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Ralf Isau

Die geheime Bibliothek
des Thaddäus Tillmann Trutz

Die Legenden von Phantásien

Roman

hockebooks

13. Kapitel:
Die Meisterbibliothekare

Die Chroniken von Phantásien berichten Widersprüchliches über Elsters Schicksal. Einige nicht sehr zuverlässige Quellen behaupten, er sei von einem seiner Männer, einem Breschenschläger, platt gewalzt worden, als es zwischen ihnen zum Streit kam. Andere Zeugen wollen erfahren haben, dass er von einem großen Wolf gerupft wurde und sich nicht mehr erholte. Die offizielle Version, die sich in den Legenden von Phantásien am weitesten verbreitete, ist jedoch folgende:

Nachdem Elster sich den Nox hatte stehlen lassen, war er für die vereinigten Diebeszünfte von Kleptonia als Anführer untragbar geworden. In Gestalt einer Ratte ertappte ein Wechselbalg namens Camouflagius den großen Elster bei einem schäbigen Raub. Der ehemalige König der Diebe wurde rechtskräftig verurteilt und der Stadt verwiesen. Zum Hohn gab man ihm eine lächerliche Waffe mit auf den Weg, ein Kinderschwert, wie es schien, mit einem Griff aus Holz; irgendjemand hatte es in seinem Palast gefunden. Eine Zeit lang irrte er heimatlos kreuz und quer durch Phantásien. Er versuchte, sich mit ein paar Räubereien über Wasser zu halten, scheiterte aber jämmerlich, weil ihm das Schwert den Gehorsam verweigerte und sich partout nicht aus der Scheide ziehen ließ. Bei einer Wüstendurchquerung wurde es Elster zur kräftezehrenden Last, und er warf es einfach fort.

Schließlich erreichte er die Alte Kaiser Stadt. Elsters Schicksal wird von den phantásischen Historikern gerne als Beweis dafür angeführt, dass jeder, der sich zum Kaiser über die Innere Welt berufen fühlt, sich irgendwann zum Idioten macht. Wie dem auch sei, Elster wurde wieder sesshaft und machte mit einem verrückten Waldschrat, der übrigens Skrzat hieß, eine gut gehende Haarspalterei auf. Obwohl ihre Tätigkeit völlig sinnlos war, erlangten die beiden damit noch einmal großen Ruhm. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

*

Der große Wolf schnappte schneller zu, als der unechte Kollek-Tibe reagieren konnte. Unversehens fand sich der Wechselbalg, der eben noch von den Ereignissen in Elsters Haus berichtet hatte, im Magen seines Auftraggebers wieder. Gmork pflegte seine Helfer üblicherweise nicht zu verschlucken – vertrauenswürdige Halunken waren schwer zu finden –, aber in diesem besonderen Fall machte er eine Ausnahme. Er wollte den Reitern auf dem vorüberfliegenden Glücksdrachen zeigen, was sie von einem herzlosen Wesen wie ihm zu erwarten hatten.

*

»Ach du liebes bisschen! Er hat ihn einfach verschluckt. Habt ihr das gesehen?«, stieß Karl hervor. Er saß wieder hinter Qutopía und Herrn Trutz. Die Fuchur umkreiste in einem weiten Bogen die Phantásische Bibliothek. Im Abendrot saß auf einem Hügel aus bräunlichem Gras – nun allein – der ochsengroße Wolf.

Der Meisterbibliothekar nickte mit versteinerter Miene. »Das muss Gmork sein. Hat wohl gehofft, wir würden von hier oben nicht bemerken, was er tut.«

»Was sagt der Kompass?«, rief Qutopía von vorn.

Karl schob den linken Ärmel des Mantels hoch. »Wie festgebacken.«

»Dann ist der gefiederte Spion vermutlich schon verdaut.«

»Manchmal kann Pflichterfüllung tödlich sein.« Karl blickte dem Wolf nach, der ohne allzu große Eile den Hügel hinabtrottete. »Wartet mal! Ich habe eine Idee.« Rasch löste er den yskálnarischen Kompass vom Handgelenk und visierte Gmork durch das Justierloch an. Danach kontrollierte er den Stängel, der aus einem andrusischen Vergissmeinnicht stammte. Die grüne Kompassnadel richtete sich zitternd auf den Werwolf aus. »Ich habe ihn markiert.«

»Sie haben was?«, fragte Herr Trutz.

»Gmork. Der Kompass ist auf ihn ausgerichtet. Jetzt können wir ihn finden, egal wohin er geht. Am besten, wir nehmen gleich die Verfolgung auf.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Sie sind ja gar nicht wiederzuerkennen, junger Freund. Trotzdem sollten wir nichts überstürzen, sondern uns erst einmal gründlich beraten. Sie haben mir da auf dem Flug ein paar Dinge erzählt, die ich noch nicht zusammenbekomme. Lasst uns landen, Kinder. Möglichst dicht bei der Bibliothek, wenn ich bitten darf. Ich spüre mein altes Hinterteil nämlich nicht mehr.«

Das Drachenmädchen landete die Fuchur sicher und sanft auf der Wiese vor dem Bücherturm. Es wehte ein eisiger Wind. Die Borkentrolle versahen noch immer treu ihren Wachdienst, aber die meisten ihrer Blätter waren abgefallen. Schon aus der Luft hatte Karl die besorgniserregenden Veränderungen in der vormals so grünen Landschaft gesehen. Es war kein normaler Herbst, der den Lebenssaft in der Natur immer zäher werden ließ, sondern die rätselhafte Krankheit. Nicht mehr lang, und alles würde unter einem Eispanzer erstarren.

»Wie geht es dir, Knarz, du alter Wurzelgnom?«, begrüßte Herr Trutz den Wächter, der vor dem Haupteingang des Bücherturms Posten stand.

»Ach«, antwortete der mit tiefer, trauriger Stimme und knarrte lang – für Borkentrolle war das gleichbedeutend mit einem tiefen Seufzer. »Ich fühle mich saft- und kraftlos. Meine Jahre sind gezählt, fürchte ich.«

»Jetzt male nicht Donner- und Blitzschlag an den Himmel. Eine alte Borkenhaut wie du steckt diese kleine Kälte doch mit Leichtigkeit weg.«

»Schön wär’s. Ich bin nicht der einzige unter uns Wächtern, der über Astreißen klagt. Aber lass uns über etwas anderes reden, sonst werde ich noch schwermütig. Hier haben sich alle große Sorgen um dich gemacht, ehrenwerter Thaddäus. Je kleiner eure Mitarbeiter, desto ungeduldiger sind sie. Hast du auf deiner Reise etwas erreicht?«

Herr Trutz wiegte den Kopf hin und her. »Ich denke schon. Der ehrenwerte Karl, das Drachenmädchen Qutopía und ich müssen uns noch beraten. Albega wird uns unterstützen. Lass die Zweige nicht hängen, alter Freund. Der nächste Frühling kommt bestimmt.«

Karl bewunderte den Meisterbibliothekar für seine Fähigkeit, andere aufzumuntern. Die drei Gefährten verabschiedeten sich von den Borkentrollen und betraten den äußeren Arkadenweg der Phantásischen Bibliothek. Herr Trutz war zu entkräftet, um den weiten Weg in sein Arbeitszimmer auf eigenen Beinen zu bewältigen, deshalb setzte er sich schon nach wenigen Höhenmetern, die er anscheinend nur mithilfe seines Gehstocks zu bewältigen vermochte, auf eine steinerne Bank und rief zwei vorbeiflatternde Buchfalter zu sich. Den einen schickte er zu Alphabetagamma und den zweiten zum Schlag der Briefgreife.

