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Rainer Erler

Das Blaue Palais

Das Genie

Roman

hockebooks

14

Mit langsamen, kleinen Schritten näherte sich ein Mann dem sich öffnenden Tor. Ein abgewetzter, schwarzgrauer und viel zu weiter Kimono umhüllte die zierliche Gestalt: ein altersloser Greis mit schütteren, schwarzen Haaren, die braune Haut faltenlos über den schmalen Schädel gespannt.

Mizuguchi betrat das Anwesen des Herrn van Reijn.

Die Dienerinnen verneigten sich, Mizuguchi dankte. Das riesige Tor schloss sich knarrend hinter dem winzigen Mann.

Er schleppte ein Bündel mit sich: Eingeschlagen in ein blaues Tuch vier lange, schmale Kästen aus Balsaholz. Er gab sie nicht aus der Hand.

Oben, an der Galerie des Hauses, erwarteten van Reijn und Sibilla ihren Gast.

Der Kimono, den sie angelegt hatte, leuchtete wie Schnee. Und der Phönix entstieg den Flammen. Mizuguchi hatte den Park in unendlicher Ruhe durchquert. Er war über Brücken und Treppchen gestiegen, war den Windungen des Steinplattenweges gefolgt.

Jetzt stand er vor dem Haus und blickte nach oben. Van Reijn verbeugte sich tief. Ein Zeichen zu Sibilla. Die neigte leicht den Kopf, gehemmt, angelernt.

Da fasste van Reijn sie am Nacken. Mit festem Griff drückte er sie nach vorn, zwang sie zu einer Geste der Unterwerfung, hielt ihren Kopf tief gebeugt. Der Gast erwiderte den Gruß mehrmals, während er näher trat, bis er schließlich die Stufen des Hauses erreichte. Van Reijn lockerte seinen Griff, Sibilla richtete sich auf: ein versteinertes Gesicht, voller Hass, gedemütigt, zu einer Erniedrigung gezwungen.

Mit bloßen Füßen wanderte Mizuguchi durch die Halle. In einer Ecke glitt er zu Boden, begann das Bündel zu öffnen. Van Reijn und nach ihm Sibilla knieten sich ihm gegenüber auf die Matten.

Der erste Holzkasten wurde geöffnet, der Deckel säuberlich daruntergelegt. Mizuguchi nahm die Bildrolle heraus, löste den Knoten der beiden Bänder, hielt sie van Reijn entgegen.

Der ergriff das runde Querholz, hielt es fest, während Mizuguchi das Bild entrollte: Wolken, mit wenigen Pinselstrichen hingezaubert – darüber der Kegel des Fujiyama.

Die Striche waren von einer unglaublichen Leichtigkeit. Sie begannen mit einem kräftigen Andruck des Pinsels, verjüngten sich, schwebten davon, folgten der einzig möglichen Linie, bildeten die einzig mögliche Kontur und endeten wieder nachdrücklich und bestimmt. Da war kein Zaudern zu spüren, keine Korrektur. Das Bild war von einer unmittelbaren Selbstverständlichkeit, die verblüffte.

Van Reijn schien tief gerührt.

Er saß starr und unbeweglich, während er das Bild und Mizuguchi ihn betrachtete.

Sibilla hatte sich nach vorn gebeugt, blickte van Reijn über die Schulter und versuchte hinter das Geheimnis zu kommen, das van Reijn förmlich zu berauschen schien.

Ihr Zorn war verflogen.

Der alte Mann mit dem leisen, sanften Lächeln, seine Ausgeglichenheit und Ruhe, die Klugheit und Güte seiner Augen, die Bescheidenheit, mit der er hinter seinen Bildern zurücktrat, sein Schweigen, während er sein Werk sprechen ließ – das alles berührte sie viel tiefer, als sie im Augenblick wahrhaben wollte.

Sie spürte eine Zuneigung zu diesem Menschen, die sie in dieser Form noch nie empfunden hatte.

Er sah sie an, sie fühlte sich ertappt und lächelte. Und er lächelte zurück.

Dann bemerkte er in van Reijns Blick Spuren einer Irritation. Mit raschen, geschickten Drehungen seiner schmalen, fleckigen Hände rollte er das Bild wieder zusammen.

