Gena Showalter

Broken Hearts –
Gefährliche Nähe

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Christiane Meyer

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

Für Emily Ohanjanians, weil dein Feedback für mich von unschätzbarem Wert ist und weil du einfach unglaublich bist. Und für Jill Monroe, Roxanne St. Claire, Lily Everett/Louisa Edwards und Deidre Knight, weil ihr mir zuhört, mich ermutigt und für mich betet!

1. KAPITEL

Strawberry Valley, Oklahoma

Einwohnerzahl 7.413 7.416

Fahren Sie langsam, lernen Sie unsere Stadt kennen.

Fahren Sie zu schnell, lernen Sie unser Gefängnis kennen.

Brook Lynn Dillon war kein Fan von Vormittagen. Oder Nachmittagen. Oder Abenden. Wenn eine Frau ein gewisses Maß an Erschöpfung erreicht hatte, war einfach jede Tageszeit mies.

Genau genommen war dieses Maß bei ihr schon vor ungefähr sieben Jahren überschritten worden. Damals war sie zarte achtzehn Jahre alt gewesen und hatte angefangen, im Rhinestone Cowgirl zu arbeiten. Entgegen der Annahme so ziemlich jedes Touristen, der auf der Durchreise im Ort haltmachte, handelte es sich beim Rhinestone Cowgirl nicht um einen Stripclub, sondern um ein aufstrebendes Schmuckgeschäft.

Ihre Schicht dauerte fünf Stunden und begann schon im Morgengrauen – oder wie ihre Mutter zu sagen pflegte, noch ehe der Hahn kräht. Danach blieben ihr sechzig kurze Minuten, um fällige Rechnungen und Mahnungen zu lesen und zu prüfen, ehe sie ihre zehnstündige Schicht bei Two Farms antreten musste. Two Farms war im Umkreis von achtzig Kilometern „das einzige Speiselokal, in dem es schmeckt“. Diese Beschreibung stammte direkt vom Besitzer des Ladens – auch wenn er der Meinung war, dass man für ein Bœuf Stroganoff Shiitakepilze verwenden konnte statt der traditionellen Champignons.

Der Tag hätte eigentlich ganz gut werden können, wenn ihre Schwester Jessie Kay ihre Schicht bei Two Farms regulär zu Ende gebracht hätte und nicht mittendrin und ohne sich zu verabschieden verschwunden wäre. Brook Lynn war also nichts anderes übrig geblieben, als auch deren Tische zu übernehmen, um ihnen beiden den Job zu retten. Wenigstens hatte ihre Schwester ihr eine Nachricht im Spind hinterlassen:

Bleib heute Abend nicht zu Hause. Geh aus und betrinke dich. Oder tu zumindest so, als würdest du dich betrinken. Deine verklemmte Art ruiniert unseren guten Ruf! XO JK

Brook Lynn hatte sich noch nie so anstrengen müssen und im Gegenzug so wenig dafür zurückbekommen. Ihr Rücken und ihre Füße schmerzten, und sie wünschte sich nichts mehr, als nach Hause zu gehen und in eine Art komatösen Schlaf zu fallen. Dieser Wunsch war sogar stärker als der Wunsch, in der Lotterie zu gewinnen. Und in dieser Woche waren immerhin fünfzehn Millionen im Jackpot!

Doch es kam mal wieder alles anders. Ihre beste Freundin Kenna hatte sie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Jessie Kay den eigenen Rat befolgt und sich hemmungslos betrunken hatte. Anscheinend feierte sie im Glass-Haus und war offenbar der Meinung, dass sämtliche männlichen Gäste sterben würden, wenn sie ihnen keine kleine Mund-zu-Mund-Beatmung verpasste.

Wenn Jessie Kay ein paar „Partygeschenke“ zu viel intus hatte, wurde sie schnell sehr … aufgekratzt und wild. Die reinste Partymaus. Brook Lynn, die gegen ihre Schwester wie Miss Verantwortungsbewusstsein daherkam, war nie ein Partymensch gewesen. Sie machte sich zu viele Gedanken und Sorgen um alles und trug zu viel Verantwortung auf ihren Schultern.

Was sie heute Abend beschäftigte? Die mögliche morgige Titelseite der Strawberry Daily:

Einstige Schönheitskönigin und jetzige Drückebergerin schafft es erneut nicht, ihre „Hurmone“ in den Griff zu bekommen.

Nicht, solange ich ein Wörtchen mitzureden habe!

Brook Lynn stieg aus ihrem Auto, einer alten Klapperkiste, die schon mit einem Reifen in der Schrottverwertung stand und der sie den Namen Rusty gegeben hatte. Im Bruchteil einer Sekunde schienen sich sämtliche Poren an ihrem Körper zu öffnen und die drückend heiße Luft in ihr Innerstes zu saugen. Nicht einmal der süße, berauschende Duft der Walderdbeeren und Magnolien machte es besser. Sie wischte sich die Schweißperlen ab, die ihr plötzlich auf die Stirn traten, und ging die ausgetretenen Stufen zu einer schon etwas in die Jahre gekommenen Veranda hinauf. Sie betrachtete eins der größten Häuser in der Gemeinde. Es war ein einhundert Jahre altes Farmhaus, an dem eigentlich so ziemlich alles renoviert werden musste. Die weiße Farbe blätterte ab und gab den Blick auf die morsche Fassadenverkleidung frei. Einige der Holzlatten hatten sich gelöst. Die Dichtungen an den meisten Fenstern waren porös, sodass sich Feuchtigkeit zwischen den Scheiben sammelte.

Alles in allem war das Haus keine Schönheit, doch auf dem einundzwanzig Hektar großen Areal befand sich noch ein Treibhaus, eine kleine Molkerei, zwei Scheunen, ein Arbeitsschuppen, ein Gemüsegarten und Beete mit Walderdbeeren. Das alles war umgeben von einer per Hand geschichteten Steinmauer.

Harlow Glass hatte das riesige Anwesen ihrer Familie kürzlich verkaufen müssen, und Lincoln West, ein neuer Einwohner des Ortes, hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und zugeschlagen. Er arbeitete offensichtlich lieber mit Computern als mit seinen Händen, denn soweit Brook Lynn es beurteilen konnte, hatte er bisher noch nichts an dem Haus verändert. Was natürlich einleuchtete. Denn er war gerade erst aus Oklahoma City nach Strawberry Valley gezogen, um das Landleben zu genießen. Und es war allgemein bekannt, dass große böse Jungs aus der Stadt den Großteil ihrer Zeit damit verbrachten, durch diverse Betten zu hüpfen, sich die Haare zu machen und Schnappschüsse ihres Essens im Internet zu posten.

Brook Lynn hatte schon mehr als einmal mit dem Kerl zu tun gehabt, und schockierenderweise fing sie allmählich an, seinen trockenen Humor und sein übertrieben aufgeblasenes Ego zu bewundern. Er redete wahnsinnig gern über sich selbst und darüber, wie toll er war, doch ihn rettete, dass man ihm anhören konnte, dass das alles nicht hundertprozentig ernst gemeint war.

