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CORINA

BOMANN

Eine

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Weihnachtsreise

Roman

Marion von Schröder

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www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-0608-7

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
Umschlaggestaltung: bürosüd

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eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Dieses Buch widme ich all jenen, die die Welt
auch zu Weihnachten am Laufen halten.

1. KAPITEL

Hirsch2.JPG Als Anna aus der Straßenbahn stieg, dröhnten sie ihr bereits entgegen: Kinderchöre, die von Flockenwirbeln sangen, dazu Bläser, die christliche Weihnachtslieder schmetterten, und diese wurden wiederum übertönt von modernen Weihnachtshits mit zu viel Glöckchengebimmel. Dann geschah das Unvermeidliche: »Last christmas, I gave you my heart …«, leierte es aus der überdimensionalen Box eines Weihnachtsmarktstandes.

Über George Michaels Vorwurf, sein Herz an Weihnachten verschleudert zu haben, hing eine Wolke aus gebrannten Mandeln, Zuckerwatte und Bratwurst. Die Straßen waren voll, und die gehetzten Menschen hatten kein Auge für die überdimensionale Pyramide, die den Weihnachtsmarkt überragte und von der hölzerne Bergmänner und Räuchermännchen diabolisch auf die Menschenmenge hinabsahen. Aber Anna sah sie und blickte schnell weg. Fiel den Leuten denn nicht auf, wie diese Figuren aussahen? Wie bedrohlich die großen Zähne wirkten? Die starren Augen?

Dem Anblick konnte sie entgehen, indem sie auf die Spitzen ihrer groben schwarzen Boots schaute, doch vor Gerüchen und Geräuschen gab es keine Flucht. Sie hätte sich zwar Ohren und Nase zuhalten können, das hätte allerdings merkwürdig ausgesehen, also zog die Studentin ihren Schal hoch, drückte ihre Tasche fester an den Körper und hastete den Bürgersteig entlang, als gäbe es irgendwo was umsonst.

Doch es gab kein Entrinnen. Bis sie an der Wohnung von Frau Hallmann ankam, hatten sich die Fasern ihrer Jacke, ihr Haar, selbst die Poren ihrer Haut mit Weihnachtsdüften vollgesogen. Von ihren Ohren ganz zu schweigen, in denen George Michael und das Glockengebimmel wie ein Echo in den Alpen nachhallten.

Anna hatte keine Ahnung, woher die Abneigung gegen das Fest der Liebe kam. Als Kind hatte sie es gar nicht abwarten können, bis endlich der Dezember auf dem Kalender erschien und zum großen Countdown geläutet wurde. Doch irgendwann war es damit vorbei gewesen. Sie konnte nicht mal genau sagen, wann, denn schon eine ganze Weile graute es ihr jährlich vor dem 1. Dezember, der fünfundzwanzig Tage erzwungene Glückseligkeit nach sich zog.

Ihre Reaktion darauf war Flucht, und zwar vor allem, was Weihnachten in irgendeiner Form beinhaltete. Freudig übernahm sie zusätzliche Arbeiten in der Uni, besonders in der Bibliothek, wo aufgrund des Essverbotes nicht einmal der Duft von Mandarinen auf die bevorstehenden Festtage hindeutete.

Auf ihre Fahrten mit der Straßenbahn nahm sie stets genug Lektüre mit, um nicht die Häuser betrachten zu müssen, die sich um diese Zeit mit blinkender Dekoration überboten. Im Studentenheim sah sie zu, dass sie rasch in ihrem Zimmer verschwand oder sich am Abend ins Kino setzte oder in ein Lokal, das es nicht so sehr mit Weihnachten hatte.

Ihre Freundin Paula hatte ihr bereits einen Spitznamen für die Weihnachtstage verpasst. »Grinch« – nach dem amerikanischen Film über den grasgrünen Weihnachtshasser.

Dementsprechend war ihr Nikolausgeschenk im vergangenen Jahr ein grasgrüner Schal gewesen, den Anna sogleich in die entlegenen Weiten ihrer Sockenschublade verbannt hatte. Nicht wegen dem Grinch, sondern weil sie fand, dass Grün sie krank aussehen ließ.

Zweimal in der Woche konnte sie der allgemeinen Weihnachtshektik allerdings nicht entgehen. Da machte sie sich auf den Weg zu Frau Hallmann. Da die 85-Jährige nicht mehr gut zu Fuß war, kaufte Anna für sie ein und erledigte auch sonst alles, was so im Haushalt anfiel.

»Mutzen, frische Mutzen!«, plärrte ihr jemand mit einem breiten sächsischen Akzent ins Ohr. Anna spürte den heißen Dunst einer Wärmeplatte an ihrer Wange und sprang daraufhin erschrocken zur Seite. Dabei stolperte sie und schaffte es nur gerade so, sich auf den Beinen zu halten.