Es folgte ein zweites: Ein Ast ragte vor den Berg aller Berge, ein kahler Ast mit aufbrechenden Knospen. Ein drittes: Blütenzweige, der Gipfel spiegelte sich in einem See, ein Boot verbreitete Wellen um sich. Ein viertes und letztes: Schnee. Schnee über dem Land, über dem Berg, Gräser, die sich im Schneewind bogen.

Immer noch Schweigen – Betrachten – Kontemplation. Auch Mizuguchi war plötzlich in den Anblick dieses letzten Bildes versunken.

Die erstarrte Landschaft, der Winter, der Tod …

Van Reijn löste sich langsam aus seiner Verzückung. Er hob den Blick, betrachtete den alten Mann ihm gegenüber, die straffe, jugendliche Haut des Gesichtes, den Schädel, der diese Meisterschaft, Gefühle, Gedanken, diese Weisheit in sich barg …

Da begegnete ihm der Blick des Greises, und der Zauber war gebrochen.

Mizuguchi packte die Rollen wieder in die Kästen, mit der gleichen Ruhe, der gleichen Gelassenheit und Akkuratesse, mit der er sie hervorgeholt hatte. Er schnürte sie zum Bündel zusammen, erhob sich, verneigte sich und ging.

An der Treppe des Hauses schlüpfte er in seine hölzernen Sandalen, und bevor er sich zum Gehen wandte, bevor er über Steinplattenweg, Brücke und Treppchen, zwischen Stämmen und Büschen und schließlich durch das riesige Zedernholztor verschwand, erwiderte er das Abschiedsritual seiner Gastgeber: die tiefe Verneigung. Diesmal verneigte sich Sibilla aus eigenem Antrieb, ohne fremden Zugriff, ohne Zwang.

»Er hat kein Wort gesagt.«

Sie richtete sich auf.

»Was soll er sagen, wenn seine Bilder sprechen?«

»Er hat keines dagelassen. Er hätte ja fragen können, ob du eines behalten willst.«

»Behalten?«

»Kaufen …«

Van Reijn wandte sich zurück zum Haus.

»Mizuguchi verkauft seine Bilder nicht.«

»Und wovon lebt er?«

»Er malt sie – davon lebt er. Er zeigt sie her – davon lebt er. Und er lebt davon, dass er Mizuguchi ist.«

Van Reijn war in das Dämmerlicht der Halle zurückgekehrt.

Sibilla war ihm gefolgt: »Und er verschenkt auch keines?«

»Nein. Wie kann man die Gottheit, den Urgrund der Welt, sich selbst – wie kann man das alles, wenn man es erfahren hat, verschenken?«

15

Ein schwarzer Mercedes fuhr durch das Parktor, ein zweiter, ein dritter folgten.

Sie hielten vor dem Portal des Blauen Palais.

Dort stand Palm schon bereit, um die Begrüßung nach europäischem Ritus zu zelebrieren.

Neun Herren entstiegen den Wagen, in dunklen Mänteln und mit nichtssagenden Krawatten. Schwarze Hüte wurden gezogen. In der linken Hand das obligatorische schwarze Köfferchen, die rechte frei für die seltsame Übung, sich die Hand zu schütteln.

Belanglose Höflichkeitsfloskeln wurden getauscht. »Herzlich willkommen im Blauen Palais … Schön, dass Sie sich wieder einmal die Zeit genommen haben … Das Vergnügen ist wirklich ganz auf unserer Seite … Sie werden überrascht sein … Wir werden sehen … Erstaunliche Erfolge, wirklich … Kommen Sie doch herein, wir gehen zuerst nach oben.«

Manzini, ein bulliger Romane mit grauen Schläfen, nahm Palm für eine kurze Bemerkung zur Seite: »Ihre Andeutungen waren äußerst vielversprechend. Aber auch in diesem Fall gilt unser Grundsatz: Es geht immer in erster Linie um den praktischen Nutzen, den praktischen Wert – bei allem Idealismus!«

»Wir hatten eine zweckfreie Forschung vereinbart, Herr Kollege.«

Palm fand ein klärendes Wort in diesem Zusammenhang für dringend nötig. Manzini nickte.

