Philip Roth

Zuckermans Befreiung

Aus dem Amerikanischen
von Gertrud Baruch

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe:

Zuckerman Unbound

Farrar, Straus & Giroux, New York 1981

©1981 by Philip Roth

ISBN 978-3-446-25135-9

Alle Rechte vorbehalten

© 1982/2015 Carl Hanser Verlag, München Wien

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt

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Für Philip Guston
1913–1980

»Soll Nathan mal sehen, was es bedeutet, wenn man aus der Obskurität herausgeholt wird. Er soll bloß nicht bei uns anklopfen und behaupten, wir hätten ihn vorher nicht gewarnt.«

E. I. Lonoff zu seiner Frau am 10. Dezember 1956

I »Ich bin Alvin Pepler«

»Was zum Teufel tun Sie denn in einem Bus, Sie mit Ihrem Zaster?«

Der das wissen wollte, war ein kleinwüchsiger, stämmiger junger Bursche mit kurzem Haarschnitt und einem neuen Straßenanzug. Eine Autozeitschrift in der Hand, hatte er vor sich hingeträumt, bis er entdeckt hatte, wer neben ihm saß. Das hatte genügt, um ihn auf Touren zu bringen.

Unbeeindruckt von Zuckermans unverbindlicher Antwort – einen Bus genommen, um durch die Gegend zu fahren –, begann er eifrig, ihm Ratschläge zu erteilen. Das tat zur Zeit jeder, der ihn ausfindig machen konnte. »Sie sollten sich einen Hubschrauber kaufen. So würde ich das machen. Die Landeerlaubnis da droben auf den Apartmenthäusern pachten und ganz einfach über den Scheißdreck hier unten hinwegfliegen. Hey, haben Sie den hier gesehen?« Diese Frage war an einen Herrn gerichtet, der im Mittelgang stand und seine Times las.

Der Bus fuhr die Fifth Avenue entlang, Richtung downtown von Zuckermans neuer Upper Eastside-Adresse aus. Zuckerman war unterwegs zu einem Anlageberater in der Zweiundfünfzigsten Straße – ein Termin, den sein Agent André Schevitz für ihn vereinbart hatte, zum Zweck der Anlagenstreuung. Vorbei waren die Zeiten, in denen Zuckerman sich nur darüber Sorgen machen mußte, daß Zuckerman Geld verdiente. Von nun an würde er sich darüber Sorgen machen müssen, daß sein Geld Moneten einbrachte. »Wo bewahren Sie es denn zur Zeit auf?« hatte der Anlageberater gefragt, als Zuckerman ihn endlich angerufen hatte. »In meinem Schuh.« Der Anlageberater hatte gelacht. »Haben Sie vor, es dort zu lassen?« Die Antwort darauf wäre eigentlich »ja« gewesen, aber im Moment war es einfacher, »nein« zu sagen. Insgeheim hatte Zuckerman ein einjähriges Moratorium über alle wichtigen Entscheidungen verhängt, die dieser Bombenerfolg nach sich ziehen würde. Er wollte erst wieder handeln, wenn er wieder klar denken konnte. Das alles, dieser Glücksfall – welche Bedeutung hatte das für ihn? Es war so plötzlich gekommen und in einem solchen Ausmaß, daß er darüber genau so verdattert war wie über einen Mißerfolg.

Da Zuckerman normalerweise in der Stoßzeit am Morgen nirgends hinging – außer, mit seiner Kaffeetasse, in sein Arbeitszimmer, um die tags zuvor geschriebenen Passagen nochmals zu lesen –, hatte er zu spät gemerkt, daß dies eine sehr ungünstige Zeit war, einen Bus zu benützen. Aber er wollte noch immer nicht glauben, daß er jetzt nicht mehr, wie noch vor sechs Wochen, kommen und gehen konnte, wie und wann es ihm beliebte, ohne sich vorher klarzumachen, wer er war. Das übliche, alltägliche Nachdenken darüber, wer man ist, genügte vollauf, auch ohne daß man eine zusätzliche Portion Narzißmus mit sich herumschleppte.

»Hey, Sie da!« Zuckermans aufgeregter Nachbar versuchte abermals, den Mann im Mittelgang von seiner Times abzulenken. »Sehen Sie den Typ hier neben mir?«

»Jetzt schon«, war die pikierte Antwort.

»Das ist der, der Carnovsky geschrieben hat. Haben Sie denn in den Zeitungen nichts darüber gelesen? Er hat gerade eine Million Dollar gemacht und fährt mit dem Bus!«

Als sie hörten, daß ein Millionär im Bus war, drehten sich zwei Mädchen, die beide die gleiche graue Schuluniform trugen, nach ihm um – zarte, reizende Kinder, zweifellos zwei wohlerzogene Schwestern, die auf dem Weg in ihre Klosterschule waren.

»Veronica«, sagte die Kleinere, »der Mann dort hat das Buch geschrieben, das Mammi gerade liest. Das ist Carnovsky.«

Die Kinder knieten sich auf ihre Sitze und starrten ihn an. Ein Paar in mittleren Jahren, das auf der anderen Seite des Ganges saß, sah ebenfalls zu ihm herüber.

»Na los, Kinder«, sagte Zuckerman leichthin, »zurück zu euren Hausaufgaben!«

»Unsere Mutter«, meldete sich das ältere Mädchen zu Wort, »liest gerade Ihr Buch, Mr. Carnovsky.«

»Freut mich. Aber eure Mammi möchte bestimmt nicht, daß ihr im Bus fremde Leute anstarrt.«

Fehlschlag. Die schienen in St. Mary’s Phrenologieunterricht zu bekommen.