Hast du schon jemals einen so perfekten Körper wie meinen gesehen? Nein. Und das wirst du auch nicht, Brook Lynn. Denn der liebe Gott war in absoluter Bestform, als er mich geschaffen hat.

Für einen Typen, der den ganzen Tag vor dem Computer verbrachte, war er tatsächlich ziemlich trainiert. Und weil sie noch nie einen so perfekten Körper wie seinen gesehen hatte, hatte sie keine passende Erwiderung zurückschießen können. Andererseits hatte sie seine beiden Mitbewohner bisher nicht getroffen. Vielleicht waren die ja noch heißer.

Das Problem war, dass Wests Freunde meistens unter sich blieben. Im Ort hatte sie sie jedenfalls nicht gesehen. Selbstverständlich war das für Jessie Kay, die die Angewohnheit hatte, immer am falschen Ort nach der Liebe zu suchen, kein Hinderungsgrund. Sie hatte die beiden anderen neuen Einwohner von Strawberry Valley nicht nur bereits kennengelernt – sie hatte sogar schon mit einem von ihnen geschlafen. Beck … soundso. Gerüchte besagten, dass er ein Frauenheld war und sich in Oklahoma City durch die Betten der weiblichen Bevölkerung über zwanzig und unter vierzig Jahren geschlafen hatte, ehe er hergezogen war, um nach „Frischfleisch“ zu suchen.

Der andere Typ hieß, wenn sie sich recht entsann, Jase. Über ihn war noch weniger bekannt. Soweit sie wusste, hatte er noch nichts mit einer Einwohnerin von Strawberry Valley angefangen, obwohl „Frau“ ihn schon ins Visier genommen und Interesse bekundet hatte. Die älteren Damen flüsterten, er sei ein „absoluter Traummann“, während die jüngeren Frauen hinter vorgehaltener zitternder Hand kicherten.

Eine Kakofonie von Stimmen drang durch die Ritzen um die Eingangstür nach draußen. Brook Lynn wischte den Staub von der obersten Sichtscheibe in der Tür und warf einen Blick ins Innere des Hauses. Oh Mist … Mit so vielen Gästen hatte sie nicht gerechnet. Mindestens dreißig Leute hatten sich im Wohnzimmer versammelt, tranken Bier, unterhielten sich und lachten. Und offenbar hielten sich im Flur und in der Küche noch weitere Gäste auf. Die meisten waren Mitte bis Ende zwanzig, und Jessie Kay war mit ihnen zur Schule gegangen. Die Gerüchteküche über das Verhalten ihrer Schwester an diesem Abend brodelte wahrscheinlich schon. Diese Leute würden sich den Streit, den es mit Sicherheit gleich gab, nicht entgehen lassen.

Und es würde zu einem Streit unter Schwestern kommen – so viel stand fest. Jessie Kay wehrte sich grundsätzlich dagegen, wenn sie ihr zu Hilfe kam.

Brook Lynn hob die Hand und stellte ihre Innenohrimplantate auf stumm. Die Geräte waren schon ein paar Jahre alt, aber immer noch im Versuchsstadium. Sie wurden eingesetzt, um in Fällen von schwerer Hyperakusis zu helfen. Zu diesen Menschen gehörte auch sie. Bei einer Hyperakusis hörte man All-tags- und Hintergrundgeräusche in unerträglicher Lautstärke. Manchmal hatte Brook Lynn das Gefühl, als würde man ihr Säure in die Ohren träufeln. Die implantierten Geräte erlaubten es ihr, die Außengeräusche komplett auszublenden und etwas wie Taubheit zu erleben, wenn sie es wünschte und brauchte. Was durchaus vorkam. Sehr oft sogar.

Ohne sich die Mühe zu machen anzuklopfen, trat sie ein. Durch den dichten Zigarrenqualm sah sie, dass auch im Inneren bisher nichts gemacht worden war. Genau genommen war das Haus innen noch wesentlich renovierungsbedürftiger als außen. Die Tapete war vergilbt und löste sich an den Ecken. Der ehemals weiße Flokati war fleckig und an manchen Stellen schon fadenscheinig. Im völligen Gegensatz dazu sahen die Möbel, die im Raum verteilt worden waren, brandneu und makellos aus.

Brook Lynn konnte Jessie Kay nicht entdecken und ging weiter. Sie drängte sich durch die Gästeschar und las dabei Lippen. Diese Fähigkeit hatte sie sich im Laufe der Jahre angeeignet und mittlerweile vervollkommnet.

„… hätte niemals gedacht, dass er ein solch idiotischer, überheblicher Stadtmensch sein könnte“, sagte die frisch geschiedene Charlene Burns gerade. „Aber nach den Eskapaden von letzter Nacht?“

Idiotischer, überheblicher Stadtmensch? Damit musste sie West oder einen seiner Freunde meinen. Die drei waren seit einer Ewigkeit die einzigen Stadtmenschen, die in dieses Nest gezogen waren.

„Ich weiß“, entgegnete Tawny Ferguson und nickte. „Das ist so wahnsinnig traurig.“

„Können wir ihm das wirklich vorwerfen? Der ständige Smog hat seinen ohnehin schon geschädigten Hirnzellen wahrscheinlich den Rest gegeben. Aber Jessie Kay? Die hat keine Entschuldigung. Zu versuchen, mir meinen Beck abspenstig zu machen, und sich dann Jase an den Hals zu schmeißen, war so eine beschissene Aktion von dieser Schlamp… Oh, hey, Brook Lynn.“

Charlene warf ihr ein falsches Lächeln zu und brachte sogar ein begeistertes Winken zustande.

Brook Lynn hielt nur einen Zeigefinger in die Höhe und sagte: „Eins …“

Beide Mädchen verschwanden, so schnell sie konnten.

Im Laufe der Jahre hatte die Drohung, bis drei zu zählen, ihr schon gute Dienste erwiesen. Es war die letzte Warnung, die jemand erhielt, bevor ihre scharfe Zunge zum Einsatz kam. Diese Zunge war bekannt dafür, Wunden zu schlagen und innere Verletzungen zu hinterlassen, die nur wenige überlebten. Das alles kam daher, dass sie Jessie Kays Exfreund einmal so die Meinung gegeigt hatte, dass dem Hören und Sehen vergangen war. Ein einziges Mal! Doch das hatte gehörigen Eindruck gemacht. In dem Moment war eine Legende geboren worden. Und diese Legende hatte ein Eigenleben entwickelt, ohne dass sie etwas dazugetan hätte. Mittlerweile ließen die meisten Leute sich lieber Nase und Mund zutackern – nachdem sie eine Runde Waterboarding mitgemacht hatten –, statt mit ihr aneinanderzugeraten.

Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter, und sie wirbelte erschrocken herum. „Kenna“, rief sie aus. Sie freute sich, ihre Freundin zu sehen.

Die reizende Rothaarige begrüßte sie mit einer innigen Umarmung – genau das, was Brook Lynn jetzt brauchte.

