Von Florian Russi sind bereits folgende Bücher im Bertuch Verlag erschienen:

Der Drachenprinz

ISBN 978-3-937601-08-3

Papier gegen Kälte

ISBN 978-3-937601-47-2

Reden wir von der Liebe

ISBN 978-3-937601-55-7

Im Zeichen der Trauer

ISBN 978-3-937601-27-4

Über Werte und Tugenden

ISBN 978-3-937601-54-0

2., neu gestaltete Auflage

© Bertuch Verlag GmbH, Weimar, 2011
www.bertuch-verlag.com

Titelgrafik: Jonathan Schwarz

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 978-3-863970-18-5

Nachwort

Als phantastisches Fabeltier ist das Einhorn heutzutage in zahlreichen Filmen, Büchern, Comics und Erzählungen als geheimnisvolle Fabelgestalt anzutreffen, die oftmals die Rolle des moralisch Guten und Reinen symbolisiert. Seine Bedeutung und seine Rolle als fiktives, märchenhaftes Wesen sind in unserer Zeit eindeutig und werden nicht angezweifelt.

Das war aber nicht immer so. Bis ins frühe 20.Jahrhundert glaubten Naturwissenschaftler und Afrikaforscher an die tatsächliche Existenz des Einhorns und versuchten, auf seine Spuren zu gelangen. In mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schatzkammern finden sich so genannte Einhornstangen und Gefäße aus dem vermeintlichen Horn des Tieres; die berühmten Gobelins aus dem Musée de Cluny in Paris (um 1480) zeigen eine schöne junge Frau in Gesellschaft eines Löwen und eines Einhorns. Jahrhundertelang beschäftigte das Einhorn die Menschen, die Wissenschaften und die Theologie. Wo aber liegt der Ursprung dieser Faszination für dieses Wesen?

Eine der ältesten literarischen Quellen, in der ein Einhorn auftaucht, ist das große indische Heldenepos „Mahãbhãrata“ – dessen Ursprung nicht exakt datiert werden kann, wohl aber um 300 v. Chr. erstmals schriftlich fixiert worden ist. Es beinhaltet ein episches Geschehen, angefüllt mit philosophischen und moralischen Betrachtungen und Legenden. Im Buch „Vana Parva“ dieses Epos’ findet sich die Legende des Gazellenhorns, eines Asketen namens Rsya´srnga. Sein Vater ist ebenfalls ein Asket, seine Mutter eine Gazelle, eine Tochter der Götter. Er hat deshalb am Kopf ein einzelnes Horn und lebt als Asket im Wald. Da er dieses entsagungsreiche Leben führt, hat er Macht über den Götterkönig Indra und damit über den befruchtenden Regen. Das macht ihn unschätzbar wertvoll für den König Lomapãda von Ańga, dem der Regen ausbleibt. Der König und seine Ratgeber fassen daraufhin den Plan, dass eine Hetäre den Asketen überlisten und an den Königshof bringen soll. Mit berauschenden Getränken, Blumen und Tanz betört sie ihn und entführt ihn an den Königshof. Sobald er dort in das Frauengemach eintritt, fällt der ersehnte Regen. Gazellenhorn und das Mädchen heiraten und kehren zurück in die Einsiedelei. Die Legende weist eine auffallende Nähe zur Einhorn-Fang-Geschichte im europäischen „Physiologus“ auf (auf die noch eingegangen wird); ein indischer Ursprung für die abendländischen Einhorngeschichten ist also stark zu vermuten.

Das Motiv vom verführten Asketen findet sich auch in China, in Predigtbeispielen von wandernden Mönchen, überliefert in der Sammlung „King lu yi siang“. Im „Erh-ya“, im „Buch der Synonyme“ (vor 200 v. Chr.) tauchen gleich zwei Einhörner auf: zum einen ein Vierfüßer mit dem Körper eines Hirsches, dem Kopf eines Wolfes, den Hufen eines Pferdes und dem Schwanz eines Ochsen, zum anderen das Ch’i-lin mit einem langen und spitzen Horn aus Fleisch, das Gut und Böse unterscheiden kann. Das Tier bringt Glück und Frieden. Das älteste literarische Ch’i-lin-Zeugnis findet sich im „Shi-ching“ („Buch der Lieder“) aus dem 6.–9. Jh. v. Chr., in einem Lied, das Hufe, Stirn und Horn des Tieres besingt. Das hier abgedruckte Gedicht stammt aus der Bearbeitung des Buches durch Konfuzius, der sich ca. 484–480 v. Chr. mit dem Redigieren alter Überlieferungen beschäftigte.