Zuckermans Nachbar hatte sich inzwischen zu der direkt hinter ihm sitzenden Frau umgedreht, um sie über das große Ereignis aufzuklären. Auch sie sollte daran teilhaben. Eine einzige große Familie. »Neben mir sitzt einer, der gerade eine Million Dollar gemacht hat. Wahrscheinlich sogar zwei.«

»So?« sagte eine sanfte, damenhafte Stimme. »Hoffentlich macht das viele Geld keinen anderen Menschen aus ihm.«

Fünfzehn Häuserblocks nördlich des Anlageberatungsbüros zog Zuckerman an der Strippe und stieg aus. Hier in dieser anomischen Gartenoase war es sicher noch möglich, inmitten der Stoßzeitpassanten ein Niemand zu sein. Wenn nicht, dann versuch’s doch mal mit einem Schnurrbart. Paßt zwar nicht zu dem Leben, wie du es empfindest, siehst, kennst und kennen möchtest, aber wenn es bloß eines Schnurrbarts bedarf, dann laß dir einen stehen. Du bist nicht Paul Newman, aber auch nicht mehr das, was du einmal warst. Ein Schnurrbart. Kontaktlinsen. Vielleicht wäre eine buntscheckige Aufmachung zu empfehlen. Versuch doch, so auszusehen, wie heutzutage alle aussehen, statt immer noch so, wie vor zwanzig Jahren jedermann in »Humanities, Kursus 2« ausgesehen hat. Weniger wie Albert Einstein, mehr wie Jimi Hendrix, dann stichst du nicht so sehr von den anderen ab. Und wenn wir schon bei diesem Thema sind – wie steht’s denn mit deinem Gang? Daran hatte Zuckerman sowieso schon immer arbeiten wollen. Beim Laufen waren seine Knie zu nahe beieinander, und außerdem ging er immer viel zu schnell. Jemand, der einsachtzig groß ist, sollte lieber ein bißchen schlendern. Doch leider vergaß Zuckerman immer schon nach den ersten zwanzig Schritten ans Schlendern zu denken – zwanzig, dreißig Schritte, und schon war er wieder in Gedanken versunken, statt auf seinen Gang zu achten. Jetzt allerdings war der Moment gekommen, damit ernst zu machen, zumal die Presse jetzt auch seine sexuelle Leistungsfähigkeit unter die Lupe nahm. Beweg dich so aggressiv wie du schreibst. Du bist Millionär, also gewöhn dir den Gang eines Millionärs an. Man beobachtet dich.

Der Spaß geht auf meine Kosten. Diese Frau im Bus zum Beispiel, der unbedingt erklärt werden mußte, warum die anderen ganz aus dem Häuschen waren. Und dort, diese große, hagere ältere Dame mit dem stark gepuderten Gesicht … warum rennt die denn so? Und warum macht sie das Schnappschloß ihrer Handtasche auf? Zuckermans Adrenalin riet ihm plötzlich, ebenfalls zu rennen.

Es waren nämlich keineswegs alle Leute von dem Buch begeistert, das Zuckerman jetzt ein Vermögen einbrachte. Zahlreiche Leser hatten ihm bereits schriftlich die Meinung gesagt. »Eine Schande, Juden in einer völlig perversen Peep-Show-Atmosphäre darzustellen; eine Schande, Juden zu schildern, die Ehebruch begehen, dem Exhibitionismus, der Selbstbefriedigung, der Sodomie und der Hurerei frönen!« Jemand, dessen Briefpapier mit einem gedruckten Briefkopf so eindrucksvoll wie der des Präsidenten der Vereinigten Staaten geziert war, hatte ihn sogar wissen lassen, man müßte ihn »niederknallen«. Und im Frühjahr 1969 war das keine bloße Redewendung mehr. Vietnam war ein Schlachthaus, und auch außerhalb des Kriegsschauplatzes liefen viele Amerikaner Amok. Es war erst einige Monate her, daß Martin Luther King und Robert Kennedy von Attentätern niedergeknallt worden waren. Ein persönlicher Bekannter Zuckermans, einer seiner früheren Lehrer, hielt sich immer noch versteckt, weil jemand eines Nachts, als er gerade mit einem Glas warmer Milch und einem Roman von Wodehouse am Tisch saß, mit einem Gewehr durchs Küchenfenster geschossen hatte. Der pensionierte Junggeselle hatte an der Universität von Chicago fünfunddreißig Jahre lang Mittelenglisch gelehrt. Der Kursus war schwierig gewesen, aber ganz so schwierig auch wieder nicht. Heutzutage genügte es nicht mehr, jemandem die Nase blutig zu schlagen. Niedermetzeln – das war offenbar an die Stelle jenes Rundumschlags getreten, von dem die Erbitterten früher geträumt hatten; nur noch völlige Vernichtung konnte eine dauerhafte Befriedigung verschaffen. Im vergangenen Jahr waren während des Wahlkongresses der Demokratischen Partei Hunderte mit Schlagstöcken traktiert, durch Fensterscheiben geschmissen oder von Polizeipferden niedergetrampelt worden – wegen Verstößen gegen Zucht und Ordnung, die weniger gravierend waren als jene, die Zukkerman nach Meinung zahlreicher Briefschreiber begangen hatte. Er hielt es keineswegs für unwahrscheinlich, daß irgendwo in einem schäbigen Zimmer das mit seinem Porträt (ohne Schnurrbart) gezierte Titelblatt von Life mit Reißzwecken an die Wand geheftet war – genau so weit vom Bett eines »Einzelgängers« entfernt, daß dieser mit Wurfpfeilen danach zielen konnte. Solche Titelgeschichten waren schon schlimm genug für die Schriftstellerfreunde eines Schriftstellers, ganz zu schweigen von halbgebildeten Psychopathen, die wohl kaum über die vielen guten Taten Bescheid wußten, die er im PEN-Club vollbrachte. Ach, Gnädigste, wenn Sie doch bloß mein wahres Ich kennen würden! Schießen Sie nicht! Ich bin ein ernsthafter Schriftsteller, nicht bloß einer von diesen Sittenstrolchen!