„Ich habe Jessie Kay irgendwie aus den Augen verloren, aber ich wette, dass West weiß, wo sie steckt. Der Mann hat seine Augen nämlich überall. Komm mit.“

Brook Lynn folgte Kenna und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass sie einfach ihre Sachen packen, zusammen aus dieser Gegend verschwinden und den Rest der Welt hinter sich lassen könnten. Doch Kenna hatte eine sechsjährige Tochter, an die sie denken musste. Ganz zu schweigen von ihrem superheißen Verlobten. Und sie? Na ja, sie hatte Jessie Kay, die sich ohne sie zweifellos selbst zerstören würde.

Okay, die sich ohne sie zweifellos noch schneller selbst zerstören würde.

Kenna führte sie durch das volle Spielzimmer, in dem die Leute um einen massiven, kunstvoll gearbeiteten Billardtisch herumstanden, der in die Karosserie eines alten Wagens eingelassen war. Es spielte jedoch niemand. Was wahrscheinlich an dem Schild lag, das von einem alten Kronleuchter direkt über dem Filz hing:

Wer den Tisch berührt, wird es bitter bereuen.

Eine weitere Tür führte in die geräumige Küche. Obwohl an den Wänden eine noch abscheulichere, noch vergilbtere Tapete hing, waren die Haushaltsgeräte, die auf den Anrichten mit den wundervollen creme- und roséfarbenen Marmorplatten standen, aus Edelstahl und offensichtlich brandneu. Jemand hatte viel Arbeit in die Ausstattung gesteckt. Neidisch sah sie sich um. So in etwa stelle ich mir meine Traumküche vor.

Kenna blieb stehen und deutete in Richtung der Spüle. Dort stand West. Er unterhielt sich gerade mit einem Mann, den sie nicht kannte.

„Den Rest schaffe ich allein“, sagte sie zu ihrer Freundin.

Kenna legte die Hände an ihr Gesicht, um ihre volle Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Bist du dir sicher?“

„Ganz sicher. Geh zu Dane, ehe er auf die Jagd nach dir geht.“ Dane Michaelson, einst der begehrteste Junggeselle des ganzen Ortes, war jetzt der Grund dafür, dass Kenna atmete.

„Zufällig mag ich es, wenn er auf die Jagd nach mir geht“, entgegnete ihre Freundin und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. „Da steht Animal Planet kopf.“

„Du machst mich krank. Das weißt du, oder?“

„Bloß kein Neid. Deine Zeit kommt auch noch.“ Kenna gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging.

Ihre Zeit war nicht mal ansatzweise in Sicht, Brook Lynn hatte null Aussichten auf etwas wie eine Beziehung. Mit diesem deprimierenden Gedanken im Hinterkopf konzentrierte sie sich auf ihr Gegenüber. Wie immer war die äußere Erscheinung von West unglaublich fesselnd – selbst im Profil. Nicht, weil sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hätte. Das war nicht der Grund. Sondern weil er zu diesem umwerfenden Körper, über den er so gern redete, ein Gesicht hatte, das durchaus auf das Cover für eine Liebesschnulze gepasst hätte. Beim Anblick seines ständig etwas zerzausten Haars und seiner eindringlichen, gefühlvoll blickenden Augen war jede alleinstehende Frau des Ortes bereit, sich ihm ohne Bedenken an den Hals zu werfen. Und sehr viele von ihnen hatten es tatsächlich getan. Obwohl er nett, charmant und sehr klug war, hätte er im strahlenden Sonnenschein stehen können, und trotzdem hätte ihn Dunkelheit umgeben.

Sie brauchte nicht noch eine Baustelle in ihrem Leben, und es stand außer Frage, dass dieser Kerl Arbeit erfordern würde.

Laut Kenna, deren Verlobter über Insiderinformationen verfügte, erlaubte West es sich, pro Jahr eine Frau zu daten. Genau für zwei Monate. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn die Zeit abgelaufen war, ließ er das arme Ding aus irgendeinem offensichtlich an den Haaren herbeigezogenen Grund sitzen und wechselte nie wieder auch nur ein Wort mit ihr.

Wie verrückt war das denn?

Der Typ, der bei West stand, war mindestens genauso ein Augenschmaus. Vielleicht war er sogar noch beeindruckender. Männlich, muskulös und dennoch fast … hübsch. Seine Augen hatten einen honiggoldenen Ton, sein Haar konnte sich nicht entscheiden, ob es blond oder braun sein wollte. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Die unterschiedlichen Töne harmonierten perfekt. Selbst seine Wimpern waren am Ansatz eher dunkel und an den Spitzen golden.

Brook Lynn las von den Lippen der beiden, so gut es ging. Es war nicht leicht, weil sie sie nicht direkt anblickten und sie ihr Sprachmuster nicht kannte. Sie schnappte nur Bruchstücke der Unterhaltung auf und reimte sich den Rest zusammen.

„Es ist erst sechs Monate her“, sagte Honiggold.

„Ja, und ich will, dass er auch die kommenden sechs übersteht“, erwiderte West. „Das hier gibt Ärger.“

„Meinetwegen nicht.“

West funkelte seinen Freund wortlos an.

„Was? Was habe ich denn Schlimmes gesagt?“, fragte Honiggold.

„Die Tatsache, dass du das nicht weißt, macht es richtig schlimm.“

West und Dane arbeiteten zusammen an einem Projekt. Da Kenna so gut wie nie von Danes Seite wich und die wenige Zeit, die sie erübrigen konnte, mit ihrer besten Freundin, also ihr, Brook Lynn, verbrachte, bedeutete das, dass sie mehr mit West zu tun gehabt hatte als jeder andere im Ort. Vor ein paar Tagen hatte sie ihn rundheraus gefragt, warum ein Kerl, der das schnelle Leben in der Großstadt offensichtlich so schätzte, ausgerechnet hierhergezogen war – auch wenn Strawberry Valley natürlich der schönste Ort auf Erden war. Charmant hatte er erwidert: „Na, um alle deine Träume wahr werden zu lassen, selbstverständlich. Gern geschehen übrigens.“

Und jetzt musste sie versuchen, von diesem Menschen eine halbwegs vernünftige Antwort zu bekommen. Na toll.

Entschlossen ging sie zu ihm und tippte ihm auf die Schulter.

Er sah sie an und hatte offenbar schon eine passende Bemerkung auf der Zunge. Als er sie erkannte, schaltete er blitzschnell um und grinste sie an.

„Also, wenn das nicht das Mädchen ist, das ich gern an meiner Seite hätte, falls die Zombies uns jemals angreifen sollten“, begrüßte er sie.

Wenn sie angreifen“, korrigierte sie ihn. Es war nur eine Frage der Zeit. Und ja, sie war eine von denen. Eine Gläubige. „Wo ist Jessie Kay?“

Die Männer wechselten einen Blick, ehe Honiggold ihre Hand ergriff und einen Kuss auf ihre Fingerknöchel hauchte.

