Über das Buch:
Babylon ist Sacharjas ganze Welt. Doch als König Kyros dem jüdischen Volk die Rückkehr ins Land seiner Väter erlaubt, beginnt für den jungen Sacharja das Abenteuer seines Lebens. Zusammen mit seinen Großeltern und seiner Jugendfreundin Yael macht er sich auf den Weg nach Jerusalem. Fern von Babylons Schönheit und Reichtum müssen die jüdischen Heimkehrer ganz neu beginnen – in einem unwirtlichen Land und unter Menschen, die sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Wird es ihnen gelingen, den Tempel wieder zu errichten und sich ein neues Leben aufzubauen?

Lynn Austin webt einen farbenprächtigen, filigranen biblischen Hintergrund, auf dem die Hauptpersonen so zur Geltung kommen, dass wir uns mit ihren Hoffnungen und Träumen, mit ihren Siegen und Niederlagen identifizieren können. Eine epische, ergreifende Erzählung von Kämpfen, Leid und Glück eines Volkes, das Gott dienen will.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist Aufgabe und Inspiration für sie. Wenn ihr neben dem Tagesgeschäft Zeit bleibt, macht sie Vortragsreisen und schreibt Bücher. In Deutschland hat sie inzwischen eine riesige Fangemeinde und gilt als eine der meistgelesenen Autorinnen im christlichen Romanbereich. Ihre Bücher sind ausnahmslos Bestseller und haben dem Genre über die Grenzen des christlichen Buchmarktes hinaus zum Durchbruch verholfen.

5

Iddo hasste es, durch diese heidnischen Teile von Babylon zu gehen, aber es führte kein Weg daran vorbei. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf seine Füße, um zu vermeiden, dass sein Blick auf die verbotenen Bilder und Götzen fiel, während er wünschte, er könnte sich schneller durch die überfüllten Straßen bewegen. Die Baylonier schmückten ihre wichtigen Gebäude, Tempel und sogar die Stadtmauer mit Götzenbildern. Iddo hatte seinen Nachbarn Mattania gebeten, ihn zu begleiten, weil er nicht sicher war, dass er den Weg durch die weitläufige Stadt alleine finden würde.

„Hast du eine Ahnung, warum die Männer der Großen Versammlung dieses Treffen einberufen haben?“, fragte Mattania.

„Du weißt genauso viel wie ich – es geht um eine Bekanntmachung des persischen Königs, die etwas mit uns zu tun hat.“

Fünf Monate waren vergangen, seit die Meder und Perser Babylonien überfallen hatten, und bis jetzt war Iddos Leben genauso weitergegangen wie immer. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass wichtige Nachrichten in der Regel schlechte Nachrichten waren, und so bereitete die geheimnisvolle Proklamation ihm mehr Sorgen als der Anblick der Götzen. Iddo hatte sich ausgemalt, er und seine anderen jüdischen Nachbarn würden sich zu einer Audienz bei König Kyros versammeln, um diesem neuen „Pharao“ zu sagen, er solle ihr Volk ziehen lassen, so wie Mose es damals getan hatte. Aber seine eigenen Söhne hatten diesen Wunschtraum in den vergangenen Monaten zermürbt, weil sie darauf beharrten, dass die Propheten Narren und Träumer seien und dass ihr Volk niemals die Erlaubnis erhalten würde, nach Hause zurückzukehren.

„Du warst in letzter Zeit nicht bei den Gebeten“, sagte Iddo. „Wir haben dich vermisst.“

„Ich hatte viel zu tun“, erwiderte Mattania. „Wir haben einen Auftrag, ein neues Lagerhaus am Fluss zu bauen.“

„Dann kommst du wieder, wenn die Arbeit beendet ist?“

„Ich weiß nicht, Iddo. Was nützen denn Gebete?“

„Wie soll unser Volk seinen Glauben bewahren, wenn junge Männer wie du und meine Söhne sich von ihm abwenden?“

„Ich muss arbeiten, um meine Rechnungen zu bezahlen und meine Tochter zu ernähren.“

Iddo beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Dina sagte, er klage zu viel und sei zu unnachsichtig mit Leuten, die ihren Glauben nicht so engagiert lebten wie er. Iddo ging schweigend neben Mattania her, bis sie schließlich beim Südpalast angekommen waren, dem ehemaligen Wohnsitz der babylonischen Könige, in dem nun ihre neuen persischen Lehensherren residierten. Andere jüdische Anführer und Älteste waren bereits auf dem riesigen Platz vor dem Palast versammelt und er und Mattania gesellten sich zu ihrem Nachbarn Joel. Iddo wusste, dass es albern war, aber in Joels Gegenwart fühlte er sich immer unbehaglich, weil der Mann vor so vielen Jahren auch um Dinas Hand angehalten hatte. Natürlich hatte Dina sich nicht für Joel entschieden – aber Iddo fragte sich, ob sie ihre Wahl jemals bereut hatte, vor allem, als ihre Cousine Susanna ihn stattdessen geheiratet hatte.

„Haben wir etwas verpasst?“, fragte Iddo ihn.

„Noch nicht. Aber das dort ist Daniel, der Rechtschaffene, nicht wahr? Oben auf dem Treppenabsatz?“

Iddo schirmte die Augen gegen die Sonne ab. „Ja, und die Männer neben ihm sind Judas königliche Prinzen. Ich habe sie nur einige Male bei besonderen Anlässen gesehen, deshalb kann ich mich an ihre Gesichter nicht erinnern. Aber wer könnte diese prächtigen bestickten Gewänder vergessen?“

„Dann muss es eine wichtige Versammlung sein, wenn sie hier sind“, sagte Joel.