Aber es war schon zu spät für solche Argumente. Hinter der randlosen Brille waren die blaßgrünen Augen der gepuderten Fanatikerin vor lauter Glaubenseifer schon ganz glasig geworden. In Kernschußweite packte sie ihn am Arm. »Sie dürfen nicht …« – sie war nicht mehr jung und mußte nach Atem ringen – »Sie dürfen nicht zulassen, daß das viele Geld einen anderen Menschen aus Ihnen macht, ganz gleich, was für einer Sie jetzt sind. Geld hat noch keinen glücklich gemacht. Das kann nur ER.« Dann zog sie aus ihrer Handtasche, die so groß wie eine Lugerpistole war, eine Postkarte mit dem Bild Jesu und drückte sie ihm in die Hand. »Es ist kein Gerechter auf Erden«, ermahnte sie ihn, »welcher Gutes tut und nicht sündiget. So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.«

Als er später an diesem Vormittag, nur einen Katzensprung vom Büro des Anlageberaters entfernt, an einer Theke Kaffee trank – und zum ersten Mal im Leben die Wirtschaftsseite der Morgenzeitung studierte kam eine Frau in mittleren Jahren lächelnd auf ihn zu und erzählte ihm, seit sie in Carnovsky alles über seine sexuelle Befreiung gelesen habe, sei sie selber auch nicht mehr so »verklemmt«. Als er in die Bank an der Rockefeller Plaza ging, um einen Scheck einzulösen, fragte der langhaarige Wachmann im Flüsterton, ob er Mr. Zuckermans Jackett berühren dürfte: Wenn er heute abend nach Hause käme, wollte er seiner Frau davon erzählen. Als Zuckerman durch den Park ging, pflanzte sich eine adrett gekleidete junge Mutter von der East Side, die mit Baby und Hund unterwegs war, vor ihm auf und sagte: »Sie brauchen Liebe, und zwar ständig. Sie tun mir leid.« Im Zeitschriftensaal der Stadtbibliothek tippte ihn ein älterer Herr auf die Schulter und erklärte ihm in stark ausländisch gefärbtem Englisch – dem Englisch von Zuckermans Großvater –, wie leid ihm seine Eltern täten. »Sie haben nicht alles aus Ihrem Leben berichtet. In Ihrem Leben gibt es mehr als nur das. Aber das andere lassen Sie einfach aus. Um quitt zu sein.« Und schließlich, zu Hause, ein massiger, leutseliger Schwarzer von der Elektrizitätsgesellschaft, der den Zähler ablesen wollte. »Hey, machen Sie alles, was in diesem Buch steht? Mit allen diesen Schnepfen? Sie sind vielleicht einer, Mann o Mann!« Der Zählerableser. Also auch bei Leuten, die sonst nur Zähler ablesen, konnte man jetzt darauf zählen, daß sie dieses Buch lasen.

Zuckerman war hochgewachsen, aber nicht so groß wie Wilt Chamberlain. Er war hager, aber nicht so hager wie Mahatma Gandhi. In seiner üblichen Aufmachung – braune Kordjacke, grauer Rollkragenpullover, khakifarbene Baumwollhose – sah er zwar ganz manierlich, aber wohl kaum wie Rubirosa aus. Und zudem waren schwarze Haare und ein Zinken hier in New York keine so auffälligen Merkmale wie vielleicht in Reykjavik oder Helsinki. Trotzdem wurde er zwei-, drei-, viermal die Woche von wildfremden Leuten erkannt. »Das ist Carnovsky!« »Hey, Vorsicht, Carnovsky, wegen so was wird man eingelocht!« »Hey, willst du meine Unterwäsche sehen, Gil?« Anfangs hatte er jedem, der ihm auf der Straße etwas nachrief, freundlich zugewinkt, um zu zeigen, daß er kein Spielverderber war. Das war am einfachsten, also tat er’s. Danach war es am einfachsten, so zu tun, als hätte er’s nicht gehört, und weiterzugehen. Und später war es am einfachsten, so zu tun, als hätte er alles gehört, sich dann aber einzureden, daß es sich in einer Welt abspielte, die gar nicht existierte. Die Leute verwechselten Charakterdarstellung mit persönlichen Bekenntnissen, und ihre Zurufe galten jemandem, den es nur in einem Buch gab. Zuckerman versuchte, dies als Lob aufzufassen – er hatte es geschafft, daß wirkliche Menschen auch Carnovsky für wirklich hielten aber schließlich gab er sich doch lieber den Anschein, nur er selbst zu sein, und ging mit kurzen, hastigen Schritten seines Wegs.