Den mobilen Mutzenverkäufer, der mit einem Bauchladen die Straßen um den Weihnachtsmarkt unsicher machte, hatte sie in ihren Bemühungen, der Weihnachtsstimmung zu entgehen, glattweg übersehen. Sie warf dem Mann, der eine albern blinkende Weihnachtsmütze trug, einen finsteren Blick zu, der ihn davon abhielt, sein Angebot noch einmal zu wiederholen. Dann eilte sie rasch weiter und ignorierte die wütenden Rufe, die sie kassierte, als sie ein paar Leute, die gerade auf der Jagd nach Mutzen waren, anrempelte.

Nach weiteren fünf Minuten inmitten von Gesang und Zuckerduft hatte sie es endlich geschafft. Vor einem dreistöckigen Mietshaus machte sie halt und ignorierte diesmal die wunderschön sanierte Fassade, die sie im Sommer stundenlang betrachten konnte. Dem Weihnachtschaos zu entkommen war ihr jetzt wichtiger als die Würdigung alter Baumeister. Ohne Umschweife drückte sie den Klingelknopf neben dem Namensschild »Hallmann«.

Der Summer ertönte – Frau Hallmann wusste natürlich, dass sie kam – und Anna öffnete die Tür. Der Flur des Hauses hatte es auf rätselhafte Weise geschafft, keinen Weihnachtsgeruch anzunehmen. Es roch nach Gummi und Putzmittel, ein wenig auch nach alter Fußmatte, aber für Anna war das wie eine frische Brise, als sie die Treppe in den dritten Stock erklomm.

Auf einen alten Gehstock gestützt, erwartete Frau Hallmann sie bereits an der Tür. »Anna, Kindchen, schön, dass du da bist.«

Kuchenduft strömte Anna entgegen und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Es roch nach warmer Hefe, Vanille und Zucker.

Auch wenn ihre Beine Frau Hallmann mal wieder ärgerten – unter ihren Stützstrümpfen waren sie heute wieder besonders schlimm geschwollen –, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, Streuselkuchen zu backen, Annas Lieblingskuchen.

»Entschuldigen Sie, dass es heut etwas länger gedauert hat, unser Prof hat vor den Winterferien noch einmal richtig zugelangt und überzogen, was das Zeug hält.«

»Nicht so schlimm, ich weiß ja, dass du zuverlässig bist. Und immerhin war auch ich mal Studentin, ist zwar schon lange her, aber an die Professoren kann ich mich noch gut erinnern.«

Beim Eintreten bemerkte Anna wieder den kleinen Weihnachtsstrauß mit Strohsternen, den Frau Hallmann in die Diele gestellt hatte. Seltsamerweise störte sie dieses Anzeichen von Weihnachten nicht. Die Sterne waren teilweise uralt und kompliziert geflochten, richtig kleine Kunstwerke. Sie hatten mit dem Weihnachtskitsch, der draußen angeboten wurde, nicht viel zu tun.

»Komm erst mal rein. Ich habe Kuchen gebacken, und jetzt ist doch beste Kaffeezeit, oder?«

Anna tat, wie geheißen. Bevor sie mit der Hausarbeit anfing und sich dann auf den Weg machte, die Einkaufsliste abzuarbeiten, bestand Frau Hallmann darauf, dass sie mit ihr ein wenig zusammensaß, erzählte und Kaffee trank. Ein Brauch, den sie sehr mochte und bei dem sie das Weihnachtsgetümmel ein wenig hinter sich lassen konnte.

Nachdem sie ihre Jacke aufgehängt hatte, folgte sie der Rentnerin, die in ein paar Wochen ihren 86. Geburtstag feiern würde, ins Wohnzimmer. Wie immer bei Annas Besuchen war die Kaffeetafel bereits gedeckt. Das Service stammte noch von Frau Hallmanns Großmutter, zierliche kleine Tässchen, die aussahen, als seien sie ursprünglich für eine riesige Puppenstube gedacht gewesen.

»Na, Mädchen, bald ist Weihnachten«, sagte Frau Hallmann, während sie sich auf dem Sofa niederließ, das an Tagen, an denen sie sich wegen des Wassers in ihren Beinen nicht so gut bewegen konnte, so etwas wie ihre Schaltzentrale war. In Griffweite befanden sich ihr Telefon, eine Pralinenschachtel und die Fernbedienung, die auch als Notfallrufer für den Arzt diente. »Machst du dich wieder aus dem Staub?«

Die alte Frau kannte sie einfach zu gut. Aber wie sollte das auch anders sein nach zwei Jahren? In der Zeit war sie für Anna so etwas wie eine Großmutter geworden, die sie nie gehabt hatte. Mittlerweile kannte sie beinahe jede ihrer Vorlieben und Abneigungen. Und natürlich wusste sie, dass Anna in schöner Regelmäßigkeit über die Weihnachtstage in die Sonne floh und weitestgehend jeden Kontakt mit Weihnachtsbräuchen mied.

