Philip Roth

SHOP TALK

Ein Schriftsteller,
seine Kollegen und ihr Werk

Aus dem Amerikanischen
von Bernhard Robben

Carl Hanser Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2001

unter dem Titel Shop Talk. A Writer and His Colleagues

and Their Work bei Houghton Mifflin in New York.

Das Gespräch mit Primo Levi

übersetzte Meino Büning.

ISBN 978-3-446-25139-7

© Philip Roth 2001

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München Wien 2004/2015

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

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Für meinen Freund C.H. Huvelle

1916–2000

Inhalt

Gespräch mit Primo Levi in Turin

Gespräch mit Aharon Appelfeld in Jerusalem

Gespräch mit Ivan Klíma in Prag

Gespräch mit Isaac Bashevis Singer über Bruno Schulz in New York

Gespräch mit Milan Kundera in London und Connecticut

Gespräch mit Edna O’Brien in London

Ein Briefwechsel mit Mary McCarthy

Bilder von Bernard Malamud

Bilder von Philip Guston

Saul Bellow – wiedergelesen

Gespräch mit Primo Levi
in Turin

AN EINEM FREITAG im September 1986 kam ich in Turin an, um ein Gespräch mit Primo Levi wiederaufzunehmen, das wir in London im Frühling zuvor begonnen hatten. Ich bat ihn, mich durch die Farbenfabrik zu führen, in der er als Chemiker und später bis zu seiner Pensionierung als Betriebsleiter gearbeitet hatte. Insgesamt hat die Firma fünfzig Beschäftigte, hauptsächlich Chemiker, die in den Laboratorien arbeiten, und Facharbeiter im Erdgeschoß des Betriebs. Die Maschinen, die Reihe der Lagertanks, das Laborgebäude, die fertigen Produkte in mannshohen transportfertigen Containern, die Anlage zur Reinigung und Wiederverwendung der Abfälle – alles befindet sich auf einem Gelände von vier bis fünf Morgen, zehn Kilometer von Turin entfernt. Die Maschinen, die Harz trocknen, Farben mischen und Verunreinigungen abpumpen, sind niemals beunruhigend laut, der scharfe Geruch auf dem Fabrikhof – ein Geruch, wie Levi mir erzählte, der noch zwei Jahre nach seiner Pensionierung in seinen Kleidern hing – ist keineswegs ekelerregend, und der dreißig Meter lange Abfallbehälter mit den schwarzen schlammigen Rückständen des Reinigungsprozesses ist nicht übermäßig häßlich. Es ist wohl kaum das scheußlichste Fabrikgebäude der Welt, aber dennoch weit entfernt von jenen geistgetränkten Sätzen, die das Wesen von Levis autobiographischen Erzählungen ausmachen.

Andererseits ist dies, wenn auch weit vom Geist seiner Prosa entfernt, offensichtlich ein Ort, der ihm am Herzen liegt; während ich so viel wie möglich an Geräuschen, Gestank, dem Mosaik der Leitungen und Bottiche und Tanks und Meßinstrumente in mich aufnahm, erinnerte ich mich an einen Satz von Faussone, dem geschickten Mechaniker in dem Roman Der Ringschlüssel, den Levi als sein »zweites Ich« bezeichnete. »Ich muß Ihnen was sagen, auf einer Baustelle zu sein macht mir Spaß.«1

Als wir zusammen über den Hof zum Laboratorium gingen, einem einfachen zweistöckigen Gebäude, das während Levis Managerzeit gebaut worden war, erzählte er mir: »Ich bin seit zwölf Jahren von der Fabrik abgeschnitten. Das wird ein Abenteuer für mich.« Er glaube, fast jeder, der mit ihm zusammengearbeitet habe, sei inzwischen pensioniert oder tot, und tatsächlich, die wenigen, die noch da waren, erschienen ihm wie Gespenster. »Noch ein Geist«, flüsterte er mir zu, als jemand aus dem Zentralbüro, das einmal seines gewesen war, hervortrat, um ihn zu begrüßen. Auf unserem Weg zu der Abteilung des Laboratoriums, in der das Rohmaterial überprüft wird, bevor es zur Produktion zugelassen wird, fragte ich Levi, ob er das besondere chemische Aroma identifizieren könne, das schwach im Korridor zu spüren war; ich hatte das Gefühl, es rieche ein bißchen nach Krankenhaus. Er hob nur kurz den Kopf und setzte seine Nase der Luft aus. Mit einem Lächeln sagte er: »Ich kenne es und kann es herausriechen wie ein Hund.«

Er schien mir von innen belebt, wie ein kleines quecksilbriges Waldgeschöpf, das die schärfste Intelligenz weit und breit besitzt. Levi ist klein und schmal, wenn auch nicht so zart gebaut, wie ihn sein unprätentiöses Auftreten im ersten Augenblick erscheinen läßt, und er wirkt noch immer so behende, wie er mit Zehn gewesen sein muß. In seinem Körper wie in seinem Gesicht sieht man – anders als bei den meisten Männern – Gesicht und Körper des Jungen, der er einmal war. Seine Wachsamkeit ist fast greifbar, eine Aufmerksamkeit, die in ihm glüht wie eine Kontrollampe.