Vielleicht würde Iddos Traum ja doch wahr werden. Vielleicht würden Judas Prinzen und die Ältesten wirklich die Freiheit ihres Volkes verlangen. „Der ältere Mann mit dem grauen Bart ist Scheschbazar, der Sohn von König Jojachin“, erklärte Iddo den anderen. „Der jüngere ist sein Neffe Serubbabel, der Sohn von Schealtiël und Enkel von König Jojachin.“

„Ich wusste nicht, dass Juda immer noch eine königliche Familie hat“, sagte Mattania. „Ich dachte, die Babylonier hätten sie hingerichtet.“

„Nicht alle“, sagte Iddo. „Der Heilige hat König David versprochen, dass er immer einen Erben haben würde, und der Heilige lügt nicht. Rebbe Daniel stammt auch von der königlichen Familie ab.“

Schließlich trat Daniel vor und hob die Hände, um die Menge zur Ruhe zu bringen. „Dies ist ein Tag, der wunderbare Neuigkeiten für unser Volk bringt“, begann er, „der Tag, den der Heilige uns verheißen hat. Deswegen ist es angemessen, dass Prinz Scheschbazar derjenige ist, der uns die Bekanntmachung von unserem persischen Herrscher König Kyros vorliest.“

Iddo war vor Aufregung ganz angespannt, als Scheschbazar die Schriftrolle entrollte und zu lesen begann. „Hört die Worte von Kyros, dem König der Perser und der Meder und der ganzen Welt: ‚Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Reiche dieser Erde gegeben und mich beauftragt, einen Tempel für ihn in Jerusalem in Juda zu errichten …“

Iddo packte Mattanias Arm. „Was hat er gesagt?“

„‚Jeder unter euch, der aus seinem Volk stammt – möge sein Gott mit ihm sein, und möge er nach Jerusalem in Juda gehen und den Tempel des Herrn wieder aufbauen, für den Gott Israels, den Gott, der in Jerusalem wohnt.‘“

Iddo stieß einen Freudenschrei aus, der sich mit den Rufen und Jubelschreien der Menge vereinte.

„‚… Und die Bewohner eines jeden Ortes, wo jetzt noch Überlebende sind, sollen sie mit Silber und Gold ausstatten, mit Gütern und Vieh und mit freiwilligen Opfern für den Tempel Gottes in Jerusalem.‘“ Scheschbazar ließ den Blick über die Menge schweifen, als er das Dokument wieder einrollte. „Jubelt, Gottes Volk! König Kyros lässt uns nach Jerusalem zurückkehren! Wir werden Gottes Tempel wieder aufbauen!“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, während die Männer einander ungläubig ansahen. Dann fingen alle auf einmal an zu reden. „Kann das wirklich wahr sein?“, fragte Mattania.

„Ich glaube das nicht“, sagte Joel. „Es muss einen Haken geben – irgendeine Bedingung oder Forderung oder … irgendetwas.“

„Es ist ein Wunder“, flüsterte Iddo. Er hatte so lange dafür gebetet und darauf gehofft, aber obwohl er die Nachricht gerade mit eigenen Ohren gehört hatte, konnte er sie kaum glauben.

„König Kyros hat die Politik der Assyrer und Babylonier widerrufen“, übertönte Scheschbazars Stimme das erstaunte Murmeln. „Er lässt alle unterworfenen Völker in ihre Heimat zurückkehren und ihre Götter anbeten – und uns auch.“

„Wir gehen nach Hause“, sagte Iddo. „Wir gehen nach Hause!“

„Der Prophet Jesaja hat diesen Tag vor beinahe zweihundert Jahren vorhergesagt“, sagte Rebbe Daniel und trat neben Scheschbazar, „und er hat König Kyros sogar namentlich genannt und gesagt: „‚Du bist der Hirte für mein Volk!‘ Er wird alles ausführen, was ich ihm befehle. In meinem Auftrag wird er anordnen: ,Jerusalem soll wieder aufgebaut werden! Auch der Tempel soll wieder an seinem alten Platz stehen!‘ Und jetzt ist es geschehen. Dies ist die mächtige Hand Gottes!“

Iddo konnte vor lauter Tränen das Podium nicht mehr sehen. Überall um ihn herum umarmten Männer einander und lachten und weinten wie Kinder, unfähig, ihre Tränen zurückzuhalten. „Bringt diese gute Nachricht zu euren Familien“, sagte Scheschbazar über den Lärm hinweg, „und feiert die Güte Gottes. Dies ist wahrlich ein Tag der Freude!“

Iddo wäre am liebsten den ganzen Weg nach Hause gerannt und hätte die gute Nachricht jedem zugerufen, der es hören wollte. Aber er war so bewegt, so erschüttert von dem, was er gehört hatte, dass er stattdessen wie benommen vorwärtsstolperte. „Ich bin froh, dass du mit mir gekommen bist, Mattania, denn meine Familie wird mir nicht glauben, wenn ich es ihnen erzähle. Sie werden denken, ich hätte es mir ausgedacht.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich es selbst glaube.“

„Denk nur! Unsere Brüder werden sich von all den Orten, an denen sie im Exil sind, versammeln und einen Exodus erleben, der so groß ist wie der erste. Es muss inzwischen Millionen von uns geben, mit unseren Kindern und Enkeln, überall im Reich verstreut. Wir werden Pferde und Wagen brauchen –“

„Glaubst du wirklich, dass alle zurückkehren werden?“

„Natürlich! Warum sollten sie das denn nicht?“

Mattania zögerte und sah Iddo mit einem Stirnrunzeln an. „Na ja … weil es bedeutet, alles aufzugeben, wofür wir hier gearbeitet haben. Es ist schließlich nicht so, dass wir all die Jahre gezwungen waren, in Sklavenarbeit Ziegel für den Pharao zu brennen. Viele unserer jüdischen Landsleute sind wohlhabend geworden. Sie müssten in einem Land, das die ganze Zeit über verwüstet war, noch einmal von vorn anfangen.“

„Aber wer wäre denn nicht bereit, für die Zukunft seiner Kinder alles, was er jetzt besitzt, aufzugeben?“

„Für einige von uns ist die Zukunft hier“, erwiderte Mattania. „Zum Beispiel für den Juden, dessen Lagerhaus ich gerade baue. Er lebt hier sehr gut und seine Söhne auch.“

„Aber hast du nicht gehört, wie die Bekanntmachung gelautet hat? Wir gehen nicht nur nach Hause, sondern wir bauen den Tempel wieder auf. Gott wird wieder bei uns wohnen. Überleg doch mal!“ Iddo glaubte, er müsste vor Freude platzen, als er sich vorstellte, wie er mit seinen Söhnen als Priester diente. „Wenn wir in ein paar Wochen das Passafest feiern, Mattania, wird es dann nicht wunderbar sein, sich an den ersten Auszug zu erinnern, jetzt, wo der Allmächtige uns das Wunder eines zweiten Exodus schenkt? Wer hätte das gedacht?“

„Ja … Wer hätte das gedacht?“

Die Abendmahlzeit wartete auf Iddo, als er nach Hause kam. Seine Söhne und ihre Frauen hatten sich in dem schwindenden Licht des Tages im Hof versammelt und warteten gespannt darauf zu hören, was der Grund für die Versammlung der Ältesten gewesen war. Er sah ihre besorgten Mienen und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, zu überwältigt von Freude, als dass er hätte sprechen können.

