machen.«

»Und der Gatte?«

»Es ist leichter, wenn ich dich nicht sehe. Man richtet sich irgendwie ein und sucht sich seine Ablenkungen anderswo – und vergißt einfach, verstehst du? Da bleibt einem diese schreckliche Sache erspart, daß man immer Vergleiche anstellt. Ich wollte dir unbedingt erklären, was in meinem Kopf vor sich ging. Aber ich habe das Gefühl, daß ich dich vielleicht mißbrauche, und das will ich nicht. Was ich dagegen will – ich will dir all den Scheiß nicht mehr erklären. Wenn du mich bittest, dann tue ich’s, aber eigentlich möchte ich nicht darüber sprechen.«

»Doch, sprich darüber. Ich würde sehr gern wissen, was in deinem Kopf vor sich geht. Ich habe deinen Kopf sehr gern.«

»Ich hatte gerade meine Mutter übers Wochenende zu Besuch. Und er ist einfach verschwunden. Ich war also das Wochenende über mit meiner Mutter ganz allein. Und ich habe seit Nächten nicht gut geschlafen. Und ich denke viel an dich. Und morgen muß ich mit meiner Schwiegermutter zu Mittag essen, und das ist eine etwas strapaziöse Angelegenheit – sie ist eine Frau, die einem wirklich zusetzen kann mit ihrer Kritik. Sie kann so höllisch unangenehm sein, daß man versucht, alles von ihr fernzuhalten. Und das Kindermädchen ist zappelig. Sie hüpfen herum von einem Haus zum anderen, diese Kindermädchen, um ihre Arbeitgeber zu vergleichen, und unser Mädchen wird sehr zappelig. Und weißt du, was eine Cervix ist?«

»Ich glaube schon.«

»So ein albernes Wort, ›Cervix‹. Na, jedenfalls, ich habe einen Knoten an meiner. Ich muß einen Test machen lassen oder so etwas. Und mein Mann sagt, ich hätte den Sex für ihn verdorben. Er sagt: ›Du bist so bedrückend, alles ist so ernst, so furchtbar, alles ist ohne Freude, ohne Spaß, ohne Humor‹ – und das stimmt, glaube ich. Ich glaube, er übertreibt unheimlich, aber es ist was Wahres dran. Mir macht Sex überhaupt keinen Spaß. Es ist alles eher einsam und schwer. Aber so ist es, das Leben, nicht wahr?«

»Warum tust du deinem Mann keinen Gefallen und versuchst, einen Orgasmus zu kriegen?«

»Ich will nicht.«

»Mach doch mal. Laß es einfach mal zu. Es soll besser sein, als zu streiten.«

»Ich bekomme so eine Wut auf ihn.«

»Werd nicht wütend. Er ist dein Mann. Er fickt dich. Laß ihn doch.«

»Du meinst, ich soll mir mehr Mühe geben?«

»Nein. Ja. Tu es einfach.«

»So was hat man nicht bewußt unter Kontrolle.«

»Doch, hat man. Sei einfach eine halbe Stunde lang eine Hure. Davon stirbst du nicht.«

»Huren kriegen keinen Orgasmus. Oder wollen es jedenfalls nicht.«

»Spiel die Hure. Nimm das doch nicht so ernst.«

»Das ist sein Problem – er nimmt das so ernst. Er gehört zu den Leuten, die meinen, Frauen sollten mehrfache Orgasmen haben und man sollte zur gleichen Zeit zum Höhepunkt kommen. Naja, das ist alles vollkommen normal, und so spielt sich das unter jungen Leuten auch ab, weil es so leicht ist. Aber sobald man sich einmal seine eigene Lebensgeschichte und ein paar Reizbarkeiten zugelegt hat – ach, es gibt so viel Ablehnung zwischen uns. Und warum ist es so, daß man an einem sexuell vollkommen das Interesse verliert?«

»Warum fragst du mich nicht, warum es schneit?«

»Das ist doch ein Grund, ihn zu verlassen, nicht wahr?«

»Das ist nicht der Grund, weshalb du ihn verläßt, falls du ihn überhaupt verläßt.«

»Nein. Aber wenn ich es mir genau überlege, dann ist das der Punkt, der allem zugrunde liegt. Er konnte es nicht ertragen, daß ich mein Interesse an ihm verloren habe.«

*

»Wie fühlst du dich?«

»Ach, beschäftigt und wütend, wie üblich.«

»Du siehst müde aus.«

»Nun ja, das ist ja wohl keine Überraschung? Ich fürchte, mir läuft Mascara das Gesicht herunter.«

