Sophie Jordan

Wild –

Atemlos vor Glück

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gisela Schmitt

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Wild

Copyright © 2014 by Sharie Kohler

erschienen bei: William Morrow, New York

Published by arrangement with William Morrow,

an imprint of HarperCollins Publishers, LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Getty Images / Justin Pumfrey

ISBN eBook 978-3-95649-511-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Für die anderen „Mommys“ – meine Freundinnen: Jane, Angela, Lindsay, Brenna, Kym, Katherine, Bekah, Amanda, Jennifer, Lorien und Josie

If you are falling, dive …

Joseph Campbell

1. KAPITEL

Es tut mir leid, Georgia. Es ist nur …“

Ich wartete ab, betrachtete sein hübsches Gesicht, seine zu weißen Zähne und hatte in diesem Moment das totale Déjà-vu. Hastig wischte ich meine plötzlich schwitzenden Handflächen an meiner Jeans ab und versuchte mir einzureden, dass das nicht möglich war.

Genauso hatte auch das Gespräch begonnen, als Harris vor ein paar Monaten mit mir Schluss gemacht hatte. Der einzige Unterschied jetzt bestand darin, dass das hier nicht Harris war. Nicht annähernd. Joshua war nicht mein Freund. Wir hatten gerade mal vier Dates. Vier! Also wieso sah er mich dann jetzt so mitleidsvoll an? Und sprach in diesem herablassenden Ton mit mir? Sagte mir diese Worte?

Nicht schon wieder. Das konnte doch nicht wahr sein.

Ich rutschte auf dem weichen Ledersitz seines Wagens herum und spielte an meiner Perlenhalskette. Auf einmal wünschte ich mich ganz weit weg. Seit unserer ersten Verabredung wusste ich, dass es zwischen uns nicht gefunkt hatte. Dennoch hatte ich einem zweiten und dritten Treffen zugestimmt, denn Joshua war der Typ Mann, den ich wollte. Theoretisch jedenfalls. Er war im letzten Semester an der Dartford University und hatte bereits einen Studienplatz an einer Optikerhochschule sicher. Er kam aus einer guten Familie. Sein Vater war Diakon, Joshua selbst arbeitete ehrenamtlich bei der hiesigen Tafel. Einen besseren Freund konnte ich mir nicht wünschen, und deshalb redete ich mir auch ein, dass es nicht so schlimm war, wenn das Knistern fehlte. Lang anhaltende Beziehungen gründeten sich nicht auf Knistern. Viel wichtiger waren gemeinsame Interessen – gleiche Ziele, ein ähnlicher sozialer Hintergrund. Solche Dinge.

In meiner Handtasche klingelte mein Handy. Rasch schaute ich aufs Display. Mom. Ich schaltete das Telefon auf lautlos und konzentrierte mich wieder auf diese seltsame Situation. Meine Mutter würde ich später zurückrufen. Nachdem das hier – was auch immer es war – geklärt war. Ich weigerte mich, diese Unterhaltung für ein Trennungsgespräch zu halten. So nahe ging mir die Sache auch wieder nicht.

Doch ich würde es nicht zulassen, dass mich schon wieder jemand abservierte.

Joshua beugte sich zu mir und legte den Arm oben auf meinen Sitz. Als könnte er das, was er sagen wollte, mir nur sagen, wenn er mir näher kam. Sein teures Parfüm hüllte mich ein, und der Geruch stach mir in der Nase.

„Es tut mir leid, Georgia“, wiederholte er und schnalzte mit der Zunge. „Aber auf deiner Stirn steht: Heirate mich.“

Meine Wangen wurden rot.

„Und dafür bin ich noch nicht bereit“, erklärte er.

Ich wich vor ihm zurück und stieß mit dem Kopf gegen das kalte Glas der Autoscheibe. Die Pasta Primavera, die ich eben gegessen hatte, brannte plötzlich wie Säure in meinem Magen. Ich starrte aus dem Fenster auf die winterlich-tote Grasfläche vor meinem Wohnheim. Schon vor Wochen war der letzte Schnee geschmolzen, doch der Rasen hatte sich immer noch nicht erholt.

Ich blinzelte, tief verletzt, und richtete meinen Blick wieder auf ihn. „Okay“, meinte ich und räusperte mich. „Vergessen wir mal die Tatsache, dass wir beide gar nicht offiziell zusammen sind. Aber machst du gerade Schluss mit mir?“

Er nickte. „Ja.“

„Etwa, weil ich nicht mit dir geschlafen habe?“ Bereits bei unserem ersten Date hatte er versucht, mich in die Kiste zu kriegen. Und heute Abend hatte er mir vorgeschlagen, noch mit zu ihm zu kommen. Ich hatte abgelehnt. Hatte er in diesem Moment entschieden, die Sache zu beenden? Oder anders: Hätte er mir vielleicht auch den Laufpass gegeben, wenn ich mit ihm ins Bett gegangen wäre? Was für ein Arsch.

Er errötete unter seiner Bräune. „Du hältst ja große Stücke auf dich.“

„Da bin ich wohl nicht viel anders als du“, fuhr ich ihn an. „Ich meine, was soll das? Du glaubst, ich will dich nach dem vierten Date heiraten?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das nenne ich mal ein Ego.“

„Pass auf. Du hast mir selbst erzählt, dass du mit deinem letzten Freund seit der Highschool zusammen warst und immer gedacht hast, ihr würdet heiraten.“ Er seufzte und schaute mich erneut mit diesem mitleidigen Blick an. „Ich habe keine Lust, den Ersatzmann zu spielen.“

Ungeduldig fummelte ich am Türgriff herum. „Ich suche nach keinem Ersatz.“

„Freu dich doch, Georgia.“ Er tätschelte meine Schulter. Ich sah ihn an. „Hey, du bist ein hübsches Mädchen. Hör doch mal auf, so ernst zu sein, und hab lieber ein bisschen Spaß!“

Da riss ich die Tür auf und schwang die Beine aus dem Wagen.

Er hielt mich am Handgelenk fest. „Willst du nicht einfach erst mal ein bisschen vögeln? Mit einem Typen, den du nicht schon seit Ewigkeiten kennst?“

Mein Gesicht glühte. Ja, daran hatte ich auch schon gedacht. Sehr oft sogar, seit Harris sich von mir getrennt hatte. Vor allem, weil meine beiden Mitbewohnerinnen mit ihren heißen, fantastischen Freunden offensichtlich einen wahren Sex-Marathon veranstalteten. Bedauerlicherweise hatten mich Joshuas Schlabberküsse und seine feuchten Hände nicht gerade angemacht. Ich habe mich einfach nur weiterhin mit ihm getroffen, da ich nicht zu wählerisch erscheinen wollte. Oder zu oberflächlich. Sex wurde doch überbewertet. Und nun war ich sauer, dass ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört hatte.

