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Maren C. Jones

Nur mit Dir

Liebesroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1

Eilig schrieb Kassandra an der Kolumne, die sie noch vor Redaktionsschluss fertigstellen musste. Isabella, ihre Kollegin, die seit zwei Wochen im selben Büro arbeitete, vermied tunlichst Blickkontakt mit ihr, was Kassandra ihr nicht verübeln konnte. Sie hatte mit Isabellas Mann geschlafen, ohne zu wissen, dass dieser verheiratet war. Erfahren hatte sie es ohnehin erst, als Peter, so hieß der unheilvolle One-Night-Stand, ihr verkündet hatte, er wollte sie wiedersehen. Nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Er hatte sich offenbar in sie verliebt und Kassandra fühlte sich elend.

Peter hatte sie in einer Bar kennengelernt. Sie war mit ihm rasch ins Gespräch gekommen. Er war auf der Suche nach einem Abenteuer gewesen, einem sexuellen Abenteuer. Dass er vorhatte seine Frau zu betrügen, verriet er ihr jedoch nicht. Er hatte ihr stattdessen das Märchen des einsamen Workaholics erzählt. In Wahrheit war er jedoch ein Familienvater, der nach der Arbeit noch in Bars ging, da ihn zuhause ein schreiendes Kleinkind und eine gestresste Ehefrau erwarteten. Dummerweise war Kassandra nun das Biest, die Schlampe. Peter war nur der arme Ehemann, der ihrem verhängnisvollen Charme erlegen war.

Isabella hatte ihren engsten Freundinnen von dem Vorfall erzählt und diese waren nun bemüht, Kassandras Leben zur Hölle zu machen. Frauen hielten doch zusammen, Freundinnen sowieso! Sie zeigten sich solidarisch und verbündeten sich gegen die Männerdiebin, ein Übername, der ihr nicht gefiel, ihr aber doch weit weniger auf den Magen schlug, als das böse Wort, das mit H anfing und mit e endete.

Eigentlich war Kassandra überzeugter Single. Für Partnerschaften war sie nicht gemacht, aber deswegen wollte sie nicht auf Sex verzichten müssen. Sie war beruflich immer sehr ehrgeizig gewesen: Klassenbeste in der Oberschule, das Publizistikstudium hatte sie mit Auszeichnung bestanden. Seit Jahren bastelte sie an ihrer Karriere, eine Familiengründung war in ihrem Lebensplan nie vorgesehen gewesen.

Ihre Mutter hatte in den letzten Jahren immer darauf beharrt, es müsste nur der Richtige vorbeikommen, dann würde selbst Kassandra endlich Gefallen an einer festen Beziehung finden. Der Richtige war aber nicht gekommen, und sollte er ihr doch begegnet sein, dann war er ihr schlichtweg nicht aufgefallen. Ihre Nase hatte sie schon während der Schulzeit immer in Bücher gesteckt. Sie liebte das geschriebene Wort und sie liebte Geschichten. Das reale Leben erzählte nun mal die spannendsten, weswegen sie unbedingt Journalistin hatte werden wollen. Den Dingen auf den Grund gehen, Ungerechtigkeiten aufdecken, die Menschen informieren – das war der Traum!

In der Schule war sie die Streberin mit den guten Noten, der dicken Brille und dem pickligen Gesicht gewesen. Erst während des Studiums hatte sie sich von Grund auf verändert. Sie hatte viel gelernt, die Welt außerhalb des Dorfes, in dem sie aufgewachsen war, kennengelernt. Und endlich war sie erwachsen geworden. Vielleicht war sie heute zu erwachsen ...

Seufzend griff sie nach dem halbvollen Pappbecher, den sie vorhin am Kaffeeautomaten geholt hatte. Andrea, eine von Isabellas Freundinnen, hatte sie nämlich zufällig - rein zufällig! - just in dem Moment angerempelt, als sie den Becher vor die Brust haltend, die Treppen in den ersten Stock, wo sich ihr Büro befand, in Angriff nehmen wollte. Das Ergebnis? Ein verschütteter Kaffee und eine ruinierte Seidenbluse. Sie hatte vorhin in der Toilette lange versucht, den Kaffee aus dem Stoff zu waschen. Es war unmöglich. Die braunen Flecken waren sehr unansehnlich, aber der Geruch war noch schlimmer. Isabella hatte ein gehässiges Grinsen kaum unterdrücken können, als sie Kassandra mit braungefleckter Bluse sah. Daraufhin waren sofort ihre hektischen Finger über die Tastatur geflogen. Vermutlich bedankte sie sich via firmeninternen Chat bei Andrea für deren Versehen, denn ein solches war es offenbar gewesen, wie Isabellas Freundin nicht müde geworden war, Kassandra mit scheinheiliger Miene zu versichern. Sie fühlte sich an ihre Schulzeit erinnert. Damals war sie permanent gehänselt worden. Frauen konnten richtig biestig sein!