»Richtig! Aber ich bin genauso im Zugzwang wie Sie. Ich garantiere Ihnen Narrenfreiheit, und Sie liefern mir zweimal im Jahr eine Schau, um mögliche Profitinteressen der Herren von der Wirtschaft zu befriedigen.«

»Oder ich liefere Ihnen ganz einfach Sensationen. Wie wäre das?«

Manzini trat nahe an Palm heran und nahm ihn beim Revers seines Jacketts: »Ich fände es vorzüglich. Aber ich bezweifle, dass Ihnen das heute gelingt!«

Die Mitarbeiter des Palais standen im Souterrain des Gebäudes, in der alten, hochherrschaftlichen Küche, und verfolgten durch das schmale, vergitterte Fenster den Aufmarsch der Herren Finanziers.

Klöpfer hatte sich ein Fertigmenü aus der Kühltruhe gefischt und schob es gerade in den HF-Herd.

»Als ob man nichts anderes zu tun hätte. Dabei geht es doch nur um Erfolgsmeldungen der anderen Fakultät. Was interessiert mich Biochemie?«

Büdel wühlte in den tiefgefrorenen Päckchen.

»Es geht um den Gesamtetat für alle Abteilungen.«

»Manzini ist Biochemiker«, konterte Klöpfer.

»Falsch. Er ist Neurochirurg. Gehirnspezialist!« Büdel wusste es besser.

»Ja, und die anderen sind Verwaltungsleute. Da hat sich noch nie einer für meine Arbeit interessiert.« Rivalität war ein ernstes Problem für Klöpfer. Er hatte auch schon die Generation, die man heutzutage aktiv in der wissenschaftlichen Arbeit findet, um etliche Jahre hinter sich gelassen.

Das Kontrolllicht am Herd verlöschte, ein Klingelzeichen ertönte. Klöpfer schob das heiße Fertiggericht in der Aluminiumfolie auf sein Tablett und ging.

Yvonne kam in die Küche, holte sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Zurzeit hatte sie wieder ihren Diätfimmel. Sie gab den aktuellen Lagebericht:

»Alle sind oben bei Palm, prüfen die Bücher. Und warten auf Jeroens Sensation.«

Der stocherte ohne rechten Appetit in seinem Essen herum.

»Nicht einschüchtern lassen. Nur nicht einschüchtern lassen. Ich esse erst mal in aller Ruhe!«

Büdel blickte hoch, rückte seine Brille zurecht und grinste: »In Ruhe – ich lach' mich tot!«

Polazzo warf die tiefgefrorenen Menüs in die Truhe zurück.

»Gulasch mit Spätzle – Gulasch mit Spätzle – Gulasch mit Spätzle … Es muss doch noch etwas anderes zu finden sein als Gulasch mit Spätzle.«

Yvonne versuchte ihn zu beruhigen.

»Gib auf, die nächsten zehn Tage gibt's nichts anderes. Vielleicht geh' ich morgen und kauf' was ein, koche etwas Frisches, ja?«

»Ja, oder Mister Wong, wie wär's, Sie beglücken uns mal wieder mit Ihren Künsten?«

Wong war Polazzo geradewegs in die Arme gelaufen.

»No money – kein Geld!«

»Hören Sie mir auf mit Geld! Ihr Chinesen kocht dreitausend Jahre länger als wir. Und ihr habt auch nicht nur fette Jahre erlebt! Wie ging es denn bei der Prüfung Ihrer Bücher?«

»Dauert noch, dauert. Aber kein money, kein Geld!«

Er schob sein Gulasch mit Spätzle in den Herd und drückte das Programm.

Büdel versuchte, dem Automaten einen Becher voll Kaffee zu entlocken. Aber der reagierte erst auf zwei gezielte Faustschläge.

»Seid glücklich, Freunde, über Gulasch mit Spätzle, über den unbegrenzt fließenden Kaffee. Ich seh' uns alle schon den Park umgraben und Kartoffeln pflanzen – wenn es Jeroen nicht gelingt, die Herren vom Ausschuss von unserer Genialität zu überzeugen.«

Die Herren vom Ausschuss versammelten sich eine halbe Stunde später in der Halle.

Manzini nahm in der ersten Reihe Platz, nachdem er die Mitarbeiter des Palais einzeln begrüßt hatte.

Die anderen standen noch zwanglos zwischen den Kollegstuhlreihen und unterhielten sich, bis Palm zwanglos die Sitzung eröffnete.