Die von der Reise müden Gefährten gönnten sich einige Minuten der Erholung. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Karl bewunderte den feuerroten Abendhimmel. So wie es in Noktunia immer dunkel war, wurde die Region um die Phantásische Bibliothek mehr als jede andere von der Sonne verwöhnt. Der kleine Zeiger seiner Taschenuhr stand genau auf der Acht. Bald würde sein siebter Tag in Phantásien anbrechen.

»Herr Trutz?«

»Ja?«

»Könnten wir die kurze Verschnaufpause nicht dazu benutzen, die Generalvollmacht zu einem rechtsgültigen Dokument zu machen?«

»Was wollen Sie?«

Karl zog den zerknitterten Bogen aus der Brusttasche seines Mantels. Das Papier sah aus, als hätte es schon sieben Jahre dort gesteckt. Er faltete es auf und reichte es dem Meisterbibliothekar.

»Die Vollmacht! Richtig!«, sagte Herr Trutz leise, als erinnerte er sich erst jetzt. »Sie haben sich das Antiquariat wirklich verdient, mein lieber Koreander. Haben Sie einen Stift? Möglichst dokumentenecht, wenn es geht.«

Karl blickte den Bibliothekar aus großen Augen an. »Nein. Ich dachte, Sie …«

»Ich?« Herr Trutz lachte. »Du liebe Güte, ich habe die Taschen am liebsten immer leer. Nein, damit kann ich Ihnen leider nicht dienen.«

»Und du, Qutopía?«, fragte Karl das Drachenmädchen.

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn nicht einmal an. Irgendwie wirkte sie abwesend. Oder böse?

Karl seufzte. »Dann müssen wir eben warten, bis wir in Ihrem Arbeitszimmer sind.« Er faltete die Vollmacht wieder zusammen und steckte sie diesmal in die linke Innentasche seines Jacketts.

Kurze Zeit später landete ein riesiger Briefgreif auf der Plattform. Herr Trutz begrüßte ihn wie einen alten Bekannten.

»Huschhusch, meine alte Adlerlöwin. Ich dachte schon, wir würden uns nie mehr wiedersehen.«

Auch Karl war von der Bank aufgesprungen und zu dem Greif geeilt. Sprachlos betastete er die Narbe an Huschhuschs Brust, wo die Pfeilviper sie getroffen hatte. Der Greif schien ihn sofort wiederzuerkennen und begann laut zu schnurren.

»Bringe uns auf dem schnellsten Weg in mein Arbeitszimmer, altes Mädchen«, sagte Herr Trutz.

Wenig später landeten sie auf einer anderen Terrasse in schwindelnder Höhe. Karl konnte sich noch gut erinnern, wie er sich vor fast einer Woche hier oben gefühlt hatte. Jetzt wunderte sogar er sich über die Verwandlung, die er in dieser Zeit durchgemacht hatte. Über eine Wendeltreppe gelangten sie in das Arbeitszimmer des Meisterbibliothekars. Während den Fuß des Bücherturms schon Schatten umschlichen, schien hier oben immer noch die Sonne. Der Glanz in dem großen Sprossenfenster kam Karl angenehm vertraut vor.

Auf dem Schreibtisch wartete ein Männchen, das man leicht für einen großen Bleistift hätte halten können. Dieser Eindruck verflüchtigte sich aber, als Albega die Ärmchen hochriss und auf seinen winzigen Beinen wie ein grün lackierter Blitz über die Arbeitsplatte flitzte. »Meister, du bist wieder da! Wunderbar! Wunderbar!«

Herr Trutz lief mit kurzen, aber schnellen Schritten auf den Tisch zu. Kein einziges Mal benutzte er dabei seinen Stock. »Was hattest du denn gedacht, alter Griffel und Weggenosse?«

»Hat der Grünschnabel dich gefunden?« Albegas winziger Daumen deutete auf Karl.

»Ich bitte doch um etwas mehr Respekt. Karl Konrad Koreander ist mein designierter Nachfolger. Die Kindliche Kaiserin hat ihn bestätigt.«

»Hab ich mir gleich gedacht.«

»Und das da ist Qutopía, die Tochter Querolats.«

Albega warf die kleinen Arme hoch. »Etwa der Querolat? Der legendäre Weltreisende?«

»Sie kennen meinen Vater?«, fragte Qutopía sichtlich geschmeichelt.

»Ich wäre ein miserabler Bücherdrill, wenn ich noch nie etwas von dem Mann gehört hätte, der von jedem Land Phantásiens eine Karte besitzen soll.«

»Und weil du so belesen bist, brauchen wir deinen Rat, Griffelchen«, erklärte Herr Trutz. An die anderen beiden Gefährten gewandt fuhr er fort. »Bitte setzt euch doch. Holt euch den Sessel von da heran. Ich muss für eine Sekunde meine Bücher begrüßen.«

Karl und Qutopía wechselten einen Blick, sagten aber nichts. Inzwischen kannten sie ja die Marotten des Alten. Das Drachenmädchen ließ Albega auf ihre Hand klettern und setzte sich einfach auf den Schreibtisch. Karl humpelte zur seitlichen Regalwand, wo der Ohrenbackensessel stand. Zunächst befreite er sich von einer Last, die ihm seit Stunden nicht nur die Manteltaschen ausgebeult, sondern ihn auch auf eine andere, schwerer zu beschreibende Weise niedergedrückt hatte. Er legte den inzwischen wieder behandschuhten, aber nach wie vor eisigen Nox sowie das Duplikat auf ein Regalbrett und atmete auf. Die Tasche, in der er die schwarze Hand aufbewahrt hatte, war kalt wie eine Kühlkammer. Erleichtert schob er den hochlehnigen Sessel zum Schreibtisch.

Herr Trutz war derweil zur großen Bücherwand geschritten, die dem Fenster genau gegenüberstand. Er breitete davor die Arme aus und schwärmte: »Seid mir willkommen, meine Lieblinge. Ah, und wie ihr klingt! Hören Sie es auch, mein lieber Koreander?«

Karl musste schmunzeln. »Nein, aber ich rieche ihren Duft. Er ist sehr angenehm.«

»Ach ja, das hatte ich fast vergessen. Prächtig, nicht wahr?«

»Hier lässt es sich bestimmt angenehm arbeiten.«

Herr Trutz drehte sich um. »Das will ich wohl meinen. Ein bisschen werde ich das hier alles schon vermissen.«

»Wollen Sie immer noch …?«

»Zu Hallúzina? Aber natürlich will ich das. So habe ich es beschlossen und versprochen.«

»Selbst wenn Sie dadurch zum Narren werden?«

Herr Trutz kehrte langsam zum Schreibtisch zurück und lächelte wie ein gütiger Großvater. »Mein lieber Karl – ich darf Sie doch so nennen, oder?«

»J-ja«, stotterte der. Trotz oder gerade wegen all der gemeinsam und auch füreinander durchgestandenen Abenteuer überraschte ihn diese Frage.