Gegen Ende dieses Tages verließ er seine neue Wohngegend und ging nach Yorkville hinüber, wo er in der Second Avenue genau die Zufluchtsstätte entdeckte, nach der er Ausschau gehalten hatte. Der richtige Ort, um ungestört mit der Abendzeitung dasitzen zu können – jedenfalls kam es ihm so vor, als er zwischen den im Schaufenster hängenden Salamiwürsten hindurch in das Lokal spähte: eine sechzigjährige Bedienung mit verschmiertem Lidschatten und ausgelatschten Hausschuhen; und hinter der Sandwichtheke ein Koloß mit einem Tranchiermesser in der Hand und einer Schürze so frisch und sauber wie eine Schneewehe in Manhattan. Es war jetzt ein paar Minuten nach sechs. Er konnte rasch ein Sandwich bestellen und um sieben Uhr wieder in seinen eigenen vier Wänden sein.

»Entschuldigen Sie bitte.«

Zuckerman blickte von der zerfledderten Speisekarte auf und sah einen Mann im dunklen Regenmantel am Tisch stehen. Die anderen Tische, ungefähr ein Dutzend, waren leer. Der Fremde hielt den Hut in der Hand, und zwar auf eine Art und Weise, die dieser Redensart wieder ihren ursprünglichen metaphorischen Glanz verlieh.

»Entschuldigen Sie. Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken.«

Es war ein massiger, breitbrüstiger Mann mit gedrungenen Hängeschultern und einem Stiernacken. Eine einzige Haarsträhne ringelte sich über seinen kahlen Schädel, sein Gesicht jedoch wirkte jungenhaft: glänzende, glatte Wangen, gefühlvolle braune Augen, eine kesse kleine Hakennase.

»Bei mir bedanken? Wofür denn?« Zum ersten Mal im Verlauf dieser sechs Wochen war Zuckerman auf den Gedanken gekommen, sich für jemand ganz anderen auszugeben. Er lernte dazu.

Sein Bewunderer hielt das für Bescheidenheit. Die lebhaften, tränenfeuchten Augen blickten noch gefühlvoller. »Mein Gott! Für alles! Für den Humor. Das Mitgefühl. Das Verständnis für unsere geheimsten Impulse. Für alles, was Sie uns über die menschliche Komödie ins Bewußtsein gerufen haben.«

Mitgefühl? Verständnis? Erst vor ein paar Stunden hatte ihm der alte Herr in der Bibliothek erklärt, wie leid ihm seine Eltern täten. Heute wurde er tatsächlich einem Wechselbad ausgesetzt.

»Sehr freundlich von Ihnen.«

Der Fremde deutete auf die Speisekarte, die Zuckerman in der Hand hielt. »Bitte bestellen Sie doch. Ich wollte mich Ihnen nicht aufdrängen. Ich war im Waschraum, und als ich herauskam, traute ich meinen Augen nicht. Sie in einem solchen Lokal zu entdecken! Ich mußte ganz einfach an Ihren Tisch kommen und ›danke‹ sagen, bevor ich gehe.«

»Ist schon gut.«

»Das schier Unglaubliche an der Sache ist, daß ich ebenfalls ein Newarker bin.«

»Ach wirklich?«

»Dort geboren und aufgewachsen. Sie sind neunundvierzig weggegangen, nicht wahr? Ist heute nicht mehr die gleiche Stadt wie damals. Sie würden sie nicht wiedererkennen. Und würden es auch nicht wollen.«

»Scheint so.«

»Ich hänge immer noch da drüben fest.«

Zuckerman nickte und winkte der Bedienung.

»Ich glaube, die Leute wissen gar nicht zu würdigen, was Sie für das alte Newark tun, außer wenn sie selbst von dort stammen.«

Zuckerman bestellte ein Sandwich und Tee. Woher weiß er, daß ich neunundvierzig weggegangen bin? Vermutlich aus Life.

Er lächelte und wartete darauf, daß dieser Fremde sich auf den Heimweg machte, hinüber auf die andere Seite des Flusses.

»Sie sind unser Marcel Proust, Mr. Zuckerman.«

Zuckerman lachte. Er selbst sah das etwas anders.

»Ich meine das ernst. Ich mache Ihnen nichts vor, Gott bewahre. Meiner Ansicht nach sind Sie ganz weit oben, an der Seite von Stephen Crane. Die zwei großen Schriftsteller aus Newark.«

»Wirklich sehr freundlich von Ihnen.«

»Wir haben natürlich auch noch Mary Mapes Dodge, aber man kann Hans Brinker noch so sehr bewundern – es ist eben doch bloß ein Kinderbuch. Ich würde ihr den dritten Platz zuweisen. Dann ist da noch LeRoi Jones, aber den würde ich ohne zu zögern an die vierte Stelle setzen. Ich sage das ohne Rassenvorurteil und auch nicht im Hinblick auf die verhängnisvolle Entwicklung, zu der es in den letzten acht Jahren in unserer Stadt gekommen ist, aber was er schreibt ist doch keine Literatur. Ich halte es für schwarze Propaganda. Nein, im Bereich der Literatur haben wir Sie und Stephen Crane, im Bereich der Schauspielkunst Rod Steiger und Vivian Blaine, was die Bühnenautoren angeht, haben wir Dore Schary, was das Singen betrifft, haben wir Sarah Vaughan, und im Sport Gene Hermanski und Herb Krautblatt. Nicht, daß der Sport in einem Atemzug mit dem, was Sie geleistet haben, zu nennen wäre. Ich sehe schon die Schulkinder vor mir, die künftig die Stadt Newark besuchen werden und …«

»Ach«, sagte Zuckerman, wiederum amüsiert, aber im unklaren darüber, was eigentlich hinter dieser Überschwenglichkeit steckte, »ich glaube, bloß meinetwegen werden die Schulkinder nicht hinkommen. Um so weniger, als das ›Empire‹ zugemacht hat.« Das »Empire« war das längst eingegangene Tingeltangel in der Washington Street, wo so mancher in New Jersey aufgewachsene Junge im Halbdunkel den ersten Striptease erlebt hatte. Zuckerman war einer von ihnen gewesen, Gilbert Carnovsky ebenfalls.