»Vorzustellen brauche ich ja niemanden. Professor Manzini und seine Kollegen vom Ausschuss des Kuratoriums sind gekommen, um sich über unsere Arbeit und unsere Erfolge zu informieren. Herr de Groot wird als erster über Versuchsreihen berichten, die er gemeinsam mit seiner Kollegin, Frau Jacopescu, in den letzten Monaten …«

Da hielt sich Manzini mit seinem romanischen Temperament nicht länger zurück, unterbrach Palm, schwenkte die Mappe mit den Versuchsergebnissen über seinem Kopf.

»Danke, ja. Wir haben alle seinen Bericht gelesen! Für mich als Wissenschaftler – aber ich glaube, auch für meine Kollegen, die auf dem wirtschaftlichen und finanziellen Sektor unseres Kuratoriums tätig sind – sind vor allem jene Andeutungen interessant, die sozusagen zwischen den Zeilen stehen.«

Jeroen war aufgestanden und nach vorn gekommen: »Nicht nur zwischen den Zeilen, Herr Professor Manzini!« Manzini lehnte sich behaglich zurück:

»Ich weiß nicht, ob Sie sich der ungeheuren Tragweite Ihrer überaus kühnen Hypothese überhaupt bewusst sind.«

»Ich denke schon!«

Manzini war bereit, Jeroen die Schau zu stehlen und ihn ins Kreuzverhör zu nehmen: »Sie deuten an, ein bisschen hier, ein bisschen dort. Im Übrigen beschreiben Sie Ihre Versuche, füttern uns mit Bergen von statistischen Daten und seitenlangen Diagrammen, nennen das Ganze etwas lapidar: ›Übertragung von Gedächtnismolekülen‹, berichten ganz unschuldig über Ihre Erfolge bei Ratten – und haben doch letzten Endes etwas ganz anderes im Sinn, etwas Ungeheures, ohne es beim Namen zu nennen!«

Jeroen ließ sich nicht im Geringsten einschüchtern. »Ich bin bereit, mündlich darüber zu referieren!«

»So – mündlich. Bitte. Sie haben also gewisse Anhaltspunkte, dass die Übertragung von Intelligenz und Wissen auf Grund Ihrer Methode nicht nur bei Ratten funktioniert?«

»Ich behaupte, unsere Versuche hier haben gewissermaßen Modellcharakter.«

Da meldete sich eines der Ausschussmitglieder zu Wort: »Können Sie nicht konkreter werden? Ihre Methode ist schließlich nicht gerade sensationell. Wir haben ein rundes Dutzend Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex vorliegen – mit positiven und negativen Aspekten. Insgesamt scheinen bisher rund 170 Arbeiten über dieses Gebiet publiziert worden zu sein.«

Jeroen trat an das Vortragspult: »Richtig – aber wir gehen den entscheidenden Schritt nach vorn. Um das zu erklären, muss ich allerdings etwas weiter ausholen.«

Manzini winkte ab.

»Fangen Sie um Himmels willen nicht bei Adam und Eva an.«

»Nein. Aber bei Watson und Crick.«

Er ging in die Ecke und enthüllte eine ›Skulptur‹, ein mannshohes Molekülmodell aus bunten Schaumstoffteilen, die, von einem Stangenskelett gehalten, ineinandergesteckt waren.

»Die beiden Engländer erhielten den Nobelpreis für eine fundamentale Erkenntnis: Das ganze Geheimnis des Lebens steckt, chemisch gesehen, in einem sehr langen und unvorstellbar dünnen Molekül aus Millionen und Milliarden von Bausteinen, der Desoxyribonukleinsäure, kurz DNS, nach dem Englischen auch DNA genannt. Die beiden Forscher haben nun die Struktur dieses Moleküls entschlüsselt: eine Art doppelter Wendeltreppe, zwei schraubenartig umeinandergeschlungene Ketten – die sogenannte ›Doppelhelix‹.« Eines der Ausschussmitglieder unterbrach das Referat: »So viel dürfen Sie bei Finanzleuten gerade noch an Kenntnissen voraussetzen.«

Jeroen demonstrierte an dem Modell die einzelnen Bausteine: »Dann wissen Sie auch: Das Skelett hier besteht aus Phosphorsäure und Zucker, und die Stufen der ›Wendeltreppe‹, das sind organische Basenpaare. Es gibt davon nur vier verschiedene. Aber das genügt völlig: Die Reihenfolge der verschiedenen Stufen diktiert, wie ein Code mit vier Buchstaben, sämtliche Erbanlagen eines Lebewesens. Der gesamte Aufbau wird von hier gesteuert. Der Bauplan der DNS bestimmt, ob sich aus einer Zelle ein Mikroorganismus bildet, eine Amöbe – oder ein Mensch – und welche Art von Mensch: Rasse und Intelligenzfaktor, Mann oder Frau.