»Sehen Sie, Karl, jeder muss für sich lernen, die Folgen seiner Entscheidungen zu tragen, egal ob sie nun gut oder schlecht sind. Je eher er sich über seine Schwächen und Fehler klar wird, desto leichter wird es ihm fallen, mit ihnen zurechtzukommen. Mein Entschluss ist es, gemeinsam mit Hallúzina auf dem Weg des Lebens in den Sonnenuntergang zu wandern. Und mir ist es ganz egal, wie andere das Wort Glück buchstabieren, ob sie mich einen alten Narren heißen oder über mich den Kopf schütteln. Es gibt immer den breiten, ausgetretenen, bequemen Weg, den alle gehen, obwohl er nur im Kreise führt. Wer diesen Weg wählt, wird fast nie anecken. Man kann es aber auch ganz anders machen.«

Herr Trutz zwinkerte Karl zu, dem es in diesem Moment wie Schuppen von den Augen fiel. Der Alte hatte ihn gerade an sein Lebensprinzip erinnert, das wie eine geheime Botschaft ganz unten auf dem Vermächtnis in der Dokumentenmappe verborgen gewesen war, die er seinem Nachfolger im Buchladen zurückgelassen hatte.

»Leider unterlaufen einem dabei manchmal dumme Schnitzer«, seufzte Karl.

Herr Trutz ließ sich schwer in seinen Schreibtischstuhl sinken, stützte die Rechte auf den Gehstock und nickte. »Das gehört dazu. Aber Sie haben Ihre Aufgabe, wie ich finde, prächtig gemeistert – was ich offen gestanden auch nicht anders erwartet hatte.«

»Ich muss Ihnen etwas beichten, Herr Trutz. Die schwarze Perle, die ich hier in der Bibliothek gefunden habe …«

Der Alte nickte. »Die Gewogenen Worte. Was ist damit?«

»Sie sind weg.«

»Das ist kaum möglich. Oder waren Sie zwischenzeitlich in der Äußeren Welt und haben sie dort bei einem Pfandleiher versetzt?«

»Mir ist nicht zum Scherzen zumute, Herr Trutz.«

»Sagen Sie bitte Thaddäus zu mir, Karl.«

»Hören Sie mir überhaupt zu?« Karl hatte in seiner aufwallenden Verzweiflung die Stimme gehoben, ließ nun jedoch den Kopf hängen. Qutopía beugte sich mit besorgter Miene vor und legte ihm eine Hand auf den Arm.

Herr Trutz überhörte den scharfen Ton. Seine Stimme klang jetzt ungewöhnlich weich. »Ja, mein lieber junger Freund. Ich höre, aber Sie haben noch nicht begonnen zu reden. Ehe Sie in alte Gewohnheiten zurückfallen und sich vorschnell die Schuld für etwas geben, dessen Zeuge Sie vielleicht nur waren, erzählen Sie doch einfach, was geschehen ist. Am besten, Sie fangen ganz von vorn an, damit Albega auch versteht, worum es geht.«

Und das tat Karl dann auch. Er berichtete für den Meisterbibliothekar und den aufmerksam lauschenden Bücherdrill noch einmal ausführlich von der Nacht im Schwarzen Elfenbeinturm, gestand schließlich auch, wie die schwarze Perle durch seine Unvorsichtigkeit ausgebleicht worden war, und präsentierte zum Beweis seine schneeweiße linke Handfläche. Nachdem er abschließend seine »eigene Dummheit« gebührend herausgestrichen hatte, schüttelte er den Kopf und meinte: »Ich bin wohl doch nicht so gut als Meisterbibliothekar geeignet, wenn ich die Bücher der Phantásischen verschwinden lasse.«

Herr Trutz blickte mit versteinerter Miene geradeaus. Qutopía, die mit Albega auf der Schulter vor ihm saß, schien für ihn nur Luft zu sein. »Bitte zeigen Sie mir die Perle«, sagte er unvermittelt.

Karl holte das Taschentuch hervor und faltete es auf der Tischplatte neben Qutopía auseinander. »Sie können Sie ruhig in die Hand nehmen. Inzwischen ist sie nur noch eine stinknormale Perle.«

»Also, dafür ist sie zu groß«, widersprach das Drachenmädchen.

Karl zuckte die Schultern.

Herr Trutz hielt die Perle zwischen Daumen und Zeigefinger dicht vor seine Augen. »Ich spüre nichts mehr von der magischen Anziehungskraft, die sie früher besessen hat. Könnte ich kurz das Magieskop haben?«

Karl wurde rot. »Oh! Das habe ich in Wolkenburg wohl einfach eingesteckt und …«

»Schon gut. Sie können es behalten. Ich will nur rasch hindurchschauen und mich vergewissern …« Herr Trutz verstummte jäh, weil sein Nachfolger einen Ausruf der Verzweiflung und gleich danach einen des Schmerzes ausstieß.

»Auch das noch! Aaaah, ist das heiß!« Karl ließ das Monokel auf eine schwarze Dokumentenmappe fallen, die neben Qutopías Oberschenkel auf dem Schreibtisch lag. Erst als das Brennen in seinen Fingern nachließ, bemerkte er, dass es ebenjener Aktendeckel war, den er vor seiner Abreise mit dem Briefgreif hier liegen gelassen hatte.

Herr Trutz beugte sich interessiert über das Monokel. Alles daran, auch das Glas, war schneeweiß. »Was haben Sie noch in der Manteltasche transportiert?«

Selbige wurde von Karl gerade hektisch untersucht. Sie sah von innen so aus, als hätte er darin Weizenmehl transportiert. Seufzend blickte er auf. »Den Nox. Eine Zeit lang ohne den Einhornhaarhandschuh. Vermutlich hat er deshalb Ihr Monokel ausgebleicht. Ich bin ein Riesenhornochse. Erst die Perle und jetzt das. Wie konnte mir das nur passieren?«

»Vermutlich durch Unordnung«, schlug Albega vor. »Du solltest dir ein System anlegen, nach dem du deine Manteltaschen befüllst.«

Karl warf dem vorlauten Bücherdrill einen wütenden Blick zu.

»Wir sollten unser Gehirnschmalz nicht auf kleine Brötchen schmieren«, ging Herr Trutz dazwischen.

Drei Augenpaare sahen ihn verständnislos an.

Mit einem Lächeln heischte der Bibliothekar um Nachsicht. »Ist nur so eine Redensart. Ich wollte damit ausdrücken, dass Karls unkonventionelle Art, seine Taschen als universelle Kleingepäck- und Utensilienbehälter zu benutzen, uns bei der Aufklärung der hiesigen Auflösungserscheinungen einen wichtigen Hinweis liefern könnte.«

»Könnten Sie das noch einmal für Drachenflieger erklären, Meisterchen? Ganz langsam, wenn’s geht«, bat Qutopía.