»Weiß ich noch nicht«, antwortete sie, während sie Frau Hallmann und sich Kaffee aus der wunderschönen alten Porzellankanne eingoss, die auch ohne Thermobeschichtung den Kaffee dampfend heiß hielt. »Ich bin gerade nicht so flüssig, außerdem habe ich noch einiges für meine Kurse zu tun.«

»Du willst doch nicht das ganze Weihnachtsfest mit Arbeiten verbringen! Irgendwann im Jahr muss man doch auch mal abschalten, sich ausruhen und sich etwas gönnen.«

»Ich kann Sie ja besuchen«, entgegnete Anna, allerdings nicht wirklich ernst gemeint, denn sie wusste, dass Frau Hallmann trotz ihres Alters ein straffes Feiertagsprogramm absolvieren würde.

»Dazu müsstest du ins Erzgebirge fahren. Und dann nach Köln. Meine beiden Kinder und ihre Familien beanspruchen mich beide dieses Jahr, und du weißt, dass ich es nicht schätze, wenn ich sie hier in dieser engen Muckerbude unterbringen muss.«

»Sie wollen wieder die lange Tour auf sich nehmen?« Zu jedem Weihnachtsfest reiste die alte Frau – trotz geschwollener Beine und Atemnot, die sie bei langen Wegen überkam – durch die Republik zu ihren Kindern und Enkeln.

»Selbstverständlich! Und das auch wieder wie immer im Zug!«

»Und Ihre Beine?«

»Was sollen die schon machen, ich halte sie ja während der Fahrt ruhig. Und die Züge bringen mich überall hin. Meist sind die Leute auch sehr zuvorkommend und helfen mir beim Ein- und Aussteigen. Das ist eben der Geist der Weihnacht, der macht die Herzen der Leute weich.«

Anna bezweifelte das. Der Geist der Weihnacht machte höchstens hektisch. Sie hielt es für wahrscheinlicher, dass die Leute auf dem Bahnhof dem Charme der niedlichen alten Dame nicht widerstehen konnten – oder ganz einfach mal ein bisschen gutes Karma bekommen wollten.

Um ein Haar war Anna versucht, sich als Reisebegleitung anzubieten. Aber das erschien ihr zu aufdringlich. Nein, sie würde die Feiertage schon irgendwie herumbringen. Und wenn es auf Mallorca war.

»Übrigens würde ich mich sehr freuen, wenn du mich am 23. vormittags noch mal besuchen könntest. Ich habe ein Geschenk für dich.«

»Ein Geschenk? Für mich? Aber das ist doch nicht nötig.«

Natürlich tauschten sie kurz vor Weihnachten immer Kleinigkeiten aus, Frau Hallmann hatte meist ein Beutelchen mit Weihnachtsmann und anderen Süßigkeiten für sie, und Anna kaufte ihr eine Schachtel von den Cognacbohnen, für die die Dame jede andere Süßigkeit links liegen ließ. Aber ein richtiges Geschenk?

»Doch, ich glaube schon, dass das nötig ist. Jeder Mensch braucht eine Anerkennung für das, was er tut, und du hilfst mir jetzt schon seit zwei Jahren so gut, dass ich darauf bestehe, dir etwas zu geben, von dem ich meine, dass du dich darüber freuen könntest.«

Was konnte das sein? Anna packte die Neugier. Frau Hallmann schien das zu bemerken, denn ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Und dass du dir ja nicht einfallen lässt, mir mehr als die Pralinen zu schenken. Ich brauche hier in meiner Wohnung keinen Nippes, davon wird mir meine Familie schon genug schenken.« Sie seufzte gespielt, dann setzte sie hinzu: »Weißt du, auf eine Art kann ich verstehen, dass du Weihnachten nicht magst. Was meinst du, wie oft ich während der Feiertage so tun muss, als würden mir die Geschenke meiner Kinder und Enkel ausnahmslos gefallen.«

»Aber Sie bekommen doch sicher schöne Geschenke.«

»Pah, wer’s glaubt, wird selig!«, platzte es aus der alten Dame heraus. »Schnell dahingeschmierte Bilder, hässliche Porzellanfigürchen, Spieluhren, Schmuck, den ich nicht mal tragen würde, wenn ich 100 wäre. Und Strickjacken! Ich weiß nicht, wie viele Strickjacken ich schon bekommen habe. Das Allerschlimmste ist aber, wenn sie mit Küchengeräten ankommen. Ich würde ja lieber einen MP3-Player haben oder eins von diesen neumodischen E-Book-Geräten. Die haben einige Damen aus meinem Seniorenkreis, und als ich gesehen habe, dass man da die Schrift groß stellen kann, wollte ich unbedingt auch eins. Aber wenn ich meinen Kindern mit so etwas komme, lächeln sie nur. Wahrscheinlich glauben sie, dass ich nicht damit umgehen kann. Oder schlimmer noch, dass sich für mich diese Geldausgabe nicht mehr lohnt.«

»Wenn Sie einen E-Book-Reader haben möchten, besorge ich Ihnen gern einen. Mittlerweile gibt es viele praktische Modelle, die gar nicht mal so teuer sind.«