Beim Menschen umfasst die DNS-Spirale im Kern jeder Zelle über drei Milliarden Stufen. Ein komplizierter Plan.«

»In jeder einzelnen Zelle?« – Auch Finanzleute haben manchmal das Staunen noch nicht ganz verlernt.

»Richtig! In jeder einzelnen der über 60 Billionen Zellen des menschlichen Körpers steckt der Bauplan für den ganzen Menschen. Und zwar in den Chromosomen.«

Jeroen hängte Schautafeln mit den Chromosomen neben das Modell an die Tafel.

»Und wenn man die ungeheuer winzigen DNS-Stücke einer einzelnen Zelle – die sich ja auf 46 Chromosomen verteilen – aneinanderhängt, dann ist dieser unendlich dünne Strang einen ganzen Meter lang.

Ein Meter DNS – in jeder einzelnen Zelle.«

Er ließ das Bild einige Sekunden wirken – auch wenn es unvorstellbar bleiben musste, dann fuhr er fort: »Wenn es gelingt, die Reihenfolge der Stufen im DNS-Strang, also den Code zu verändern, dann ändert man damit auch die Erbanlagen, also Haarfarbe und Körperbau – aber auch Psyche, Talent, Begabung.«

»Ist das bereits möglich?« lautete ein Zwischenruf aus dem Auditorium.

Jeroen zögert.

»Ein direkter Eingriff ist schwierig. Unsere Instrumente sind noch zu grob. Aber wir wählen einen Umweg: Statt die DNS direkt zu verändern, verändern wir die Baupläne, nach denen diese DNS immer wieder neu aufgebaut wird. Das heißt, wir schleusen veränderte oder sogar fremde Baupläne in den Organismus ein. Diese Baupläne, gewissermaßen Matrizen, sind die Ribonukleinsäuren – die RNS-Moleküle.«

Jeroens Zuhörer wirkten überaus interessiert, das bewiesen auch die Zwischenfragen: »Und Sie behaupten nun: Wenn Sie fremde oder veränderte RNS einschmuggeln – ›intelligente RNS‹ in unintelligente Ratten zum Beispiel –, dann verändert sich der Empfänger?«

Jeroen schüttelte den Kopf:

»Nein – äußerlich nicht. Denn Ratte bleibt Ratte! Aber durch Auswechseln und entsprechende Kombinationen bestimmter Strangstücke im befruchteten Ei könnte man Lebewesen auch äußerlich völlig verändern: Bizarre Gebilde wären denkbar – halb Mensch, halb Tier. Intelligente Affen, Roboterwesen. Man könnte Genies züchten, Monster erzeugen …«

»Eine schreckliche Vorstellung!« – »Hoffentlich bleibt das alles Utopie!« – die Zwischenrufer hatten sich offenbar bisher nicht zu der Erkenntnis durchgerungen, dass die Biochemie als Wissenschaft wesentlich gefährlicher war als zum Beispiel die Kernphysik. Die synthetische Produktion neuer Organismen brachte zwangsläufig neue Gefahren für die Menschheit mit sich. Denn das fein ausbalancierte, natürliche Gleichgewicht zwischen aggressiver Schädigung und Immunität, zwischen ›Fressen und Gefressenwerden‹, konnte eine tödliche, irreparable Schlagseite erhalten.

Gegen neue, fremde Mikroorganismen, gegen schädliche Bakterien und Viren, die künstlich erzeugt worden waren, standen unserem Organismus keine Abwehrkräfte zur Verfügung. Aber diese Details unterschlug Jeroen fürs Erste. Und er hatte auch nicht vor, die Sprache auf den apokalyptischen Horror in dieser jungen Wissenschaft zu bringen, als ihm einer der mehr wirtschaftlich orientierten Zuhörer eine Frage stellte: »Wo liegt eigentlich der Nutzeffekt solcher gefährlichen Spielereien?«

Nutzeffekt? Jeroen war einen Augenblick verwirrt. Man forscht, das war seine Meinung, weil man nach neuen Erkenntnissen strebt, ob diese Erkenntnisse für die Gesellschaft nun sinnvoll sind oder tödlich, das stand doch, bitte, auf einem ganz anderen Blatt.