Herr Trutz zog unter einem Dokumentenstapel einen Federhalter hervor und stieß damit das Monokel von dem Aktendeckel. Wie ein schneeweißer Scherenschnitt hob sich sein Umriss da, wo es eben noch gelegen hatte, von der schwarzen Pappe ab. »Stecken Sie es wieder ein, Karl, bevor es uns den Schreibtisch ruiniert. Sie werden’s vielleicht auch noch brauchen.«

Karl benutzte seinen zu langen Mantelärmel, um das heiße Monokel anzufassen. Im Nu war es wieder dort verschwunden, wo er es in den letzten Tagen mit sich herumgetragen hatte. »Es tut mir so leid …«

»Pscht!«, machte Herr Trutz. Dass sein Magieskop unbrauchbar geworden war, schien ihn nicht im Geringsten aufzuregen. Vielmehr versank er abermals in tiefes Nachdenken und starrte dabei auf Qutopías Bauch und doch irgendwie durch sie hindurch …

Nach geraumer Zeit hob er langsam den Kopf, bis seine Augen die des Bücherdrills gefunden hatten. »Denkst du auch, was ich denke, Griffelchen?«

Das Männchen nickte.

»Dann nichts wie los! Lasst uns nachschauen!«

Karl verstand zwar nicht, was in die beiden gefahren war, die wie von der Tarantel gestochen auffuhren und – Albega nun auf der Schulter des Bibliothekars – auf den nächsten Durchgang zusteuerten. Karl und Qutopía sahen sich einmal mehr verständnislos an und nahmen die Verfolgung auf.

»Die ›Abteilung für verschüttete Werke‹«, rief Herr Trutz auf dem nicht eben kurzen Weg einmal über die Schulter. Sie hatten inzwischen ein anderes Stockwerk erreicht und zahlreiche verwirrende Haken geschlagen. Wenig später gelangten sie in einen Raum, der von Gewürzdüften erfüllt war – jedenfalls stellte es sich für Karl so dar. Herr Trutz lief zielstrebig auf ein Regal zu und entnahm ihm ein dünnes, petersiliengrün schimmerndes Büchlein, drehte sich mit strahlender Miene zu den jungen Gefährten um und zeigte ihnen den Titel.

Sie mussten nicht einmal lesen. Das erledigte für sie Albega: »Die Gewogenen Worte von Romeo Oratore. Fünfzehn Klinggedichte im Versmaß eines fünffüßigen Jambus. Ein gewichtiges Werk. Sehr zu empfehlen!«

Karl war sprachlos. Nicht nur die wundersame Wiedererweckung des Buches erstaunte ihn, sondern auch sein intensives Aroma. Es duftete nach Kräutern, die er bisher für geruchlos gehalten hatte: Koriander.

Qutopía nahm das Werk nur mit den Augen wahr und dementsprechend klang auch ihre Würdigung. »So ein kleines Buch hat Wolkenburg fast in den Untergang getrieben? Ist ja unglaublich!«

»Die Größe eines Werkes bemisst sich nicht an der Menge des Papiers, auf dem es gedruckt ist«, näselte der Bücherdrill.

Endlich fand Karl seine Stimme wieder. »Aber wie konnte es hierher in die Phantásische Bibliothek zurückkehren?«

Herr Trutz schmunzelte. »Durch Ihren – wie haben Sie es doch gleich genannt? – ›dummen Schnitzer‹. Im Nachhinein betrachtet war es wohl eher ein Geniestreich.«

»Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht.«

»Alle Bücher in der Phantásischen Bibliothek bestehen aus Licht, nicht wahr?«

»Ich habe auch schon versucht, ihm das begreiflich zu machen«, mischte sich Albega ein.

»Bitte halte für einen Moment deinen Mund, Griffelchen.«

Alphabetagamma verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und schwieg.

Karl nickte. »Das mit dem Licht ist mir geläufig.«

»Gut. Sie hatten im Schwarzen Elfenbeinturm das Taschentuch mit der darin befindlichen Perle benutzt, um den Nox in den Handschuh zu stecken, richtig?«

Karl nickte.

»Der Nox saugt alles Dunkle auf. So wurde die Perle weiß. Korrekt?«

»Ja. Nicht nur sie.« Karl hielt noch einmal seine weiße Handfläche hoch. »Aber das Buch … Die Gewogenen Worte bestehen, wie Sie ja selbst eben sagten, aus Licht, und der Nox interessiert sich nicht für …« Mit einem Mal blieb Karls Mund offen stehen.

Herr Trutz nickte dem immer noch eingeschnappten Albega lächelnd zu. »Kluger Junge! Jetzt hat er’s auch kapiert.«

»Ungeheuerlich!«, stieß Karl hervor. »Als ich in Xayídes Thronsaal mit ihrem Spiegelbild gesprochen habe, hat es mir beiläufig verraten, was des Rätsels Lösung ist. Edíyax sagte: ›Die schwarze Hand kann das Licht nicht nehmen. Dazu wäre schon eher der Lux geeignet.‹ Das ist es!«

»Vermutlich erzählst du uns jetzt gleich wieder etwas von der Phantásischen Dualität«, bemerkte Qutopía mit einer säuerlichen Miene.

»Du hast es also auch erkannt«, gab Karl ihr recht und hielt einmal mehr seine weiße Handfläche hoch. »Ich hatte damit auf Elsters Humpen einen ausgebleichten Abdruck hinterlassen. Umgekehrt muss der Lux in der Äußeren Welt auch weiße Perlen schwarz machen können. Und mit dem Licht wird ihnen auch die Wärme entzogen. Deshalb war die Perle, die ich ursprünglich unter den Augen Albegas fand, eiskalt. Sie hat übrigens ein kleines Loch. Gmork dürfte die Perlen wohl an einer Schnur befestigt und über den Lux gezogen haben. Direkt kann er den Lichtstein ja nicht länger berühren, als die Zeit zwischen zwei Atemzügen beträgt, weil er sonst sterben müsste …«

»Was wiederum bedeutet, dass er die weiße Hand in der Äußeren Welt entdeckt haben muss, obwohl der Fünfgesichtige Gogam sie vor ihm versteckt hatte«, fügte Herr Trutz mit ernster Miene hinzu.

Karl nickte. »Weil Gmork ihm ein äußerst nützlicher Diener ist. Wer sonst kann schon frei zwischen der Äußeren und der Inneren Welt hin- und herwechseln? Die Unaussprechlichen wollen Phantásien zerstören. Ich würde zu gern verstehen, was sie daran so sehr stört, dass sie es im Nichts versinken lassen wollen.«

»Sehen Sie sich unsere Bibliothek genau an, Karl, dann werden Sie es begreifen.«

Karls Blick schweifte zu den Büchern. Mit einem Mal nickte er. »Alles hier ist Licht gewordene Schöpferkraft. Damit werden Veränderungen hervorgebracht.«

»Und Irrtümer aufgedeckt.«

»Aber Lüge, Hass, Wut, Streit und Gier denken nicht daran, andere vorwärtszubringen. Die Unaussprechlichen leben in ihrer eigenen Innenwelt.«

»Einem Refugium, in dem das Nichts regiert, die Stille des Todes. Alles was ihre Ruhe dort stört, wollen sie vernichten.«

Qutopía rieb sich die Oberarme. »Jetzt hört aber auf mit diesen Schauergeschichten. Macht lieber einen Vorschlag, wie wir Gmork das Handwerk legen können.«

»Er will mich«, sagte Karl unvermittelt.

Alle sahen ihn verständnislos an. »In aller Bescheidenheit gefragt: Warum gerade Sie und nicht mich?«, gab Herr Trutz zu bedenken.

»Weil Sie zu schlau für ihn sind. Gmork braucht ein Menschenkind, um die zwei Hälften seines Herzens zusammenzubringen. Die Meisterbibliothekare der Phantásischen Bibliothek sind immer Adamssöhne gewesen.«

»Oder Evastöchter«, erklärte Herr Trutz.