„Hallo, meine Schöne. Ich bin Beck, und wenn du mir dreißig Minuten deiner Zeit schenkst, werde ich dafür sorgen, dass du nicht nur deine Freundin, sondern auch deinen eigenen Namen vergisst.“

Aha. Der berühmtberüchtigte Beck. Die Nummer zwei der drei Junggesellen. „Jessie Kay ist meine große Schwester, also vergesse ich sie ganz bestimmt nicht. Aber wenn du tatsächlich so viel draufhast und es schaffst, dass ich mich nicht mehr an meinen eigenen Namen erinnere, werde ich dich heiraten. Na? Noch an einer Affäre interessiert?“

Etwas wie Panik blitzte in seinen Augen auf, auch wenn er sich im nächsten Moment wieder im Griff hatte.

„Für immer mit einer Schönheit wie dir zusammen zu sein?“, entgegnete er lässig. „Du machst mir den Mund wässrig, Liebling.“

Darauf fallen Frauen herein? Echt? Sie wandte sich West zu, bevor sie der Versuchung nachgeben konnte, Beck eine Lektion zu erteilen, die er so schnell nicht vergessen würde. „Wo ist sie?“

West stieß die Luft aus. „Bist du dir sicher, dass du das wissen willst?“

Sie ließ den Kopf ein Stück sinken und sah ihn aus leicht zusammengekniffenen Augen an. „Diese Unterhaltung steht ganz kurz davor, mir auf die Nerven zu gehen.“

Beck lachte leise. „Sie steht ganz kurz davor?“

„Das sagt man in dieser Gegend so. Gewöhn dich dran.“ West runzelte die Stirn und sagte an sie gewandt: „Dir ist aber schon klar, dass ich sämtliche Regeln unter Kumpeln breche, wenn ich dir das jetzt verrate, oder?“

„Es ist besser, wenn du die Regeln brichst, als wenn ich dir die Beine breche.“

„Na gut.“ Mit einem Mal wirkte er unverständlicherweise wütend. „Sie ist in Jases Zimmer.“

Sie war bei Jase? Dem Dritten im Bunde? Jessie Kay konzentrierte sich jetzt auf ihn und nicht mehr auf Beck? Das hieß, dass Charlene Burns keinen Mist erzählt hatte. Großartig! „Wo ist dieses Zimmer?“

„Dritte Tür rechts.“ West deutete in die entsprechende Richtung.

Beck fiel ihm in den Arm. „Hey, Mann. Was, wenn sie noch immer beschäftigt sind?“

Beschäftigt? Etwa in dem Sinne, der ihr gerade durch den Kopf schoss?

Wests Miene wirkte angespannt, doch er zuckte mit den Schultern.

„Dann wird sie vermutlich vorübergehend blind, aber das gibt sich ja wieder.“

„Mann“, sagte Beck. „Es gibt auch so etwas wie Privatsphäre.“

Brook Lynn ließ die beiden allein, damit sie weiterdiskutieren konnten, verließ die Küche und ging den Flur entlang. Die Pärchen, die sich hierher zurückgezogen hatten, standen an die Wand gelehnt und knutschten. Niemand nahm Notiz von ihr. Sie kam zu besagter Tür und wollte eigentlich anklopfen, um sich bemerkbar zu machen – doch dann zögerte sie. Falls Jessie Kay tatsächlich so betrunken war, wie sie glaubte, fiel der Typ vielleicht in diesem Moment gegen den Willen ihrer Schwester über sie her. Und wenn sie ihn warnte, würde er sofort aufhören und sämtliche Beweise seines Fehlverhaltens verschwinden lassen. Sie musste ihn in flagranti erwischen.

Andererseits … Wenn sie jetzt ins Zimmer platzte und zwei erwachsene Menschen bei ihrer einvernehmlichen „Beschäftigung“ störte, würde sie wahrscheinlich wirklich vorübergehend blind werden.

Was war wichtiger? Ihre Schwester oder ihre Augen?

Also gut. Die Entscheidung war gefallen.

Brook Lynn drehte den Türknauf. Oder sie hätte ihn gedreht, wenn nicht abgeschlossen gewesen wäre. Verdammt! Ausgesperrt.

Tja, Pech für Mr „Hand in der Keksdose“. Ein Schloss stellte kein Problem für sie dar. Ihr verbrecherischer Onkel hatte ihr beigebracht, wie man ein Stiftschloss knackte und wie man jemanden beim Billard über den Tisch zog. Oder wie man beim Poker betrog. Er hatte ihr jedes Mal das Taschengeld gestrichen, wenn sie bei einer ihrer „Trainingseinheiten“ versagt hatte.

Sie ging zurück, wobei sie die Küche mied, und fand ein Arbeitszimmer, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten“ hing. Oh, bitte. Nachdem sie sich aus der obersten Schublade des Schreibtisches zwei Büroklammern besorgt hatte, steckte sie die zurechtgebogenen Drahtstücke ins Schloss, drehte … ja! … und hatte im nächsten Moment Zugang zu Jases Zimmer.

Das Licht war an. Ein Mann stand am Fußende des Bettes und zog sich gerade ein schwarzes T-Shirt über. Wow … Wow! Sie erhaschte einen Blick auf oliv getönte Haut und auf ein beeindruckendes Sixpack, das so hart und unzerstörbar wirkte wie Diamant. Ein Muster aus Tattoos, die sie gern näher betrachtet hätte, zierte den Großteil seines Oberkörpers. Leider verschwand das alles im nächsten Moment unter einer Schicht Stoff, die diesen sexy Augenschmaus verdeckte.

Eins war sehr schnell klar: Gegen ihn konnte West mit seinem ach so perfekten Körper einpacken. Jetzt war ein neuer Adonis im Ort.

Adonis hielt inne, als er sie bemerkte, und sah sie an. Dieser Blick aus den grünsten Augen, die sie je gesehen hatte, war unglaublich fesselnd und jagte ihr kleine Schauer über den Rücken. Warum? Es war kein Schlafzimmerblick – dazu war der Ausdruck zu kühl, sogar frostig, fast schon arktisch … Doch es war auch eine Einladung, eine Aufforderung, zu tun, was immer nötig war, um diesen Mann für sich zu erwärmen und in Stimmung zu bringen.

Sie sah, wie er diese wunderschönen, sinnlichen Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff.

Peinlich berührt, weil er sie beim Starren erwischt hatte, räusperte Brook Lynn sich. „Bist du Jase?“

Er nickte knapp. „Das bin ich.“

Nur drei kurze Worte, dennoch hatte sie Schwierigkeiten, die Bewegung seiner Lippen zu verfolgen. Er hatte den Mund missmutig verzogen, und sie stellte sich vor, dass sein Tonfall unecht und scharf war.

„Wer bist du?“

Er musterte sie von oben bis unten, während er sich mit gespreizten Fingern durchs Haar strich. Es war dunkel und zerzaust und stand ihm vom Kopf ab.

„Wie bist du hier reingekommen?“

Gib deine Taten niemals zu. Onkel Kurts Stimme hallte in ihrem Kopf wider.

Befolge niemals die Ratschläge deines Onkels, meine Kleine. Das war ihr geliebter Vater, der ihr das vor seinem Tod geraten hatte.

Vergiss niemals, dass Lügen Gift sind. Die Worte ihrer geschätzten Mutter.

Alle drei waren bereits tot. Die Erinnerung versetzte ihr einen Stich.