Der Fremde hob die Arme – und seinen Hut: Ausdruck hilfloser Kapitulation. »Sie haben also auch im täglichen Leben diesen fabelhaften Sinn für Humor. Mit einer so schlagfertigen Antwort könnte ich nicht aufwarten. Na, Sie werden schon sehen. In Zukunft wird man Sie lesen, wenn man sich an die alten Zeiten erinnern möchte. In Carnovsky haben Sie für immer festgehalten, was es hieß, als Jude in dieser Stadt aufzuwachsen.«

»Nochmals vielen Dank. Haben Sie vielen Dank für Ihre freundlichen Worte.«

Die Bedienung erschien mit seinem Sandwich. Schluß der Vorstellung. Und noch dazu auf eine nette Art und Weise. Hinter dieser Überschwenglichkeit steckte nichts weiter, als daß jemand Gefallen an seinem Buch gefunden hatte. Na schön. »Vielen Dank«, sagte Zuckerman – zum vierten Mal – und griff feierlich nach der einen Hälfte seines Sandwichs.

»Ich bin in die South-Side-Schule gegangen. Abschlußjahrgang dreiundvierzig.«

Die South Side High School, im heruntergekommenen Zentrum der alten Industriestadt, war schon zu Zuckermans Zeiten, als Newark noch vorwiegend weiß war, halb schwarz gewesen. Sein eigener Schulbezirk, am Rande eines neueren Newarker Stadtviertels, war in den zwanziger und dreißiger Jahren von Juden bewohnt, die aus den verlotterten Einwanderer-Enklaven hierher gezogen waren, um Kinder aufzuziehen, die ins College gehen, akademische Berufe ergreifen und eines Tages in den Vororten von Orange wohnen sollten, wo Zuckermans Bruder Henry jetzt ein großes Haus besaß.

»Sie sind Weequahic-Absolvent, Abschlußjahrgang neunundvierzig.«

»Hören Sie«, sagte Zuckerman betreten, »ich muß jetzt essen und gleich wieder gehen. Tut mir leid.«

»Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Ihnen nur … Aber das hab’ ich ja bereits gesagt.« Er lächelte, beschämt über die eigene Hartnäckigkeit. »Danke – nochmals vielen Dank. Für alles. Hat mich sehr gefreut. War ein Erlebnis für mich. Ich wollte Sie weiß Gott nicht belemmern.«

Zuckerman sah ihm nach, als er zur Kasse ging, um sein Essen zu bezahlen. Er war jünger, als man aus seiner dunklen Kleidung, seiner bulligen Figur und seinem resignierten Gesichtsausdruck schließen konnte, aber linkischer und – mit seinem schwerfälligen, plattfüßigen Gang – auf eine rührendere Weise komisch, als Zuckerman zunächst bemerkt hatte.

»Entschuldigen Sie. Tut mir leid.«

Abermals den Hut in der Hand. Und dabei war Zukkerman überzeugt, gesehen zu haben, wie er mit dem Hut auf dem Kopf hinausgegangen war.

»Ja?«

»Sie werden mich jetzt sicher auslachen. Ich versuche nämlich, auch etwas zu schreiben. Keine Sorge, ich mache Ihnen bestimmt keine Konkurrenz. Wenn man es selber ausprobiert, bewundert man die enorme Leistung, die jemand wie Sie vollbringt, um so mehr. Allein schon die Geduld ist phänomenal. Tagein, tagaus vor diesem weißen Blatt Papier.«

Zuckerman hatte sich vorhin überlegt, ob er ihn nicht aus reiner Höflichkeit auffordern sollte, Platz zu nehmen, wenn auch nur für einen Moment. Er war sogar nahe daran gewesen, sich diesem Mann – sentimentalerweise – verbunden zu fühlen, der da neben ihm am Tisch gestanden und erklärt hatte: »Ich bin ebenfalls ein Newarker.« Jetzt allerdings hegte er weniger sentimentale Empfindungen gegenüber diesem Newarker, der bei ihm am Tisch stand und erklärte, er sei ebenfalls ein Schriftsteller.

»Ich wollte fragen, ob Sie einen Lektor oder einen Agenten empfehlen könnten, der jemandem wie mir weiterhelfen würde.«

»Nein.«

»Okay. Schon gut. In Ordnung. War bloß eine Frage. Wissen Sie, ich habe nämlich bereits einen Produzenten, der aus meiner Lebensgeschichte ein Musical machen will. Ich persönlich bin allerdings der Meinung, sie sollte zuerst in Buchform veröffentlicht werden. Seriös und mit sämtlichen Fakten.«

Schweigen.

»Das kommt Ihnen absurd vor, ich weiß, auch wenn Sie zu höflich sind, es auszusprechen. Aber was ich gesagt habe, stimmt. Nicht, daß ich jemand wäre, der als Person wichtig genommen wird. Daß dies nicht der Fall ist, sieht man mir auf den ersten Blick an. Nein, aus dem, was mir passiert ist, soll ein Musical gemacht werden.«

Schweigen.

»Ich bin Alvin Pepler.«

Na schön, Houdini war er jedenfalls nicht. Einen Moment lang hatte alles darauf hingedeutet.