»Deshalb hat er hier nach jemandem gesucht, der für ihn den Nox in die Äußere Welt trägt, weil er selbst es nicht vermag. Vermutlich hatte er Sie ausspioniert, weil er versuchen wollte, Sie ohne Ihr Wissen für seinen Plan zu gewinnen. Aus diesem Grund ist er vor dem Buchladen aufgekreuzt. Alles mag schon weit gediehen gewesen sein, aber dann kam ich, und Sie verschwanden durch Ihre geheime Bibliothek nach Phantásien, wo sie sich an Gmorks Fersen hefteten. Um mir den Weg in die Innenwelt zu versperren, versuchte er, das Tor mit Feuer zu zerstören, aber die unsichtbaren Wächter haben es beschützt. Das dürfte ungefähr der Zeitpunkt gewesen sein, an dem der Werwolf seine Pläne änderte.«

»Inwiefern?«

»Überlegen Sie bitte, Thaddäus: Uns beide hat im Abstand von einem phantásischen Jahr jeweils eine Pfeilviper vom Himmel geholt. Vermutlich war der Waldschrat Skrzat genauso von Gmork gedungen wie Elster und seine Wechselbalge, die sich in Sammelraben verwandeln, hier die Bücher in schwarze Perlen einschließen und sie zu ihm bringen. Jetzt wollte Gmork um jeden Preis verhindern, dass Sie ihm in die Quere kommen, denn er hatte mich entdeckt, den Zauderer, den Unentschlossenen, den leicht zu Verführenden …«

»Der Sie aber nur in Ihrer eigenen vernagelten Vorstellung waren.«

»Danke.«

»Keine Ursache. Gmork hat sich in Ihnen gründlich getäuscht, mein lieber Freund.«

»Und nun muss er es mit zwei Bibliothekaren aufnehmen.«

»Meisterbibliothekaren.«

»Jetzt übertreiben Sie.«

»Doch, doch, wenn ich Meisterbibliothekar sage, dann meine ich auch …«

»Vielleicht könntet ihr beiden endlich damit aufhören, euch Honig um die Nasen zu schmieren, und lieber einen Vorschlag machen, wie wir diesen räudigen Wolf zur Strecke bringen«, mischte sich Qutopía abermals ein.

Albega stimmte ihr durch heftiges Nicken zu.

»Verräter«, knurrte Herr Trutz in Richtung des Bücherdrills.

Der ging zum Gegenangriff über. »Ich schlage vor, unsere Honigschnute stellt sich freiwillig als Köder zur Verfügung.«

Qutopía sog erschrocken die Luft ein.

»Das kommt überhaupt nicht infrage«, sagte Herr Trutz kopfschüttelnd.

»Albega hat recht«, verkündete dagegen Karl.

Das Drachenmädchen eilte an seine Seite und hielt sich an seinem Arm fest. »Aber du kannst doch nicht …«

Karl sah sie traurig an. »Doch, ich kann. Und ich muss, Qutopía. Es ist der einzig vernünftige Weg, etwas gegen die Unaussprechlichen und ihren Plan zu unternehmen. Gmork ist ihr Werkzeug. Wenn wir ihn zu Fall bringen, wird auch Gogams Plan scheitern.«

Qutopía funkelte Herrn Trutz an. »Jetzt sagen Sie doch mal etwas, Meister. Sie sind in dieser Bibliothek schließlich der Bestimmer. Karl kennt sich in Phantásien noch viel zu wenig aus …« Karl nahm ihre Hand und begann sie zu streicheln, bis sie schließlich verstummte. Mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. »Was ist?«

»Wenn Thaddäus dem Gmork folgt, wird der misstrauisch werden. Der Werwolf erwartet vielmehr, dass ihm der junge, dumme Karl auf den Leim gegangen ist und ihm den Nox bringt.«

»Du bist nicht dumm. Und woher willst du wissen, was er denkt?«

»Der Nox und der Lux sind auch ein Paar, die sich ergänzen. Die schwarze Hand ist das einzige Mittel, die gebundenen Bücher wieder aus den verfinsterten Perlen zu befreien. Gmork weiß, dass wir das wissen und alles daransetzen werden, um die Perlen zurückzugewinnen. Vielleicht hat sein falscher Kollek-Tibe die eine Perle sogar mit Absicht hier zurückgelassen, damit Thaddäus oder ich sie finden. Sieh selbst!« Karl deutete auf Die Gewogenen Worte, die Herr Trutz immer noch in der Hand hielt.

Aus den grünen Augen des Drachenmädchens quollen Tränen. Wortlos sah sie ihn an, und ihr beschwörender Blick, ihre flehentliche Miene waren ein einziges verzweifeltes Nein!

14. Kapitel:
Gmorks Tor

Ja, seine Entscheidung sei mutig und wahrscheinlich auch richtig, sagte Thaddäus, nachdem ihn sein Nachfolger auf die Seite genommen und unter vier Augen um seine Meinung gebeten hatte. Auf Karls Frage, was ihn erwarten werde, wenn er Gmork folge, wusste der alte Meisterbibliothekar allerdings auch keine klare Antwort zu geben. »Mit Sicherheit eine Pforte in die Äußere Welt.« Es gebe viele solcher Türen, die nach Phantásien führten und auch wieder hinaus. Jeder müsse seinen eigenen Weg finden, und ein Tor, das sich dem einen öffne, mag dem anderen verschlossen bleiben. Solch ein Abgewiesener könne es zwar zerstören, es, wie ja von Gmork versucht, mit Feuer verbrennen, aber selbst niemals hindurchgehen. Wie er dann Gmorks Pforte benutzen solle, wollte Karl noch wissen. Herr Trutz hatte mit einem säuerlichen Lächeln erwidert: »Hoffen wir, dass die Unaussprechlichen keine Hermetiden vor ihre fünf Türen postiert haben.« Mit diesen vagen Aussichten und mit vollen Manteltaschen hatte sich Karl auf die Suche nach dem Werwolf begeben.

An seinem Handgelenk befand sich der yskálnarische Kompass. Der Stängel des andrusischen Vergissmeinnichts leuchtete in der Dunkelheit und wies ihm den Weg. In seiner rechten äußeren Manteltasche steckte in weißer Umhüllung aus Einhornhaar eine schwarze Hand. Den gläsernen Gürtel trug er unter dem Jackett. Auch das Magieskop hatte Karl dabei, obwohl es ihm in seinem derzeitigen Zustand kaum nützlich sein konnte. Er vermisste schmerzlich sein Schwert. Zugegeben, es war ein wenig launisch gewesen. Sein Träger musste schon bei einer Herausforderung überfordert sein, damit es sich herausziehen ließ, und man durfte es zudem nur im Kampf gegen echte Bösewichter um Unterstützung bitten. Aber dann war es im besten Sinn des Wortes Feuer und Flamme gewesen. Bei einer Auseinandersetzung mit Gmork hätte es Karl bestimmt nicht den Dienst versagt. Mit Ausnahme des Unaussprechlichen konnte er sich im Moment keine boshaftere Kreatur vorstellen.