Dina eilte zu ihm. „Was ist denn, Iddo? Was ist passiert? Etwas Schlimmes?“

„Das sind Freudentränen, Dina. Der persische König hat uns freigelassen.“

Seine Söhne umringten ihn sogleich. „Was, Abba? Was hat der König gesagt?“

Iddo fuhr sich über die Augen. „Der persische König hat verkündet, dass er unserem Volk erlaubt, nach Jerusalem zurückzukehren und den Tempel wieder aufzubauen.“

„Das glaube ich nicht.“

„Es stimmt. Nach siebzig Jahren gehen wir nach Hause, so wie die Propheten es gesagt haben.“

Iddos Sohn ergriff seinen Arm. „Bist du sicher, dass du dich nicht verhört hast?“

„Fragt Mattania und Joel. Sie haben es auch gehört. Habe ich euch nicht gesagt, dass wir in unsere Heimat zurückkehren würden?“

„Das ist unfassbar“, sagte Berechja.

„Unsere Anführer werden keine Zeit verschwenden. Sobald sie die nötigen Vorkehrungen getroffen haben, werden wir Babylon für immer verlassen.“ Seine Familie schien seine Freude nicht zu teilen. Sie blickten ihn ungläubig, ja erschrocken an. Vielleicht brauchten sie noch Zeit, bis die Nachricht sich gesetzt hatte.

„Komm, Dina. Mach einen Weinschlauch auf“, sagte Iddo. „Dies ist ein Abend, an dem wir uns freuen und feiern und den Allmächtigen preisen wollen für dieses unbegreifliche Wunder.“

Ein spontanes Fest brach an diesem Abend aus, als alle im Viertel sich auf dem Platz vor dem Versammlungshaus einfanden. Musiker brachten ihre Instrumente mit und Iddo und die anderen Männer tanzten und drehten sich fröhlich im Kreis und klatschten und sangen und lobten Gott. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. „Preist den Herrn, denn er ist gut“, sang er mit den anderen, „und seine Gnade hört niemals auf.

Dinas Cousine Susanna führte einen Reigen tanzender Frauen an, die das Lied ihrer Ahnin Mirjam sangen: „Ich will dem Herrn singen, denn er ist mächtig und erhaben, Pferde und Reiter warf er ins Meer!

Iddo war ganz erschöpft, als die Feier endete und die Leute wieder nach Hause gingen, aber er fühlte sich immer noch zu rastlos, um sich schlafen zu legen. Er verspürte eine überströmende Freude und dachte an den Allmächtigen. Mit wem würde er seine Gedanken besser teilen können als mit seinem Enkel? „Komm mit, Sacharja“, sagte er und zog ihn von den anderen Familienmitgliedern fort. „Ich will dir etwas zeigen.“

„Wo geht ihr denn um diese Zeit noch hin?“, beschwerte sich Dina. „Es ist schon spät.“ Aber ihre Sorge würde Iddos gute Laune nicht verderben. Er war regelrecht trunken vor Freude, nicht vom Wein.

„Wir bleiben nicht lange. Geht schon mal vor.“ Er führte seinen Enkel in die entgegengesetzte Richtung, die schmalen Gassen entlang und durch das Labyrinth aus Häusern.

„Wohin gehen wir, Saba?“

„Ich dachte, wir könnten am Kanal entlanglaufen, wo du gerne spielst.“

Sacharja blieb stehen wie ein schuldiger Mann, der an den Ort seiner Tat zurückgebracht wird. Iddo lachte laut auf. „Hast du etwa gedacht, ich wüsste nicht, wohin du am Sabbatnachmittag mit deiner Freundin Yael läufst?“

„Bist du mir böse, Saba?“

„Nein, mein Junge. Ich bin nicht böse. Wer kann einem Jungen schon übel nehmen, dass er hin und wieder gerne draußen herumläuft, anstatt zu lernen? Komm mit und zeig mir, wohin du immer gehst.“

Sacharja sah immer noch ein bisschen verunsichert und besorgt aus, aber er führte Iddo durch die dunklen Straßen, in denen man nur noch bei sehr wenigen der trostlos schlammfarbenen Häuser Licht in den Fenstern sah.

„Was hältst du von der Bekanntmachung, Sacharja?“

„Alles, was die Propheten gesagt haben, ist eingetroffen, Saba!“

Iddo hörte die Verwunderung und Ehrfurcht in der Stimme seines Enkels und lachte. „Ja, natürlich! Unser Gott ist treu und seine Worte an uns sind wahrhaftig.“

„Abba sagt, dass Könige ihre Sklaven nie frei lassen, aber König Kyros hat es getan! Er hat es tatsächlich getan, wie der Pharao! Die Thora hat recht, Saba!“ Iddo zog den Jungen in seine Arme und drückte ihn.

Wenige Minuten später erreichten sie das breite, glänzende Dunkel des Kanals und blieben am Ufer stehen, wo sie dem sanften Seufzen des Wassers lauschten. Fischerboote schaukelten auf den Wellen und ihre hohen Masten schwankten. Die Luft war hier am Wasser kühler und eine Gruppe Palmen rauschte leise im Wind. Das Beste war jedoch, dass der Himmel sich über ihnen zu öffnen schien.

„Sieh nach oben, Saki. Siehst du all die Sterne? Erinnerst du dich, wie der Heilige diese Sterne und die Palmen und die Vögel erschaffen hat? Was lehrt uns die Thora?“

„Sie sagt nicht, wie. Gott hat nur gesagt: ‚Es werde Licht‘ und –“

„Und es wurde Licht. Genau! Der Allmächtige hat allein durch die Kraft seiner Worte die Schöpfung entstehen lassen. Deshalb bin ich mit dir hierhergegangen, um über die Bedeutung von Worten zu sprechen. Heute hat König Kyros eine Erklärung abgegeben – Worte auf einem Stück Papier – aber siehst du, welche Macht diese wenigen Worte besitzen? Sie werden uns von Babylon nach Jerusalem führen, von einem Volk ohne jeden Besitz zu einem Volk mit einer Heimat. Diese Worte werden Steine bewegen und dorthin bringen, wo wir sie brauchen, um einen Tempel für unseren Gott zu bauen. Mächtige Worte, oder?“

„Sehr mächtig!“ Sakis dunkle Augen leuchteten im Mondlicht.