»Das glaube ich, Anna, und sollte ich dieses Jahr wieder leer ausgehen, bekommst du den offiziellen Auftrag von mir, denn was die alte Paschulke kann, kann ich schon lange. Aber darum ging es mir gerade nicht, sondern darum, dass ich es leid bin, an Weihnachten immer die brave Oma zu spielen, die sich über alles freut. Vielleicht sollte ich dieses Jahr ein bisschen mehr auf den Putz hauen, was meinst du?«

»Versuchen Sie es doch einfach mal. Oder drohen Sie Ihren Kindern damit, eine lange und teure Kreuzfahrt zu machen, wenn sie sich nicht nach Ihren Wünschen richten.«

Frau Hallmann lachte auf. »Ja, das würde ihnen einen ziemlichen Schrecken einjagen, nicht wahr? Aber genaugenommen bringe ich das nicht übers Herz. Es ist eben meine Familie, und ganz sicher war ich damals auch nicht perfekt. Also werde ich mich über den Nippes und die Zeichnungen freuen, denn ich liebe meine Kinder und Enkel und möchte sie auf keinen Fall verletzen.«

Diese Worte ließen Anna nachdenklich werden. Verletzte sie ihre Familie durch ihr Fernbleiben an Weihnachten vielleicht auch? Nein, beantwortete sie sich ihre Frage gleich selbst, ganz sicher nicht. Sie sind froh, dass ich nicht dabei bin und ihre Weihnachtsruhe störe. Und bisher hat nicht mal Mama versucht, mich davon abzubringen, über Weihnachten zu verreisen, also werde ich auch dieses Jahr in die Sonne fahren. Das neue Jahr kommt von allein, ob mit oder ohne Tannenbaum.

2. KAPITEL

Hirsch2.JPG »Jetzt hören Sie drei Hits am Stück, und wir beginnen mit dem Weihnachtssuperhit von Wham: ›Last Christmas‹ …«

Frustriert stellte Anna das Radio aus, bevor die ersten Takte über sie hereinbrechen konnten, und überlegte, ob es was bringen würde, bei dem Radiosender anzurufen. Konnten sie dieses furchtbare Lied nicht endlich weglassen? Gefühlt spielten sie es mindestens tausend Mal pro Adventszeit, mit jedem Wechsel des Moderators und der Sendung mehrfach.

Lust, sich eine CD anzustellen, hatte Anna auch nicht, also setzte sie sich vor ihren Computer, auf dem das Schreibprogramm den ziemlich mageren Beginn eines Textes anzeigte, den sie für Professor Winkelstein schreiben sollte.

»Ein Wintermärchen« war das Thema, angelehnt an das Stück von Shakespeare – allerdings ohne das mittelalterliche Drama, sondern eine Geschichte aus dem eigenen Leben. Als ob ein Märchen selbst erlebt werden könnte! Aber wer hatte schon den Nerv, mit Professor Winkelstein zu diskutieren?

Irgendwie kam sie sich dabei vor, als wäre sie wieder in der Schule und müsste über ihr schönstes Ferienerlebnis schreiben. Aber abgesehen davon, dass sie dem Winter kaum märchenhafte Seiten abgewinnen konnte, würde sich der Professor gewiss nicht mit einem kindlich-naiven Text zufriedengeben. Nein, er würde etwas ähnlich Geniales erwarten, wie es Heine oder Shakespeare geschrieben hätten. Doch sie war nun mal Anna Wagner, von großen Dichtern weit entfernt.

Vielleicht lag es an dem ganzen herumschwirrenden Weihnachtskram, dass ihr heute weniger einfiel als sonst. Nicht mal das Wohnheim blieb davon verschont. Als sie von Frau Hallmann zurückgekehrt war, hatte sie eine kleine Tanne im Eingangsbereich vorgefunden. Und irgendwer hatte in der Gemeinschaftsküche Plätzchen gebacken – oder besser gesagt, verbrannt, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass es neuerdings Plätzchenrezepte gab, deren Ergebnis nach angesengten Socken schmeckte.

Da sie sicher war, dass sich kein bedeutender Geistesblitz mehr bei ihr einstellen würde, öffnete sie ihren Browser und ließ die Suchmaschine nach Last-Minute-Urlaubsangeboten fahnden, die sie sich leisten konnte.

Sie konnte sich nicht erklären, warum sie in diesem Winter so knapp bei Kasse war. In den Jahren zuvor hatte sie immer ein wenig mehr Geld zur Verfügung gehabt. Aber wahrscheinlich lag das daran, dass sie in diesem Jahr nicht so viel Glück bei ihren Studentenjobs gehabt hatte. Außerdem war das Semester ziemlich stressig gewesen: Sie wollte in einem halben Jahr endlich ihren Bachelor machen und musste mehr Kurse belegen. So blieb nur Zeit, sich um Frau Hallmann zu kümmern, von der sie bestenfalls ein wenig Taschengeld akzeptierte. Da ertönte ein leises Pling, das den Eingang einer E-Mail anzeigte. Zunächst wollte Anna sie ignorieren, denn vor ihr auf dem Bildschirm breitete sich gerade ein sonnenbeschienener Sandstrand mit türkisfarbenem Wasser aus. Mallorca Last Minute nur 99 Euro, pries ein leuchtend roter Werbestreifen an.