Es ist nicht so überraschend, wie man meinen möchte, daß Schriftsteller sich wie alle anderen Menschen in zwei Kategorien einteilen lassen: solche, die einem zuhören, und solche, die das nicht tun. Levi hört zu, mit seinem ganzen Gesicht, einem präzis modellierten Gesicht, das mit seinem weißen Kinnbart mit siebenundsechzig Jahren ebenso jugendlich wirkt wie professoral, einem Gesicht voll ununterdrückbarer Neugier und zugleich dem Gesicht des angesehenen dottore. Ich verstehe Faussone, wenn er zu Beginn des Ringschlüssels zu Primo Levi sagt: »Aber wissen Sie, das ist schon ein starkes Stück, daß sie mich dazu kriegen, all diese Geschichten zu erzählen, die ich außer Ihnen noch niemand erzählt habe.« Es ist kein Wunder, daß Leute ihm ständig etwas erzählen und daß alles getreu aufgezeichnet wird, bevor es niedergeschrieben wird: beim Zuhören ist er so konzentriert und ruhig wie ein Eichhörnchen, das von einer Steinmauer aus etwas Unbekanntes beobachtet.

In einem großen, stattlich wirkenden Wohnhaus, das einige Jahre vor seiner Geburt erbaut wurde – und in dem er auch geboren wurde, denn es war früher das Haus seiner Eltern –, lebt Levi mit seiner Frau Lucia; außer dem Jahr in Auschwitz und den abenteuerlichen Monaten unmittelbar nach seiner Befreiung hat Levi sein ganzes Leben in dieser Wohnung verbracht. Das Gebäude, dessen bürgerliche Solidität allmählich Altersspuren aufweist, liegt an einer breiten Straße mit Wohnhäusern, die mir als norditalienisches Gegenstück zu Manhattans Westend Avenue vorkam: ein ständiger Strom von Autos und Bussen, Straßenbahnen, aber auch große Kastanien entlang der schmalen Inselchen zu beiden Seiten der Straße und die grünen Hügel um die Stadt, die man von einer Kreuzung aus sehen kann. Die berühmten Arkaden im Geschäftszentrum der Stadt sind in einer Viertelstunde zu erreichen, mitten durch das, was Levi »die obsessive Turiner Geometrie« genannt hat.

Die große Wohnung der Levis teilen sie mit Primo Levis Mutter, seit der Zeit, als das Paar sich kennenlernte und nach dem Krieg heiratete – sie ist einundneunzig. Levis fünfundneunzigjährige Schwiegermutter lebt in der Nähe, nebenan wohnt sein achtundzwanzigjähriger Sohn, ein Physiker, und einige Straßen weiter lebt seine achtunddreißigjährige Tochter, eine Botanikerin. Ich kenne keinen anderen zeitgenössischen Autor, der freiwillig über so viele Jahrzehnte mit seiner Familie so eng verbunden war und in so ungebrochenem Kontakt mit seinem Geburtsort, seiner Region, der Welt seiner Vorfahren und insbesondere mit der lokalen Arbeitswelt, die in Turin, der Heimatstadt von Fiat, weitgehend industriell geprägt ist, gelebt hat. Von allen intellektuell begabten Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts ist er vielleicht der Gesamtheit seiner Umwelt am besten angepaßt – und Levis Einzigartigkeit liegt darin, daß er eher ein kunstbegabter Chemiker ist als ein dem Broterwerb des Chemikers nachgehender Schriftsteller. Vielleicht bildet im Falle Primo Levis ein Leben in Verbundenheit mit der Gemeinschaft zusammen mit seinem Meisterwerk über Auschwitz seine zutiefst optimistische Antwort auf jene, die alles unternahmen, um ihn von jeglichen menschlichen Beziehungen abzuschneiden und ihn und seine Art aus der Geschichte zu löschen.