„Du hast vielleicht vergessen, die Tür abzuschließen?“, schlug sie vor. Es war keine Lüge, aber es war auch kein Geständnis.

„Vielleicht auch nicht.“ Wieder presste er die Lippen aufeinander.

Sie zuckte die Achseln. „Oder ein defektes Türschloss? Wer weiß das schon so genau …“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Bist du hergekommen, weil du gehofft hast, einen Klaps auf den Po zu bekommen?“

Ihr Herz fing an zu rasen, pulsierte in ihrer Brust, als wäre soeben genug Adrenalin ausgeschüttet worden, um ein totes Pferd wiederzubeleben. „Nein. Aber du kannst es gern versuchen, wenn du möchtest, dass man dir die Eier chirurgisch wieder aus dem Hals entfernen muss.“ Begrüßte man sich neuerdings mit der Androhung körperlicher Gewalt? Und warum hatte ihr das niemand gesagt?

„Was willst du?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Wollte er sie einschüchtern? Sie betrachtete ihn noch genauer – und war von der Anziehung, die von ihm ausging, gefesselt. Sein Gesicht war nicht klassisch schön, doch das musste es auch gar nicht sein. Seine Züge waren scharf geschnitten und absolut männlich. Seine Nase stand leicht schief, auf seinem kantigen Kinn schimmerte ein Bartschatten, sein Hals war tätowiert. Zwei Halsketten hingen bis auf seine Brust hinab – eine mit einem ovalen Anhänger, die andere mit einem Kreuz. Er hatte breite Schultern, trug Lederarmbänder an beiden Handgelenken und an mehreren Fingern Silberringe.

Seine Jeans stand noch offen, und die Springerstiefel, die er anhatte, waren nicht zugeschnürt. Offensichtlich hatte er sich in aller Eile angezogen. Und in diesem Moment redete er vielleicht mit ihr, doch weil ihre Hörgeräte auf stumm geschaltet waren, bekam sie es nicht mit. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf seinen Mund. Wieder einmal hatte er die Lippen aufeinandergepresst.

„Es tut mir leid“, platzte sie heraus. „Wie war noch mal die Frage?“

Er runzelte die Stirn. „Wer bist du?“

„Brook Lynn Dillon. Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester, und man hat mir gesagt, dass …“ Eine Bewegung im Bett ließ sie stutzen. „Sie soll hier bei dir sein“, brachte sie den Satz zu Ende. Ob Jase etwas erwiderte, wusste sie nicht, und es war ihr auch egal. Sie trat ans Bett.

Die Person unter der Decke streckte sich und setzte sich auf. Helle schulterlange Haare fielen um ein schlaftrunkenes Gesicht, das Brook Lynn nur zu vertraut war. Erleichterung mischte sich mit einer Verärgerung, die sie nicht verstand, als ihre Schwester sie anblinzelte.

Ihre Lippen waren feucht und rot, als Jessie Kay nun die Decke vor ihren nackten Oberkörper hielt.

„Brook Lynn? Was machst du denn hier?“

Sie war nicht betrunken, wie Brook Lynn befürchtet hatte, doch sie war augenscheinlich erschöpft – von einer Überdosis Spaß. Die Verärgerung nahm zu und brodelte in ihr. „Was denkst du denn, was ich hier mache?“, fragte sie.

„Na ja, das Erste, was mir so durch den Kopf geht, ist: Du nervst mich bis zum Anschlag.“

Eine typische Antwort für Jessie Kay. „Komm … Zieh dich einfach an“, sagte Brook Lynn. „Lass uns gehen.“

„Keine Chance. Du gehst.“ Ihre Schwester lehnte sich zurück. „Mir gefällt es hier.“

„So ein Pech. Es ist schon spät, und wir müssen morgen arbeiten.“

„Genau genommen musst du arbeiten. Ich melde mich krank.“

„Nein, du halst mir nicht zwei Tage hintereinander eine Doppelschicht auf“, erwiderte Brook Lynn. „In dem Fall werde ich Mr Calbert die Wahrheit sagen. Du weißt, dass ich das tun würde.“

Jessie Kay zuckte unbeeindruckt mit den Schultern.

Und wir sollen verwandt sein? „Ich verliere allmählich die Geduld mit dir.“ Brook Lynn hatte drei Ziele im Leben: Geld sparen, das Rhinestone Cowgirl kaufen und aus ihrer Schwester einen überlebensfähigen Menschen machen.

Ich liebe dieses Mädchen, aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.

Jessie Kay liebte sie auch, und sie machte ihr das Leben bestimmt nicht mit Absicht zur Hölle. Es war einfach ein bedauerlicher Kollateralschaden.

„Beruhige dich, Frau Wärterin“, sagte ihre Schwester. „Kein Grund, vor Wut gleich an die Decke zu gehen.“

Frau Wärterin. Ein Spitzname, den Jessie Kay ihr im Alter von fünfzehn Jahren verpasst hatte. Brook Lynn biss die Zähne zusammen und sagte: „Zieh dich an. Das ist mein Ernst.“

In den Augen ihrer Schwester, die von einem etwas dunkleren Blau waren als ihre eigenen, blitzte Ungeduld auf.

„Ich habe es dir schon gesagt. Ich gehe nirgendwo hin.“

Jessie Kay sprach weiter, doch sie wandte sich dabei ab, und Brook Lynn konnte ihre Lippenbewegungen nicht mehr erkennen.

„Ich habe auf stumm geschaltet“, unterbrach sie sie. „Ich muss dich sehen.“

Sofort drehte Jessie Kay den Kopf wieder zu ihr um, aber ihr Blick blieb an Jase hängen, und sie wich zurück. Bevor Brook Lynn etwas sagen konnte, stieß ihre Schwester hervor: „Okay. Na schön. Ich ziehe mich an. Mann!“

Brook Lynn riskierte einen Blick auf Jase. Er stand noch immer am Fußende des Bettes und hatte nach wie vor die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt. Sein kühler Blick war auf sie gerichtet und nicht auf die Frau, mit der er gerade geschlafen hatte. Brook Lynn schluckte.

„Wir wären gern ein bisschen ungestört“, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht zu atemlos klang.

Er schüttelte knapp den Kopf. „Tut mir leid, Süße, aber das hier ist mein Zimmer.“

Süße? Oder hatte sie seine Lippenbewegungen vielleicht falsch gelesen? „Tja, wir würden es gern für ein paar Minuten … ausleihen.“

„Ich bezweifle, dass ihr die Miete dafür bezahlen könnt.“

Das käme auf die Währung an. Schauer? Kribbeln? Damit konnte sie gerade dienen. Er verströmte so viel Testosteron, wie sie es noch nie erlebt hatte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass er der Typ Mann war, den jedes Mädchen an seiner Seite haben sollte, wenn die Zombie-Apokalypse kam.

Nach einem The-Walking-Dead-Marathon im Fernsehen hatten Kenna und sie sich sogar Überlebensstrategien zurechtgelegt – Plan A, B und C. Plan B sah vor, sich an den ersten starken (und gut aussehenden) Mann zu hängen, der ihnen über den Weg lief. Plan A, der ihr persönlich als der beste erschien, beinhaltete, den Zombies in den Arsch zu treten, während sie sich von anderen Überlebenden Vorräte zusammenklauten – Mädchen mussten tun, was zu tun war. Plan C war schlicht, die ganze Welt einfach abzufackeln.