Alvin Pepler wartete darauf, wie Nathan Zuckerman auf seine Begegnung mit Alvin Pepler reagieren würde. Als keine Reaktion erfolgte, sprang er Zuckerman sofort bei. Und sich selber auch. »Leuten wie Ihnen sagt dieser Name natürlich nichts. Sie haben was Besseres zu tun, als Ihre Zeit mit Fernsehen zu verplempern. Aber weil ich doch ein ›Landsmann‹ von Ihnen bin, dachte ich, Ihre Familie hätte Ihnen vielleicht etwas über mich erzählt. Ich habe es vorhin nicht erwähnt, ich hielt es nicht für angebracht, aber zufällig ist Essie Slifer, die Cousine Ihres Vaters, vor Gott weiß wieviel Jahren mit Lottie, der Schwester meines Vaters, in die Schule gegangen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas sagt, aber ich bin derjenige, der in den Zeitungen ›Pepler, der Mann aus dem Volk‹ genannt wurde. Ich bin ›Alvin, der jüdische Marineinfanterist‹.«

»Ach«, sagte Zuckerman, ganz erleichtert darüber, daß er endlich etwas dazu sagen konnte, »dann sind Sie der Quizkandidat, stimmt’s? Sie sind in einer dieser Sendungen aufgetreten.«

Oje, das war aber bestimmt noch nicht alles! Die sirupbraunen Augen wurden traurig und zornig und füllten sich – nicht etwa mit Tränen, sondern, was viel schlimmer war – mit Wahrheit. »Mr. Zuckerman, drei Wochen hintereinander war ich der Champion in der größten aller Quizshows. Berühmter als ›Twenty-One‹. Und was die Gewinnchancen betrifft, größer als ›The 64.000 Dollar Question‹. Ich war der Champion von ›Smart Money‹.«

Zuckerman konnte sich nicht entsinnen, jemals eine dieser Quizsendungen aus den späten fünfziger Jahren gesehen zu haben, und er konnte die eine nicht von der anderen unterscheiden. Er und seine erste Frau, Betsy, hatten nicht mal einen Fernseher besessen. Allerdings glaubte er sich daran erinnern zu können, daß jemand aus seiner Verwandtschaft – höchstwahrscheinlich Tante Essie – einmal von einer Familie Pepler aus Newark und deren überkandideltem Sohn, dem Quizkandidaten und Ex-Marineinfanteristen, gesprochen hatte.

»Alvin Pepler war derjenige, den man ausgebootet hat, um Platz für den großen Hewlett Lincoln zu machen. Das ist das Thema meines Buches. Der Betrug, der am amerikanischen Publikum verübt wurde. Wie man die Gutgläubigkeit von Millionen harmloser Menschen manipuliert hat. Und wie ich, weil ich das eingestanden habe, ein für allemal zum Paria gemacht wurde. Man hat mich aufgebaut, um mich dann zu vernichten, und, Mr. Zuckerman, diese Leute sind immer noch nicht fertig mit mir. Die anderen Beteiligten sind alle weitergekommen, vorwärts und aufwärts im filzokratischen Amerika, und niemand kümmert sich einen Dreck darum, was für Diebe und Lügner diese Leute gewesen sind. Aber weil ich nicht für diese elenden Gauner lügen wollte, muß ich seit zehn Jahren wie ein Gebrandmarkter leben. Die Opfer McCarthys sind besser dran als ich. Die ganze Nation hat sich gegen diesen Schweinehund erhoben, hat die Unschuldigen in Schutz genommen und so weiter, bis die Gerechtigkeit wenigstens wieder einigermaßen hergestellt war. Aber der Name Alvin Pepler ist bis heute im gesamten amerikanischen Rundfunk- und Fernsehgeschäft ein Schimpfwort geblieben.«

Zuckerman konnte sich jetzt etwas genauer an die Aufregung erinnern, die diese Quizsendungen ausgelöst hatten. Deutlicher als an Alvin Pepler erinnerte er sich allerdings an Hewlett Lincoln, den philosophischen jungen Provinzjournalisten, Sohn des republikanischen Gouverneurs von Maine und, während er als Quizkandidat auftrat, populärster Fernsehstar Amerikas, bewundert von Schulkindern, ihren Lehrern, Eltern und Großeltern – bis der Skandal aufgedeckt wurde und die Schulkinder erfuhren, daß die Antworten, die Hewlett Lincoln in der schalldichten Kabine so leicht von den Lippen flossen, ihm schon Tage zuvor von den Produzenten der Quizsendung zugesteckt worden waren. Die Zeitungen hatten auf der ersten Seite darüber berichtet, und Zuckerman entsann sich, daß der farcenhafte Abschluß der Affäre eine vom Kongreß angeordnete Untersuchung gewesen war.