Im Periodischen System beginnt Levi einen Absatz, der einen der befriedigendsten Prozesse der Chemie beschreibt, mit dem ganz und gar simplen Satz: »Destillieren ist schön.«2 Auch das Folgende ist ein Destillat, eine Reduktion auf wesentliche Punkte der lebendigen, weitgespannten Konversation, die wir auf englisch im Verlauf eines langen Wochenendes führten, meist in dem ruhigen Arbeitsraum gegenüber dem Eingang zu seiner Wohnung. Levis Arbeitszimmer ist ein großer, sparsam möblierter Raum. Es gibt ein altes Sofa mit geblümtem Bezug und einen bequemen Sessel; auf dem Schreibtisch steht ein zugedeckter Schreibcomputer; ordentlich aufgereiht hinter dem Schreibtisch stehen auf einem Regal Levis verschiedenfarbige Notizbücher; Regale an allen Wänden des Raumes enthalten Bücher auf italienisch, deutsch und englisch. Der beziehungsreichste Gegenstand ist auch einer der kleinsten: eine unauffällig gehängte Zeichnung eines halbzerstörten Stacheldrahtzauns in Auschwitz. Auffallender an den Wänden plaziert sind verspielte Konstruktionen, die Levi selbst kunstvoll aus isoliertem Kupferdraht gebogen hat – einem Draht mit dem Überzug, der in seinem Laboratorium entwickelt wurde. Da ist ein großer Drahtschmetterling, eine Eule aus Draht, ein winziger Drahtkäfer, und hoch oben an der Wand hinter seinem Schreibtisch hängen zwei der größten Gebilde: das eine die Drahtfigur eines Vogelkriegers, der mit seiner Stricknadel bewaffnet ist, und das andere ein »Mann, der seine Nase spielt«, wie Levi erklärte, als ich nicht herausfand, was es darstellen sollte. »Ein Jude«, schlug ich vor. »Ja, ja«, stimmte er lachend zu, »natürlich, ein Jude.«

ROTH: Im Periodischen System, Ihrem Buch über den »starken und bitteren Geschmack« Ihrer Erfahrung als Chemiker, erzähen Sie von Giulia, Ihrer attraktiven jungen Kollegin in einer chemischen Fabrik, 1942 in Mailand. Giulia erklärt Ihre »Arbeitswut« mit der Tatsache, daß Sie, als Sie Anfang Zwanzig waren, schüchtern Frauen gegenüber waren und keine Freundin hatten. Aber ich glaube, sie irrte sich. Ihre wahre Arbeitswut leitet sich von etwas Tieferem ab. Arbeit ist für Sie eine Besessenheit, nicht nur im Ringschlüssel, sondern selbst in Ihrem ersten Buch über Ihre Gefangenschaft in Auschwitz.

»Arbeit macht frei« stand über dem Tor von Auschwitz. Aber die Arbeit in Auschwitz ist eine schreckliche Parodie auf die Arbeit, nutzlos und sinnlos – Arbeit als Strafe, die zu einem qualvollen Tod führt. Man könnte Ihr gesamtes literarisches Werk als dem Versuch gewidmet begreifen, der Arbeit ihre menschliche Bedeutung zurückzugeben, das Wort »Arbeit« zu befreien von dem verächtlichen Zynismus, mit dem Ihre Arbeitgeber in Auschwitz es verunstaltet hatten. Faussone sagt zu Ihnen: »Für mich ist jede Arbeit, die ich anfange, wie eine erste Liebe.« Er spricht fast ebenso gern über seine Arbeit, wie er arbeitet. Faussone ist der arbeitende Mensch, der durch seine Arbeit wahrhaft frei wird.

LEVI: Ich glaube nicht, daß Giulia sich irrte, als sie meine Arbeitswut darauf zurückführte, daß ich damals gegenüber Mädchen schüchtern war. Diese Schüchternheit oder Hemmung war echt, schmerzlich und lästig – für mich damals viel wichtiger als meine Hingabe an die Arbeit. Im übrigen war die Arbeit in der Mailänder Fabrik, die ich im Periodischen System beschrieb, eine Scheinarbeit, an die ich nicht glaubte. Die Katastrophe des italienischen Waffenstillstands vom 8. September 1943 deutete sich bereits an, und es wäre dumm gewesen, das zu ignorieren, indem man sich in eine wissenschaftlich bedeutungslose Aktivität vergraben hätte.