„Weißt du, warum Gott uns zurückkehren lässt? Wegen seiner Barmherzigkeit und Liebe. Er wird uns vergeben und wieder bei uns wohnen.“

Sie blickten auf das Wasser hinaus. Es war so ruhig, dass Iddo die Spiegelung des Mondes auf der glänzenden Oberfläche sehen konnte. Als Sacharja fröstelte und die Arme verschränkte, um sich gegen die nächtliche Kühle zu schützen, wandte Iddo sich um und bedeutete ihm, dass sie zurückgehen würden.

„Wir sind als Ebenbild des Allmächtigen geschaffen, also haben unsere Worte ebenfalls Macht. Wenn du zu jemandem sagst, er sei hässlich oder dumm, und wenn du es oft genug wiederholst, dann kannst du bei diesem Menschen Hässlichkeit oder Dummheit erschaffen. Lobe ihn aber für seine Güte oder Freundlichkeit, und deine Worte können noch mehr Freundlichkeit in diesem Menschen erschaffen. Wir müssen darauf achten, dass wir Worte sprechen, die dem Leben dienen.“

Ein paar Minuten später erreichten sie das Tor zu ihrem Haus. Iddo dachte an seine Söhne und daran, wie überzeugt sie davon gewesen waren, dass die Worte der Propheten nicht stimmten und dass ihr Volk niemals aus der Gefangenschaft zurückkehren würde. Er fragte sich, ob ihre Worte des Unglaubens jetzt Macht über sie haben würden. Vielleicht hatten sie nicht gewollt, dass die Prophezeiungen sich erfüllten, weil sie nicht zurückgehen wollten. Iddo fragte sich, ob seine Söhne, durch ihre Worte des Unglaubens beeinflusst, sich weigern würden, durch die Tür zu gehen, die der Heilige ihnen so wundersam geöffnet hatte.

6

Dina hob den Wasserkrug auf ihren Kopf und ging zum Gemeinschaftsbrunnen. Die Zeit raste förmlich dahin. Seit König Kyros seine Erklärung hatte verlesen lassen, waren die Wochen wie im Flug vergangen. Oberflächlich betrachtet ging ihr Leben genauso weiter wie immer, während sie sich um ihr Haus und ihre Familie kümmerte. Aber ein kaum merklicher Strom der Veränderung durchfloss jeden Tag und schwoll langsam zu einer Welle heran, die das Leben, das sie kannte und liebte, zu verschlingen drohte. Die Angst vor der Zukunft raubte Dina die Fähigkeit, die Gegenwart zu genießen – so als würde sie die genaue Stunde ihres Todes kennen und wie gebannt auf die Zeit starren, die bis dahin verstrich.

Ihre Freundinnen und Nachbarinnen standen schon lachend und plaudernd um den Brunnen herum, als sie ankam. „Dina! Wir haben auf dich gewartet“, sagte ihre Cousine Susanna. „Wir wollen alles über eure Pläne für die Rückkehr nach Jerusalem hören. Bist du nicht aufgeregt?“

Dina ließ Seil und Eimer genauso sorgfältig in den Brunnenschacht hinab, wie sie versuchte, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Die anderen Frauen sahen zu ihr auf, sie achteten sie, aber im tiefsten Inneren war Dina nicht dazu bereit, Babylon zu verlassen. Jeden Tag suchte sie nach einer Möglichkeit, wie sie Iddo dazu bewegen könnte, nicht zu gehen. Aber sie gab nicht gerne in der Öffentlichkeit zu, dass sie und ihr Mann sich nicht einig waren. „Iddo plant alles“, sagte sie und zog den Eimer wieder an die Oberfläche. „Er hat gesagt, die Reise wird mindestens drei Monate dauern. Ich kann mir eine solche lange, anstrengende Reise nicht vorstellen, und ihr? Es kommt mir unmöglich vor.“

„Ich finde es aufregend“, sagte Susanna. „Joel war zuerst nicht sicher, ob er gehen will, aber ich habe ihn davon überzeugt, dass wir es tun sollten.“

„Susanna! Warum?“

„Weil dies das Bedeutsamste ist, was wir jemals tun werden. Wenn wir dem Allmächtigen nicht gehorchen und unseren Tempel nicht wieder aufbauen, werden wir für immer von ihm getrennt sein.“

Dina starrte ihre Cousine an. Sie hatten zwanzig Jahre lang als Hebammen Seite an Seite gearbeitet. Wie konnten sie so unterschiedlich empfinden? Dina füllte schnell ihren Krug, während Susanna den anderen erklärte, dass Joel und Iddo ihre Stammbäume aufgeschrieben hatten, um zu beweisen, dass sie von Priestern abstammten. Die übrigen Frauen schien das zu interessieren, aber Dina wollte so schnell wie möglich nach Hause, bevor Susanna noch mehr Fragen stellte.

Iddo ging davon aus, dass seine ganze Familie Babylon zusammen verlassen würde, aber Dina wusste, dass ihre Söhne nicht gehen wollten. Was würde sie tun, wenn das Undenkbare geschah und ihre Familie entzweigerissen wurde, weil einige hier blieben und die anderen nach Jerusalem zogen? Die Ungewissheit machte Dina das Herz schwer und raubte ihr den Schlaf. „Ich sehe einen großen Umbruch in deinem Leben“, hatte die Seherin zu ihr gesagt. Mit jedem Tag, der verging, versuchte sie sich fester an die Dinge zu klammern, die ihr wichtig waren. Doch mit der Zeit schien es ihr immer unmöglicher, so als würden ihr kostbare Juwelen durch die Finger gleiten und für immer verloren gehen.

Beim Essen an diesem Abend wandte Iddo sich an seine Söhne und fragte: „Wie viele Wagen werdet ihr für eure Familien brauchen? Wie viele Ochsen und Esel? Die Ältesten haben alle Familienoberhäupter aufgefordert, ihnen eine ungefähre Zahl zu nennen.“

Ihre Söhne wechselten einen Blick. Schließlich antwortete Berechja für beide. „Abba, wir … äh … wir haben beschlossen, hier in Babylon zu warten.“

„Was?“ Das Wort klang ungläubig, nicht wütend.