Doch die Neugier siegte. Vielleicht schrieb ihr ja ihre Freundin Paula? Diese studierte im sechsten Semester Medizin in Halle, wohnte am Stadtrand und war die Weihnachtsliebe in Person – was ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat. Die beiden besuchten sich fast jedes Wochenende, es sei denn, eine von ihnen schwitzte über einem Referat.

Nur einen Moment später bereute Anna, dass sie das Mailprogramm angeklickt hatte. Ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder, als sie Absender und Betreff las.

Zunächst wollte sie die E-Mail gar nicht öffnen, doch dann gab sie sich einen Ruck. Wie schlimm konnte es schon kommen?

Von: Conny Dressler

An: Anna Wagner

Betreff: Kommst Du?

Liebe Anna,

Mama hat mir erlaubt, dass ich ihre E-Mail-Adresse benutze, deshalb schreibe ich Dir jetzt mal schnell. Wie geht es Dir? Mir geht es gut. Stell Dir vor, Frau Traunstein hat mir in Mathe eine Zwei gegeben beim letzten Test. Das wollte ich Dir eigentlich erst im nächsten Brief schreiben, aber Mama meinte, es wäre besser, wenn ich Dir das maile.

Aber ich wollte eigentlich was anderes fragen. Kommst Du uns dieses Jahr zu Weihnachten besuchen? Mama hat gesagt, Du willst bestimmt wieder wegfahren, aber davon hast Du mir noch nichts geschrieben, und deshalb frage ich jetzt. Kommst Du? Ich würde mich sehr freuen, denn wir haben uns ja schon fast ein halbes Jahr nicht mehr gesehen.

Es drückt Dich ganz doll Dein Jonathan

PS: Ich wünsche mir dieses Jahr ein Märchenbuch vom Weihnachtsmann …

Anna saß wie versteinert vor dem Bildschirm und betrachtete den kleinen Schneemann mit roter Nase, der die Mail zierte, wohl einer der Weihnachtshintergründe des Mailprogramms. Aber nicht der runde Bursche mit der Karottennase irritierte sie. Ihr kleiner Bruder bat sie, Weihnachten bei ihm, ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zu verbringen! So was hatte es bisher noch nicht gegeben. Ein böser Verdacht erwachte in ihr. Schickte ihre Mutter ihn vor? Hatte sie die Mail vielleicht geschrieben und sich als ihr Bruder ausgegeben?

Nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, zog sie die Schreibtischschublade auf. Mochte sie auch kaum noch Kontakt mit ihrer Mutter haben, ihr kleiner Bruder, der in diesem Jahr neun Jahre alt geworden war, schrieb ihr seit zwei Jahren beinahe jede Woche einen kleinen Brief, in dem er über das berichtete, was er erlebte. Mittlerweile füllten seine Briefe schon ganze Schuhkartons, die Anna sorgsam in ihrem Kleiderschrank aufbewahrte und gegen jegliche Schnüffelei durch Besucher hartnäckig verteidigte. Die aktuellsten und schönsten Briefe bewahrte sie in ihrem Schreibtisch auf, um sie zu lesen, wenn es ihr mal dreckig ging.

Das letzte Mal, dass sie Jonathan und den Rest der Familie gesehen hatte, lag bereits genau ein halbes Jahr zurück, wie ihr ein Blick auf den Kalender bestätigte. Zu seinem Geburtstag am 19. Juni hatte sie Jonathan und den Rest ihrer Familie besucht. Drei Tage hatte sie es ausgehalten, dann hatte sie die Flucht ergriffen.

Auf den ersten Blick konnte man meinen, dass es Kleinigkeiten waren, die ihr den Aufenthalt verdorben hatten. Ihre Mutter hatte sich natürlich bemüht, sie etwas länger bei sich zu behalten, doch dann waren die Fragen gekommen: Was willst du nach deinem Studium anfangen? Gibt es einen Freund? Wäre es für dich nicht besser gewesen, in Berlin zu studieren? Und so weiter und so fort.

Ihr Stiefvater hatte es geschafft, aus diesen einfachen, leicht nervigen Fragen ein Politikum zu machen. Da er in ihren Augen der Letzte war, der an ihr, die bald 22 wurde, herumerziehen durfte, hatte sie genervt ihre Sachen gepackt und sich aus dem Staub gemacht.

Und jetzt kam diese Mail …

Sie zog den letzten Brief, den ihr Bruder ihr in seiner kindlichen Handschrift geschrieben hatte, hervor. Morgen wäre eigentlich ein neuer dran gewesen.

Hatte Jonathan die Mail doch selbst und von sich aus geschrieben?

Sie stellte sich vor, wie der Junge mit dem strubbligen braunen Haarschopf ihre Mutter anbettelte, ihn an den Computer zu lassen. Die Vorstellung rührte sie zutiefst, und dann war da auch noch die Bitte um das Märchenbuch.