Ich habe nie versucht, meine Schüchternheit ernsthaft zu analysieren, aber ohne Zweifel spielten Mussolinis Rassengesetze eine wichtige Rolle. Auch andere jüdische Freunde litten darunter, einige »arische« Schulkameraden machten sich über uns lustig und sagten, die Beschneidung sei letztlich dasselbe wie Kastration, und wir neigten – zumindest unbewußt – dazu, das zu glauben, was noch verstärkt wurde durch unsere puritanischen Familien. Ich denke, daß zu jener Zeit die Arbeit für mich eher eine sexuelle Kompensation darstellte als eine echte Leidenschaft.

Dennoch bin ich mir wohl bewußt, daß nach dem Lager meine Arbeit oder besser meine beiden Arten Arbeit (Chemie und Schreiben) eine wesentliche Rolle in meinem Leben spielten und immer noch spielen. Ich bin davon überzeugt, daß normale menschliche Wesen biologisch auf zielgerichtetes Handeln ausgerichtet sind und daß Untätigkeit oder sinnlose Arbeit (wie die Arbeit3 in Auschwitz) Leiden und Verkümmerung mit sich bringt. In meinem Fall, wie im Falle meines Alter ego Faussone, ist Arbeit identisch mit »Problemlösung«.

In Auschwitz fiel mir ziemlich häufig ein eigenartiges Phänomen auf. Das Bedürfnis nach lavoro ben fatto, »gut gemachter Arbeit«, ist so stark, daß es Menschen dazu bringt, selbst Sklavenarbeiten »anständig« zu verrichten. Der italienische Maurer, der mir das Leben rettete, als er mich sechs Monate lang heimlich mit Essen versorgte, haßte die Deutschen, ihr Essen, ihre Sprache, ihren Krieg: aber als sie ihm auftrugen, Wände zu mauern, baute er sie gerade und fest, nicht aus Gehorsam, sondern aus Stolz auf sein Können.

ROTH: Das letzte Kapitel von Ist das ein Mensch? trägt den Titel »Die Geschichte von zehn Tagen«, in denen Sie in Tagebuchform beschreiben, wie Sie vom 18. bis zum 27. Januar 1945 zusammen mit einem kleinen Häufchen kranker und sterbender Patienten in der behelfsmäßigen Krankenstation des Lagers aushielten, nachdem die Nazis mit etwa zwanzigtausend »gesunden« Gefangenen nach Westen geflohen waren. Was hier erzählt wird, erscheint mir wie die Geschichte von Robinson Crusoe in der Hölle, mit Ihnen, Primo Levi, als Crusoe, der sich alles, was er zum Leben braucht, aus dem chaotischen Abfall einer unbarmherzigen und bösen Insel zusammensucht. In diesem Kapitel wie im ganzen Buch fiel mir besonders auf, wie sehr das Denken zu Ihrem Überleben beitrug, das Denken eines praktischen, menschlichen, wissenschaftlichen Kopfes. Ihr Überleben scheint weder determiniert durch brutale biologische Stärke noch durch unglaubliches Glück, sondern hatte eher mit Ihrem Beruf zu tun: der Mann der Präzision, der Kontrolleur von Experimenten; der nach dem Ordnungsprinzip sucht, konfrontiert mit der perversen Verkehrung aller Werte, die er schätzt. Sicherlich waren Sie ein Teilchen in einer teuflischen Maschine, aber ein Teilchen mit einer Nummer und einem systematischen Verstand, der immer zu verstehen sucht. In Auschwitz sagten Sie zu sich: »Ich denke zuviel«, um Widerstand leisten zu können. »Ich bin zu zivilisiert.« Aber mir erscheint der zivilisierte Mensch, der zuviel denkt, als untrennbar vom Überlebenden. Der Wissenschaftler und der Überlebende sind eins.

Levi: Das stimmt genau! Sie haben es wirklich getroffen. In diesen denkwürdigen zehn Tagen fühlte ich mich tatsächlich wie Robinson Crusoe, aber mit einem wichtigen Unterschied. Crusoe machte sich an die Arbeit, um als Individuum zu überleben, während ich und meine beiden französischen Kameraden uns bewußt waren – und uns darüber freuten –, daß wir für ein gerechtes und menschliches Ziel kämpften, nämlich die Leben unserer kranken Kameraden zu retten.

Was das Überleben angeht: diese Frage habe ich mir selbst ebensooft gestellt wie das andere taten. Ich bestehe darauf, daß es keine allgemeine Regel gab, außer daß man gesund ins Lager kommen und Deutsch können mußte. Abgesehen davon herrschte der Zufall. Ich habe gerissene Leute überleben sehen und dumme Leute, Tapfere und Feiglinge, »Denker« und Wahnsinnige. In meinem Fall spielte das Glück bei zumindest zwei Gelegenheiten eine entscheidende Rolle: als ich den italienischen Maurer kennenlernte und daß ich nur einmal, aber dann im richtigen Moment, krank wurde.