„Könntest du wenigstens so tun, als wärst du ein Gentleman, und dich umdrehen?“, fragte sie.

„Würde ich ja, wenn ich wüsste, wie.“

Ein Schauer durchzuckte sie, und ihre Knie wurden beinahe weich. Sie sollte diese sture Bad-Boy-Art nicht sexy finden. Nein, absolut nicht. Irgendwie gelang es ihr, den Blick von ihm abzuwenden. Er hatte gerade mit ihrer Schwester geschlafen – also war er im Moment und auch in Zukunft tabu.

Jessie Kay sah sich in dem geräumigen Zimmer um. „Hat irgendjemand meine Shorts gesehen?“

Abgeschnittene Shorts und ein Tanktop lagen zusammengeknüllt zu Brook Lynns Füßen. Sie hob beides auf und warf ihrer Schwester die Sachen zu. „Und? Willst du dich nicht entschuldigen, weil du bei der Arbeit fünf Stunden früher Schluss gemacht hast?“

„Äh, warum sollte ich mich dafür entschuldigen?“ Jessie Kay zog das Oberteil über und zupfte es zurecht. „Es tut mir nicht leid. Und im Übrigen hatte ich so gut wie keine Kunden.“

„An deinen Tischen haben sich die Gäste im Stundentakt abgewechselt. Deshalb musste ich ohne Pause hin und her hetzen, um deine und meine Gäste zu bedienen. Das war nicht zu schaffen! Ich habe natürlich Fehler gemacht und Trinkgelder verloren.“ Wenn man nicht viel hatte, zählte jeder Penny.

„Ich mache das wieder gut. Versprochen“, entgegnete Jessie Kay und schlüpfte unter der Decke in ihre Shorts. „Mach dir keine Sorgen.“

Erneut versetzte Wut Brook Lynn einen Stich. „Wie denn? Hast du heimlich geerbt?“, fragte sie. „Oder muss ich wieder an mein Erspartes gehen, um deinen Mietanteil und deine Lebensmittel zu bezahlen?“

„Hey! Ich habe den genauen Überblick über jeden Cent, den ich dir schulde. Ich werde dir alles zurückzahlen.“

Dann ist es womöglich zu spät, wollte Brook Lynn schreien. Für ihr zukünftiges Glück war ihr ein Ultimatum gestellt worden: Edna, die Besitzerin vom Rhinestone Cowgirl, gab ihr bis zum Ende des Jahres Zeit, um das Geld aufzubringen, mit dem sie den Laden kaufen konnte.

Schmuckkreationen waren vielleicht nicht gerade ihre große Leidenschaft, doch dieses kleine Schmuckgeschäft zu besitzen, war in ihren Augen für sie der einzig machbare Weg zum Erfolg. Und sie wollte unbedingt erfolgreich sein. Sie hatte sogar schon begonnen, Pläne zu machen. Sie würde jemanden engagieren, der ihr eine Website einrichtete, damit sie den Schmuck in ganz Oklahoma verkaufen konnte und nicht nur an die Einwohner von Strawberry Valley oder an die Touristen, die den Ort in der Sommersaison überschwemmten. Sie würde endlich nicht mehr von einem Tag zum nächsten leben, sondern an die Zukunft denken können.

Jessie Kay stand auf und tätschelte ihr den Kopf. „Ich sage es ja nur ungern, Schwesterchen, aber dein Schmuckladen ist ungefähr genauso überflüssig wie eine Kuh, die Wasser gibt.“

Überflüssig?

Überflüssig!

„Ich will nur nicht, dass du dich unglücklich machst“, fuhr Jessie Kay fort und goss damit noch mehr Öl ins Feuer.

Brodelnde Wut kochte über, und Brook Lynn explodierte. Unglücklich? Unglücklich! Wie, glaubte ihre Schwester, ging es ihr denn jetzt?

„Tja, und vielleicht möchte ich nicht, dass du wie Onkel Kurt endest“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Jessie Kay keuchte. „Mann. Das war nicht nett.“

Das stimmte.

Vor Jahren war eine der massiven Maschinen in der örtlichen Molkerei in die Luft geflogen und hatte dabei die Hälfte der Belegschaft in den Tod gerissen. Viele Einwohner von Strawberry Valley hatten dort gearbeitet. Auch ihr Vater. Er war noch an der Unglücksstelle gestorben.

Ihre Mutter hatte danach ihr Bestes getan, um sie beide großzuziehen. Doch gelegentlich war sie so überfordert gewesen, dass sie ihren Bruder, einen verlogenen Hochstapler, um Hilfe mit den Mädchen gebeten hatte. Und als sie später ertrank – Gott sei ihrer wundervollen Seele gnädig –, war Onkel Kurt, ihr einziger Verwandter, ganz nach Strawberry Valley gezogen. Brook Lynn war damals fünfzehn und Jessie Kay siebzehn gewesen. Obwohl sie in der Lage gewesen waren, sich um sich selbst zu kümmern, hatten sie einen gesetzlichen Vormund gebraucht. Kurt war nur so lange geblieben, bis er sich das Geld aus der Lebensversicherung unter den Nagel gerissen hatte.

Jessie Kay stieß sie unsanft an und riss sie damit aus ihrer Grübelei.

„Ich bin ganz anders als der Drecksack. Nimm das sofort zurück.“

„Niemals!“ Brook Lynn schubste sie ebenfalls. Nur bei Jessie Kay wusste sie sich manchmal nicht anders zu helfen als mit körperlicher Gewalt.

Ihre Schwester schlug ihr auf die Schulter.

Brook Lynn schlug zurück. „Ich bin ganz kurz davor zu zählen, Jessie Kay.“

„Eins“, sagte Jessie Kay spöttisch. Sie kannte sie einfach zu gut.

„Zwei, drei.“ Brook Lynn beschloss, dass eine verbale Auseinandersetzung zwecklos war. Mit einem Schrei stürzte sie sich auf ihre Schwester. Sie fielen beide auf die Matratze, federten ab und landeten auf dem Boden, wo sie umherrollten und miteinander rangen. Als sie gegen das Nachttischchen krachten, geriet die Lampe darauf ins Wanken, knallte auf den Fußboden und zerbrach. Sie bemerkten den Schaden gar nicht. Verbissen kämpften sie weiter. Brook Lynn setzte sich schließlich durch, hockte sich auf ihre Schwester und drückte mit den Knien deren Schultern zu Boden. Sie packte Jessie Kays Handgelenke und zwang sie, sich selbst ins Gesicht zu schlagen.

„Warum schlägst du dich selbst, Jessie Kay? Hä? Hä? Warum?“

Ihre Schwester wand sich und versuchte, den Schlägen auszuweichen.

Plötzlich spürte Brook Lynn warmen Atem in ihrem Nacken. Im nächsten Moment wurden starke Arme um sie geschlungen. Ein männlicher Duft stieg ihr in die Nase. Jase.