„Wir werden nicht mitgehen, wenn die erste Gruppe nächsten Monat abreist.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Unsere Kinder sind zu klein, um eine solche Entfernung zurückzulegen. Vielleicht, wenn sie ein bisschen älter sind …“

„Und Naomi und ich müssen an das Baby denken“, fügte Hosea hinzu. „Es ist für eine so weite Reise noch zu klein.“

Iddos Gesicht wurde so hart und weiß wie Marmor, als er seine Söhne anstarrte. „Ihr könnt nicht hier in Babylon bleiben. Der Allmächtige hat uns die Gelegenheit gegeben, zurückzukehren, und wir müssen ihm gehorchen!“

„Das verstehe ich, Abba. Aber der Zeitpunkt ist ungünstig. Hosea und ich haben beschlossen, später nachzukommen.“

Dina wartete auf die Reaktion ihres Mannes. Er saß unbeweglich da und sein Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung. Vielleicht sah er ja ein, dass es klüger wäre, hier zu bleiben. Als die schreckliche Stille andauerte, wagte sie zu sagen: „Vielleicht sollten wir alle warten und zusammen gehen, Iddo.“

„Nein, nein, nein!“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. „Gott hat ein Wunder für uns vollbracht, und ihr schätzt das nicht wert? Es wird immer einen Grund geben zu warten, es wird sich immer eine Ausrede finden. Der Allmächtige hat die Geduld mit unseren Vorfahren verloren, und er wird auch die Geduld mit uns verlieren, wenn wir seinen Befehl missachten.“

„Aber der Zeitpunkt ist wirklich nicht gut, Abba –“

„Und wann wird er gut sein? Beim ersten Exodus gab es sicherlich auch Frauen mit Babys. Und viele kleine Kinder.“

„Es war eine schwierige Entscheidung“, sagte Berechja, „aber Hosea und ich glauben beide, dass sie so für uns richtig ist.“

Iddo schloss die Augen, als könnte er dadurch die Tragweite dessen, was er gerade von seinen Söhnen gehört hatte, aussperren. Als er sie wieder aufschlug, beugte er sich zu den beiden Männern vor, als wollte er die Wichtigkeit dessen betonen, was er nun sagen würde. „Kommt mit mir. Jetzt! Alle!“ Er machte eine Armbewegung, die die ganze Familie umfasste, dann erhob er sich und ging zur Tür.

„Wir alle?“, fragte Dina, als sie aufstand und zu ihm ging. „Was ist mit dem Essen? Und … und den Kindern?“

„Das Essen kann warten. Bringt alle Kinder mit. Ich will, dass ihr alle seht, was ich euch zeigen werde.“

Hatte Iddo den Verstand verloren? Sie ließen ihr angefangenes Essen zurück und folgten ihm aus dem Haus, die kleinen Kinder auf dem Arm. Einige Minuten später gingen sie durch Babylons dämmrige Straßen. Dina hatte ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, aber sie war niemals an den Orten gewesen, zu denen ihr Mann sie jetzt führte. Sie hielt sich dicht bei den anderen, die eine gedrängte kleine Gruppe bildeten, so als lauerten die Gefahren, vor denen man sie immer gewarnt hatte, hinter jeder Ecke. „Wohin führst du uns, Iddo?“, fragte sie. Er antwortete nicht.

Schließlich blieb er stehen und zeigte auf ein riesiges Steingebäude vor ihnen. „Dies ist der Tempel eines der babylonischen Götter“, sagte er atemlos. „Ein widerwärtiger Ort, an dem Gläubige ihrer Göttin huldigen, indem sie mit Fremden schlafen. Junge Mädchen werden hier ausgestellt wie Vieh auf dem Markt und warten darauf, von Männern ausgewählt zu werden, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Sie verkehren den heiligen Akt, den Gott für die Ehe geschaffen hat, in ein geschmackloses, entwürdigendes Ritual der Gotteslästerung!“

„Abba, nicht –“, begann Berechja, aber Iddo unterbrach ihn.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Töchter an einen Ort wie diesen gehen, und ihr? Und diese Heiden haben die Frechheit, ihre Orgien als Gottesdienst zu bezeichnen. Als die Menschen aufhörten, den einen wahren Gott anzubeten, ist das hier dabei herausgekommen!“ Dina wandte sich von dem Anblick ab, auf den Iddo zeigte, und fröstelte in der kühlen Abendluft.

„Hört mir zu“, fuhr Iddo fort. „Ihr alle wurdet hier in Babylon geboren. Ihr seid alle hier aufgewachsen, wo ein Anblick wie dieser euch ganz alltäglich erscheint. Aber immer mehr junge Frauen aus unserem Volk werden von babylonischen Männern weggelockt. Immer mehr unserer Söhne fühlen sich zu babylonischen Frauen hingezogen. In einer oder zwei Generationen wird dies der Ort sein, an dem unsere Söhne und Töchter und Enkel anbeten. Und sie werden sich nichts dabei denken!“

Bevor einer von ihnen antworten konnte, wandte Iddo sich um und ging weiter, tiefer in die Stadt hinein, immer weiter fort von ihrem Viertel. Dina nahm Sacharjas Hand, und das Herz tat ihr weh vor Angst und Kummer über das, was Iddo sie anzusehen zwang. Sie hörte murmelnde Stimmen in der Ferne, und wenig später blieb Iddo wieder stehen. Dutzende von kranken und behinderten Menschen saßen auf dem zentralen Platz der Stadt, auf Teppichen oder in behelfsmäßigen Hütten kauernd. Das Murmeln war das Geräusch ihrer Stimmen, mit denen sie die Passanten anflehten.

„Sie rufen ihre Krankheitssymptome aus“, sagte Iddo, „in der Hoffnung, dass ein Fremder etwas von einem Trank oder Amulett oder Fluch weiß, der ihnen Heilung bringt. Ihre Zauberei ist böse, ihr Aberglaube nutzlos, aber selbst unsere eigenen Nachbarn, Mirjam und Mattania, haben sich auf solche Dinge verlassen. Ihr alle wurdet davon beeinflusst. Sag nicht, dass du nicht beeindruckt warst, Hosea, als eine von Mirjams Seherinnen richtig vorhersagte, dass euer letztes Kind ein Junge werden würde. Und du, Dina – wolltest du nicht einen Astrologen fragen, welches der beste Tag für Rachels Hochzeit wäre?“

Dina starrte auf ihre Füße. Sie schämte sich bei dem Gedanken daran, dass die Seherin ihr noch etwas vorausgesagt hatte. „Damit beginnt der Götzendienst“, sagte Iddo. „Mit einfacher Neugier. Dann dauert es nicht lange, bis wir uns daran gewöhnen, Zeichen und Omen zu suchen, und sie kommen uns plötzlich nicht mehr wie Abscheulichkeiten vor. Die Heiden glauben, dass sie ihre falschen Götter manipulieren und bestechen können, damit sie ihnen ihre Wünsche erfüllen. Aber der Heilige lässt sich nicht bestechen. Stattdessen sollen wir unseren Willen dem seinen beugen. Die Thora lehrt uns, ein heiliges, gottgefälliges Leben zu führen.“