Kurz vor Mitternacht hatte Karl die Phantásische Bibliothek durch einen Hinterausgang verlassen. In seinem Geist hallten noch immer Qutopías letzte Worte nach: »Ich bin es leid, immer um diejenigen zu bangen, die ich liebe. Erst wirft diese ekelhafte Seuche meinen Vater aufs Krankenbett, und jetzt begibst du dich in Lebensgefahr. Sei vorsichtig, Karl. Mit dem Werwolf ist bestimmt nicht zu spaßen.«

Nein, das war wirklich nicht anzunehmen. Diejenigen, die ich liebe. Warum hatte Qutopía das ausgerechnet in dieser Situation sagen müssen? Sie liebt mich. Der Gedanke beflügelte ihn, aber er nahm ihm auch einiges von seiner neu erworbenen Unbekümmertheit. Habe ich je so etwas besessen?, fragte er sich. Jedenfalls wollte auch er das Drachenmädchen wiedersehen. Welche Chancen hatte eine Liebe, durch die eine Grenze zwischen zwei Welten verlief? Er schüttelte ärgerlich den Kopf und murmelte: »Konzentrier dich, Sportsfreund. Vor dir liegt die größte Herausforderung deines Lebens.«

Es war empfindlich kühl. Ein rauer Wind ließ das Gras wie einen Ozean wogen. Über der Landschaft lag ein silbernes Licht, das die Spuren der Krankheit verwischte, die auch hier, im Umkreis des Bücherturms, die Natur befallen hatte. Über der Phantásischen Bibliothek hing der Vollmond. In manchen Regionen der Inneren Welt schien er offenbar jede Nacht. So konnte sich Karl hinlänglich sicher bewegen.

Der Kompass führte ihn über eine sanft ansteigende Wiese zu einer Hügelkette, die im Mondlicht wie eine in mehreren Windungen aus dem Wasser ragende Seeschlange aussah. Das Versteck Gmorks konnte nicht allzu fern sein, denn auf seine Fragen hatte Herr Trutz von mehreren Mitarbeitern der Bibliothek immer wieder die gleiche Antwort bekommen. »Der große Wolf? Ja, den haben wir schon öfter hier gesehen.« Die Wollwandlerhirten hätten nie einen Verlust ihrer Tiere beklagt, sich sogar im Gegenteil durch die Gegenwart des großen Wolfs vor anderen Räubern sicherer gefühlt. So habe niemand dem grauen Jäger mit den glühenden Augen besondere Beachtung geschenkt. Auf die Idee, ihn mit dem Verschwinden der Bücher in der Bibliothek in Verbindung zu bringen, war natürlich erst recht niemand gekommen.

Inmitten der Wiese stieß Karl auf einen Weg, nicht viel mehr als ein Trampelpfad. Der yskálnarische Kompass bedeutete ihm unmissverständlich, der sich im Mondlicht dunkel abzeichnenden Spur zu folgen. Mit einem Mal ruckte die Nadel so heftig nach links, dass er unwillkürlich erschrak. Als er den Kopf drehte, sah er auf einer nahen Anhöhe die schwarze Silhouette des Wolfs. Die glühenden Augen waren direkt auf ihn gerichtet.

Einige flache Atemzüge lang wagte er nicht, sich zu rühren. Du bist unsichtbar, rief er sich in Erinnerung, blickte aber trotzdem zum Boden hinab. Nein, im Moment konnte er sich auch nicht durch niedergetretenes Gras verraten. Der Weg bestand aus festgestampfter Erde. Aber dann fiel ihm ein, welches das empfindlichste Organ der Wölfe ist: die Nase.

Ob er den Mann riechen konnte, der sich ihm näherte? Karl atmete tief durch. Und wenn schon! Das war ja schließlich der Sinn der Übung.

*

Der Mensch bewegte sich wie ein Anfänger. Gmork grinste wölfisch. Obwohl der Bibliothekar nicht zu sehen war, hatte er sich durch seine Fußstapfen im Gras verraten. Später folgte er zwar dem Pfad, den die Hirten mit ihren Wollwandlern regelmäßig benutzten, aber dafür stank er zehn Meilen gegen den Wind. Koreander hielt es ja nicht einmal für nötig, auf die Luftströmungen zu achten. Ob er den Nox dabeihatte? Sein eigenes Herz konnte Gmork nicht wittern. Zu allem Übel war es auch nicht zu sehen, weil das dumme Menschlein sich unsichtbar gemacht hatte. Gmork beschloss, die Jagd zu eröffnen.

Er drehte sich um und trottete den Hang hinab. Gleich würde Koreander ihn aus den Augen verlieren und musste ihm über die Wiese folgen – mit einer großen, gut sichtbaren Fährte.

Wenig später sah Gmork wie erwartet hinter sich die Fußstapfen, die wie von allein den Abhang hinabstürmten und das verdorrte Gras platt trampelten. Dieser Narr war sogar noch dümmer als vermutet. Oder steckte Absicht dahinter? Immerhin hatte Koreander es geschafft, Xayídes Spiegelbild den Nox abzujagen. Gmork empfand eine gewisse Wesensverwandtschaft mit der Magierin vom Schloss Hórok, auch wenn er nicht verstehen konnte, warum sie ihr Revier mit aller Macht auf ganz Phantásien ausdehnen wollte. Er hätte sich mit einem hübschen Wald begnügt, in dem er jagen und den er sein Zuhause nennen durfte. Wie auch immer, Koreanders Wankelmut machte ihn unberechenbar. Gmork beschloss, kein unnötiges Risiko einzugehen.

Nach einer kurzen Wanderung durch das welke Gras erreichte er den versteinerten Zwillingsbaum, der wie ein einsamer Riese auf der Wollwandlerweide stand. Vor Jahrhunderten war eine Kolonie Quarzotteln über ihn hergefallen. Die haarfeinen Würmer verwandelten mit ihren Körperausscheidungen jede Pflanze, an der sie sich gütlich taten, zu Stein. Sogar einige Blätter waren auf diese Weise, ehe sie abfallen konnten, an den Ästen erstarrt. Die Hirten mieden solche Bäume. Ihren Schatten zu berühren brachte nach ihrer Vorstellung Unglück. Sie hielten die Steinbäume für Wohnsitze von Geistern und bösen Wesen. Nicht ganz zu Unrecht, dachte Gmork und konnte sich ein weiteres Wolfsgrinsen nicht verkneifen. Die abergläubische Furcht der Hirten kam ihm zupass. Bisher hatte niemand sein Geheimnis entdeckt.

Geduldig vergewisserte sich der Werwolf, dass Koreander ihm weiterhin folgte. Ja, die Fußstapfen bewegten sich noch durch das hohe Gras. Der Mensch musste etwas besitzen, das ihn führte, einen magischen Gegenstand oder vielleicht den yskálnarischen Kompass, von dem Täuschel berichtet hatte, der Wechselbalg, der sich einmal zu viel hatte entdecken lassen. Gmork schlüpfte in den Eingang unter den versteinerten Wurzeln.

Rasch lief er durch den unterirdischen Tunnel. Er musste noch etwas Wichtiges erledigen, bevor das Vergnügen kam. Die Unaussprechlichen würden nicht erbaut sein, wenn er ihnen seine Dienstverpflichtung aufkündigte. Aber er wusste, wie er sie gnädig stimmen konnte. Koreander würde das Tor schon finden. Er konnte sich hier unten nicht verlaufen. Sollte er nur noch ein wenig suchen, seinen Kopf anstrengen. Das würde ihm die Illusion vermitteln, mit eigenem Scharfsinn und dank eigener Entschlusskraft den Weg in die Äußere Welt gefunden zu haben. Für kurze Zeit durfte er sich ruhig wie ein Held vorkommen, sich an dieser Vorstellung berauschen. Umso leichter wäre er nachher zu überwältigen.