„Lass mich los“, rief sie. „Lass mich sofort los.“

Er verstärkte seinen Griff nur noch. Kurzerhand warf er sie sich über die Schulter und verließ mit ihr das Zimmer.

2. KAPITEL

Jason – Jase – Hollister trug die kleine Furie in den Garten hinaus. Bei jedem Schritt wehrte sie sich und fauchte wie eine Wildkatze. Doch er ließ nicht locker und hielt sie, als wäre sie seine wohlverdiente Kriegsbeute. Die Partygäste beobachteten grinsend die Show und amüsierten sich köstlich. Ein paar der Leute folgten ihm. Offensichtlich wollten sie sich das Ende dieser Auseinandersetzung nicht entgehen lassen.

Es gefiel ihm nicht, dass sie mitkamen. Genau genommen gefiel es ihm schon nicht, dass sie überhaupt hier waren. Im Grunde hatte er nur seine beiden Freunde gern um sich und hielt sich von allen anderen Menschen lieber fern. Sogar an guten Tagen reagierte er nicht immer vernünftig – und dies war kein guter Tag. Er hatte lange keinen guten Tag mehr gehabt.

Hinter ihm schrie die scharfe Tussi, mit der er gerade geschlafen hatte: „Lass sofort meine Schwester runter, du zu groß geratener Neandertaler!“

Wenn er den Sex mit Jessie Kay nicht schon bereut hätte, bevor die kleine Wildkatze – die offensichtlich als Brook Lynn bekannt war – ins Zimmer gestürmt war, hätte er es spätestens jetzt getan. Als er vor ein paar Wochen nach Strawberry Valley gezogen war, hatte er beschlossen, seine sexuellen Ausschweifungen zu beenden. Beck hatte sie als „fünfmonatige erotische Odyssee“ bezeichnet. Und er hatte so recht. Es war eine fleischliche Odyssee gewesen. Direkt in die Hölle. Er hatte sich davon Befriedigung, Genuss und vielleicht ein bisschen Spaß versprochen. Es war ihm jedoch schwergefallen, sich in Gegenwart der Frauen zu entspannen, und so waren statt Befriedigung, Genuss und Spaß am Ende nur schlechter Sex, Schuldgefühle und unschöne Erinnerungen übrig geblieben.

Der heutige Abend passte dazu, denn der war nur noch eine Erfahrung, die er bereute und die er auf die stetig anwachsende Liste setzen konnte. Er hatte sich nicht konzentrieren können, war ständig in Alarmbereitschaft gewesen, für den Fall, dass ihn jemand hinterrücks angreifen sollte.

Diese Angewohnheit, die er seit neun Jahren hatte, ließ sich nicht so einfach ablegen.

Eigentlich hatte der Umzug hierher ein Neustart sein sollen – an einem Ort, der für all das stand, was er nie gehabt, sich aber immer gewünscht hatte. Wurzeln, Beständigkeit. Frieden. Viel Platz und die Unterstützung einer Gemeinschaft. Er hatte ganz von vorn beginnen wollen, mit einer weißen Weste, die er sauber halten und nicht dadurch hatte verunstalten wollen, dass er bei erster Gelegenheit ein Riesendrama zwischen zwei Schwestern verursachte, indem er sie gegeneinander ausspielte.

Zu spät.

Eigentlich hatte er sich vorgenommen, an seinem neuen Wohnort nicht gleich mit einer Frau ins Bett zu hüpfen und mit einem unbedachten One-Night-Stand womöglich alles zu ruinieren. Doch er hatte ein paar Bier zu viel getrunken, und Jessie Kay hatte sich auf seinen Schoß gesetzt und ihn gefragt, ob sie ihn mal richtig in der Stadt willkommen heißen solle. Der Rest war Geschichte.

Zumindest war er noch so weit bei Verstand gewesen, um klarzustellen, dass es eine einmalige Sache und keine aufblühende Beziehung werden würde. Er hatte sich seine Freiheit hart erkämpfen müssen – und würde alles tun, um sie zu behalten.

Frauen blieben sowieso nie lange. Seine Mutter war nicht lange bei ihm geblieben. Unzählige Pflegemütter waren nicht geblieben. Verdammt, selbst die Liebe seines Lebens hatte ihn verlassen. Daphne war gegangen, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Das Licht der Verandalampen warf einen goldenen Schimmer auf den Swimmingpool und beleuchtete das Pärchen, das beschlossen hatte, nackt zu baden. Die beiden hörten – wie jeder andere im Umkreis von fünfzehn Kilometern – den Aufruhr und verzogen sich in eine schummrige Ecke.

„Pass auf, Süße“, sagte er zu Brook Lynn. „Diese Lektion willst du nicht noch mal erleben. Wenn du in meinem Zimmer einen Tobsuchtsanfall bekommst, wirst du nass.“ Damit warf er die kleine Wildkatze am tiefen Ende des Pools ins Wasser und hoffte, sie so ein bisschen abzukühlen und sie zu beruhigen.

Jessie Kay schlug ihm auf die Arme und schrie: „Du Idiot! Ihre Implantate sind nicht wasserdicht. Sie muss sie vorm Baden mit einem speziellen Schutz abdichten.“

Ach, bitte. „Implantate hält man besser feucht.“ Er sollte es wissen. Er hatte es schließlich schon mit genügend Implantaten zu tun gehabt.

„Das sind keine Brustimplantate, du Idiot! Die Implantate sind in ihren Ohren!“

Verflucht. Ich habe auf stumm geschaltet, hatte sie gesagt. Mit einem Mal ergaben diese Worte einen Sinn. „Das hätte man mir ruhig eher sagen können“, murrte er.

Brook Lynn kam prustend an die Wasseroberfläche. Sie schwamm an den Rand und kletterte mit der Hilfe ihrer Schwester aus dem Wasser. Schnell zupfte sie ihre Haare über die Ohren, dann funkelte sie ihn wütend an. Sie erinnerte ihn an einen Racheengel.

Er hatte gehofft, die spontane Abkühlung würde ihre Ausstrahlung schmälern. Diese Hoffnung war vergebens gewesen.

Wassertropfen perlten die makellose Haut in der Farbe von flüssigem Honig hinab. Die schlichte weiße Bluse und die schwarze Hose klebten an ihrem Körper und zeigten, wie atemberaubend ihre Figur war. Ihre Beine schienen endlos zu sein, die Brüste waren eine gute Handvoll … und die Nippel waren aufgerichtet.

Diese Merkmale allein wären für den Seelenfrieden jedes Mannes schon eine Gefahr, doch wenn man diesen wundervollen Körper zusammen mit dem engelsgleichen Gesicht betrachtete – die riesigen babyblauen Augen und der herzförmige Mund, die eigentlich niemand haben dürfte, der kein Abgesandter des Himmels war –, war das mehr, als „Mann“ aushalten konnte.

Verdammt, ich habe mir die falsche Schwester ausgesucht.

Tja, vorbei war vorbei. Ein weiterer dunkler Fleck in seinem Gewissen. Eine weitere Erinnerung, die einen Schatten auf seiner Seele hinterlassen würde.