Iddo ging weiter – meilenweit, wie es Dina schien – und führte sie schließlich zu dem Fuß der großen Zikkurat in der Mitte Babylons. „Das hier!“, rief er. „Das ist es, was auf dem Spiel steht! Der Glaube an den einen wahren Gott wird für immer verloren gehen, verschlungen von dieser falschen Religion, diesem Turm von Menschenhand, wenn wir Gott nicht gehorchen! Er hat uns den Weg bereitet, das alles hier hinter uns zu lassen und nach Jerusalem und zu ihm zurückzukehren. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, den Tempel wieder aufzubauen. Wir dürfen nicht ungehorsam sein. Ich habe selbst erlebt, wie furchtbar Gottes Zorn sein kann. Und diese Erfahrung will ich nicht noch einmal machen!“

Eine Traube neugieriger Babylonier versammelte sich um sie herum, während Iddo seiner Familie ins Gewissen redete. Im Gegensatz zu Dinas ruhigem Viertel, das bei Dunkelheit beinahe menschenleer war, erstand Babylon erst bei Einbruch der Nacht so richtig zum Leben – wie eine lebendige Kreatur, die von ihrem Nachmittagsschlaf erwacht. „Bitte, Iddo. Lass uns nach Hause gehen!“, flehte sie.

Er sah seine Angehörigen lange an, dann wandte er sich um und ging denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Dina atmete erleichtert auf, als sie endlich wieder ihre vertrauten Straßen erreicht hatten, aber vor dem Versammlungshaus blieb Iddo erneut stehen. „Kinder, bitte hört mir zu. Wir haben die Schriftrollen des Propheten Jeremia studiert. Er hatte mit allem recht – mit dem Fall Jerusalems, dem Schicksal unserer Könige, unserem Exil. Und er hatte auch mit den siebzig Jahren unserer Gefangenschaft recht. Hört mir zu: Dieser Jeremia hat auch gesagt: ‚Flieht aus Babylon! Lauft um euer Leben! Sonst trifft auch euch die Strafe für seine Schuld. Denn jetzt ist die Stunde gekommen, nun ziehe ich, der Herr, die Babylonier zur Rechenschaft. Sie bekommen von mir, was sie verdienen.‘ Lasst euch nicht davon täuschen, dass die Invasion der Perser so unblutig verlaufen ist. Gott wird Babylons Bosheit bestrafen, und wenn ihr Teil dieser Stadt seid, dann werdet auch ihr bestraft werden. Bitte schlagt seine Gnade nicht aus.“

Endlich kamen sie nach Hause und aßen ihr kalt gewordenes Essen auf. Dina sah den tiefen Kummer in Iddos Augen, als er sie alle ein letztes Mal anflehte. „Wichtig ist nur, dass wir Gottes Werk tun. Das ist alles, was zählt. Wenn ihr seinem Licht den Rücken kehrt, werdet ihr die Dunkelheit anbeten.“

7

„Sacharja? Kommst du mit mir zum Nachmittagsgebet?“, fragte Saba.

Sacharja schüttelte den Kopf und starrte auf den Boden neben dem Hoftor. Er wusste, wenn er aufblickte, würde er die Enttäuschung in Sabas Augen sehen. Seine Großeltern würden bald nach Jerusalem aufbrechen, und Sacharja hatte nicht mehr viel Zeit, die er mit Saba verbringen konnte. Doch er war zu rastlos, als dass er im Versammlungshaus hätte sitzen und beten können. Am liebsten wäre er sogar zum Tor hinausgerannt und weitergelaufen, ohne jemals anzuhalten.

Er war schrecklich verwirrt. Rebbe Daniels Gebete waren erhört worden, die Vorhersagen der Propheten waren eingetroffen – und das bedeutete, dass Saba recht hatte, was den Heiligen und alle seine Wunder betraf, und Abba hatte sich geirrt. Aber trotz des leidenschaftlichen Flehens seines Großvaters, trotz der Dinge, die Sacharja und seiner Familie in jener ernüchternden Nacht auf den Straßen von Babylon gezeigt wurden, hatten Sakis Vater und alle seine Tanten und Onkel beschlossen, in Babylon zu bleiben.

Sacharja wartete, bis Saba nicht mehr zu sehen war. Dann schlüpfte er zum Tor hinaus, in dem Wissen, dass alle annehmen würden, er sei mit seinem Großvater gegangen. Er rannte über die Straße zum Haus seiner Freundin Yael. Er fand sie, wie sie allein in ihrem engen Hof kniete und die leblosen Kohlen im Ofen schürte, als erwartete sie, dass wie durch Zauberhand Flammen erscheinen würden. Sie hörte ihn hereinkommen und blickte auf. „Ich hoffe, du bist gekommen, um mir beim Feuermachen zu helfen. Ich habe nämlich kein Glück dabei.“

„Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du mit mir zum Kanal kommst.“

Ein Funke Lebenslust erschien in ihren Augen und Sacharja erkannte an der Art, wie sie aufstand und den Ruß von ihren Händen klopfte, dass es ihr wahrscheinlich egal war, wohin sie gingen. Sie wollte nur weg aus ihrem trostlosen, leeren Haus. „Klar. Gehen wir!“

Sie gingen nebeneinander zum Ufer des Kanals. Der vertraute Fischgeruch wurde immer stärker und die Luft, die durch die hohen Palmen strich, merklich kühler. Sacharja verlor die Zeit aus dem Blick, während sie an all ihren üblichen Plätzen herumliefen, mit Stöcken in Löchern stocherten, den Fischern beim Flicken ihrer Netze zusahen und am Strand auf und ab liefen. Als sie schließlich müde waren, ließen sie sich an ihrem Lieblingsplatz nieder, um einem Reiher dabei zuzusehen, wie er am gegenüberliegenden Ufer nach Nahrung suchte. Sacharja nahm eine Handvoll Kiesel, um sie ins Wasser zu werfen, und bot Yael einige davon an, aber sie schüttelte den Kopf. Sie tat ihm leid. Sie war immer noch schrecklich traurig und vermisste ihre Mutter sehr.

„Solltest du nicht lernen oder beten oder so?“, fragte sie, nachdem mehrere Minuten verstrichen waren.