Wahrscheinlich hatte Gerd, ihr Stiefvater, gemeint, dass der Junge kein Buch kriegen sollte, sondern was für richtige Jungs, ein Auto oder einen Baukasten. Nur ja keine Kultur, und schon gar keine Literatur, das könnte ihn ja verweichlichen …

Anna atmete tief durch, um die beginnende innere Hasstirade gegen ihren Stiefvater zu unterdrücken. Dass er nichts für Bücher übrig hatte, war einer der Gründe, weshalb sie sich nie so richtig mit ihm hatte anfreunden können.

Also gut, vielleicht ist die Mail wirklich von Jonathan, sagte sie sich. Und wenn sie von ihrer Mutter war, was machte es schon? Egal, wer sie nun eingeladen hatte, Jonathan würde sich freuen.

Vielleicht sollte ich deswegen fahren, ging es Anna trotzig durch den Kopf. Dann bekommt Jonathan sein Märchenbuch, und Gerd kann sich schwarzärgern, dass sich der Kleine mal drei Tage nicht wie ein richtiger Junge benimmt. Ich könnte ihm vorlesen, und wir könnten eine Märchenbuch-Bude bauen, in der wir beide uns vor der Welt verstecken …

Anna stellte sich vor, wie seine Augen bei dem Vorschlag aufleuchten würden. In den Briefen, die sie in den letzten beiden Jahren an Weihnachten bekommen hatte, hatte immer etwas Traurigkeit mitgeschwungen, dass sie nicht kommen konnte.

Na gut, meinetwegen, dachte sie, während sie auf den Antworten-Button klickte, auch die Weihnachtstage vergehen. Wenn’s ätzend wird, hau ich einfach früher wieder ab und gut ist.

Von: Anna Wagner

An: Conny Dressler

Betreff: AW: Kommst Du?

Lieber Jonathan,

mir geht es gut. Hier in Leipzig ist es ziemlich kalt, und ich habe im Moment ganz viel zu tun. Ich muss wieder mal eine Geschichte schreiben, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht, was ich schreiben soll. In diesem Jahr fahre ich zu Weihnachten nicht weg, was bedeutet: Ja, ich komme Dich besuchen! Vorher werde ich aber den Weihnachtsmann noch überzeugen, dass er Dir ein Märchenbuch besorgt. Es darf nicht sein, dass er Dir keines bringt! Zufälligerweise wohnt er irgendwo im Erzgebirge, also ganz in der Nähe. Ich ruf ihn an.

Alles andere erzähle ich Dir dann, wenn ich komme. Vielleicht kannst Du mir ja ein bisschen beim Schreiben meiner Geschichte helfen. Hast Du einen guten Einfall?

Ganz lieb knuddelt Dich

Deine Anna

PS: Grüß Mama lieb von mir!

Anna seufzte und klickte auf »Abschicken«. Die Nachricht faltete sich zu einem Briefumschlag zusammen, dann verschwand sie im Äther. Nun gab es kein Zurück mehr! Der Gedanke lag Anna ein bisschen schwer im Magen, aber als ihr Blick auf Jonathans Briefe und das Bild, das sie von ihm auf dem Schreibtisch stehen hatte, fiel, regte sich etwas in ihr. Es war, als würde eine kleine Tür aufgehen. Sie freute sich auf ihren kleinen Bruder, seine strahlenden Augen und sein Lachen! Wenn Gerd wieder blöd zu ihr war, konnte sie sich daran festhalten!

Sie klickte also das Mallorca-Bild weg und rief die Seite der Bahn auf. Allzu früh wollte sie nicht in Berlin erscheinen, auch sollte die Fahrt nicht viel kosten.

Bevor sie fündig wurde, plingte es erneut. War das schon die Antwort von Jonathan? Hielt er etwa vor dem Bildschirm Wache?

Anna blickte auf die Uhr, fünf vor acht. Um acht war Schlafenszeit, jedenfalls, wenn sich seit damals nichts geändert hatte. Sie öffnete die Mail, doch anstelle des Weihnachtshintergrundes sah sie eine grüne Fläche.

Von: Paula Michel

An: Anna Wagner

Betreff: Bald ist Weihnachten, Grinch!

Hi Anna,

hast Du vielleicht Lust, vor Weihnachten noch mal bei mir vorbeizukommen? In diesem Jahr klappt es mit einer gemeinsamen Reise leider nicht, Familiensachen, Du verstehst. Aber trotzdem will ich Dich noch mal sehen, kannst Du kommen? Ich backe uns auch garantiert weihnachtsfreien Kuchen!

Knuddel,

Deine Paula

Anna lächelte breit in sich hinein. Sie hatte Paula sowieso noch besuchen wollen, weil sie wusste, dass auch sie über die Feiertage von ihrer Familie eingenommen werden würde. Sie tippte rasch eine Antwort, stoppte mittendrin und überlegte: Wenn sie nach Berlin fuhr, konnte sie doch zuvor noch einen Abstecher nach Halle machen!