Weit mehr irritierte sie jedoch, dass, während sich ihre Arbeitskolleginnen offenbar gegen sie verbündeten und bereits die nächste Racheaktion planten, Isabellas Mann sie permanent mit Nachrichten belästigte. Kassandra war im Bett nicht zimperlich. Und sie war offen für alles. Beinahe alles. Peter hatte aber keine besonderen Bedürfnisse geäußert. Sie hatte ihn oral befriedigt und das schien ihn total aus der Fassung zu bringen. Wahrscheinlich hatte Isabella ihm dieses Vergnügen noch nie bereitet. Die Welt wurde von Pornografie geradezu überschwemmt, aber in den Ehebetten gab's häufig nur Blümchensex. Alles andere war verpönt.

Verärgert über die penetranten Nachrichten eines verheirateten Mannes, kramte Kassandra ihr Smartphone aus der Handtasche, da das surrende Geräusch des vibrierenden Geräts nicht zu überhören war. Sie guckte nach und, wie erwartet, hatte Peter ihr eine Nachricht geschrieben.

Hey, Süße, warum meldest du dich nicht? Ich hätte heute Abend Zeit. Lust auf eine heiße Nummer?

Kassandra verzog das Gesicht. Derartige Zeilen brachten sie nun wirklich nicht in Ekstase! Männer reagierten auf sexuelle Freizügigkeit oft sehr befremdlich. Sie war nämlich keine Süße und sie hatte ganz bestimmt auch nicht Lust auf eine heiße Nummer, nun, da sie wusste, dass Peter verheiratet war. Kurz blickte sie zur Seite, wo ihre Kollegin immer noch eifrig Buchstaben in die Tastatur hämmerte. Sie hatte Kassandras Blick bemerkt und ihr Gesicht glühte nun vor Zorn feuerrot. Wahrscheinlich vermutete sie richtigerweise, dass Kassandra eine Nachricht von ihrem Mann erhalten hatte. Was Isabella jedoch nicht wissen konnte: dass sie keinerlei Interesse an Peter hatte. Dies klarzustellen, dafür schien es ihr ohnehin zu spät. Und was würde das auch nützen? Schweigen und Durchhalten war schon von jeher ihre Devise gewesen. Bewährt hatte sich dieses Verhalten jedoch nie.

Unfreiwillig drängten sich ihr Erinnerungen an die Schulzeit auf. Damals hatten sich zwei Mädchen, Jule und Sarah, regelmäßig über sie lustig gemacht, weil sie Flanellhemden trug, nicht figurbetont, die sie bis zum Kragen schloss und die ihr ohnehin viel zu weit waren. Ihre Mutter hatte ihre Kleider im Versandkatalog bestellt, da sie dort am billigsten waren. Kassandra galt in der Schule als prüde und unaufgeklärt. Ihre Schulkolleginnen machten sich einen Spaß daraus, sie bezüglich ihrer sexuellen Schüchternheit zu veralbern. Und heute war sie eine Männerdiebin. Die Ironie dieser veränderten Umstände ließ sie beinahe schmunzeln. Dabei war sie nie prüde gewesen, nur unerfahren und vermutlich auch desinteressiert. Sie hatte nie irgendwelche Jungs angehimmelt oder sich Poster von Boybands an die Zimmerwände gepinnt. Nur in einen war sie verliebt gewesen: Tobias.

Resigniert tippte sie in ihr Smartphone:

Das ist keine gute Idee, Peter. Das zwischen uns war eine einmalige Sache. Ich hoffe, du verstehst das.