„Wahrscheinlich. Ich habe bald Geburtstag und –“

„Dein Geburtstag ist im Monat Ijjar? Dann bist du unter dem Sternzeichen Widder geboren.“

Er warf ihr einen Blick zu. Es behagte ihm nicht, wenn sie über heidnische Dinge sprach, vor allem nach der Rede seines Großvaters. „Ich sollte mich eigentlich auf mein Bar Mitzwa vorbereiten, aber –“

„Und warum tust du es dann nicht?“

„Mir ist einfach nicht danach“, sagte er mit einem Schulterzucken. „Es soll doch ein fröhlicher Anlass sein, aber ich weiß nicht, wie ich mich freuen soll, wenn alle in meiner Familie sich streiten.“

„Worüber streiten sie denn?“ Sie zog die Beine an, schlang die Arme darum und legte das Kinn auf die Knie, während sie zuhörte.

„Dasselbe, worüber alle anderen sich streiten – über die Rückkehr nach Jerusalem. Und ich hänge genau dazwischen. Mein Großvater bettelt meinen Vater förmlich an und sagt ihm, dass er um meinetwillen mit nach Jerusalem gehen muss. Als würde die Zukunft der gesamten Priesterschaft von mir abhängen! Aber mein Vater weigert sich, und so zerren sie an mir herum, vor und zurück – und ich bin es leid.“

„Wenigstens hören die Streitereien in ein paar Wochen auf. Wenn dein Großvater geht, habt ihr doch nichts mehr zum Streiten, oder?“

Sacharja starrte sie einen Augenblick lang an und stellte überrascht fest, dass es stimmte. Aber statt des ständigen Streits würde Stille herrschen … und in Sacharjas Leben würde eine Lücke entstehen, die niemand außer Saba jemals füllen konnte.

„Würdest du gerne mitgehen, Saki?“, fragte Yael.

Er warf noch einen Stein ins Wasser. „Ich wünschte, meine ganze Familie würde mitgehen.“ Er konnte die nagende Befürchtung nicht abschütteln, dass Abba einen Fehler beging. Dass sie alle den Zorn des Heiligen zu spüren bekommen würden, wenn sie hier blieben. „Ich habe gehört, dass du und dein Vater geht“, sagte er. „Bist du aufgeregt?“

Yael setzte sich plötzlich auf und verschränkte ihre dünnen, biegsamen Beine unter sich, sodass sie im Schneidersitz saß. „Wenn ich dir ein Geheimnis verrate, versprichst du dann, es niemandem zu erzählen? Niemand sonst auf der ganzen Welt weiß davon. Aber du musst es zuerst versprechen.“

Er hatte sich Yael gerade anvertraut, also verstand er ihr Mitteilungsbedürfnis. Aber er war nicht sicher, dass er sich mit ihrem Geheimnis belasten wollte.

„Versprichst du es?“, fragte sie noch einmal und stieß seinen Arm an.

„Ich verspreche es“, sagte er schließlich.

„Ich gehe nicht mit nach Jerusalem.“ Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Ich bleibe hier.“

„Du bleibst? … Hat dein Vater seine Meinung geändert? Sein Name steht auf der Liste, und sein Stammbaum als Levit wurde bestätigt …“

„Abba geht mit, aber ich nicht. Ich werde bei Parthia leben.“

Sacharja starrte sie an, um zu sehen, ob sie Witze machte, aber an ihren verschränkten Armen und dem trotzig vorgereckten Kinn konnte er sehen, dass es ihr Ernst war. „Du meinst … diese Babylonierin? Die Zauberin? Warum?“

„Weil ich alle meine Erinnerungen an Mama verliere, wenn ich von hier weggehe. Sie hat hier gelebt, hier kann ich mich an sie erinnern. Außerdem ist sie hier begraben. Ich weiß, dass du mich dafür hassen wirst, dass ich das sage, aber – ich will nicht dahin gehen, wo dein Gott angebetet wird. Er hat meine Mutter sterben lassen.“

„Das ist nicht wahr!“

„Außerdem habe ich gehört, wie dein Großvater Abba erzählt hat, dass niemand in Jerusalem die Sterne um Rat fragen oder Zeichen suchen darf, aber meine Mutter hat an all das geglaubt. Ich will die Mondgöttin anbeten, so wie sie es getan hat.“

Sacharja widerstand dem Drang, die dünnen Schultern seiner Freundin zu packen und sie zu schütteln, bis sie zur Vernunft kam. Die Mondgöttin? Zeichen? All diese Dinge, von denen Saba gesagt hatte, dass sie passieren würden, wenn sie in Babylon blieben, geschahen bei Yael schon jetzt. Sie war seine Freundin, und er mochte sie sehr – und er wollte sie nicht an Götzen verlieren.

„Und dein Vater ist damit einverstanden? Er lässt dich hierbleiben?“

„Nein, natürlich nicht. Ich werde weglaufen. Parthia hat schon gesagt, dass ich bei ihr wohnen kann.“

„Das kannst du nicht machen, Yael! Meine Großmutter wird für dich sorgen, weißt du nicht mehr? Darum hat deine Mutter sie selbst gebeten. Das war ihr letzter Wille.“

„Mama wusste nicht, dass deine Großmutter Babylon verlassen würde. Sie hätte nie gewollt, dass ich weggehe. Nein, ich habe mich entschlossen wegzulaufen und bei Parthia zu wohnen – aber du darfst es niemandem erzählen, Saki. Du hast es versprochen.“

Er hatte das Gefühl, dass er sie unbedingt aufhalten musste, aber er wusste nicht, was er tun oder sagen konnte, um sie zu überzeugen. „Yael, nichts von dem, was Parthia dir beigebracht hat, ist wahr. Sie kann die Zukunft genauso wenig voraussagen wie wir anderen.“

„Hat euer Gott nicht auch Menschen, die in die Zukunft schauen können? Dein Großvater hat gesagt, einer von ihnen hätte vorhergesagt, dass wir nach Jerusalem zurückgehen würden.“

„Das ist etwas anderes.“

„Woher willst du das wissen?“

„Weil … weil es nur einen Gott gibt, und keiner von den anderen Göttern ist echt.“

„Woher weißt du, dass sie nicht echt sind?“

„Ich habe die Thora für meine Bar Mitzwa studiert und Dinge über den wahren Gott gelernt, über den Gott unserer Vorfahren. Unser Volk soll nur ihn anbeten. Wir sagen es jeden Morgen, wenn wir beten: ‚Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.‘“

„Mädchen beten nicht, Saki. Außerdem ist mir die dämliche Thora egal.“ Sie reckte das Kinn noch etwas höher.