»Worüber bist du wütend?«

»Es gab eine furchtbare Szene mit meinem Mann. Gestern. Weil es Valentinstag war, und da muß es ja eine Szene geben. Jemand hatte zu ihm gesagt, er sei nicht der richtige Mann für mich, weil ich mich doch so gern verwöhnen ließe, und natürlich war ich sehr empört – aber manchmal frage ich mich doch.«

»Nun, vielleicht weil es Valentinstag war, bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und hatte das tolle Gefühl, daß deine Hand an meinem Schwanz war. Kann sein, daß es meine Hand war, jetzt, wo ich darüber nachdenke. War’s aber nicht – es war deine.«

»Weder noch – es war ein Traum.«

»Ja – und er heißt ›Sei mein Valentinsgeschenk‹. Wieso bin ich so auf dich fixiert?«

»Ich glaube, das liegt daran, daß du den ganzen Tag in diesem Zimmer verbringst. Weil du in diesem Zimmer sitzt, hast du keine neuen Erlebnisse.«

»Ich habe dich.«

»Ich bin einfach so wie alles andere auch.«

»Aber nein, das bist du nicht. Du bist hübsch.«

»Wirklich? Findest du? Eigentlich fühle ich mich ein bißchen schlapp. Ich fühle mich viel älter.«

»Wie lange geht das jetzt schon?«

»Mit uns? Etwa eineinhalb Jahre. Normalerweise mache ich nichts länger als zwei Jahre. Ich meine, Jobs und so. Ich weiß ja wirklich überhaupt nichts von dir, weißt du? Nun, ein bißchen weiß ich schon von dir. Aus deinen Büchern. Aber nicht viel. Es ist schwer, jemanden in einem Zimmer zu kennen. Wir könnten uns ebensogut auf einem Dachboden verkrochen haben, wie die Familie Frank.«

»Naja, damit müssen wir uns wohl abfinden.«

»Nehme ich an. Das ist das Leben.«

»Es gibt kein anderes.«

»Warum gibst du mir keinen Drink?«

»Du bist den Tränen nahe, oder?«

»Ach ja? Ich habe so dringend das Bedürfnis nach Ungestörtheit. Solange ich mich erinnern kann, habe ich mich danach gesehnt, allein zu schlafen. Nein, das ist eine Übertreibung. Aber am Ende des Tages, wenn ich wirklich müde bin, und dann gibt es wieder so einen emotionalen Kampf … Und nicht nur das, sondern auch die Unruhe, wenn jemand anderer neben mir schläft. Wir haben ein sehr großes Bett, aber nicht groß genug. Es ist einfach so traurig, nicht wahr? Ich meine, er hat so viele herrliche Eigenschaften – kann ich bitte den Drink haben, Philip? Ich bin heute nicht so furchtbar stabil. Ich finde es absolut unerträglich, daß er zu mir sagt: ›Ich habe so viel für dich aufgegeben, und es ist es nicht wert.‹ Das tut so weh. Und er hat es in den letzten paar Wochen zweimal gesagt. Warum kann es nicht besser werden? Wir kommen so gut miteinander aus! Und eigentlich hänge ich an ihm. Ich würde ihn schrecklich vermissen, wenn ich nicht mehr bei ihm wäre. Es gibt so vieles, was ich an ihm gern habe … Jedenfalls, ich sollte mit dir nicht so weitermachen.«

»Warum nicht?«

»Ach, ich weiß nicht, was ich will.«

»Was du willst? Du willst nicht mehr länger in dieser Situation stecken.«

»Das ist es also, was ich will? Wirklich?«

*

»Meinst du, es würde helfen, zu einem Psychiater zu gehen? Denn ich weiß ja immer noch nicht, was ich will. Wenn jemand zu mir sagen würde: ›Schauen Sie, Ihr Mann wird damit aufhören, sich herumzutreiben, und er wird Sie mit großem Respekt und mit Hochachtung behandeln, und er wird äußerst charmant sein, doch sexuell werden Sie sich nicht anders fühlen, Sie werden kein sexuelles Interesse entwickeln, und Sie müssen sich damit abfinden, daß –‹«