*

Der Baum sah irgendwie merkwürdig aus. Eigentlich waren es sogar zwei Stämme, die sich ein Stück über dem Boden zu einem einzigen vereinten. Dadurch sah das bizarre Gewächs wie ein stiller Riese aus, der reglos auf der Weide stand, als hielte er Wache. Es war jedoch nicht so sehr seine seltsame Gestalt, die Karl grübeln ließ. Er brauchte einen Moment, bis er darauf kam, was an ihm nicht stimmte. Das Gras im Umkreis war besonders hoch – als hätten die Wollwandler es aus einem unbekannten Grund verschmäht –, und es wogte im Wind. Aber der Baum bewegte sich nicht im Geringsten. Selbst seine wenigen Blätter hingen steif an ihren Ästen. Wie versteinert.

Für einen Moment sah Karl die gelbgrünen Augen unter dem Baum aufleuchten, dann war der Wolf verschwunden. Der Kompass ließ keine Zweifel aufkommen. Gmork hatte sich nicht hinter dem Baum davongestohlen, er musste unter dem erstarrten Riesen verschwunden sein. Oder er lauerte noch im hohen Gras.

Vorsichtig näherte sich Karl dem Baum. Bald reichten ihm die Halme bis zur Hüfte. Dann hatte er den Bannkreis – genauso kam ihm diese Grasbarriere vor – durchbrochen und stand vor dem Riesenbaum. Er legte seine Hand auf die Rinde und zog sie rasch wieder zurück. Die knorrige Haut dieses Triftbewohners war kalt wie … Stein?

Karl reckte sich nach einem tief hängenden Ast. Knack! Plötzlich hielt er ein Blatt in der Hand. Der dünne versteinerte Stängel war abgebrochen. Ungläubig betastete er es, um dann wieder zur Baumkrone aufzublicken. Der einsame Riese war tot.

Einmal mehr blickte Karl auf seinen Kompass. Die grün schimmernde Nadel zeigte genau auf den Baum. Zur Sicherheit umrundete er die beiden dicken Stämme, die wie Beine aus dem Erdreich ragten. Die Kompassnadel drehte sich geduldig mit, zeigte immer in die Mitte des von ihm abgeschrittenen Kreises. Jedes Mal, wenn sie auf den dunklen Spalt zwischen den stämmigen Beinen deutete, erbebte sie heftig. Karl ging ein paarmal hin und her, bis er sicher war, dass nicht er selbst durch ängstliches Zittern das Vergissmeinnicht vibrieren ließ.

Irrtum ausgeschlossen. Nach mehreren Versuchen machte er sich mit dem Gedanken vertraut, in diesen Spalt zwischen den Stämmen hinabzusteigen, der so dunkel wie der Rachen eines Drachen war und in den man selbst bei Tageslicht vermutlich nicht einmal mit Blicken vordringen könnte. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Es erforderte schon eine gehörige Portion Kühnheit – oder Dummheit –, diese Höhle leibhaftig zu erkunden.

Wachsam, jeden Moment mit einem Angriff des Wolfes rechnend, trat Karl zwischen die Beine des Riesen. Einen Moment lang schwankte er zwischen Hoffen und Bangen. Einerseits wünschte er sich, das Tor der Stämme wäre auch schon die Tür in die Äußere Welt. Andererseits fürchtete er sich vor der Konfrontation mit Gmork, die dort unweigerlich auf ihn wartete, und hoffte insgeheim, dass sie sich zumindest noch ein wenig hinausschieben ließ. Er spähte in die dunkle Tiefe.

Der Baum selbst war nicht die Pforte zwischen den Welten. Karl sah unter sich ein überraschend großes Loch, das zwischen armdicken Wurzeln hindurch ins Erdreich führte. Obwohl ihm von dort ein unangenehmer Geruch entgegenschlug, atmete er erleichtert auf und kletterte vorsichtig hinab.

Als er den Grund des Lochs erreicht hatte, war aus dem Geruch ein bestialischer Gestank geworden. Er kannte derartige Ausdünstungen von den Raubtieren im Zoo, aber nie zuvor hatte er sie so überwältigend empfunden. Ein neugieriger Abenteurer, der bis hierher vorgedrungen war, konnte nichts Klügeres tun, als umzukehren und die Flucht zu ergreifen. Eine durchaus verlockende Überlegung, fand auch Karl.

Vor sich glaubte er einen Tunnel auszumachen, aber selbst das Licht des Vollmondes schien sich nicht weiter vorzuwagen. Der Gang war finster wie das Innere eines Ofenrohrs. Karl wurde schmerzlich bewusst, dass er keine Lampe mitgenommen hatte. Was sollte er tun? Wer konnte schon wissen, wie weit es noch bis zum Tor war? Wäre es nicht das Vernünftigste, um- und mit einer Lampe zurückzukehren? Ein angenehmer Gedanke, der weiteren Aufschub verhieß. Aber dann machte Karl sich klar, dass die Tür in die Äußere Welt womöglich nicht ständig und auch nicht beliebig lang offen stand. Eigentlich wäre es sogar naheliegend, dass Gmork sie auf irgendeine Art und Weise öffnete, wenn er hindurchgehen wollte, sie aber sonst für Unbefugte geschlossen hielt.

Hektisch tastete Karl seine zahlreichen Taschen ab. Ein Feuerzeug hatte er nicht dabei. Die Meerschaumpfeife, mit deren Glut er eine provisorische Fackel hätte entzünden können, lag unter dem Stumpf von Xayídes schwarzem Turm. Jetzt hätte sie ihm nützlich sein können, wie Thaddäus ihm verheißen hatte. Gab es nicht irgendetwas anderes, mit dem er ein wenig Licht in diese Dunkelheit …?

Das Monokel! Es gierte doch nach Abkühlung. Der Nox hatte den riesigen Schwarzen Elfenbeinturm zum Erglühen gebracht, da würde das von ihm aufgeladene Magieskop doch wohl einen mickrigen Tunnel ausleuchten können. Karl benutzte sein Taschentuch, um das heiße Monokel an seiner Schnur aus der Manteltasche zu fischen. Und tatsächlich! Das Augenglas war von einer Aura umgeben, die ein fahles Licht auf die Tunnelwände warf. Das Monokel am Halsband vor sich haltend, drang er tiefer in Gmorks unterirdisches Reich ein.

Allmählich gewöhnte sich Karl an den bestialischen Geruch. Der Gang glich eher einer langen, nicht sehr sorgfältig angelegten Röhre, so als hätte ein riesiger Maulwurf sie aus dem lockeren Erdreich herausgewühlt. Aus den Wänden ragten Wurzeln. Immerhin konnte Karl aufrecht darin gehen. Kein Wunder, Gmork war so groß wie ein Stier.

Nach einer Weile änderte sich das Aussehen des Gangs. An die Stelle von Erdreich trat Stein. Die Wände ragten nun senkrecht empor, der Boden wurde glatter, nur die Decke wölbte sich weiterhin über Karls Kopf. Kein Zweifel, hier hatten sich eiserne Werkzeuge durch den Fels gefressen. Wo würde der Tunnel wohl enden?