»Ich würde nicht im Traum daran denken«, sagte Pepler, »uns beide miteinander zu vergleichen. Ein hochgebildeter Künstler wie Sie und ein zufällig mit einem fotografischen Gedächtnis begabter Mensch wie ich – das sind zwei verschiedene Dinge. Aber als ich in ›Smart Money‹ auftrat, genoß ich, ob verdientermaßen oder nicht, die Hochachtung der gesamten Nation. Und ich muß sagen, daß es dem jüdischen Bevölkerungsteil bestimmt nicht geschadet hat, in der Hauptsendezeit drei Wochen hintereinander in einem landesweit ausgestrahlten Fernsehprogramm von einem Ex-Marineinfanteristen repräsentiert zu werden, der an zwei Kriegen teilgenommen hat. Sie halten vielleicht nichts von Quizsendungen, nicht mal von solchen, bei denen es ehrlich zugeht. Das ist Ihr gutes Recht – das steht Ihnen mehr als jedem anderen zu. Aber das große Publikum war damals ganz anders eingestellt. Deshalb habe ich, als ich während jener grandiosen drei Wochen ganz oben war, kein Hehl aus meiner Religion gemacht. Ich habe es geradeheraus gesagt. Das ganze Land sollte wissen, daß ein jüdischer Soldat des Marine-Corps sich auf dem Schlachtfeld genau so bewähren kann wie jeder andere. Ich habe nie behauptet, ein Kriegsheld zu sein. Beileibe nicht. Im Schützenloch habe ich gezittert wie jeder andere auch, aber davongelaufen bin ich nie, auch unter Beschuß nicht. Gewiß, es hat eine ganze Menge jüdischer Frontkämpfer gegeben, und viele waren tapferer als ich. Aber ich war derjenige, der diese Tatsache der großen Masse des amerikanischen Publikums zu Bewußtsein gebracht hat, und wenn ich das mittels einer Quizsendung tat – na schön, das entspricht eben meinen Möglichkeiten. Doch dann hat die Zeitschrift Variety angefangen, über mich herzuziehen, mich ›Quizling‹ und dergleichen zu nennen – und das war der Anfang vom Ende. Quizling mit z. Wo ich doch der einzige war, der die richtigen Antworten nicht schon vorher haben wollte! Wo ich doch lediglich über das Thema der Fragen informiert werden wollte, um mich darauf vorzubereiten, mir alles einzuprägen und dann die Sache anständig und ehrlich auszufechten. Ich könnte Bände schreiben über diese Leute und darüber, was sie mir angetan haben. Das ist der Grund, warum ich, als ich Ihnen über den Weg lief, als ich völlig unerwartet Newarks großen Schriftsteller vor mir sah … also wirklich, es kommt mir wie ein Wunder vor, daß mir das gerade jetzt passiert. Denn wenn ich ein Buch schreiben könnte, das zur Veröffentlichung geeignet ist, würden es die Leute sicherlich lesen und glaubwürdig finden. Dann wäre mein Name wieder das, was er einmal gewesen ist. Dann wäre das bißchen Gute, das ich tun durfte, nicht für immer ausgelöscht. Die arglosen Menschen, die ich enttäuscht und besudelt zurückgelassen habe, die vielen Millionen, die ich im Stich lassen mußte, insbesondere die Juden – sie alle würden endlich begreifen, was wirklich passiert ist. Und sie würden mir vergeben.«

Seine eigene Arie hatte ihn nicht ungerührt gelassen. Die dunkelbraune Iris seiner Augen schien jetzt mit frisch aus dem Schmelzofen geflossenem Erz gefüllt – als ob ein einziger Tropfen aus Peplers Augen genügte, um einem ein tiefes Loch in den Körper zu brennen.

»Wenn sich das so verhält«, sagte Zuckerman, »dann sollten Sie sich an die Arbeit machen.«

»Habe ich schon getan.« Pepler lächelte so gut er konnte. »Zehn Jahre meines Lebens. Darf ich?« Er deutete auf den leeren Stuhl an der anderen Seite des Tisches.

»Warum nicht?« sagte Zuckerman und versuchte, nicht an die vielen Gründe zu denken, die dagegen sprachen.

»Mit nichts anderem habe ich mich beschäftigt.« Aufgeregt ließ sich Pepler auf den Stuhl plumpsen. »Nacht für Nacht habe ich daran gearbeitet, seit zehn Jahren. Aber ich habe kein Talent dazu. Das sagt man mir jedenfalls. An zweiundzwanzig Verlage habe ich mein Buch geschickt. Fünfmal habe ich es umgeschrieben. Ich zahle einer jungen Lehrerin von der Columbia High School in South Orange, die nach wie vor als erstklassige Schule eingestuft wird, einen Stundenlohn dafür, daß sie meine grammatikalischen und Interpunktionsfehler korrigiert. Nicht im Traum dächte ich daran, jemandem auch nur eine einzige Seite dieses Buches vorzulegen, die nicht zuvor von ihr nach Schnitzern durchgesehen wurde. Dafür ist das alles viel zu wichtig. Aber wenn man nach Meinung dieser Leute kein großes Talent ist – ja, dann ist eben nichts zu machen. Das können Sie mir als Verbitterung ankreiden. Würde ich an Ihrer Stelle auch tun. Miss Diamond, die Lehrerin, die mir hilft, stimmt mir allerdings zu: Die brauchen bloß zu sehen, daß Alvin Pepler der Verfasser ist, und schon werfen sie’s auf den Haufen Papier, der als Schund abgestempelt ist. Ich glaube nicht, daß sie mehr davon lesen als meinen Namen. Selbst für den kümmerlichsten Redakteur im Verlagsgeschäft bin ich bloß noch ein Witz.«

Seine Stimme klang leidenschaftlich erregt, sein Blick jedoch schien (seit Pepler sich am Tisch niedergelassen hatte) magnetisch angezogen von dem, was Zukkerman auf seinem Teller übriggelassen hatte. »Aus diesem Grund habe ich Sie nach einem Lektor oder Agenten gefragt – einem, der ganz unvoreingenommen an die Sache heranginge. Der begreifen würde, daß es etwas Seriöses ist.«

Obzwar selber auf Seriosität erpicht, wollte sich Zuckerman nach wie vor nicht auf eine Diskussion über Agenten und Lektoren einlassen. Wenn es für einen amerikanischen Schriftsteller überhaupt einen Grund gäbe, in Rotchina um Asyl nachzusuchen, dann nur, um zehntausend Meilen von dergleichen Diskussionen entfernt zu sein.