Also fackelte sie nicht lange und schrieb Paula, dass sie am 23. vormittags kurz bei ihr reinschauen würde, bevor sie nach Berlin verschwand.

In der Zwischenzeit bekam sie eine neue Mail.

Von: Conny Dressler

An: Anna Wagner

Betreff: Re: AW: Kommst Du?

Liebe Anna,

das ist soooo cool! Ich freu mich ganz sehr, dass Du kommst! Papa hat schon gesagt, dass Du das nicht machst, aber ich wusste, dass Du kommst! Dann sag mal dem Weihnachtsmann Bescheid wegen dem Buch, Matti hat auch eins bekommen mit ganz tollen Bildern.

Und wegen der Geschichte, schreib doch was mit Robotern drin! Ich kann Dir erzählen, was die so machen. Dein Pofressor wird das bestimmt mögen, denn jeder mag Roboter!

Ich soll Dich auch ganz lieb von Mama grüßen, sie freut sich auch. Sagst Du mir noch, wann Du kommst? Dann kann ich schon mal anfangen, mein Zimmer aufzuräumen.

 

Ein dicker Kuss von

Deinem Jonathan

War ja klar, dass Gerd wieder an ihr zweifelte. Anna wollte sich schon wieder über ihren Stiefvater aufregen, doch dann lachte sie auf, als sie das Wort Pofressor las. Das war keineswegs ein Tippfehler, Jonathan machte sich einen Spaß daraus, ihn so zu nennen. Anfangs deshalb, weil er das schwierige Wort nicht aussprechen konnte, doch mittlerweile hatte er seine Freude an dem neuen Sinn, den die Verdrehung ergab, und manchmal, wenn er besonders ausgelassen war, wurde aus dem Pofressor ein Po-Fresser, was Jonathan dazu brachte, sich vor Lachen regelrecht auszuschütten.

Wenn Anna ehrlich war, fand sie das auch sehr lustig, und der Gedanke daran half ihr, wenn Winkelstein sie wieder einmal zurechtstutzte, weil ihm der Aufbau eines Absatzes nicht gefiel.

Dass Jonathan sein Zimmer aufräumen wollte, war auch nicht ungewöhnlich, das machte er zur Feier des Tages immer – jedenfalls jetzt noch. Als sie in seinem Alter war, hatte ihr Zimmer, wenn Besuch kam, auch immer blitzsauber ausgesehen.

Allerdings wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihre Mutter neben Jonathan saß und mitlas. Und dass sie der eigentliche Grund für den Schriftwechsel war. Vielleicht sollte Anna ihm ein eigenes Mailfach einrichten? Eines, an das nur er konnte? Er war noch ein bisschen jung dafür, doch er wurde bald zehn, und hatten die Kinder in dem Alter nicht alle schon eigene Mail-Adressen?

 

Von: Anna Wagner

An: Conny Dressler

 

Betreff: AW: RE: AW:

 

Lieber Jonathan,

eine Geschichte über Roboter werde ich bestimmt schreiben, das können wir doch zu Weihnachten gemeinsam tun, was meinst Du? Und ich habe mir auch gerade überlegt, dass wir beide uns ein Märchenschloss bauen könnten. Mit Robotern und allem Drum und Dran. Ich freue mich schon sehr darauf, bald ist es ja so weit.

Ich werde am 23. 12. so etwa um acht Uhr abends bei Euch sein, wenn der Zug keine große Verspätung hat.

Aber jetzt schnell ins Bett mit Dir, jetzt heißt es nur noch fünfmal Schlafen, und dann kommt der Weihnachtsmann.

Ein dickes Küsschen von Deiner Anna

Nachdem sie die inzwischen angekommene kurze Antwort von Paula auch noch gelesen hatte, schaltete sie den Computer aus und legte sich aufs Bett. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich dieses Jahr tatsächlich in den Weihnachtsstress begeben würde! Aber Gerd den Gefallen tun, nicht zu kommen, wollte sie auf keinen Fall. Sie würde mit Jonathan feiern, irgendwie, und vielleicht sogar schöner als in den Jahren, an die sie sich nicht so gern erinnerte.

3. KAPITEL

Hirsch2.JPG Mit der Zusage, zu Weihnachten in Berlin zu sein, ergab sich für Anna allerdings ein Problem: Sie musste Weihnachtsgeschenke kaufen. Last-Minute-Shopping anstelle Last-Minute-Urlaub. Bisher hatte sie immer kleine Gutscheine an ihre Familie geschickt, aber das würde bei persönlichem Auftauchen nicht reichen. Außerdem würde sie direkt mit den Reaktionen ihrer Familienmitglieder konfrontiert sein. Bei Gerd war ihr das egal, bei ihrer Mutter aber schon weniger und überhaupt nicht egal war ihr Jonathan.

Also packte sie sich am nächsten Morgen in Stiefel, Schal und Wintermantel und stapfte tapfer zur Straßenbahn. Wie schlimm konnte der Erwerb von Weihnachtsgeschenken schon werden? Die warnenden Bilder aus früheren Zeiten drängte sie zurück, und sie ignorierte auch die schlechte Laune, die andere Kaufwillige an der Haltestelle verströmten.