Oh, das hoffte sie wirklich! Vor allem aber hoffte sie, dass er sie von nun an in Ruhe ließ. Peter war um die vierzig. Der One-Night-Stand mit Kassandra war im besten Falle nur Ausdruck einer Midlife-Crisis und nicht der Anfang einer Stalker-Karriere. Schließlich hatte er doch Isabella, eine attraktive Frau, und zwei süße Kinder mit blondem und rotbraunem Haar. Auf dem Foto, welches auf Isabellas Schreibtisch stand, lächelten die beiden Mädchen breit und offenbarten ihre beinahe identischen Zahnlücken. Wieder fühlte sich Kassandra elend.

Zehn Jahre lang hatte sie in einer Großstadt gelebt. Das Leben auf dem Land, in einem Dorf, das gerade mal fünftausend Einwohner zählte - daran musste sie sich erst gewöhnen. Da blieb es nämlich nicht unbemerkt, wenn ein Mann fremdging. Davon abgesehen, musste sie sich auch an ihren neuen Job gewöhnen. Sie schrieb für ein Gesundheitsmagazin mit einer erschreckend geringen Auflage.

Da es bereits nach zwölf war, machte sie sich auf den Weg in die Mittagspause. Vorher sperrte sie ihren Account, da sie davon ausging, dass Isabella und ihre Busenfreundinnen sich noch viele Gemeinheiten überlegen würden und im schlimmsten Fall sogar ihre Arbeit manipulierten.

Schnellen Schrittes verließ sie das Büro und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage. Dort angekommen, peilte sie ihr Auto an, auf dessen Windschutzscheibe ein weißer Zettel klebte. Sie nahm ihn an sich und las darauf:

Für eine schnelle Nummer, ruf mich an!

Darunter war ihre Telefonnummer vermerkt, die sie Isabella gegeben hatte, vor ein paar Tagen, als sie noch Kolleginnen waren, die sich ganz sympathisch fanden und vielleicht mal nach der Arbeit etwas trinken gehen wollten. Fehlte nur noch, dass jemand an ihrem Arbeitsplatz solche Zettel befestigte! Mobbing war eine fiese Sache, aber Kassandra ließ sich nicht beirren. Sie war ein kühler, analytischer Mensch. Wer seinen Emotionen entsprechend handelte, verhielt sich meist irrational. Und sie war nicht irrational, das entsprach nicht ihrem Wesen. Früher hatte sie in solchen Situationen ihre Nase noch tiefer in die Bücher gesteckt. Heute versuchte sie, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und alles andere auszublenden.

Wieder vibrierte ihr Smartphone. Peter schaffte es bravourös ihren Intellekt zu beleidigen! Sie war keine der Frauen, die sich Hals über Kopf verliebten. Denn auch das war irrational. Isabellas Mann schien aber zu glauben, sie sei ganz verrückt nach ihm. Und das nur, weil sie ihren Körper verdammt gut kannte und auch wusste, was sie mit diesem anstellen konnte. Der schüchterne Peter, dessen aufregendste, erotische Erlebnisse sich vermutlich vor dem Computerbildschirm mit seiner Hand in der Hose abgespielt hatten, schrieb nun:

Süße, zwischen uns hat es doch gefunkt! Ich will meine Frau schon lange verlassen. Ich tu's sofort. Für dich!

Schon wieder verzog Kassandra das Gesicht. Zum gefühlten tausendsten Mal heute. Sie packte das Smartphone entschieden in ihre Handtasche und machte sich auf den Weg nach Hause.

Zuhause war für sie immer der Ort gewesen, wo sie sich wohlfühlte und wo sie sich entspannen, die Welt aussperren und zu sich selber finden konnte. Zuhause war, wo ihre Mutter sie alleine aufgezogen hatte, in dem kleinen Einfamilienhaus mit der Schaukel im Garten. Aber auch die kleine Wohnung in der Stadt, in der sie die letzten zwei Jahre gelebt hatte, war ihr Zuhause gewesen. Sie war schon mehrmals umgezogen. Sie schaffte es für gewöhnlich spielend leicht, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden. Nun lebte sie wieder in der kleinen Ortschaft, wo sie aufgewachsen war, und trotzdem fühlte sie sich wie eine Fremde. Sie kannte die Menschen nicht, sie kannte die Straßen nicht. In zehn Jahren hatte sich viel verändert. Und damals, als sie mit neunzehn Jahren aufgebrochen war, um die Welt zu erobern, hatte sie nur einen Wunsch gehabt: endlich dieses Kaff verlassen zu können!