Und dennoch stimmt, was Sie sagen: daß Denken und Beobachten für mich Überlebensfaktoren waren, auch wenn meiner Meinung nach der pure Zufall am wichtigsten war. Ich erinnere mich, dass ich mein Jahr in Auschwitz in einem Zustand außerordentlicher geistiger Lebendigkeit gelebt habe. Ich weiß nicht, ob das mit meinem beruflichen Hintergrund zu tun hatte oder mit einer unvermuteten Zähigkeit oder mit einem gesunden Instinkt. Ich habe niemals aufgehört, die Welt und die Menschen um mich wahrzunehmen, so sehr, daß ich noch immer ein unglaublich detailliertes Bild von ihnen habe. Ich hatte einen intensiven Wunsch zu verstehen, ich wurde ständig von einer Neugier übermannt, die hinterher jemandem tatsächlich als zynisch erschien: der Neugier des Naturforschers, der sich in eine Umgebung verpflanzt sieht, die schrecklich ist, aber neu, auf schreckliche Weise neu.

Ich stimme Ihrer Beobachtung zu, daß der Satz »Ich denke zuviel … ich bin zu zivilisiert« in Widerspruch zu diesem anderen Geisteszustand steht. Lassen Sie mir bitte das Recht auf diese Widersprüchlichkeit: Im Lager war unser Geisteszustand instabil, er schwankte von Stunde zu Stunde zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Die Kohärenz, die man meiner Meinung nach in meinen Büchern findet, ist künstlich, eine Rationalisierung a posteriori.

ROTH: Die Beschreibung und Analyse Ihrer furchtbaren Erinnerungen an das »gigantische biologische und soziale Experiment« der Deutschen wird sehr präzise von einem quantitativen Interesse für die Mittel beherrscht, mit denen ein Mensch verwandelt oder gebrochen werden kann und gleich einer Substanz, die sich in einer chemischen Reaktion auflöst, seine charakteristischen Eigenschaften verliert. Ist das ein Mensch? liest sich wie die Erinnerungen eines Theoretikers der moralischen Biochemie, der mit Gewalt zum Versuchstier gemacht wurde, an dem Laborexperimente der finstersten Art ausgeführt wurden. Das Geschöpf, das im Laboratorium des verrückten Wissenschaftlers gefangen ist, ist selbst der Inbegriff des rationalen Wissenschaftlers.

Im Ringschlüssel – dem Buch hätte man sehr gut auch den Titel Das ist ein Mensch geben können – erzählen Sie Faussone, Ihrer Scheherazade im Blaumann, da Sie »in den Augen der Welt Chemiker« seien und in Ihren »Adern das Blut eines Schriftstellers« fühlten, trügen Sie folglich »zwei Seelen in der Brust, und das sind zu viele«. Ich würde sagen, es gibt nur eine Seele, beneidenswert weiträumig und bruchlos; ich würde sagen, daß nicht nur der Überlebende, sondern auch der Schriftsteller untrennbar ist vom Wissenschaftler.

LEVI: Eher denn als Frage verstehe ich dies als Diagnose, die ich dankbar akzeptiere. Ich lebte mein Leben im Lager so rational wie ich konnte, und ich schrieb das Buch über Auschwitz, um anderen ebenso wie mir die Ereignisse zu erklären, an denen ich beteiligt gewesen war, aber nicht mit einer definitiv literarischen Absicht. Mein Modell (oder, wenn Sie das vorziehen, mein Stil) war der des Wochenberichts, wie er in Fabriken üblich ist: Er muß präzise sein, klar und in einer Sprache geschrieben, die jeder in der industriellen Hierarchie verstehen kann. Und ganz bestimmt nicht in einem wissenschaftlichen Jargon. Übrigens bin ich kein Wissenschaftler noch bin ich es je gewesen. Ich wollte einer werden, aber der Krieg und das Lager hinderten mich daran. Ich mußte mich während meines ganzen Berufslebens damit begnügen, Techniker zu sein.