»Interessiert dich denn überhaupt jemand?«

»Jetzt oder immer?«

»Beides.«

»Früher habe ich es wirklich genossen.«

»Und jetzt? Du willst nicht, daß wir miteinander schlafen, oder doch?«

»Ich will mit niemandem schlafen. Und überhaupt. Ich weiß die Antwort darauf nicht. Ich glaube nicht, daß ganz allgemein mit mir sexuell etwas nicht stimmt. Im Moment aber ganz gewiß. Ich bin schon so weit, daß es tatsächlich weh tut.«

»Die Antwort auf deine Frage nach dem Psychiater ist ja.«

»Jemand Gutes ist schwer zu finden.«

»Wirst du es heimlich machen oder ganz offen? Und falls du es offen machst, warum willst du sagen, daß du es vorhast?«

»Der einzige Grund, weshalb ich es nicht offen machen würde, ist, daß es später heißen könnte, ich wäre als Mutter untauglich. Daß ich neurotisch sei und es deshalb viel besser wäre, wenn das Kind zu seinem Vater käme.«

»Kein Gericht würde das zu Protokoll nehmen.«

»Aber ich will ja gar nicht vor Gericht – ich will einfach, daß alles anders ist.«

*

»Weißt du, was ich am Dienstag vorhabe? Ich werde einen Anwalt aufsuchen.«

»Um dich scheiden zu lassen?«

»Naja, eigentlich nicht direkt. Einfach um herauszufinden, worum es geht. Ich werde wahrscheinlich in sehr aufgekratztem Zustand hier ankommen.«

»Gut. Das kann interessant werden.«

*

»Was passiert, wenn er dich fragt, woher du den blauen Fleck an deinem Schenkel hast?«

»Hat er schon.«

»Ach. Und?«

»Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich sage immer die Wahrheit. Auf die Weise wirst du niemals bei einer Lüge ertappt.«

»Was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt: ›Dieser blaue Fleck stammt aus einer stürmischen Umarmung mit einem beschäftigungslosen Schriftsteller in einem Wohnhaus ohne Fahrstuhl in Notting Hill.‹«

»Und?«

»Es klingt albern und man lacht.«

»Und du bewahrst dir die Illusion, daß du eine ehrliche Frau bist.«

»Genau.«

*

»Du zitterst ja. Bist du krank?«

»Ich bin erregt.«

*

»Sehe ich furchtbar aus?«

»Wir werden dich mit ein bißchen Whiskey abfüllen.«

»Wenn ich mich schließlich doch auf diese Scheidungsgeschichte einlasse, muß ich mich ganz untadelig verhalten. Aber ich glaube nicht, daß ich’s tun werde.«

»Dann laß es.«

»Ich weiß nicht, was meine Absichten sind. Es war ein ziemlicher Streß, all diese Dinge irgend so einem Rechtsanwalt zu erzählen. Aber ich fand es ungehörig, daß er auch noch so eine sehr attraktive junge Rechtsanwältin mit im Büro hatte. Ich hätte beinahe gesagt, sie solle hinausgehen, aber dann dachte ich, so sollte man lieber nicht anfangen. Ich faßte den Entschluß, mich gar nicht erst auf irgendwelche Beichten und so etwas einzulassen. Aber es gibt bestimmte Dinge, die sich nicht vermeiden lassen, wie etwa: ›Hat Ihr Gatte Ehebruch begangen?‹«

»Was hast du gesagt?«

»Ich sagte ja. Jahrelang. Naja, wenn man sich sechs Monate lang mit dem Ehebruch des Partners abfindet, dann heißt das, daß man ihm verzeiht. Und daß es an und für sich kein Scheidungsgrund mehr ist. Sie waren ziemlich neugierig darauf, weshalb ich mich damit abgefunden habe. Da sagte ich, vergessen Sie’s, es geht eigentlich darum: Er hat diese herrliche Situation, in der er genau das tun kann, was ihm gefällt, und ich habe entdeckt, daß es eine furchtbar ungewöhnliche Situation ist, und wenn ich für mich nicht auch so etwas zustande bringe, dann kann ich gleich aufgeben. Und die Anwältin war schockiert, daß ich so frivol war. Aber es ist sehr schwierig, diese Dinge anzusprechen. Man will eigentlich nicht darüber reden.«

»Aber man muß.«

»Weißt du, es war einmal, als ich noch auf dem Lande lebte und ehe ich viel Zeit in der Stadt verbrachte, da fühlte ich mich einfach und wollte einfach sein. Doch das stirbt ab, wenn man so viel kämpft. Früher war es sehr lustig mit mir.«

»Ich genieße es mit dir jetzt.«

ich