Das Ch’i-lin zählt in China zu den vier heiligen Zaubertieren (neben dem Drachen, dem Phönix und der Schildkröte), es ist friedliebend und ein Glücksbringer. Sein Erscheinen kündigt die Geburt einer großen Persönlichkeit an. So ist angeblich auch der Mutter des Konfuzius während ihrer Schwangerschaft ein Tier mit einem Horn auf der Stirn erschienen.

In der altgriechischen Kultur taucht in den „Indika“ des griechischen Arztes Ktesias (entstanden um 398 v. Chr.) der indische Esel auf, der folgendermaßen beschrieben wird: Das Tier ist größer als ein Pferd, mit einem weißen Leib, der Kopf ist purpurrot, die Augen sind dunkelblau. Es trägt ein Horn auf der Stirn, das pulverisiert oder zu Bechern verarbeitet als Mittel gegen Gifte, Epilepsie und Magenkrämpfe dient. Der untere Teil des Horns ist weiß, die Spitze hochpurpurrot und die Mitte schwarz. Außerdem besitzt es starke Sprungbeine, die ihm außergewöhnliche Schnelligkeit verleihen. Man kann es deswegen auch nicht fangen. Nur wenn er Junge hat, kann man den Esel umzingeln und mit Pfeil und Bogen erlegen. Grundlage für Ktesias waren wohl entstellte Berichte über das indische Nashorn, die er vielleicht mit dem Aussehen des iranischen, einhörnigen Esels und der vedischen Gazelle vermischte. Nach Megasthenes und nach der Schrift „De natura animalium“ des Claudius Aelianus aus Praeneste (ca. 175–235 v. Chr.) hat das monokeros, das von den Indern kartazon genannt wird, ebenfalls die Größe eines Pferdes, den Kopf eines Hirsches, die Füße vom Elefanten, den Schwanz des Schweines, zwischen den Augen ein scharfes und gewundenes Horn, sowie eine laute und misstönende Stimme. Es ist ein Einzelgänger und kann nur zur Brunftzeit getötet werden. Neu in diesen Quellen ist, dass nur Jungtiere gefangen werden können, die man zum Königshof bringt.

Auch Aristoteles beruft sich in „De partibus animalium“ auf den indischen Esel von Ktesias und ist wiederum Vorbild für Plinius d.Ä., dessen Einhornbeschreibung in der „Naturalis historia“ (77 n.Chr.) durch die Aufnahme in viele Enzyklopädien dem gesamten Mittelalter bekannt wurde.

Durch die griechische Übersetzung des Alten Testaments – die „Septuaginta“ – gelangte das Einhorn in die Bibel. Das hebräische Wort re’em, das den Wildstier oder Auerochsen bezeichnet, wurde fälschlicherweise mit monokeros übersetzt. Dieses Wort war wahrscheinlich den Gelehrten und Übersetzern aus den Berichten über den Wildesel und über das kartazon von Ktesias und Aelian bekannt. So wurde in den „Numeri“ (23,22: Gott hat sie aus Ägypten herausgeführt, sein ist ja die Herrlichkeit des Einhorns), im „Deuteronomium“ (33,17: Der Erstgeborene des Stieres – das ist seine Schönheit, die Hörner des Einhorns sind seine Hörner), im „Buch Jiob“ und den Psalmen re’em durchweg als Einhorn übersetzt. Wobei zu beachten ist, dass hier nur der positive Aspekt des Wildstieres/Auerochsen hervorgehoben wird. Dies unterscheidet sie von den hebräischen Hagiographen, die sowohl die göttliche Macht als auch die widergöttliche, bedrohliche Gewalt mit dem Bild des re’em darstellten.

Bei der Übersetzung des Alten Testaments ins Lateinische – in der „Vulgata“ – treten drei verschiedene Übersetzungen des griechischen Wortes monokeros auf, die alle gleichbedeutend sind: rhinokeros, unicornis und das latinisierte monoceros. Das Tier erscheint in unterschiedlichem Kontext, als Sinnzeichen des Kreuzes, als Symbol Christi, als Bild für die Patriarchen und Propheten, Christen als Anhänger des einen Gottes, als Sinnbild der Einheit des Glaubens und auch mit negativer Bedeutung als Bild für stolze Menschen, Juden und böse Mächte.