Ihre Worte und Einstellung entsetzten ihn. Sacharjas Vater betete vielleicht nicht so oft, wie Saba es tat, aber er glaubte immer noch an den Gott Israels. Wie konnte er Yael bloß dazu bringen, zu glauben? „Hör zu, du und deine Familie, ihr stammt aus dem Stamm Levi und meine sind Priester. Unsere Familien wurden auserwählt, um im Tempel des Allmächtigen zu dienen …“

„Und warum bleibt dein Vater dann hier, anstatt nach Jerusalem zu gehen?“

„Ich weiß es nicht … aber … Yael, du bist meine beste Freundin! Ich werde dich zwar schrecklich vermissen, wenn ihr nach Jerusalem geht, doch ich finde, dass du es tun solltest. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe ein seltsames Gefühl im Bauch, wenn ich daran denke, dass du wegläufst, um bei dieser bösen Frau zu leben.“

„Sie ist nett zu mir.“

„Ist meine Großmutter nicht nett zu dir?“ Yael zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Bitte tu das nicht, Yael! Wenn du wirklich hier in Babylon bleiben willst, dann komm und wohn bei mir. Ich bin sicher, Mutter und Vater werden nichts dagegen haben. Du kannst von jetzt an meine Schwester sein. Aber bitte geh nicht zu dieser babylonischen Frau.“

„Abba lässt mich ganz sicher nicht bei deiner Familie leben. Ich kann nur hierbleiben, wenn ich weglaufe. Aber du darfst es niemandem erzählen, Saki.“ Sie schlug wieder gegen seinen Arm, diesmal fester. „Du hast es versprochen!“

Er hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Ein Versprechen konnte er nicht brechen, aber er konnte auch nicht zusehen, wie seine Freundin weglief, um bei dieser bösen Frau zu leben.

Yael erhob sich und klopfte sich den Sand von der Kleidung. Dann machte sie sich ohne ihn auf den Heimweg. Sacharja beeilte sich, sie einzuholen. „Hör zu, ich kann dir helfen, mit deinem Vater zu reden, damit er dich hier bleiben und bei mir und meinen Eltern leben lässt.“

„Deine Eltern werden mir nicht erlauben, die Sterne zu studieren und die Mondgöttin anzubeten.“ Sie fing an schneller zu laufen und rannte den Rest des Weges heim, sodass Sacharja zurückblieb.

„Dann mach doch, was du willst“, schrie er ihr nach und trat gegen die Steine auf dem Weg. „Es ist mir egal.“ Aber es war ihm nicht egal. Mit hängenden Schultern trat er durch das Tor in seinen Hof, niedergedrückt von seinen Sorgen, und stieß beinahe mit seiner Großmutter zusammen.

„Wo warst du denn, Saki? Wir haben überall nach dir gesucht.“

„Ich war mit Yael spazieren.“

„Dann geh jetzt gleich aufs Dach. Dein Vater und dein Großvater wollen mit dir sprechen.“

„Bin ich in Schwierigkeiten?“

Sie schüttelte den Kopf und er sah Tränen in ihren Augen. „Nein, Saki. Du bist nicht in Schwierigkeiten.“

Er ließ sich Zeit, als er die Treppe hinaufstieg, weil er Angst hatte vor dem, was ihn erwartete. Sie unterhielten sich leise, als er oben ankam, aber als sie ihn sahen, verstummten sie und warteten, bis er sich neben sie auf den Teppich gesetzt hatte. Sacharja sah, dass sein Vater mit verbissener Miene und geballten Fäusten dasaß, während er darauf wartete, dass Saba sprach.

„Nur damit ich dich richtig verstehe, Berechja“, begann sein Großvater, „du hast gesagt, dass du später nach Jerusalem kommen willst – nur nicht mit der ersten Gruppe?“

„Ich muss an meine kleinen Kinder denken.“

„Aber wenn du später tatsächlich nachkommst, warum kann Sacharja dann nicht jetzt schon mit Dina und mir mitkommen?“

Sacharjas Magen fühlte sich an, als würde er in einen tiefen Brunnen fallen. Er sollte mit Saba die lange Reise nach Jerusalem antreten? Ohne seine Eltern? Er war sprachlos. Abba wirkte ebenfalls verblüfft und suchte nach Worten. „Er … er ist mein ältester Sohn. Mein Erstgeborener. Er gehört hierher zu mir. Seine Mutter und ich würden trauern, wenn er so weit von uns entfernt wäre.“

„Genau! Und so geht es deiner Mutter und mir bei dem Gedanken, von dir getrennt zu sein – unserem erstgeborenen Sohn.“

„Ich weiß, ich weiß, aber…“

„Und wenn du bald nachkommst“, fuhr Saba fort, „brauchst du Sacharja nur eine kurze Zeit lang zu vermissen. Lass ihn unter den Ersten sein, die zurückkehren, lass ihn Teil dieses neuen Exodus werden. Du wirst wieder mit ihm vereint sein, wenn ihr mit dem Rest der Familie nachkommt, oder nicht?“

Sacharjas Vater stöhnte. Er starrte auf den Teppich hinunter und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. „Ich weiß, was du zu tun versuchst, Abba, und ich will nicht mehr darüber streiten. Ich bin die Streiterei leid.“ Er hob den Kopf wieder und stand auf. „Komm mit, Saki.“ Sacharja erhob sich und wollte gerade mit Abba gehen, als Saba sie zurückhielt.

„Warum lässt du Sacharja nicht selbst entscheiden, ob er bleiben oder gehen will? In einer Woche ist seine Bar Mitzwa und er ist erwachsen, ein Sohn des göttlichen Gesetzes. Von da an wird er selbst dafür verantwortlich sein, ob er Gott folgt, also sollte er eine so wichtige Entscheidung wie diese selbst treffen.“

Abba nahm Sacharja an der Hand und zog ihn näher zu sich, als würde er sonst vom Dach fallen und Abba müsste ihn davor bewahren. „Bring meinen Jungen nicht gegen mich auf. Er kann eine so schwierige Entscheidung nicht treffen.“

„Warum nicht? Ich habe dir auch wichtige Entscheidungen überlassen, als du volljährig wurdest, erinnerst du dich? Du hast beschlossen, dass du nicht mehr mit mir zu den Gebeten kommen wolltest. Ich habe versucht, dich umzustimmen, aber du hast gesagt, es sei deine Entscheidung und nicht meine, also…“

„Hör auf“, flehte Abba. „Hör einfach auf!“

Sacharja wäre am liebsten zum Kanal zurückgelaufen und hätte sich versteckt, bis die ganze Sache vorüber war, aber Abba hielt ihn fest.