»Ihnen bleibt ja noch das Musical.«

»Ein seriöses Buch ist etwas ganz anderes als ein Broadway-Musical.«

Noch eine Diskussion, die Zuckerman lieber vermeiden wollte. Klang wie das Thema eines Kursus der Neuen Schule.

»Falls das Musical überhaupt zustande kommt«, sagte Pepler kleinlaut.

Zuckerman optimistisch: »Wo Sie doch schon einen Produzenten haben …«

»Ja, aber bisher ist das bloß ein Gentlemen’s Agreement. Noch niemand hat Geld bekommen, noch niemand hat etwas unterschrieben. Die Arbeit soll erst beginnen, wenn er zurück ist. Dann wird die Sache ausgehandelt.«

»Na, das ist doch etwas.«

»Deshalb bin ich in New York. Ich bin in seiner Wohnung einquartiert und spreche meinen Text auf Tonband. Das ist alles, was er von mir haben möchte. Was ich geschrieben habe, will er ebenso wenig sehen wie die Großmoguln im Verlagswesen. Immer nur auf Tonband sprechen, bis er zurückkommt. Und die Gedanken auslassen. Bloß die Story erzählen. Naja, arme Leute dürfen eben nicht wählerisch sein.«

Ein durchaus passender Gesprächsabschluß.

»Aber«, sagte Pepler, als er Zuckerman aufstehen sah, »aber Sie haben doch erst das halbe Sandwich gegessen.«

»Keine Zeit mehr.« Er deutete auf seine Armbanduhr. »Werde erwartet. Besprechung.«

»Oh, entschuldigen Sie, Mr. Zuckerman. Tut mir leid.«

»Viel Glück mit dem Musical!« Er griff nach Peplers Hand und schüttelte sie. »Und auch sonst – viel Glück!« Pepler konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Pepler konnte überhaupt nichts verbergen. Oder verbarg er vielleicht alles? Unmöglich, dahinterzukommen, und ein weiterer Grund, sich davonzumachen.

»Tausend Dank.« Und dann, resigniert: »Übrigens, um den Schritt vom Erhabenen zum …«

Was wollte er denn jetzt schon wieder?

»Sie haben doch sicher nichts dagegen, daß ich Ihre saure Gurke esse?«

War das ein Witz? War das Ironie?

»Ich kann diesem Zeug einfach nicht widerstehen. War schon als Kind scharf darauf.«

»Bitte sehr«, sagte Zuckerman, »bedienen Sie sich.«

»Sie haben wirklich nichts dagegen?«

»Natürlich nicht.«

Pepler liebäugelte mit der übriggebliebenen Sandwichhälfte. Und das war kein Witz. Dafür war sein Blick viel zu gierig. »Wenn ich schon dabei bin …« Ein selbstverächtliches Lächeln.

»Na klar. Warum denn nicht?«

»Wissen Sie, dort sind keine Lebensmittel im Kühlschrank. Ich spreche alle diese Geschichten auf Tonband und verhungre fast dabei. Nachts wache ich auf, mir fällt etwas fürs Tonband ein, was ich vergessen hatte, aber es ist nichts zu essen da.« Er begann die Sandwichhälfte in eine Papierserviette einzuwickeln, die er aus dem Behälter auf dem Tisch gezogen hatte. »Alle Mahlzeiten werden geliefert.«

Doch Zuckerman hatte sich bereits abgesetzt. An der Kasse hinterließ er einen Fünfdollarschein, dann suchte er das Weite.

Zwei Häuserblocks westlich tauchte Pepler neben ihm aufgerade als Zuckerman in der Lexington Avenue auf Grün wartete.

»Ein letztes Wort …«

»Hören Sie …«

»Keine Sorge, ich werde Sie nicht bitten, mein Buch zu lesen. Ich bin zwar ein Spinner …« – Zuckerman registrierte dieses Eingeständnis mit einem leichten Herzklopfen – »… aber ganz so verrückt auch wieder nicht. Man wendet sich doch nicht an Einstein, um Bankauszüge überprüfen zu lassen.«

Das ungute Gefühl, das den Romanautor beschlichen hatte, ließ sich durch diese Schmeichelei freilich nicht beschwichtigen.

»Mr. Pepler, was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ich hätte nur gern gewußt, ob es Ihrer Meinung nach das richtige Projekt für einen Produzenten wie Marty Paté ist. Der ist nämlich dahinter her. Ich wollte nicht mit Namen um mich werfen, aber okay – er ist derjenige. Ich mache mir gar nicht mal wegen des Geldes Sorgen. Ich will mich zwar nicht reinlegen lassen – nicht noch einmal aber im Moment sag’ ich: Zum Teufel mit dem Geld! Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich darauf vertrauen kann, daß er meiner Lebensgeschichte wirklich gerecht wird – all den schlimmen Erfahrungen, die ich in diesem Land mein Leben lang machen mußte.«

Verhöhnung, Betrug, Demütigung – alles, was Pepler erdulden mußte, ohne »Gedanken« äußern zu dürfen, konnte ihm Zuckerman an den Augen ablesen.

Er hielt Ausschau nach einem Taxi. »Das weiß ich auch nicht.«

»Aber Sie kennen Paté doch.«

»Nie von ihm gehört.«

»Marty Paté. Der Broadway-Produzent.«

»Keine Ahnung.«

Sie.