Sie fuhr die Einfahrt hoch zum Haus ihrer Mutter. Sie machte ihrem Ärger kurz Luft, als sie lautstark die Autotür zuknallte. Wenn ihre Mutter davon erführe, dass an ihrem Arbeitsplatz hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, sie würde anderen Frauen die Männer ausspannen, dann …! Sie wäre enttäuscht, sehr sogar. Und vermutlich auch entsetzt. Sie wusste nichts von Kassandras Liebesleben, denn in der Regel sprach sie darüber nicht.

«Hallo, Ma!», rief sie enthusiastisch in den Flur, während sie ihre Schlüssel auf der Kommode ablegte. Ihre stilvolle Kunstlederjacke mit Turn-Down-Kragen hing sie in der Garderobe auf. Sie hatte Lust, sich einfach aufs Sofa im Wohnzimmer zu fläzen und sich den ganzen Nachmittag lang Sitcoms anzusehen. Aber daraus wurde wohl nichts.

«Ma?», rief sie noch einmal. Dieses Mal lag Besorgnis in ihrer Stimme. Sie hatte ihren alten Job aufgegeben und war hierher gezogen, um ihrer Mutter beistehen zu können, die schon seit Jahren an Diabetes litt. Sie hatte schon zwei Operationen an der Netzhaut hinter sich und nun sah es so aus, als würden ihre Nieren früher oder später versagen.

«Kassy? Du kommst so früh?» Die liebevolle Stimme ihrer Mutter ließ sie aufatmen. Mit einer hübschen, selbstgenähten Bluse trat sie in den Flur. Sie hatte jahrelang als Verkäuferin im Supermarkt gearbeitet und sich nebenbei auch als Näherin etwas dazuverdient. Aber die Aufträge waren irgendwann ausgeblieben. Niemand wollte sich handgenähte Kleider leisten, wenn’s doch alles so billig beim Textil-Discounter gab.

«Ich hab mir die Bluse ruiniert», antwortete Kassandra mit einem müden Lächeln und zeigte dabei auf die dunklen Kaffeeflecken.

«Doch nicht deine Lieblingsbluse», sagte ihre Mutter seufzend. Kassandra zuckte nur mit den Schultern, während sie die Post durchging, die auf der Kommode lag.

«Ein Brief ist für dich gekommen», sagte ihre Ma, just in dem Moment, als Kassandra ihn selbst entdeckte. Die Adresse war handgeschrieben. Neugierig öffnete sie ihn und las ihn aufmerksam. Ein Klassentreffen war geplant. Bei einem Grillfeuer und heißen Würstchen wollten sich ihre ehemaligen Mitschüler treffen und über Erinnerungen plaudern. Kassandra legte den Brief desinteressiert zurück und ging ins Wohnzimmer.

«Ich wusste nicht, dass du kommst, Kassy. Aber ich habe gerade eben erst zu Mittag gegessen und es ist noch etwas übrig.» Normalerweise fuhr Kassandra in der Mittagspause nicht nach Hause.

«Ich habe keinen Hunger, Ma! Mach dir keine Gedanken!» Sie legte sich aufs Sofa, zog die Stiefeletten aus und platzierte die Füße auf dem Couchtisch.

«War was bei der Arbeit?», fragte ihre Mutter neugierig. Diese Frage hatte sie ihr früher oft gestellt. Sie hatte immer wissen wollen, was in der Schule passiert war. Aber Kassandra hatte geschwiegen. Sie hatte nie etwas von den vielen Zettelchen erzählt, die durch die Bankreihen gereicht worden waren. Darauf hatten Jule und Sarah dumme Sprüche geschrieben oder Karikaturen gezeichnet, wo sie mit dicker Brille, pickeligem Gesicht und riesigen Brüsten zu sehen war, die sie unter ihren Flanellhemden vergeblich zu verstecken versuchte.

Ein Klassentreffen … war das deren Ernst? Sie war in die Großstadt gezogen, um es ihnen allen zu zeigen. Und nun war sie wieder da und würde als Verliererin gelten. Sie schrieb für eine Zeitschrift, die kaum einer kannte – und sie war Single! Weder beruflich noch privat hatte sie Erfolge vorzuweisen. Und bei einem Klassentreffen ging es schließlich um nichts anderes, als um das zur Schau stellen von Verdiensten.