Großen Einfluss auf die Vorstellung vom Einhorn hatte die Schrift „Physiologus“, der Naturkundige, bis ins späte Mittelalter hinein. Der griechische Archetypus dieses literarischen Werks entstand etwa Ende des 2.Jh.n.Chr. in Alexandrien. Der Verfasser ist unbekannt. Es folgten zahlreiche Abschriften und Übersetzungen in verschiedene Sprachen, wobei nicht alle Fassungen das Einhorn enthalten. Die Darstellung der Natur im „Physiologus“ ist immer zweiteilig angelegt: in den Naturbericht und in die Allegorese. So wird beispielsweise zuerst das Einhorn mit seinen Eigenschaften beschrieben, dann die Verbindung zur Heiligen Schrift und der Vergleich mit Jesus angestellt. An dieser Stelle interessiert die Beschreibung des Einhorns: Es ist ein kleines Tier, einem Böckchen ähnlich, mit einem Horn auf der Stirn. In manchen Fassungen wird erzählt, die Tiere wollten aus einem vergifteten See trinken. Sie warteten ab, bis das Einhorn sein Horn in das Wasser gehalten hatte und es dadurch wieder trinkbar war. Das Einhorn ist meist als zornig und kühn dargestellt und kann nicht gefangen werden, es sei denn von einem Mädchen oder einer Jungfrau. Hier ist, wie vorne beschrieben, deutlich die Nähe zu der indischen Legende vom Gazellenhorn festzustellen. Das Einhorn kommt zutraulich zu dem Mädchen, setzt sich in dessen Schoß oder stößt sein Horn in denselben. Nur dann kann das Tier überwältigt und zum Königspalast geführt werden. Die Deutung dieses Bildes liegt nahe: Kirchenväter und mittelalterliche Autoren setzten die Einhornjagd mit der Menschwerdung Christi, der unbefleckten Empfängnis Marias gleich. Genau diese Szene vom Einhorn und der Jungfrau wird, ähnlich wie die Pietà, häufig im Mittelalter abgebildet und ist ein beliebtes Motiv auf Wandteppichen.

Auch in spätmittelalterlichen jüdischen Handschriften findet sich das Horn als Symbol für Kraft und göttliche Auserwählung und für den Stamm Ephraim. Der babylonische Talmud (ca. 2.Jh.v. Chr.–5.Jh.n.Chr.) nämlich enthält im Abschnitt über die Schlachtopfer die Geschichte über Noahs Arche. Dort ist diskutiert, wie das Einhorn die Sintflut überleben konnte, obwohl es keinen Platz mehr in der Arche gefunden hatte. Die Antwort gibt die Sage: Das Tier ist neben dem Schiff angebunden worden und musste schwimmen. Das ansonsten kochendheiße Wasser ist an dieser Stelle erstaunlicherweise kalt geblieben. Später kam jedoch die Frage auf, warum das Tier dann aber heute nicht mehr existiert. Die Antwort geben polnische, kleinrussische und ukrainische Fassungen des Talmud, wiederum mit einer Sage: Das Einhorn ist wegen seiner Angriffslust nicht ins Schiff gelassen worden und musste nebenher schwimmen. Auf das Horn des Tieres setzten sich jedoch so viele Vögel, dass es untergehen musste.

Hildegard von Bingen (1098–1179) dagegen greift in ihrem naturwissenschaftlichen Werk „Subtilitarum diversarum naturarum creaturam“ (um 1155) im LiberVII wieder die heilkräftigen Eigenschaften des Einhorns auf, wie sie schon Ktesias beschrieben hat. Sie widmet dem unicornus ein eigenes Kapitel, beschreibt es als eher kalt denn warm, wobei seine Stärke größer als seine Kälte ist. Es ist ein Pflanzenfresser, fürchtet den Mann, folgt aber der Frau. Deshalb kann es von Frauen gefangen werden; diese müssen aber adelig, am Beginn des Erwachsenenalters, am besten blond und kussbereit sein. Einmal im Jahr kommt es auf einen paradiesischen Platz mit Blumen, von denen es seine große Kraft hat. Unter dem Horn befindet sich an der Stirn ein ehernes Gefäß wie ein Spiegel. Hildegard von Bingen schreibt dem Einhorn folgende medizinische Bedeutung zu: Seine pulverisierte Leber vermischt mit Eigelb ist eine wirksame Salbe gegen Aussatz (es sei denn, der Kranke ist dem Tod übereignet und Gott will ihn nicht heilen). Ein Gürtel aus der Haut des Tieres schütz vor Pest und Fieber, Sandalen vor Knochenleiden.