Eben hatte Karl noch geglaubt, stundenlang so durch die Finsternis schleichen zu müssen, als Wände und Decke unvermittelt auseinanderzutreiben schienen. Plötzlich stand er in einer kahlen Felsenkammer, die annähernd rund war. Ein blasser Tausendfüßler floh aus dem matten Lichtkreis des Monokels. Ansonsten bot der Raum wenig Aufregendes, nur einen weiteren Durchgang, der sich schwach schimmernd von der Dunkelheit abhob. Vielleicht eine neue Täuschung, dachte Karl. Seine Sinne waren bis zum Äußersten angespannt. Rasch ließ er das Monokel in der linken äußeren Manteltasche verschwinden.

Kein Irrtum. Der Ausgang aus der Felsenkammer leuchtete tatsächlich in einem blassen, unsteten, aber warmen orangeroten Licht. Zögernd ging Karl darauf zu. War das die Tür zur Äußeren Welt?

Nein, es handelte sich um einen weiteren Tunnel. Zehn oder fünfzehn Schritte vor sich sah er die Quelle des Leuchtens: einen Feuer-Opal, so groß wie ein Scheunentor. Die Wand schien in ständiger Bewegung zu sein, als flössen in ihr verschiedene Farben zwischen Feuerrot und Orangegelb unablässig umeinander. Das muss es sein!, dachte er. Die Lichtwand war so eindrucksvoll, wie er dies von einem Tor in die andere Welt erwartet hatte. Auf Zehenspitzen näherte er sich.

Unmittelbar vor der leuchtenden Wand blieb er stehen. Obwohl er sich des Ernstes der Lage durchaus bewusst war, konnte er nicht umhin, die opalisierende Fläche zu bewundern. Sie war tatsächlich so glatt wie ein polierter Halbedelstein. Zaghaft bewegte er seine Fingerkuppen an dem Riesenopal entlang, ohne ihn zu berühren. Er spürte weder Hitze noch Kälte, kein elektrisierendes Knistern oder sonstige Zurschaustellungen phantásischer Kräfte. Also wagte er endlich die Wand zu berühren.

Seine Finger tauchten in den Opal ein, als bestünde der aus handwarmem Honig. Karl spürte so gut wie nichts, was er einigermaßen enttäuschend fand. Bald steckte sein Arm bis zum Ellbogen in der Wand. Kein Zweifel, dies war eine Pforte. Es hatte keinen Zweck, länger zu zaudern. Vielleicht stand Gmork ja schon auf der anderen Seite und überlegte, was er mit dem scheinbar herrenlosen Arm anfangen sollte. Karl machte einen beherzten Schritt nach vorn.

*

Irgendwie hatte er etwas anderes erwartet. Eine Wohnung vielleicht, aus deren Fenster man auf eine regenfleckige Backsteinmauer sah. Aber nicht das! Obwohl Karl genau wusste, wo er war, schwankte er zwischen Enttäuschung und Staunen. Er stand wiederum in einer Felsenkammer, allerdings einer, die sich von der vorhergehenden unterschied wie die Nacht vom Tag. Der Raum war vollkommen. Eine riesige Kugel hätte hier vermutlich Boden, Decke und alle sechs Wände berührt, so harmonisch wirkten seine Proportionen. Ja, er war sechseckig, wie die Spiegelwabe im Haus der Erwartungen, aber deutlich größer. Karl schätzte, dass drei oder vier Männer seines Kalibers wie im Zirkus Schulter auf Schulter stehen müssten, damit der oberste die Decke berühren könnte.

Nach dem Durchschreiten des Opals hatte er sich unter dem Bogen eines Alkovens wiedergefunden, von denen es reihum noch fünf weitere gab. Ihre mehr oder weniger stark durchscheinenden Rückwände bestanden aus weißem Bergkristall, blauem Lapislazuli, rotem Almandin, tiefgrünem Malachit und schwarzem Gagat. So jedenfalls hatte ihm Albega diesen Raum beschrieben, während er sich von Karl zum Fuß der Phantásischen Bibliothek hinuntertragen ließ. Karl blickte nach oben. Unter der Decke befand sich ein sechseckiges Loch, bedeckt von einer Art Käfig aus goldenen Streben, in dem die Sprossen einer Leiter zu erkennen waren. Das Gitter diente als Aussichtsplattform, in seltenen Fällen auch als Zugang in die lichte Kammer, die einen der kostbarsten Schätze Phantásiens beherbergte: die Wissende Druse.

Das Ei stand mitten in der Kammer und seine Ausmaße waren gewaltig. Karl schätzte seine Höhe auf drei Meter. Die Außenhülle war weißgrau – soweit sich dies im farbigen Schein der Wabenwände beurteilen ließ – und so uneben wie der Rauputz an einer Hauswand. In Brusthöhe sah er ein großes Loch. Die Innenwand des steinernen Hohlkörpers war dicht an dicht mit violettfarbenen Kristallen bedeckt. Karl fühlte sich wie magisch von der Druse angezogen. Darin hatte der Legende nach ein schiffbrüchiger Seemann Die verlorene Unschuld entdeckt, das erste Buch der Phantásischen Bibliothek, eine steinerne Tafel, die hier unten gehütet wurde wie die Kronjuwelen des englischen Königshauses im Tower von London. Karl beugte sich über den Rand des Lochs, um im Ei nach der Steintafel zu suchen – und erschauerte.

Sie war nicht da! Statt einer beschrifteten Platte sah er nur eine absolut lichtlose Leere. Das Nichts! Gmork hatte das wertvollste Buch der Bibliothek gestohlen! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenschlag. Er entsann sich nur allzu gut der Worte Albegas: Eine Prophezeiung sagt, Die verlorene Unschuld werde irgendwann vom Angesicht Phantásiens verschwinden, und dann müsse es neu erschaffen werden. Ich mag mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Leere auch in die Wissende Druse Einzug hält.

»Jetzt ist es geschehen«, flüsterte Karl. Sein Mund war trocken. Er glaubte versteinern zu müssen wie der Baum auf der Wollwandlertrift. Die Entführung der Verlorenen Unschuld konnte nur eines bedeuten: Gmork suchte die Entscheidung. In dieser Nacht! Er wollte den Willen des Fünfgesichtigen Gogam erfüllen und sich dann mit seinem Herzen aus dem Staub machen, in irgendeine andere Welt. Oder er würde – was viel schlimmer wäre – als entfesselter Erzlump in Phantásien und der Äußeren Welt nach Belieben sein Unwesen treiben. Das musste um jeden Preis verhindert werden.

»Wo ist das Tor?«, murmelte Karl und sah sich um. Vermutlich hinter einem der übrigen fünf Alkoven. Er schob den Mantelärmel zurück, blickte auf den Kompass und schritt die Nischen ab, aber das Vergissmeinnicht zeigte immer auf ihn selbst. War das yskálnarische Wunderding etwa kaputtgegangen, ausgerechnet jetzt, im wichtigsten Moment?

Schlagartig wurde ihm klar, wo sein Denkfehler lag. Die Kompassnadel zeigte nicht auf ihn, sondern durch ihn hindurch. Auf die Wissende Druse.