Während die Straßenbahn in Leipzigs Zentrum zuckelte, erinnerte sich Anna daran, wie gern sie früher mit ihrer Mutter die Weihnachtseinkäufe getätigt hatte. Ihre Mutter hatte immer so getan, als bemerke sie das Stück Seife oder das Halstuch, das Anna ihr »heimlich« von ihrem Taschengeld kaufte, nicht.

Damals war auch ihr richtiger Vater noch da gewesen, Thomas, der sich später einfach aus dem Staub gemacht und sie beide sitzengelassen hatte. Sein Verschwinden hatte Anna schon sehr getroffen, und mit dem neuen Mann, Gerd, war dann alles anders und irgendwie schlimmer geworden. Jonathan kam zur Welt, und auf einmal drehte sich alles um ihn. Nur wenn es darum ging, an ihr herumzukritisieren, kehrte sie bei ihrer Mutter und bei Gerd ins Bewusstsein zurück.

Aber das drängte Anna beiseite, als die Straßenbahn hielt und ihre einkaufswillige Fracht ausspuckte.

Natürlich, da war sie wieder, die Weihnachtsmusik. Sofort griff sie nach Anna, zerrte an ihren Ohren und versuchte, sie zum Weihnachtsmarkt zu locken. Anna beeilte sich, zum Kaufhaus zu kommen. Kurz davor blieb sie stehen und sah zu dem Gebäude auf, das über und über mit glitzernder Deko geschmückt war. Bedrohlicher konnte auch ein menschenfressendes Ungeheuer für sie nicht aussehen. Und da, formte es nicht eine Fratze aus leuchtenden Fenstern und einem mehrzahnigen Türenmund, der schon von weitem Verderben versprach?

»Nun stehn Se doch nich in der Gegend rum!«, blaffte ein Rentner sie an, weil er genötigt war, um sie herumzugehen.

Aha, das war sie also, die friedliche Stimmung zu Weihnachten. Nicht mal die Rentner hatten Zeit für ein wenig Besinnlichkeit.

Anna atmete tief durch, dann ging sie voran und trat mutig durch den Türschlund, wo ihr nach Durchqueren der Wärmeschleuse sofort das schwere Duftgemisch der Parfümerie entgegenschlug, die sich irgendwo weiter hinten neben Taschen und Schreibwaren befand.

Dank ihrer Ideenlosigkeit entpuppte sich der Einkaufsbummel rasch als das, was Anna befürchtet hatte: nervig hoch drei. Überall rannten Leute mit verkniffenen Mienen herum, stritten sich vor den Warenauslagen des Kaufhauses, packten Dinge in ihre Einkaufskörbe, die sie selbst sicher nicht geschenkt haben wollten. Oh, du schöne Weihnachtszeit!

Mit einer Mischung aus Verzweiflung und Lustlosigkeit schlenderte Anna zwischen den Regalen umher. Dabei tönte ihr in den Ohren, was Frau Hallmann gesagt hatte. Nippes, Bilder, Strickjacken …

Als sie eine Familie beobachtete, die sich eine wirklich hässliche Kuckucksuhr einpacken ließ, fragte sie sich, ob der Beschenkte ebenso wie Frau Hallmann eine gute Miene zu dem Geschenk machen würde.

All diese Leute gaben vor, ihre Familie gut zu kennen, sie trafen sich regelmäßig zu Grillabenden und anderen Festivitäten, doch offenbar schienen sie dennoch nicht zu wissen, was ihre Liebsten wollten. Oder war es gerade das, und Anna konnte sich nur nicht vorstellen, dass jemand sich eine Porzellanfigur oder eine Kuckucksuhr wünschte?

Auch wenn der Kontakt zu ihrer Mutter in den letzten beiden Jahren nicht besonders ausgeprägt gewesen war, wusste Anna doch, dass sie sich über so etwas nicht freuen würde.

In der Parfümabteilung angekommen, erinnerte sie sich wieder an die Seife, die sie ihrer Mutter als Kind geschenkt hatte. Welchen Duft mochte sie noch am liebsten? Rose? Lavendel? Ein wenig beschämt stellte sie fest, dass sie sich bei den Duft-Vorlieben ihrer Mutter nicht mehr sicher war. Zu ihrem Geburtstag schenkte sie ihr Blumen, aber sie konnte nicht sagen, welches Parfüm sie momentan bevorzugte. Damit war dieser Gang auch wieder umsonst!

Glücklicherweise konnte sie aus der Parfümabteilung entkommen, bevor eine der Verkäuferinnen ihre Ratlosigkeit bemerkte und heraneilte, um sie zu beraten. Die Frauen in den mintfarbenen Blazern hatten alle Hände voll zu tun, Parfüms, die ihnen von etwas genervt dreinblickenden Männern gereicht wurden, geschmackvoll zu verpacken.