«Nein, alles okay», log Kassandra gekonnt. Darin war sie geübt.

«Komm in die Küche, Kassy. Du musst etwas essen.» Kassandra erhob sich seufzend. Essen war in diesem Haushalt das Wichtigste überhaupt. Ihre Mutter hatte schon immer geglaubt, ein voller Magen könnte jedes Problem lösen. Ob ihre Klassenkameraden sie überhaupt noch erkannten? Ohne Brille, ohne Pickel und … schlanker? Das Leben in der Stadt war hektisch, zum Essen blieb kaum Zeit. Damals war Kassandra mollig gewesen – genau wie ihre Mutter – heute war sie eine schlanke, große Frau. Das hässliche Entlein war zum Schwan geworden, oder doch nicht? Ihr Gesicht hatte Charakter, entsprach aber nicht der gängigen Vorstellung von Schönheit.

Folgsam setzte sie sich an den Küchentisch. Sie hatte dieses Haus vermisst, so viele Erinnerungen hingen daran. Ihre Mutter hatte Nudeln mit Tomatensoße gemacht und schöpfte ihr nun großzügig das Essen auf einen altmodischen, geblümten Teller.

«Genug, genug! Das reicht!», sagte Kassandra sofort. Sollte sie sich wieder an die Kochkünste ihrer Mutter gewöhnen, würde sie ihrem damaligen Teenager-Selbst bald wieder ähnlich sehen.

«Was war das denn für ein Brief?», wollte ihre Ma nun wissen.

«Eine Einladung zum Klassentreffen», erwiderte Kassandra mit vollem Mund.

«Wirst du hingehen?»

Sie zuckte nur mit den Schultern. «Das wird ein Wettbewerb, in dem ich nur verlieren kann.»

«Was meinst du denn damit?», fragte ihre Mutter.

«Nichts, vergiss es, Ma!» Kassandra aß schweigend weiter und blickte dabei ab und an auf ihre schmutzige Bluse. Das Essen wollte ihr gar nicht schmecken.

Sie hatte früher häufig die Schule geschwänzt, um den Hänseleien zu entgehen. Den Job schwänzen, war leider nicht möglich. Kündigen schon gar nicht. Sie konnte sich glücklich schätzen, diesen Job gefunden zu haben. Auf dem Land gab es nicht so viele Möglichkeiten wie in der Stadt.

«Du solltest zu dem Klassentreffen gehen, Kassy!», sagte ihre Mutter.

«Ich weiß nicht, Ma … ich habe keine Lust.»

«Du hast keine Lust? Hör zu, ich will nicht, dass du meinetwegen immer zuhause rumsitzt!»

«Ich weiß, ich weiß …», erwiderte Kassandra sofort. Ihre Mutter machte sich Vorwürfe, sie hatte nie gewollt, dass ihre Tochter ihretwegen ihr Leben und ihren guten Job aufgab. Aber Kassandra wollte es so. Es war an der Zeit, ihrer Mutter die Liebe und Fürsorge zurückzugeben, die diese ihr all die Jahre über geschenkt hatte. Als alleinerziehende Mutter hatte sie es nicht leicht gehabt. Kassandras Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, da war sie gerade mal sechs Jahre alt gewesen. Ihre Mutter hatte alles dafür getan, um ihr die bestmögliche Ausbildung zu garantieren. Und sie war immer so stolz auf ihre Tochter gewesen … weil Kassandra doch so klug war. Immer Klassenbeste …

War sie klug? Wäre sie wirklich klug, hätte sie nie mit Peter geschlafen.

«Ich zieh mich rasch um und dann muss ich wieder los», sagte sie und machte sich auf den Weg in ihr Kinderzimmer. Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages wieder hier schlafen würde, wo noch Poster von Ice Age, Matrix und X-Men an den Wänden hingen. Die Bluse war schnell ausgezogen und eine neue aus dem Schrank gefischt. Tief atmete sie ein, während sie sich im Spiegel kritisch betrachtete.

Du schaffst das, Kassy, sagte sie laut zu ihrem eigenen Spiegelbild. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Gemeinheiten ertragen müssen. Auch Isabella würde sie nicht kleinkriegen. Ganz bestimmt nicht.