Aber dann improvisierte Jeroen weiter: »Neue Wesen werden – unter Umständen – im Hinblick auf ihren Verwendungszweck geschaffen. Bakterienstämme werden umprogrammiert und vernichten Erdölreste, bauen neue Stoffe daraus auf.«

Das war das einzig sinnvolle Beispiel, das ihm einfiel und das seine Wirkung nicht verfehlte.

»Oder denken Sie an die Taufliege. Sie ist das neueste Objekt für Manipulation an Erbanlagen. Taufliegen existieren bereits in vielen Dutzenden neuer, künstlicher Variationen …«

Das ist doch Schwachsinn, dachte Jeroen, die halten mich doch für verrückt. Wo steckt der Sinn bei Dutzenden neuer Taufliegenarten. Man macht so etwas, weil es eben machbar ist. Und irgendwann, wenn man den Weg konsequent weiterverfolgt, landet man bei großen und wichtigen Erkenntnissen, bei fundamentalen Fortschritten, die ohne den Umweg über diese dämlichen Taufliegen niemals zustande gekommen wären. Das alles ging ihm rasch und beiläufig durch den Kopf. Während er weiterredete, überlegte er gleichzeitig, dass diese Argumentation auch als Alibi dienen konnte, wenn einer anfing, lästige Fragen zu stellen, nach dem Sinn – nach dem Nutzeffekt dieser Forschung. Doch das Auditorium war still und zufrieden.

Van Reijn fiel ihm ein, das Gesicht dieses Mannes, beim Schachturnier, am Strand, im Regen, als er auf ihn zugerannt kam und er sich in den Dünen versteckt hatte. Nutzeffekt?

Aber dann hatte Jeroen den verlorenen Faden wieder aufgegriffen und fuhr fort: »Es gibt sogar ein Experiment mit Wirbeltieren. Es ist allerdings sehr umstritten: die ›Straßburger Ente‹.

Ich habe hier ein Bild.«

Das Foto war in einem Lehrbuch der Biochemie veröffentlicht worden, das in Cambridge erschienen war. »Bereits 1959 wurde der genetische Code, der Bauplan aller Erbanlagen, die DNS der Ente Khaki-Campbell isoliert, gereinigt und der White-Peking-Ente injiziert.

Man wollte das Erbgut verändern.

Aber überraschenderweise veränderte sich die White-Peking-Ente selbst.«

Das Buch wanderte von Hand zu Hand. Die Fotos zeigten die dunkle Campbell und die dicke weiße Peking vor und nach dem Experiment. Nach der Injektion der fremden DNS war sie dunkel und schlank.

Die Herren vom Ausschuss blätterten hin und her, diskutierten leise miteinander und betrachteten auch das Bild der Wissenschaftler, die an diesem Experiment beteiligt gewesen waren.

Jeroen fuhr fort: »So viel bekannt ist, sind ähnliche Versuche nie mehr erfolgreich verlaufen. Ich studierte damals in Freiburg, fuhr nach Straßburg hinüber, sah die veränderte Ente, sprach mit einem der Assistenten, einem gewissen Felix Rheinberger, einem Belgier …«

Da stutzte Jeroen. Er versuchte sich zu erinnern und wiederholte nach einigen Sekunden nachdenklicher Pause noch zweimal den Namen: »Felix Rheinberger … Felix Rheinberger …?!«

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, dann trat er nach vorn: »Kann ich das Buch noch einmal, bitte …« Man reichte es ihm.

Er blätterte hastig und nervös, fand schließlich, was er suchte: das Foto der jungen Wissenschaftler.

»Das Gesicht, natürlich, er ist es …«

Langsam setzte er sich auf einen Stuhl und versuchte das Bild vor seinem inneren Auge mit dem Foto in Einklang zu bringen.

»Rheinberger, ja natürlich. Mein Gott, es ist zehn Jahre her!«

Das Jugendbild von damals, das Schachturnier, das Konzert …

Die Anwesenden waren aufmerksam geworden, obwohl keiner von ihnen so recht begriff, was in Jeroen vor sich ging. Und nur die Eingeweihten kapierten den Zusammenhang, als Jeroen schließlich lächelnd und entspannt, so ganz selbstverständlich, die Quintessenz seines Nachdenkens von sich gab: »Natürlich, ganz einfach: Dieser Rheinberger – ist Felix van Reijn …!«

16

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