Ich stimme Ihnen zu, daß es »nur eine Seele gibt … und die bruchlos«, und auch dafür bin ich Ihnen dankbar. Meine Feststellung, daß »zwei Seelen… zu viele« sind, ist halb ein Witz, aber zur anderen Hälfte ernst gemeint. Ich arbeitete fast dreißig Jahre in einer Fabrik, und ich muß zugeben, daß es zwischen dem Dasein eines Chemikers und dem eines Schriftstellers keine Unvereinbarkeit gibt: vielmehr verstärkt sich beides gegenseitig. Aber zum Leben in der Fabrik, und insbesondere zur Betriebsleitung, gehören viele Dinge, die wenig mit Chemie zu tun haben: Einstellungen und Entlassungen; Streitereien mit dem Chef, mit Kunden und Lieferanten; Unfälle; selbst nachts oder auf einer Party ans Telefon gerufen werden; Umgang mit der Bürokratie und viele andere seelenzerstörende Arbeiten. Die gesamte Arbeit ist auf brutale Art unvereinbar mit dem Schreiben, das ein angemessenes Maß an Gemütsruhe verlangt. Daher war ich außerordentlich erleichtert, als ich pensioniert wurde und mich von meiner Seele Nummer eins lossagen konnte.

ROTH: Die Fortsetzung von Ist das ein Mensch?, Die Atempause, handelt von Ihrer Rückkehr aus Auschwitz nach Italien. Diese komplizierte Reise hat eine mythische Dimension, insbesondere was die Zeit Ihres langen Aufenthalts in der Sowjetunion angeht, während Sie auf die Heimreise warteten. Was an der Atempause überrascht, ist die Fröhlichkeit – denn man hätte sich nicht gewundert, hier eine Atmosphäre der Trauer und untröstlichen Verzweiflung zu finden. Ihre Versöhnung mit dem Leben findet in einer Welt statt, die Ihnen manchmal wie ein urzeitliches Chaos erschien. Dennoch lassen Sie sich auf jedermann ein, lassen sich unterhalten wie belehren, so daß ich mich frage, ob Sie sich trotz Hunger, Kälte und Angst, vielleicht sogar trotz der Erinnerungen, jemals wohler gefühlt haben als während dieser Monate, die Sie als »Parenthese unbegrenzter Möglichkeiten, als schicksalhaftes, aber unwiederholbares Geschenk des Lebens« bezeichnen.

Sie erscheinen wie jemand, der vor allem anderen verwurzelt sein muß – im Beruf, in der Familie, in der Region, in der Sprache –, und dennoch empfanden Sie es als Geschenk, als Sie sich so allein und entwurzelt fanden, wie es ein Mensch nur sein kann.

LEVI: Ein Freund, ein ausgezeichneter Arzt, sagte mir vor vielen Jahren: »Ihre Erinnerungen an vorher und nachher sind in Schwarzweiß; die Erinnerungen an Auschwitz und Ihre Heimreise sind in Technicolor.« Er hatte recht. Familie, Heimat, Fabrik sind gute Dinge an sich, aber sie enthielten mir etwas vor, was ich immer noch vermisse: das Abenteuer. Das Schicksal entschied, daß ich inmitten des schauerlichen Chaos eines vom Krieg verheerten Europa Abenteuer erleben sollte.

Sie sind vom Metier, also wissen Sie, wie solche Dinge passieren. Die Atempause wurde vierzehn Jahre nach Ist das ein Mensch? geschrieben: es ist ein eher bewußt geschriebenes Buch, methodischer, literarischer, die Sprache ist viel elaborierter. Es erzählt die Wahrheit, aber eine gefilterte Wahrheit. Ihm gingen zahllose mündliche Versionen voraus. Ich meine, ich hatte jedes Abenteuer schon häufig erzählt, Menschen aus sehr verschiedenen kulturellen Bereichen (Freunden vor allem, aber auch in Schulen), und ich hatte es dabei so retuschiert, daß es die günstigsten Reaktionen erzielte. Als Ist das ein Mensch? einen gewissen Erfolg errungen hatte und ich langsam eine Zukunft für mein Schreiben sah, fing ich an, diese Abenteuer schriftlich festzuhalten. Ich wollte beim Schreiben mich und meine zukünftigen Leser unterhalten. Daher betonte ich die seltsamen, die exotischen, die fröhlichen Episoden – besonders wenn es um die Russen ging, aus der Nähe gesehen –, und ich beschränkte die Atmosphäre »der Trauer und untröstlichen Verzweiflung«, wie Sie es nennen, auf die ersten und letzten Seiten.

Ich muß Sie erinnern, daß das Buch um 1961 geschrieben wurde; das waren die Jahre Chruschtschows, Kennedys, von Papst Johannes: die Zeit des ersten Tauwetters und großer Hoffnungen. In Italien konnte man zum erstenmal in objektiven Begriffen über die Sowjetunion sprechen, ohne gleich von den Rechten als Kommunistenfreund und von der mächtigen italienischen KP als zersetzender Reaktionär bezeichnet zu werden.