„Es tut mir leid wegen deiner Hörgeräte oder was auch immer das für Dinger sind“, sagte er, „aber Zickenkriege sind in meinem Zimmer nicht erlaubt. Ihr solltet eure Streitigkeiten fürs nächste Schlammcatchen aufsparen.“

Sie sah ihm auf die Lippen und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Offensichtlich hatte sie ihn verstanden.

Ohne den Blick von ihm zu wenden, sagte sie: „Jessie Kay, steig in den Wagen. Wenn ich wieder zu zählen anfangen muss, wirst du es bereuen.“

Zum ersten Mal an diesem Abend hörte ihre Schwester auf ihre Aufforderung und lief so schnell los, als würde der Boden unter ihren Füßen in Flammen stehen.

West und Beck kamen einen Augenblick später hinzu und nahmen die Szene erst mal in sich auf: Eine umwerfende Frau, die klatschnass war und wahrscheinlich fror, stand wie versteinert und mit geballten Fäusten vor ihm, der den Blick nicht von ihr abwenden konnte.

„Was zum Teufel ist hier los?“, wollte Beck wissen und strich sich mit gespreizten Fingern durchs Haar.

„Das ist eine Sache zwischen ihm und mir“, entgegnete Brook Lynn und zeigte auf ihn. „Ihr könnt zurück ins Haus gehen.“

„Du blutest. Du hast dich an der Hand verletzt.“ West runzelte die Stirn und wollte ihre Hand ergreifen.

„Um mich müsst ihr euch keine Sorgen machen.“ Sie machte einen Schritt nach hinten und wäre beinahe wieder in den Pool gestürzt, wenn er sie nicht am Arm festgehalten hätte.

Überrascht stellte Jase fest, dass sie trotz ihrer weiblichen Kurven sehr zierlich war. Und noch mehr überraschte ihn die Zartheit ihrer warmen Haut. Ihr war anscheinend nicht kalt, und je länger er sie festhielt, desto mehr kam es ihm vor, als würde an der Stelle, an der er sie berührte, Energie fließen. Irgendwie schien etwas wie Elektrizität durch die Schutzmauern zu dringen, die er im Laufe der Jahre um sich errichtet hatte, um seine Gefühle dahinter zu verschließen. Das Verlangen, sie überall zu berühren, sie in seinen Armen zu halten, wurde fast übermächtig.

Er wollte sich auf sie stürzen.

Was zum Teufel war los?

Er ließ sie abrupt los und wich zurück. Diesen inneren Schutzwall hatte er nicht aus Spaß an der Freude aufgebaut. Der war für ihn überlebenswichtig. Nachdem er von seinen Eltern verlassen und von einigen Pflegeeltern misshandelt worden war, hatte er gelernt, dass seine Gefühle eine Schwäche darstellten, die man gegen ihn verwenden konnte. Etwas für einen Menschen oder eine Sache zu empfinden bedeutete, dass er Wert darauf legte – ob nun im guten oder schlechten Sinne.

Nichts empfinden. Nichts wollen. Nichts brauchen. Meistens hatte sich dieses Motto bezahlt gemacht. In manchen Momenten war der innere Schutz verschwunden, und düsterste Emotionen hatten ihn verschlungen – und dazu getrieben, Dinge zu tun, die er nicht hätte tun dürfen. Es hatte immer Ärger bedeutet.

Brook Lynn blickte auf ihr Handgelenk, als hätte sie etwas gespürt, das sie nicht erklären konnte. Dann sah sie ihn an und verengte wieder die Augen zu schmalen Schlitzen.

Zu Beck und West, die trotz ihrer Bitte, zu gehen, stehen geblieben waren, sagte Jase: „Bringt die Leute ins Haus. Ich kümmere mich um sie.“

Die beiden sahen zwischen ihm und dem Mädchen hin und her, und er ahnte, dass sie eigentlich widersprechen wollten. Die Anspannung war ihnen anzusehen. Andererseits wirkten sie immer angespannt. Sie liebten ihn, doch wenn sie ihn ansahen, war ihr Blick wegen ihrer gemeinsamen Vergangenheit, die einen Schatten auf die Gegenwart warf, und wegen ihres Trips durch die Hölle getrübt. Schuldgefühle und Scham brodelten bei ihnen ständig unter der Oberfläche.

Sie gaben sich die Schuld für die schrecklichen Jahre, die er in seinem Leben hatte überstehen müssen. Es war eine Zeit gewesen, die er lieber nicht erlebt hätte. Diese Zeit war auch der Grund dafür, dass West eine ganze Weile gegen eine schlimme Drogensucht hatte ankämpfen müssen. Und sie war der Grund dafür, dass Beck sich bis jetzt weigerte, sich länger als eine Stunde am Stück auf einen Menschen einzulassen – wenn die Frau gut war, konnten es auch mal zwei Stunden werden. Ob sie es nun zugaben oder nicht, sie wollten genauso leiden, wie er hatte leiden müssen. So, wie er manchmal immer noch litt.

„Bringt die Leute ins Haus“, wiederholte er. Gerüchte verbreiteten sich hier in rasender Geschwindigkeit, und er hatte keine Lust, Gesprächsthema des Tages zu werden. Er schützte seine Privatsphäre so, wie andere ihren wertvollsten Besitz schützten. Vielleicht lag es daran, dass er mehr zu verbergen hatte als die meisten anderen.

In der heutigen digitalisierten Welt gab es keine Geheimnisse. Die Einwohner von Strawberry Valley würden also noch früh genug die Details über seine Vergangenheit erfahren. Er hoffte nur, dass sie ihn dann nicht mit Mistgabeln und brennenden Fackeln aus dem Ort jagten.

„Sofort“, fügte er hinzu.

Dieses Mal kamen seine Freunde seiner Bitte nach. Sobald die anderen den Garten verlassen hatten, kehrten sie jedoch zurück.

West bot Brook Lynn ein Handtuch an, aber sie bekam nichts mit. Ihr Blick ging in die Ferne, wo auf dem riesigen Anwesen hohe Eichen und blühende Magnolien standen. Die Walderdbeeren, die zwischen den Bäumen gediehen, liebte Jase am meisten. Er mochte die leuchtend roten Früchte, die an den zierlichen Pflanzen hingen, die im Frühjahr strahlend weiße Blüten mit einem sonnengelben Mittelpunkt hatten. Die Landschaft war schöner, als er es jemals für möglich gehalten hätte.

„Brook Lynn“, sagte er, doch sie schenkte ihm noch immer keine Beachtung. Waren ihre Hörgeräte kaputt?

Er bekam ein schlechtes Gewissen.

West tippte ihr auf die Schulter, und Brook Lynn schrie erschrocken auf. Als sie das Handtuch bemerkte, das er ihr entgegenstreckte, nahm sie es an und bedankte sich leise.

„Ihr geht auch ins Haus, wie sie es gesagt hat.“ Jase wies mit dem Daumen hinter sich.

West drehte Brook Lynn den Rücken zu und flüsterte: „Sag mir, dass du nicht das denkst, was ich glaube, Jase.“