Langsam beugte ich mich zu ihm hinüber und nestelte an seinem verknitterten Kragen.

Seine Augen funkelten. „Was meinst du, Georgia?“ Jetzt klang er ganz heiser. „Wollen wir die Spinnweben ausfegen?“

Charmant.

„Ja“, hauchte ich dicht an seinem Mund. „Ich denke an Sex … hemmungslosen Sex … die ganze Zeit. Mit einem scharfen Typen. So wild und hemmungslos, dass mir die Augen zurückrollen und ich meinen Namen nicht mehr weiß.“

Er stöhnte und versuchte, die schmale Lücke zwischen unseren Lippen zu schließen, doch ich zog mich zurück und ließ ihn los. „Tja, dann gehe ich mal los und suche mir so einen Kerl.“

Sein erstaunter Blick verschaffte mir eine gewisse Befriedigung. Rasch stieg ich aus und knallte die Wagentür zur. Ohne mich noch einmal umzusehen, lief ich den Bürgersteig entlang zu meinem Wohnheim, gab den Zugangscode ein und murmelte dabei die ganze Zeit vor mich hin, wie froh ich bin, dass damit jetzt Schluss ist. Ende. Aus. Keine Dates mehr. Keine Typen mehr, die theoretisch gesehen perfekt waren. Jeder von denen sagte am Anfang immer genau das Richtige, nach ein paar Dates allerdings – puff! – verwandelten sich alle diese Prinzen in Frösche.

Ich drückte auf den Aufzugsknopf. Dabei tappte ich ungeduldig mit dem Schuhabsatz auf den Boden, da ich so schnell wie möglich in mein Zimmer und in meine bequeme Yoga-Hose schlüpfen wollte. Heute Abend war ich allein. Pepper und Emerson waren bei ihren Freunden, vermutlich das ganze Wochenende über. Bei dem Gedanken wurde mir das Herz ein bisschen schwer. Und gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wenn jemand ein bisschen Glück verdiente, dann die beiden.

Ironischerweise war bis vor einigen Monaten ich diejenige mit einem festen Freund gewesen, und die beiden waren Singles. Ich missgönnte ihnen ihr Glück nicht, aber … ich fühlte mich einsam. Kein Harris mehr. Meine besten Freundinnen mit sich selbst beschäftigt. Und Lernen konnte man ja auch nicht die ganze Zeit! Meine Noten waren besser denn je. Mein Wirtschaftsprojekt hatte ich schon fertig, dabei war es erst zum Semesterende fällig.

Während ich auf den Fahrstuhl wartete, ging die Haustür auf und wieder zu. Annie schlenderte herein. Sie trug eine weite, tief ausgeschnittene Bluse und eine enge 7/8-Hose.

„Hey, G.“ Sie blieb neben mir stehen und trank dabei von ihrem lächerlich riesigen Eiskaffee mit Bergen von Sahne. Danach musterte sie mich von oben bis unten. Ich hatte meine üblichen Ausgehklamotten an – Jeans, Stiefel, Kaschmirpullover. „Warst du schon unterwegs?“

„Ja, hatte ein Date.“

„Na, das lief ja dann wohl nicht so toll, dein Date, wenn du schon um neun zu Hause bist …“

Ich zuckte mit den Schultern. Annie war nicht gerade meine beste Freundin. Anfang des Jahres hatte sie ein bisschen mit uns rumgehangen – bis uns allen klar geworden war, dass sie eins von diesen Mädchen war, die einem dazu rieten, einen Schlabberpullover zu tragen, nur damit sie selbst besser aussahen.

„Es ist noch früh“, meinte sie. „Falls du Lust hast, kannst du ja mit mir noch mal losziehen.“ Ich dachte sofort daran, wie Annie Emerson in dieser Biker-Bar sitzen gelassen hatte. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich um andere kümmerten, auch wenn sie mit ihnen unterwegs war.

Der Aufzug kam, und die Türen öffneten sich. Wir stiegen ein. „Danke, doch ich hab noch zu tun.“

„An einem Freitagabend? Wie langweilig.“

„Was hast du denn vor?“ Besser, wir sprachen über sie. Das war immer Annies Lieblingsthema.

„Ach, weißt du, es gibt da so einen Club …“ Obwohl wir allein im Fahrstuhl waren, flüsterte sie, wobei sie mit dem Strohhalm herumspielte. „Das wird eine Nacht voller SPASS. Es ist von ein paar spannenden Spielchen die Rede.“

„Sprichst du etwa von deinem Kink Club?“

„Es ist nicht mein Kink Club. Der gehört niemandem.“ Sie verdrehte die Augen. „Das ist der Ort, an dem du alles tun und erleben kannst, ohne dass jemand die Nase über dich rümpft. Ein Ort, an dem man sich gehen lassen und die Kontrolle verlieren kann, ohne dass es gefährlich wird.“

Sich gehen lassen, ohne dass es gefährlich wird? Aus unerfindlichen Gründen sah ich das Gesicht meiner Mutter vor mir, die missbilligend die Stirn runzelte.

„So einen Ort gibt es nicht“, widersprach ich ihr.

Das Leben bestand nun einmal aus Meinungen. Wir lebten. Trafen Entscheidungen. Wenn wir selbst nicht urteilten, übernahmen das andere für uns. So funktionierte die Welt. Selbstbeherrschung war alles. Nur so blieb die moderne Zivilisation erhalten.

Annie kicherte. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und wir traten auf den Flur. „Mein Gott, bist du verklemmt. Aber du hast ja meine Nummer. Schick mir einfach eine SMS, falls du doch mitkommen willst.“

Einen Moment lang schaute ich ihr hinterher, als sie zu ihrer Unterkunft am Ende des Ganges schlenderte. Irgendwo auf dem Korridor dröhnte in voller Lautstärke der neueste Song von Bruno Mars.

Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür. Bruno war jetzt nur noch gedämpft zu hören. Emersons Seite des Raums war wie immer ein einziges Chaos. Überall lagen ihre Klamotten herum. Jetzt, wo sie verliebt war, nahm sie zwar gewisse Dinge ein bisschen ernster, doch an ihrer permanenten Unentschlossenheit, was sie anziehen sollte, hatte sich nichts geändert. Auch nicht an ihrer Unfähigkeit, ihre Sachen wieder wegzuräumen.

Ich schaltete den Fernseher ein und zog mich um. Natürlich legte ich meinen Pullover und meine Jeans ordentlich zusammen. Die Stiefel stellte ich in den Schrank, danach griff ich mir das Handy, um Mom anzurufen. Sie konnte es nicht leiden, wenn ich mich nicht noch am selben Tag bei ihr meldete.

Im Fernsehen jagte ein Cop einen Verbrecher, während ich im Schneidersitz auf dem Bett saß und wartete, dass meine Mutter abnahm. „Georgia, hi!“ Sie klang wie immer voller Energie. So hatte sie auch immer bei den Lautsprecherdurchsagen in der Highschool geklungen.

Es war kein Spaß, wenn deine Mutter die Schulleiterin war. Zum Glück vergötterte sie Harris – wie alle in meinem Heimatort –, sonst hätte ich sicher niemals einen Freund gehabt. Es gab nicht allzu viele Jungs, die mit der Tochter der Schuldirektorin zusammen sein wollten. Harris war jedoch so selbstbewusst, dass ihn das nicht gestört hatte. Dafür hatte ich ihn geliebt. Allerdings war sein Vater damals auch ein hohes Tier im Stadtrat – und jetzt sogar Bürgermeister. Und auch deswegen mochte meine Mutter Harris so gerne.

„Wie geht’s dir? Was macht das Studium?“

„Gut, ich …“

„Sag mal, hast du dein Passwort geändert? Ich wollte mir online deine aktuellen Zensuren anschauen.“

„Nein, Mom, hab ich nicht.“

Ich war zwar inzwischen zwanzig Jahre alt, doch da meine Eltern die Collegegebühren zahlten, meinten sie, sie hätten auch das unbeschränkte Recht zu wissen, was in meinem Leben passiert – inklusive meiner Noten zu jedem Zeitpunkt im Semester.

„Hmmm. Vielleicht bin ich auf die Feststelltaste gekommen“, entgegnete sie. „Ich versuche es einfach später noch mal.“ Sie wechselte das Thema. „Hast du noch mal über deine Pläne für den Sommer nachgedacht? Ich habe mit Greg Berenger gesprochen, und er kann dich hier bei der Bank unterbringen. Dann hättest du schon mal einen Fuß in der Tür, wenn du mit dem Studium fertig bist.“

Natürlich. Sie erwartete, dass ich im Sommer wie selbstverständlich nach Hause fuhr. Klar. Ich würde das College abschließen und in die Weltmetropole Muskogee, Alabama, zurückkehren.

„Ähm … Ich bin mir noch nicht sicher. Ich habe hier ein paar Dinge zu regeln.“

„Georgia Parker Robinson.“ Offensichtlich hatte sie aus meinen Worten etwas herausgehört, das sie dazu nötigte, in ihrem Schulleiterinnen-Ton mit mir zu reden. Plus mich bei meinem vollen Namen zu nennen. „Es geht hier um deine Zukunft. Das solltest du ernst nehmen und nicht bis zur letzten Sekunde damit warten.“

„Natürlich, Mom. Das ist mir klar.“

Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Ist es vielleicht wegen Harris? Er wird kaum den Sommer hier sein, weißt du. Seine Mutter hat erzählt, er macht ein Praktikum in Boston.“

„Du hast mit seiner Mutter geredet?“, fragte ich mit peinlich schriller Stimme.

„Ich hab sie beim Einkaufen getroffen. Was hätte ich tun sollen? Sie ignorieren?“

„Entschuldige“, murmelte ich.

„Wir glauben beide, dass das gerade nur so eine Phase bei ihm ist. Dieses andere Mädchen ist nur ein Flirt und …“

„Mom! Ihr habt nicht wirklich über sie gesprochen?“

Sie ist eine Person, die ich nicht mal kenne. Doch Harris hatte, ein paar Wochen bevor er sich von mir trennte, etwas mit ihr angefangen. Was für ein Klischee. Aber war an Klischees nicht immer etwas Wahres? Anders gäbe es sie wohl kaum.

„Ärgere dich nicht. Du und Harris, ihr kriegt das schon wieder hin.“

„Ich will gar nichts wieder hinkriegen, Mom. Er hat mich betrogen. Er hat mit mir Schluss gemacht.“

„Ihr seid beide noch so jung. Das verstehst du nicht. Auf lange Sicht wächst eure Beziehung daran.“

„Mom, das mag jetzt schwer zu glauben sein für dich, doch – ich will nicht mehr mit Harris zusammen sein.“

„Das klingt mir aber gar nicht nach dir, Georgia. Du bist doch nicht der Typ für sinnlose Wut.“

„Was soll das denn heißen? Wieso klingt das nicht nach mir?“ Welcher Typ war ich denn? Etwa der Typ Frau, der es zuließ, dass ihr Freund auf ihren Gefühlen herumtrampelte, sie ihn allerdings dennoch um eine zweite Chance anflehte?

„Du hast mich doch noch nie enttäuscht.“

Und Harris nicht zu heiraten, würde sie enttäuschen? Wollte sie etwa das damit sagen?

„Du triffst immer die richtigen Entscheidungen“, fuhr sie fort. „Wir haben dich so erzogen, dass du verantwortungsbewusst und verlässlich bist.“

Langweilig. So hatte Harris das genannt. Ich sei langweilig, und deswegen beende er unsere Beziehung. Oh, und noch ein paar andere Dinge hatte er mir vorgeworfen. Doch das hatte mich am meisten getroffen.

Tief seufzte ich und rieb mir plötzlich die schmerzende Stirn. Als würde sein Vorwurf immer noch dort herumgeistern. Ein weiterer ärgerlicher Kieselstein, den ich nicht loswurde. „Wegen dieses Jobs sage ich dir Bescheid.“

„Ja, bitte. Die Stelle wird nicht ewig unbesetzt bleiben. Mr Berenger wird sie allerdings so lange wie möglich für uns frei halten. Weißt du noch, ich hätte seinen Sohn der Schule verweisen können, weil er eine Klausur von Mrs Morris’ Schreibtisch gestohlen hat und die Lösungen an die anderen Schüler verkauft hat? Ich habe ihn aber damals nur suspendiert.“

„Okay, Mom. Grüß Dad und Amber von mir.“

„Gute Nacht, Schätzchen.“

„Nacht, Mom.“

Ich legte auf und ließ mich auf die Matratze sinken. Jetzt fing „Law & Order“ an, die bekannte Titelmusik erklang.

Irgendwie war ich ruhelos und gleichzeitig wütend. Mom. Harris. Joshua. Ich hörte ihre Stimmen in meinem Kopf, und mir wurde übel. Alle drei dachten, sie würden mich so gut kennen. Langweilig. Verlässlich. Ernst.

Alle diese Worte sollten mich beschreiben. Alle diese Worte hätte ich am liebsten auf den Boden geschmettert und zertrampelt. Ich schnappte mir mein Handy, scrollte durch die Kontaktliste bis ganz unten. Kurz verweilte mein Daumen über der Tastatur, schließlich begann ich zu tippen.

Ich: Was zieht man im Kink Club so an?

Annie: Irgendwas, das man leicht ausziehen kann …

2. KAPITEL

Ich erinnerte mich vage an einen Film mit Tom Cruise und Nicole Kidman, den meine Mom mich nicht sehen lassen wollte, den ich mir aber trotzdem anschaute, als ich bei Bethany Grayson übernachtete (sie durfte alles gucken). Der Film hieß „Eyes Wide Shut“. Er spielt in einem Sex-Club, in dem sich Reiche und Schöne in extravaganten Kostümen vergnügen. Annies Kink Club hatte damit so gar nichts gemein.

Ich hätte es nach Emersons Besuch eigentlich besser wissen müssen. Prustend vor Lachen hatte sie uns damals davon erzählt – sie hatte dort einen Mann in einem Eichhörnchen-Kostüm getroffen … Auch heute Abend war Chippy wieder da und rempelte beim Streifen durch die Location absichtlich Frauen an. Ich hielt mich dicht an Annies Seite und ließ mir von ihr alles zeigen. Zum Glück war ich mit meinem Wagen gefahren. Zu gut erinnerte ich mich noch an Emersons Erfahrung mit Annie.

Diesmal hatte sich der Kink Club in einem großen Loft einquartiert. Im Prinzip gab es hier nur einen einzigen großen Raum, der spärlich möbliert war. Entsprechend wenig Privatsphäre hatte man, was die Gäste allerdings nicht davon abhielt, zur Sache zu kommen. Ein paar machten schon miteinander rum. Das Schlafzimmer bestand aus einer nahezu durchsichtigen Zwischenwand, die nicht verbarg, welche Orgien sich auf dem Bett abspielten.

Auf Sofas und Sitzkissen lagen Paare. In einer Ecke hatten sich welche zu einem Dreier zusammengefunden, zum Glück waren alle Beteiligten noch bekleidet. Aber ihre Hände waren bereits unter Hemden und Röcken am Werk. Ich sah weg, als ich mitbekam, wie einem Mädchen der Slip abgestreift wurde.

„Willst du was trinken?“, fragte Annie laut, um die hämmernde Musik zu übertönen. Sie blieb neben einer improvisierten Bar stehen, an der ein Typ bediente, der nur eine knappe Badehose, eine Captain-America-Maske und einen Superman-Umhang trug. Offensichtlich eine eigene Superhelden-Kreation. Während er die Cocktails mixte, eingoss, schüttelte und rührte, tanzte er und ließ die Hüften kreisen. Ich musste einfach hingucken und gleich sofort weg. Immer und immer wieder.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte grad nichts.“

Nicht, dass ich was gegen Alkohol hatte. Um meine Nerven zu beruhigen, hätte ich durchaus einen Cocktail brauchen können, aber der Vorstellung, eine von Captain No-Names lilafarbenen Kreationen zu probieren, konnte ich nicht wirklich was abgewinnen. Jetzt nickte und zwinkerte er mir zu. Matt lächelte ich zurück. Ich wollte einen Drink, keine K.-o.-Tropfen.

Annie nahm ihm einen seiner Cocktails ab. Während sie ihn zum Mund führte, murmelte sie: „Na, du bist ja ’n echtes Partygirl.“

„Was ist denn da drüben los?“ Ich deutete auf eine Gruppe, die sich auf einer Seite des Lofts versammelt hatte.

„Mal gucken.“ Annie schob sich durch die Menge und begrüßte dabei immer wieder grinsend Leute, die sie kannte. Einmal stoppte sie und küsste einen Typen intensiv. Würg. Als sie sich endlich voneinander lösten, hing ein silbriger Speichelfaden zwischen ihnen.

Der Kerl wandte sich mir zu und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Hallo, ich bin Roger.“

Er streckte mir die Hand hin und lächelte. Danach beugte er sich nach vorn. Offensichtlich wollte er mich auf dieselbe Weise begrüßen wie Annie.

Ich legte ihm rasch die Hand auf die Brust und wehrte ihn mit einem verkrampften Grinsen ab. Geht gar nicht.

Er zuckte die Achseln und schlenderte weiter.

Annie lachte. „Du weißt schon, dass wir hier im Kink Club sind, oder?“

Ich nickte und hob die Schultern. „Ja, aber das bedeutet nicht, dass ich gleich mit jedem hier rummache. Außerdem ist meine Tetanus-Impfung abgelaufen.“

„Du bist so prüde, echt!“ Sie lachte und verdrehte die Augen, endlich hatten wir die Gruppe erreicht. Ein paar Leute standen herum, andere saßen aneinandergekuschelt in gepolsterten Sesseln. Sie jubelten und prosteten sich gegenseitig zu.

Als wir näher kamen, sah ich, dass die Menge sich um einen Billardtisch drängte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte zwischen den anderen hindurch. Auf dem Tisch bewegte sich etwas. Körper. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Hoffentlich beschädigten sie das Billardtuch nicht. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Es konnte doch nicht wahr sein, dass ich ernsthaft besorgt über den Zustand des Bezugs war!

„Oooh, das muss ich sehen.“ Annie quetschte sich zwischen zwei Leuten durch. Ich folgte ihr. Mit meinen Stiefeln war ich größer als sie und hatte gute Sicht, obwohl ich hinter ihr war.

Mir fiel die Kinnlade runter. Da lagen zwei Mädels auf dem Rücken nebeneinander auf dem Billardtisch, ihre Schultern berührten sich. Ein Kerl kniete zwischen ihren Oberschenkeln. Erst küsste er die eine, dann die andere. Immer abwechselnd. Innige Küsse, die vollkommen anders waren als der Kuss, den Annie und dieser Roger ausgetauscht hatten. Dieser Typ ließ sich mit jeder Frau Zeit, hielt ihre Köpfe zärtlich, aber bestimmt fest, während er sie küsste. Sehr selbstbewusst und sexy. Ein Mann, der wusste, was er tat.

Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, doch garantiert war er superattraktiv. Unter seinem T-Shirt zeichneten sich Muskeln ab. Auch seine Oberarme waren stark und mit feinen Härchen bedeckt. Mein Körper reagierte bereits auf diesen Typen.

Plötzlich drängelte sich jemand vor mich, in der Hand ein Eimerchen mit Losen. Annie schnappte sich eins und nötigte mich, dasselbe zu tun. Ohne den Blick von der Szene abzuwenden, griff ich in den Behälter.

Das Mädchen, das momentan darauf wartete, dass sie wieder dran war, ließ eine Hand unter das schwarze Shirt des Typen gleiten und zog es nach oben. So konnte sie seine nackte Schulter streicheln. Ich hatte recht gehabt – auch dieser Rücken war megasexy. Breit und muskulös. Beim Anblick der glatten, gebräunten Haut lief mir regelrecht das Wasser im Mund zusammen. Jetzt glitt sie mit der Zunge über seinen Rücken.

Ich errötete und trat unsicher von einem Bein aufs andere. Ich fühlte mich ertappt, weil es mich erregte, dem Spiel der drei zuzuschauen. Doch ich konnte nicht weggucken und starrte den Mann wie hypnotisiert an. Nur ihn, nicht die Frauen. Wie er küsste – als wäre sein ganzes Sein auf diesen Akt ausgerichtet. Und dieser Übergang vom Rücken zu seinem knackigen Po, der in einer tief sitzenden Jeans steckte – mmmh! Mein Magen zog sich wohlig zusammen. Das war eine ganz neue Erfahrung.

Ein James-Taylor-Song lief, mit hämmerndem Rhythmus. Der Gesang war wie ein verlangendes Flehen, das nicht erhörte wurde, und passte zur Spannung, die in der Luft lag.

Da löste sich der Mann auf dem Billardtisch von seiner glücklichen Partnerin. Er kniete immer noch über ihr, wandte sich nun allerdings um zu dem Mädchen, das seinen Rücken küsste. Er umfasste ihr Gesicht erneut mit beiden Händen, und in diesem Moment konnte ich sein herrliches Gesicht sehen.

Und meine Welt stürzte ein.

Ich holte tief Luft, als ich erkannte, wer der sexy Typ war – es war Logan. Logan Mulvaney, Reece’ kleiner Bruder. Genau der Reece, Peppers Freund. Logan war erst achtzehn und noch auf der Highschool, auch wenn er kurz vor dem Abschluss stand. Und er amüsierte sich hier, im Kink Club.

Das Brennen auf meinen Wangen verstärkte sich. So musste es sich anfühlen, kurz bevor es zu einer spontanen Selbstentzündung kam. Ich stand da wie versteinert, denn mir wurde klar, dass ich scharf auf einen Kerl war, auf den ich besser nicht scharf sein sollte. Er war nicht meine Liga, um es mal so auszudrücken. Egal, ob er mehr Erfahrung hatte als ich. Wahrscheinlich hatte er sexuell schon jetzt mehr erlebt, als ich je erleben würde. Wie man so hörte, hatte er sich nämlich angeblich durch den kompletten weiblichen Erstsemesterbestand in Dartford geschlafen und wandte sich jetzt den älteren Studentinnen zu.

Ich wollte mich gerade umdrehen und fliehen, da schaute er mich direkt an.

Hallo, Peinlichkeit.

Jetzt wusste er also, dass ich ihn angestarrt hatte. Wie sollte ich mich je wieder normal mit ihm unterhalten können in den nächsten Dekaden? Garantiert würden wir uns schon bald wiedertreffen, spätestens auf der Hochzeit von Pepper und Reece. Und danach würde ich den Typen ein paar Mal im Jahr sehen. Zuerst auf den üblichen Hochzeitsfeiern, danach auf den Taufen der Kinder. Geburtstage. Urlaube. Und immer, wenn ich ihn sehen würde, würde ich mich an diesen demütigenden Moment erinnern. Und er würde sich auch erinnern. Verdammt! Wo war noch mal die Taste zum Zurückspulen?

„Oh mein Gott! Es ist Logan!“ Annie hüpfte kurz hoch, sowie sie sein Gesicht einordnen konnte.

Natürlich kannte sie ihn auch. Mir fiel wieder ein, dass sie mal mit ihm rumgeknutscht hatte – Emerson hatte mir davon erzählt. Es ärgerte mich, dass Annie ihn geküsst hatte … und vielleicht noch mehr passiert war.

Obwohl ich mich so sehr schämte, kam es zu keiner spontanen Selbstentzündung. Und auch die Erde tat sich nicht auf, um mich zu verschlucken. Ich war noch da. Meine Füße waren wie festgewachsen, und Logans Blick schien mich zusätzlich festzuhalten. Ohne sich von mir abzuwenden, senkte er den Kopf und küsste die Frau wieder. Er schloss die Augen nicht, sondern schaute die ganze Zeit mich an. Sogar als das Mädchen anfing, ihn durch seine Jeans zu streicheln. Sein brennender Blick durchbohrte mich förmlich.

Die eine küsste er, die andere rieb ihm die Erektion, und mich sah er an.

Ich starrte zurück.

„Wie geil“, brachte Annie neben mir keuchend hervor. „Er schaut dich an, als würde er gerade dich küssen. Oder als wollte er dich küssen.“

Ich schluckte den golfballgroßen Kloß in meinem Hals herunter. „Nein“, presste ich hervor, und hatte keine Ahnung, wieso ich es abstritt. Immerhin blickte er mich ja an. Aber ganz sicher wollte er mich nicht küssen. Das wäre zu … seltsam. Ich war eine Freundin seines Bruders.

Plötzlich fing jemand an zu schreien: „Zehn, neun, acht …“ Die Menge stimmte ein und zählte herunter. „Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins!“

Ein großer, schmächtiger Typ in einem Charlie-Brown-T-Shirt hielt sein Handy hoch, das in diesem Moment zu klingeln begann. „Die Zeit ist um!“

Ich stieß die Luft aus, erleichtert, dass die Sache endlich vorbei war. Dass Logan nicht vor all diesen Leuten einen heißen Dreier schieben würde. Und vor mir. Denn sosehr mich der Gedanke auch entsetzte, eins war mir klar: Ich hätte hingucken müssen. Ich hätte es mir von Anfang bis Ende angesehen.

Was war bloß aus mir geworden?

Die Leute klatschten und jubelten, während Logan geschmeidig vom Billardtisch sprang und sicher auf den Füßen landete. Danach half er seinen beiden Partnerinnen vom Tisch. Eine klammerte sich an ihn. Offensichtlich wollte sie gerne mit dem weitermachen, was sie auf dem Tisch angefangen hatten.

„Nummer 364. 364!“

Logans Blick suchte mich. Und fand mich. Kein Wunder, ich hatte mich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt.

„Also? Wer hat die 364? Bitte checkt eure Lose!“

„Georgia, hast du schon nachgeschaut?“ Annie schnappte nach meinen Fingern. Das Los hatte ich ganz vergessen. Außerdem wusste ich gar nicht, wofür es gut war, doch ich hielt es noch immer in der Hand. „Oh mein Gott! Das bist du!“ Annie riss meine Hand in die Höhe. „Hier! Die 364!“

Der dünne Mann schob mich nach vorn. „Hier haben wir die 364! Unnnnnd …“ Mit großer Geste wühlte er in den Losen im Eimerchen. Er zog ein zweites heraus und wedelte damit herum. „Die Glückszahl ist 349! Wo haben wir die 349?“

Ein Typ trat aus der Menge hervor. Er war massig. Wirklich massig. Wie ein Footballspieler. Und groß. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn ganz anschauen zu können. Er grinste mich an. „Hey, Süße.“

Bevor ich ein Wort sagen konnte, landeten seine Pranken auf meiner Taille, und er hob mich auf den Tisch. Ich zuckte zusammen, denn ich landete nicht gerade sacht. Meine Beine baumelten über den Rand. „Bereit für zwei Minuten auf dem Tisch?“

Ich öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Rasch versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass ich das konnte: mit einem Fremden vor einer Gruppe Fremder herummachen. Das schaffte ich. Ich könnte meine Hemmungen für ein paar Minuten fallen lassen und endlich mal was Wildes wagen.

Der Kerl beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr, während er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. „Du bist hübsch. Wenn du zu schüchtern bist, müssen wir es nicht hier vor allen tun. Sollen wir woanders hingehen? Für mehr als zwei Minuten?“

Und dann konnte ich endlich wieder sprechen. Ein dickes, fettes Nein lag auf meiner Zunge. Gerade wollte ich protestieren, da ergriff schon jemand anderes das Wort.

„Sorry. Sie gehört mir.“ Logan streckte den Arm nach mir aus und umfasste mein Handgelenk, während er mich vom Billardtisch holte. Erleichterung breitete sich in mir aus. Bis mir durch den Kopf schoss, dass ich erwachsen war und keinen Retter brauchte.

Der Footballspieler funkelte Logan finster an. Ich jetzt auch. Ich gehörte weder ihm noch sonst wem.

Der Kerl trat zwischen uns und schnitt mir damit den Fluchtweg ab. Logan hielt immer noch mein Handgelenk fest. „Du hattest schon deinen Spaß.“ Er deutete mit einem Nicken auf den Billardtisch. „Jetzt bin ich dran.“

Logan grinste, als könnte ihn der Typ, der vermutlich Steroide in seine Cornflakes mixte, nicht provozieren. „Tut mir leid, Mann. Doch sie spielt nicht mit.“ Logan schlug dem Typen mit der Hand auf die muskelbepackte Schulter, als wären sie seit Urzeiten befreundet.

Der Footballspieler starrte auf Logans Hand, danach blickte er ihn an. „Aber sie hat ein Los genommen.“ Jetzt klang er wie ein bockiges Kind.

„Tut … Tut mir leid“, stammelte ich. „Ich wusste nicht, was die Lose bedeuten.“

Der Kerl stieß ein Schnauben aus und gab den Weg frei. Er fuchtelte mit einem Finger vor meinem Gesicht rum. „Ich würde mir mal die Spielregeln durchlesen, bevor ich irgendwo mitmache.“

Ich nickte und fühlte mich wie eine Idiotin. Oder wie ein Kind, das ausgeschimpft wurde, weil es die Anweisungen nicht befolgt hatte, die ganz klar auf einem Blatt Papier standen.

Logan zog mich mit sich durch die Menge zu einer Stelle im Loft, an der mehr Platz war. Er ließ meinen Arm nicht los.

Geschickt führte er mich durch die Leute, als wäre es sein Recht, mich zu berühren. Als gäbe die Tatsache, dass sein Bruder mit meiner besten Freundin zusammen war, ihm das Recht, sich in mein Leben einzumischen.

Er veränderte den Griff um meine Hand. Ich versuchte, seine Berührung zu ignorieren. Seine große warme Hand, die meine fest umschloss. Harris hatte es nicht gemocht, Händchen zu halten, aber wenn wir es mal getan hatten, hatte es sich nie so angefühlt wie das hier. Auch, weil Harris keine so großen Hände hatte. Unsere Hände waren gleich groß.

Kurz schüttelte ich den Kopf. Das musste aufhören. Ich konnte nicht jeden Typen mit Harris vergleichen. Das war krank.

„Wo bringst du mich hin?“, wollte ich wissen.

„Raus“, rief er mir über seine Schulter hinweg zu. Seine Stimme war so tief, dass ich sie trotz der dröhnenden Bässe verstehen konnte. Ich protestierte nicht. Stoppte ihn nicht. Viele Blicke folgten uns, während wir den Raum durchquerten, und ich wollte einfach nur weg von diesen glotzenden Leuten. Das redete ich mir zumindest ein. Es hatte rein gar nichts mit dem wunderbaren Gefühl, Logan Mulvaneys Hand zu halten, zu tun. Erneut dachte ich daran, wie er mich angeschaut hat, als er diese anderen Frauen geküsst hatte.

3. KAPITEL

Er machte große Schritte. Ich brauchte immer gleich zwei, um hinterherzukommen. Vor uns, auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, befand sich der Aufzug.

Jemand rief seinen Namen. „Logan?“

Er blieb stehen und wandte sich halb zu dem Mädchen um, das nun auf uns zulief. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Sogar ihr Haar war absolut rabenschwarz. Vermutlich gefärbt. Der einzige Farbtupfer, der an ihr auffiel, war ihr kirschroter Lippenstift. Aus ihren blauen Augen musterte sie erst Logan, dann mich und schließlich wieder ihn. Ich versuchte, ihrem prüfenden Blick standzuhalten. Sie war wunderschön in einer „Ich verschlinge dich mit Haut und Haaren“-Art.

„Schon gut, Rachel“, meinte er zu ihr. „Bin gleich wieder da.“

Sie nickte und drehte sich mit einem sexy Hüftschwung um und verschwand Richtung Billardtisch und der Menschenmasse, die dort immer noch versammelt war.

Logan zog mich weiter in Richtung Fahrstuhl. Ich wollte ihn nach ihr fragen. Eigentlich glaubte ich nicht, dass er eine feste Freundin hatte – wie man nach der Szene am Billardtisch messerscharf folgern konnte. Mehrere Freundinnen, das war schon eher sein Ding. Trotzdem schien zwischen den beiden etwas Besonderes zu sein. Etwas, das mit Besitzansprüchen zusammenhing.

Logan drückte auf den Aufzugknopf und schaute mich an. Sein schiefes Lächeln war mir nicht unbekannt, denn ich sah es fast täglich bei seinem Bruder. Fast hätte ich mich entspannt, doch leider war Logan nun mal nicht Reece. Er war nicht der entwaffnend charmante, verlässliche Typ, der sich Hals über Kopf in meine beste Freundin verliebt hatte. Logan war das krasse Gegenteil. Er war ein Bad Boy, wie er im Buche stand.

Als der Aufzug eintraf, ließ er mich los und bedeutete mir hineinzugehen. Nachdem er die Schiebetür zugezogen hatte, fand ich endlich meine Sprache wieder. Ich lehnte mich an die Wand, holte tief Luft und hoffte, dass ich nicht rot würde. „Seit wann bist du eigentlich zum Höhlenmenschen mutiert?“

„Ach so? Tut mir leid. Ich wusste ja nicht, dass du dich auf dem Billardtisch vor allen Leuten mit dem Großen amüsieren wolltest.“ Er zeigte mit dem Daumen hinter sich. „Wenn du willst, können wir auch wieder zurückgehen. Aber ehrlich gesagt siehst du ein bisschen grün aus im Gesicht. Ich dachte, du musst vielleicht kotzen.“

„Nein, ich muss nicht kotzen. Und du musst mich auch nicht nach draußen begleiten. Ich will dich auf keinen Fall von deinem Spaß abhalten. Deine Freundin schien dich zu vermissen.“ Wie jede andere Frau in diesem Loft.

„Rachel ist nur eine alte Freundin“, erklärte er, ohne meinen schnippischen Ton zu übernehmen. Doch ich konnte nicht aufhören. Ich hörte mich selbst und hasste mich dafür. Ich klang wie eine Oberzicke.

„Irgendwie bezweifle ich, dass du und diese Frau nur ‚alte Freunde‘ seid.“ Das lag bei seinem Ruf ja wohl auf der Hand. Und außerdem hatte ich Logan Mulvaney soeben bei der Vorstellung des Jahrhunderts beobachtet. Wenn das nicht Beweis genug war?!

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, während der Aufzug nach unten ratterte.

Er imitierte meine Pose und sagte: „Ich kenne Rachel schon seit der siebten Klasse.“

„Ach so. Und jetzt geht ihr zusammen in den Kink Club. Wie süß.“ Ich wollte ihn am liebsten fragen, ob er mit den Mädchen vom Billardtisch auch schon länger befreundet war, verkniff es mir aber.

Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Du bist echt lustig, G. Das ist mir noch nie aufgefallen.“

Immerhin war ich ihm aufgefallen. Wie aufregend!

„Ich tippe mal, Anna hat dich mitgebracht“, meinte er.

„Du meinst Annie?“

Er zuckte die Achseln, als spielte es keine Rolle, dass er den Namen eines Mädchens nicht mehr wusste, mit dem er irgendwann mal rumgemacht hatte.

„Ich bin zwar mit ihr hier, aber mit dem eigenen Auto gekommen.“

„Gut, dann kannst du ja selbst nach Hause fahren. Sie bleibt gerne ein bisschen länger.“

Offensichtlich kannte er sich aus. Na klar, als Stammgast im Kink Club.

Der Aufzug hielt an, und Logan öffnete die Tür. „Was ist eigentlich los mit euch? Erst Emerson und dann du hier?“

„Das sagt der Richtige“, erwiderte ich wütend.

„Ich gebe dir jetzt denselben Rat, den ich schon Emerson gegeben habe. Dieses Ding hier ist eine Nummer zu groß für dich. Hoffentlich besitzt du genauso viel gesunden Menschenverstand wie sie und tauchst hier nicht mehr auf.“

Jetzt war ich wirklich sauer. Vielleicht lag es daran, dass ich mich selbst für sehr reif und erwachsen hielt. Ich genoss es, wenn andere zu meiner Mutter sagten, wie gelassen und vernünftig ich war. Bisher war ich immer stolz darauf gewesen – wegen Mom und meinetwegen. Doch Logan behandelte mich gerade wie ein Kind, dabei war ich die Ältere von uns beiden!

Eine Nummer zu groß für mich.

Auf deiner Stirn steht: Heirate mich!

Langweilig.

Wir traten auf die Veranda. Natürlich war hier niemand, denn im Haus gab es alles, um die wilden und verbotenen Dinge zu tun, die man in dem Kink Club eben machte. Dank Logan hatte ich gerade einen authentischen Eindruck erhalten.

Ich rieb mir die Arme, damit mir warm wurde.

Wieso glaubten immer alle, mich so gut zu kennen? Es war ätzend. Logan hatte keine Ahnung, wer ich wirklich war. Wie kam er dazu, sich ein Urteil über mich zu bilden?

Vielleicht musste ich einfach nur noch mal den Club besuchen, um mich an die Gepflogenheiten zu gewöhnen? Und eine „Aktivität“ zu finden, an der ich Spaß hätte. Dadurch, dass Logan mich mehr oder weniger rauswarf, hatte ich dazu ja keine Gelegenheit gekriegt.

„Du kannst mir nicht vorschreiben, wohin ich gehen darf und wohin nicht“, stieß ich hervor und verschwand in der Nacht. Es wäre viel zu peinlich, jetzt noch einmal nach oben zu fahren, nach dieser Szene.

„Hey“, rief er mir hinterher. „Kein Grund, plötzlich mies drauf zu sein. Ich versuche nur, einer Freundin zu helfen!“

Da verharrte ich und wirbelte herum. „Ich wüsste nicht, seit wann wir Freunde sind, Logan. Meine Freundin Pepper und dein Bruder sind ein Paar, das ist alles. Eine andere Verbindung zwischen uns existiert nicht. Keine Ahnung, wieso du dich hier als mein großer Bruder aufspielst. Du bist einfach nur …“ Ich überlegte. „… ein Kind.“

Sofort bereute ich meine Worte.

Weder sah er aus wie ein Kind, noch benahm er sich so. Vor allem gerade jetzt nicht.

Er baute sich breitbeinig vor mir auf, doch er schien nicht wütend oder beleidigt zu sein. Viel schlimmer – er war amüsiert. Er grinste.

Und dieses Lächeln war der Killer. Im Ernst. Kein Wunder, dass Logan den Ruf genoss, dass sich ihm die Frauen massenweise an den Hals warfen. Sein Mund war aber auch sexy. Die klar definierten Lippen, die etwas vollere Unterlippe. Was man alles mit diesen Lippen tun könnte …

Ich blinzelte angesichts meiner blühenden Fantasie.

„Du hältst mich also für ein Kind, ja?“ Seine Stimme ließ mich wohlig erschauern wie bei einem warmen Sommerwind.

Ich nickte.

Da kam er von der Veranda herunter, wie ein Raubtier auf Beutezug. Ich wich zurück.

Er war nur ein Kind. Nur ein … Kind.

Verdammt noch mal. Ich betrachtete den eins achtzig großen, sehr attraktiven Mann vor mir. Wem wollte ich gerade was vormachen? Er war alles, nur kein Kind.

Ich versuchte, ihn von oben herab anzusehen, wie ich es meiner Mutter abgeguckt hatte, wenn sie es mit einem frechen Schüler zu tun hatte. Meine Schwester und ich nannten das den „Direktorinnen-Blick“. Wenn Mom ihn auf uns anwendete, bedeutete das Ärger. Allerdings konnte ich Logan damit überhaupt nicht beeindrucken.

Gut, er war über eins achtzig groß, aber daran lag es nicht. Er hatte einfach etwas an sich. Ein äußerst stark ausgebildetes Selbstvertrauen, sehr ungewöhnlich für einen Achtzehnjährigen. Er stand vor mir, als wüsste er genau, wo sein Platz in der Welt war. Warum zum Teufel konnte er sich da so sicher sein?

„Und wie alt bist du?“, fragte er mich, immer noch lächelnd. Trügerisch. Beinahe gerissen.

„Zwanzig. Und du bist achtzehn. Und immer noch in der Highschool.“ Es klang wie ein Vorwurf.

„Noch ein paar Wochen, ja.“ Er nickte. „In welchem Monat hast du Geburtstag?“

„November.“

„Okaaaay.“ Er dehnte das Wort in die Länge. „Ich werde im August neunzehn. Ich bin übrigens nur deswegen in der Highschool, weil meine Mom mich ein Jahr langer zu Hause behalten hat, damit ich nicht der Kleinste im Kindergarten bin.“ Kaum vorstellbar, dass er irgendwann einmal der Kleinste gewesen sein könnte. „Du bist gerade mal zwanzig oder einundzwanzig Monate älter als ich, Georgia.“ Er schaute mich fragend an, bis ich verstanden hatte, was er damit meinte. Dass es ziemlich bescheuert von mir gewesen war, ihn ein Kind zu nennen.

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich ihm nicht zustimmen wollte. „Vielleicht ist der Kink Club ja nicht das Richtige für dich. Musst du nicht irgendwann daheim sein?“

Es war die reine Widerspenstigkeit, die mich dazu veranlasste, das zu sagen. Da ich ganz gut über seine Familie im Bilde war, wusste ich, dass ihm niemand vorschrieb, wann er zu Hause sein sollte. Seine Mutter war gestorben, als er noch klein war, und sein Dad saß im Rollstuhl und war alles andere als ein Vorzeigevater.

Lauthals fing Logan an zu lachen. Er warf sogar den Kopf zurück, so sehr lachte er. Ich hatte ihn provozieren wollen, und er lachte nur. Was ein faszinierender Anblick war. Das Spiel der Muskeln und Sehnen an seinem Hals. Seine perfekten, weißen Zähne. Wieder zog sich mein Magen zusammen, und mir war jetzt klar, warum Frauen jeglichen Alters für ihn ihr Höschen runterließen. Er strahlte puren Sex und absolutes Selbstvertrauen aus. Ich blinzelte, weil ich plötzlich von mir selbst angewidert war.

Dennoch durchlief mich bei seinem Lachen ein Schauer.

„Ich musste noch nie zu einer bestimmten Uhrzeit zurück sein“, meinte er schließlich.

Noch nie? Ich schüttelte den Kopf und beschloss, dass es nicht meine Aufgabe war, seine Erziehung zu kritisieren. Meine Mom zum Beispiel glaubte fest daran, dass nichts Gutes dabei herauskommen konnte, wenn man sich nach Mitternacht noch draußen herumtrieb. Selbst während der Ferien daheim schrieben mir meine Eltern immer noch vor, wann ich zurück zu sein hatte. Als wäre ich nicht schon im zweiten Semester. Als wäre ich noch nie mitten in der Nacht unterwegs gewesen, um unanständige Dinge zu tun! Okay, war ich auch nicht. Aber es hätte ja sein können.

Der Gedanke an mein wohlbehütetes Heim weckte erst recht den Wunsch in mir, endlich mein eigenes Leben zu führen. Und zum Beispiel heute Abend das zu machen, was ich mir vorgenommen hatte: nicht mehr so langweilig zu sein. Ich war zwanzig und hatte meine letzten vier Jahre wie eine alte Ehefrau verbracht! Studium. Lernen. Einmal in der Woche Sex. Quatsch. Lügnerin. Ich konnte nicht mal mir selbst gegenüber ehrlich sein. In meinem letzten Jahr mit Harris hatten wir vielleicht ein Mal im Monat Sex gehabt.