Was die »Verwurzelung« angeht, so stimmt es, daß ich tiefe Wurzeln habe und das Glück hatte, sie nicht zu verlieren. Meine Familie blieb von der Vernichtung durch die Nazis fast vollständig verschont. Dieses Pult hier, an dem ich schreibe, nimmt nach der Familienlegende genau den Platz ein, an dem ich zur Welt kam. Als ich mich so entwurzelt fand, »wie ein Mensch nur sein kann«, habe ich sicherlich gelitten, aber dies wurde nachher mehr als aufgewogen durch die Faszination des Abenteuers, durch menschliche Begegnungen, durch die Süße der »Erholung« von der Pest von Auschwitz. In ihrer historischen Realität erwies sich meine russische Atempause erst viele Jahre später als »Geschenk«, als ich sie durch Überdenken und Schreiben gereinigt hatte.

ROTH: Zu Beginn des Periodischen Systems sprechen Sie von Ihren jüdischen Vorfahren, die um 1500 aus Spanien über die Provence nach Piemont kamen. Sie beschreiben Ihre familiären Wurzeln in Piemont und Turin als »nicht starke, aber tiefe, weitverzweigte und phantastisch verflochtene«. Sie bieten ein kurzes Lexikon des Jargons, den diese Juden entwickelten und in erster Linie als Geheimsprache unter den Christen benutzten, einen Jargon mit Worten aus hebräischen Wurzeln, aber mit piemontesischen Endungen. Für Außenstehende erscheint Ihre Verwurzelung in dieser jüdischen Welt Ihrer Vorfahren nicht nur »verflochten« mit Ihrer Verwurzelung in der Region, sondern geradezu mit ihr identisch. 1938 jedoch, als die Rassengesetze erlassen wurden, die die Freiheit der italienischen Juden beschränkten, begannen Sie Ihre jüdische Existenz als »Unreinheit« zu betrachten, obwohl Sie, wie Sie im Periodischen System sagen, anfingen, auf Ihre Unreinheit stolz zu sein.

Die Spannung zwischen Ihrer Verwurzelung und Ihrer Unreinheit erinnert mich an etwas, was Professor Arnaldo Momigliani über die italienischen Juden schrieb: Sie seien weniger ein Teil des italienischen Lebens gewesen, als sie selbst glaubten.

Wie sehr glauben Sie, Teil des italienischen Lebens zu sein? Empfinden Sie sich immer noch als unrein, »ein Salz- oder Senfkorn«, oder ist dieses Gefühl der Distanz geschwunden?

LEVI: Ich sehe keinen Widerspruch zwischen »Verwurzelung« und der Tatsache, ein »Senfkorn« zu sein (oder sich als solches zu empfinden). Um sich als Katalysator zu empfinden, als Reiz für die eigene kulturelle Umgebung, ein Etwas oder ein Jemand, der dem Leben Geschmack und Sinn gibt, dazu braucht man weder Rassengesetze noch Antisemitismus oder überhaupt Rassismus; es ist jedoch ein Vorteil, einer (nicht notwendigerweise rassischen) Minderheit anzugehören. Mit anderen Worten, es kann sich als nützlich erweisen, nicht rein zu sein. Wenn ich auf Ihre Frage zurückkommen darf: Fühlen Sie selbst, Philip Roth, sich nicht als in Ihrem Lande »verwurzelt« und zur gleichen Zeit als »Senfkorn«? In Ihren Büchern spüre ich einen deutlichen Senfgeschmack.

Ich glaube, das meint Ihr Momigliani-Zitat. Die italienischen Juden (aber das gleiche kann von den Juden vieler anderer Nationen gesagt werden) leisteten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen und politischen Leben ihres Landes, ohne ihre Identität aufzugeben, vielmehr gerade indem sie ihrer kulturellen Tradition treu blieben. Zwei Traditionen zu haben, wie es bei Juden, aber nicht nur bei Juden vorkommt, ist ein Reichtum – für Schriftsteller, aber nicht nur für Schriftsteller.

Ich fühle mich etwas unsicher, wenn ich auf Ihre explizite Frage antworten soll. Ja, sicherlich, ich bin ein Teil des italienischen Lebens. Mehrere meiner Bücher werden an höheren Schulen gelesen und diskutiert. Ich bekomme viele anerkennende Briefe – intelligente, dumme, sinnlose –, weniger häufig auch ablehnende und streitsüchtige. Ich erhalte nutzlose Manuskripte von Möchtegernschriftstellern. Mein »Anderssein« hat sich seinem Wesen nach geändert: Ich empfinde mich nicht mehr emarginato, ausgegrenzt, ghettoisiert, als Außenseiter, da es in Italien gegenwärtig keinen Antisemitismus gibt. Tatsächlich wird das Judentum mit Interesse und meist mit Sympathie betrachtet, wenn auch mit gemischten Gefühlen gegenüber Israel.

Auf meine eigene Art bin ich eine Unreinheit geblieben, eine Anomalie, aber heute aus anderen Gründen als früher: nicht speziell als Jude, sondern als ein Überlebender von Auschwitz und als Außenseiter-Schriftsteller, der nicht aus dem literarischen oder akademischen Establishment kommt, sondern aus der Welt der Industrie.

ROTH: Wann, wenn nicht jetzt? ist keinem anderen Ihrer Bücher ähnlich, die ich auf englisch gelesen habe. Obwohl es sich ausdrücklich auf tatsächliche historische Ereignisse bezieht, ist das Buch als eine eindeutige, pikareske Abenteuergeschichte konzipiert über eine kleine Gruppe jüdischer Partisanen russischer und polnischer Herkunft, die die Deutschen hinter der Front bekriegen. Ihre anderen Bücher sind vielleicht nicht so erfindungsreich in bezug auf das Thema, aber dafür, wie mir vorkommt, um so mehr in bezug auf die Technik. Das Motiv hinter Wann, wenn nicht jetzt? erscheint als tendenziöser – und entsprechend weniger befreiend für den Autor – als der Impuls, der den autobiographischen Werken zugrunde liegt.

Ich wüßte gern, ob Sie dem zustimmen: Als Sie über die Tapferkeit der Juden schrieben, die kämpften und sich wehrten, glaubten Sie da etwas zu tun, was Sie tun sollten, fühlten Sie sich moralischen und politischen Ansprüchen verpflichtet, die sonst nicht notwendigerweise auftreten, selbst wenn das Thema Ihr eigenes, unverwechselbar jüdisches Schicksal ist?

LEVI: Wann, wenn nicht jetzt? folgte einem unvorhergesehenen Weg. Die Motive, die mich dazu brachten, es zu schreiben, sind vielfältiger Art. Hier sind sie, in der Reihenfolge ihrer Bedeutung:

Ich hatte mit mir selbst eine Art Wette abgeschlossen: Bist du nach so viel direkter oder getarnter Autobiographie jetzt ein richtiger Schriftsteller oder nicht, bist du fähig, einen Roman zu konstruieren, Charaktere zu entwerfen, Landschaften zu beschreiben, die du nie gesehen hast? Versuche es!

Ich wollte mich damit unterhalten, das Plot eines Western in einer für Italien ungewohnten Landschaft zu schreiben. Ich wollte meine Leser unterhalten, indem ich ihnen eine im Grunde optimistische Geschichte erzählte, eine Geschichte der Hoffnung mit gelegentlich sogar fröhlichen Zügen, auch wenn sie vor dem Hintergrund von Massakern spielt.

Ich wollte mich mit einem Gemeinplatz auseinandersetzen, der in Italien noch immer Geltung hat: ein Jude ist ein sanfter Mensch, ein Gelehrter (religiös oder weltlich), ein unkriegerischer, gedemütigter Mensch, jemand, der Jahrhunderte der Verfolgung ertragen hat, ohne sich jemals zu wehren. Es schien mir eine Pflicht, jener Juden zu gedenken, die unter verzweifelten Umständen den Mut und das Geschick zum Widerstand aufgebracht hatten.

Ich hegte auch den Ehrgeiz, der erste (vielleicht der einzige) italienische Schriftsteller zu sein, der die jiddische Welt beschreibt. Ich wollte meine Popularität in meinem Lande »ausbeuten«, um meinen Lesern ein Buch über die Zivilisation, Geschichte, Sprache und Denkart der Aschkenasim aufzudrängen, die in Italien praktisch unbekannt sind, abgesehen von den paar intellektuellen Lesern von Joseph Roth, Bellow, Singer, Malamud, Potok und natürlich Ihnen.

Ich persönlich bin mit diesem Buch zufrieden, vor allem, weil es mir Spaß machte, als ich es plante und schrieb. Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben als Schriftsteller hatte ich den Eindruck (fast eine Halluzination), daß meine Figuren um mich herum und hinter meinem Rücken lebten und mir spontan ihre Heldentaten und Dialoge nahelegten. Das Jahr, in dem ich dieses Buch schrieb, war ein glückliches Jahr, und daher war es für mich ein befreiendes Buch, ganz gleich, wie das Ergebnis aussieht.

ROTH: