Eine Warnung an die Welt:
Der Appell in Berge des Wahnsinns

von David A. Oakes

In seiner 1931 verfassten Erzählung Berge des Wahnsinns schildert H. P. Lovecraft die Ereignisse während einer Expedition in die Antarktis. Dort entdecken die Wissenschaftler die Ruinen einer uralten Stadt und das darin lauernde Grauen. Im weiteren Handlungsverlauf begegnet der Leser einer Fülle detailliert beschriebener Monster und scheußlicher Geheimnisse. Wer deren verborgene Bedeutung entschlüsselt, geht das Risiko der eigenen Vernichtung ein.

Eine genauere Analyse zeigt, dass diese Erzählung nicht alleine darauf abzielt, beim Leser Angst und Schrecken zu erzeugen. Lovecraft konstruiert hier zugleich eine auf Überzeugung angelegte Argumentation der Redegattung, bei der, nach Aristoteles, der Sprecher zu bestimmten Handlungen rät, die in der Regel in der »Zukunft« liegen. Dass Lovecraft dieses klassische Mittel griechischer Rhetorik nutzt, wirkt sich auf mehreren Ebenen aus: Der Ich-Erzähler, William Dyer, kann auf diese Weise stichhaltige Argumente gegen eine neuerliche Expedition in die Antarktis vorbringen. Dessen Argumente gegen ein solches Vorhaben bieten Lovecraft außerdem die Möglichkeit, dem Leser die Ereignisse der eigentlichen Geschichte vor Augen zu führen. Zudem lässt die Erzählung offen, ob es Dyer gelingt, eine zweite Expedition zu verhindern. Dadurch kann Lovecraft die klassische Form einer auf Überzeugung abzielenden Argumentation dazu einsetzen, seine Leserschaft in die Entwicklung der Geschichte einzubinden, denn es bleibt ihnen überlassen, deren endgültigen Ausgang abzuwägen.

Die sorgfältig konstruierte Argumentation beginnt damit, dass Dyer erklärt, warum er sich nach monatelangem Schweigen dazu entschlossen hat, seine Geschichte zu erzählen. Anfangs legt er dar, dass er sich dazu gezwungen sieht, »weil Männer der Wissenschaft sich geweigert haben, meinem Rat zu folgen, ohne das Nötige zu wissen«. Zuvor hat Dyer seine Kollegen dazu gedrängt, jeden Gedanken an eine weitere Expedition in die Antarktis aufzugeben, doch sie haben nicht auf ihn gehört, weil er nicht detailliert dargelegt hat, warum er ein solches Vorhaben ablehnt. Erst die »geplante Starkweather-Moore-Expedition«, die »ungeachtet der Warnungen, die ich seit unserer Rückkehr aus der Antarktis erhoben habe« in die Fußstapfen der ersten, vom Ich-Erzähler geleiteten Expedition treten will, verbietet ihm weiteres Schweigen.

Dyer räumt ein, dass viele Informationen, die er nun weitergeben wird, so fantastisch scheinen, dass man ihm vielleicht nicht glauben wird. Deshalb muss er sich »auf die Urteilskraft und das Renommee der wenigen führenden Köpfe der Wissenschaft verlassen«, die ihm auf Grundlage seines Beweismaterials »mit dessen schrecklicher Überzeugungskraft« die Geschichte möglicherweise abnehmen werden.

Allerdings ist Dyer klar, dass er zunächst sein eigenes Berufsethos als rationaler und logisch denkender Wissenschaftler nachweisen muss, will er überhaupt eine Chance erhalten, dass diese »wenigen führenden Köpfe der Wissenschaft« seine Aussagen als wahr akzeptieren. Anders ausgedrückt: Sie müssen ihn dazu als einen Menschen betrachten, der niemals zu fantastisch anmutenden Schlussfolgerungen gelangen würde, hätte er zuvor nicht alle vorliegenden Fakten gründlich und auf rationale Weise geprüft. Und schon gar nicht darf man ihm unterstellen, dass er dazu neigt, haarsträubende Geschichten zu erfinden, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Einer der ersten Schritte, die Dyer unternimmt, um persönliche Glaubwürdigkeit herzustellen, besteht darin, offen zuzugeben, dass viele Bestandteile seines Berichts anderen als befremdlich und unglaubwürdig erscheinen müssen. Damit hofft er allen Einwänden der Art, diese Geschichte sei zu seltsam, als dass sie eine wirklich erlebte sein könne, den Boden zu entziehen. Persönliche Glaubwürdigkeit versucht er auch dadurch zu erzielen, dass er offenbart, welche starken Vorbehalte er hatte, mit seiner »Geschichte« an die Öffentlichkeit zu gehen. Schließlich hat er Angst vor den gesellschaftlichen Veränderungen, die seine Enthüllungen auslösen könnten, wenn sie sich als wahr erweisen. Zudem ist ihm klar, dass die Veröffentlichung seiner Informationen durchaus das Gegenteil dessen bewirken könnte, was er damit bezweckt. Vielleicht werden diese Informationen die Starkweather-Moore-Expedition keineswegs von einer Reise in die Antarktis abhalten, sondern sie im Gegenteil in ihrem Vorhaben bestärken – damit Dyers Behauptungen an Ort und Stelle überprüft werden können.

Doch trotz all dieser Vorbehalte entscheidet sich Dyer zum Reden. Denn nur wenn er mit Einzelheiten herausrückt, besteht die Chance, die zweite Antarktis-Expedition zu verhindern.

Nachdem Dyer versucht hat, persönliche Glaubwürdigkeit herzustellen, weist er seine Adressaten auf seine akademischen und wissenschaftlichen Verdienste hin. Er stellt sich seinen Lesern als Teilnehmer einer früheren Antarktis-Expedition vor, deren Ziel »in der Gewinnung tiefer Gesteins- und Bodenproben aus verschiedenen Teilen des arktischen Kontinents« bestand. Der Geologe Dyer hofft seine Leser wegen seiner nachweislich großen wissenschaftlichen Erfahrungen und Referenzen davon zu überzeugen, dass er nicht zu Hirngespinsten neigt. Deshalb setzt er auch hinzu, dass er »Leiter der Expedition der Miskatonic University« in die Antarktis war. Diese Führungsposition macht es noch unwahrscheinlicher, dass er ohne jeden ersichtlichen Grund sonderbare fantastische Behauptungen in die Welt setzt.

Nachdem er seine Glaubwürdigkeit als Erzähler nun, soweit ihm möglich, nachgewiesen hat, führt er als Erstes »äußere«, sozusagen objektive Tatsachen an, die jenseits seines subjektiven Berichts überprüfbar sind. Damit will er eine Grundlage der Glaubwürdigkeit für die wichtigsten Bestandteile seiner Zeugenaussage schaffen, die er erst später ins Feld führen will.

Bei der Erörterung der Ereignisse während der ersten Antarktis-Expedition erwähnt er, er besitze Abschriften mehrerer Funkbotschaften, die die Subexpedition unter Leitung des Biologen Lake an das von Dyer geleitete Hauptlager übermittelt habe. Dyer hatte angeordnet, diese Funkberichte auch an das Versorgungsschiff der Expedition, die Arkham, zu schicken. Das Schiff hatte diese Berichte dann an die Außenwelt weitergeleitet. Diese Berichte sind deshalb so wesentlich, weil sie Einzelheiten über die Entdeckung von mehreren vollständig konservierten Geschöpfen einer Spezies enthalten, die man später als die Alten Wesen oder Die Großen Alten bezeichnen wird.

Zwar haben Dyer und die anderen Mitglieder der Expedition in ihren Berichten über diese Wesen einige Details ihrer hoch entwickelten körperlichen Beschaffenheit der Öffentlichkeit vorenthalten, aber die Mitschriften der Funkbotschaften liegen immer noch vollständig vor und dienen sozusagen zur unabhängigen Untermauerung von Dyers Aussagen. Darüber hinaus verfügt Dyer über etliche Fotografien, die der Student Danforth und er von der Stadt auf dem »gigantischen Plateau hinter dem Gebirgszug« und den toten Großen Alten gemacht haben, die Lake mit seiner Unterexpedition in der Nähe seines Basislagers gefunden hat.

Dyer glaubt zwar, dass diese Fotografien als weiteres objektives Beweismaterial seine Behauptungen stützen können, doch zugleich ist ihm klar, dass viele Menschen sie als äußerst geschickte Fälschungen abtun werden. Doch er besitzt noch mehr: »abgetrennte Körperteile«, die die Expedition von den tatsächlich »pietätvoll bestatteten Exemplaren« der uralten Spezies mitgenommen hat, zusammen mit rätselhaften »zernagten Knochen und grünlichen Specksteinen«, in die fünfstrahlige Sterne geritzt sind.

Anschließend greift Dyer auf die Berichte anderer Teilnehmer der Expedition zurück und hofft dabei, dass seine Leser sie als glaubwürdig akzeptieren werden. Er setzt darauf, dass diese Gefährten als verlässliche Augenzeugen der von der Expedition entdeckten Geheimnisse dienen können, sofern einer der »wenigen führenden Köpfe der Wissenschaft« Verbindung mit ihnen aufnehmen möchte.

Alle diese unabhängig von Dyer existierenden Beweismittel tragen zwar dazu bei, eine glaubwürdige Grundlage für seine folgenden Ausführungen herzustellen, reichen aber nicht dazu aus, die Teilnehmer der neuen Expedition von der geplanten Forschungsreise abzubringen. Ihrem Eindruck nach zeigt das vorliegende Material nur, dass es in der Antarktis tatsächlich Rätsel zu lösen gilt.

Und so sieht sich Dyer gezwungen, das zu enthüllen, was er zusammen mit dem Studenten Danforth in der Stadt der Großen Alten entdeckt hat.

Das Material, das Dyer von seiner Reise zu der Ruinenstadt mitgebracht hat, ist nicht über jeden (berechtigten) Zweifel erhaben. Er begreift, dass seine Leser nur sein Wort für den Wahrheitsgehalt seiner Funde haben. Außerdem ist ihm klar, dass Danforth ihm nicht als verlässlicher Zeuge zur Seite stehen wird, denn der Student hat kurz nach der Rückkehr in die Vereinigten Staaten einen Nervenzusammenbruch erlitten. Also kann er sich nur auf die Glaubwürdigkeit stützen, die er, wie er hofft, schon im ersten Teil seiner Ausführungen hergestellt hat. Er erkennt, dass er seinen Bericht mit so vielen Einzelheiten wie möglich spicken muss, um Plausibilität zu erzeugen. Falls er irgendwelche Informationen zurückzuhalten versucht, werden diejenigen Oberwasser bekommen, die seine Enthüllungen womöglich einer überhitzten Fantasie zuschreiben werden. Eine Fülle nicht-diskursiver Details kann seine Aussagen zu den Entdeckungen in der Ruinenstadt glaubhafter machen. Darüber hinaus werden diese Details den Schlussfolgerungen – in denen er seinen Lesern klar darlegt, was seine und Danforths Entdeckungen für ihn und die ganze Menschheit bedeuten – besonderes Gewicht verleihen.

Auf kluge Weise baut Dyer den ersten Teil seiner auf Überzeugung abzielenden Argumentation also so auf, dass darin die Grundlage für seine Hauptaussage gelegt wird: zunächst, indem er auf sein Berufsethos als Wissenschaftler verweist; danach, indem er auf nicht an seine Person gebundenes Beweismaterial zurückgreift. Dennoch ist ihm klar, dass die Details seines Berichts nicht ausreichen werden, die Leserschaft von dessen Wahrheitsgehalt zu überzeugen. Sozusagen als stärkstes Geschütz muss er seinen Lesern nun maßgebliche Gründe dafür nennen, dass die Starkweather-Moore-Expedition gut daran tun wird, die Expedition abzublasen.

Jetzt wird er deutlicher und führt einen der wichtigsten Gründe dafür an, jede weitere Expedition in die Ruinenstadt zu unterlassen: die erschreckende Einsicht, dass die Menschheit nicht die einzige mit Intelligenz begabte Spezies ist, die je auf Erden gelebt hat. Anhand der Zeichnungen an den Stadtmauern hat Dyer Stück für Stück die komplexe und komplizierte Geschichte der Geschöpfe rekonstruiert, die die uralte Stadt erbaut haben. Die »Großen Alten« sind Wesen, die »von den Sternen herabgekommen« sind, Jahrmillionen, ehe die Menschheit sich erhob, um den Planeten zu beherrschen. »Sie schienen in der Lage«, heißt es, »auf ihren gewaltigen Membranschwingen den interstellaren Äther zu durchqueren« (…) »Die Reliefbilder erzählten von der Ankunft jener sternenhäuptigen Wesen aus kosmischen Weiten auf der noch unfertigen, unbelebten Erde.« Die Neuankömmlinge auf dem Planeten »hatten lange Zeit im Meer gelebt, fantastische Städte erbaut und furchtbare Kriege gegen namenlose Gegner geführt, wobei sie sich komplizierter Kampfwerkzeuge bedienten, deren Wirkung auf unbekannten Methoden der Energienutzung beruhte«.

Schon das unglaubliche Alter dieser Zivilisation ist für Dyer ein Argument, die zweite Expedition in die Antarktis zu stoppen, noch ehe sie sich auf den Weg gemacht hat. Dyer nimmt an, dass es die Menschheit in Angst und Schrecken versetzen wird, wenn sie erfährt, dass intelligentes Leben bereits vor Äonen auf der Erde existiert hat – lange bevor sich der Mensch zu einem mit Bewusstsein begabten Wesen entwickelte, das danach strebte, die Welt, in der es lebte, zu beherrschen und zu kontrollieren. Und die Spezies Mensch kann sich nicht einmal damit trösten, dass ihre Technologie weiter entwickelt ist als die der Großen Alten. Deren technische und wissenschaftliche Kenntnisse, etwa in der Mechanik, gingen weit über das Wissen hinaus, das die Welt besitzt, in der Dyer lebt.

Um dieser Richtung seiner Argumentation Nachdruck zu verleihen, teilt Dyer seiner Leserschaft mit, dass die Großen Alten keineswegs die einzige uralte Rasse gebildet haben, die früher die Erde beherrscht hat. Die Wandreliefs der Alten künden von einer Zeit, in der eine neue Landmasse im Südpazifik emportauchte, kurz vor der Ankunft »von Landlebewesen mit der Gestalt von Tintenfischen, bei denen es sich vermutlich um die sagenumwobene vormenschliche Rotte des Cthulhu handelte«. Die Bilder zeigen zahlreiche Schlachten zwischen den Großen Alten und der Rotte des Cthulhu, bis die Bedrohung durch diese Lebewesen ein Ende fand, als deren »abscheuliche steinerne Stadt«, R’lyeh, in den Tiefen des Pazifischen Ozeans versank.

Nun herrschten die Großen Alten erneut uneingeschränkt über den Planeten, ausgenommen die kurze Phase, als ihre Diener, die Shoggothen, rebellierten. Doch die Ankunft der Mi-Go, einer anderen Rasse aus den Tiefen des Raums, brachte erneut Krieg und Zerstörung mit sich. Die Wandreliefs erzählen, wie die Mi-Go die Großen Alten aus allen nördlichen Gebieten vertrieben. Schließlich zogen sich die Alten in ein letztes Refugium zurück, in eine Stadt, die durch das langsame Abdriften kontinentaler Landmassen in der Antarktis angeschwemmt wurde. Diese Stadt war es, die Dyer während der ersten Antarktis-Expedition entdeckte.

Die Wandreliefs verdeutlichten auch, dass mindestens drei interstellare Rassen und vielleicht auch eine auf Landmassen angesiedelte Spezies auf die Erde aufmerksam wurden – jede davon mächtiger und weiter entwickelt als die Menschheit.

Die unermesslich lange Geschichte all der Rassen, die in großen Schlachten um die Vorherrschaft auf der Erde gekämpft haben, liefert Dyer weitere Argumente für sein Plädoyer, die Antarktis in Ruhe zu lassen und nicht weiter zu erforschen. Denn damit würde der Menschheit zwangsläufig der Glauben daran genommen werden, dass sie als einzige mit Intelligenz begabte Spezies, die die Erde je bewohnt hat, eine besondere Stellung auf dem Planeten einnimmt.

Indem Dyer die Geschichte der Großen Alten erzählt, kann er mehrere Gründe dafür anführen, auf eine weitere Antarktis-Expedition unbedingt zu verzichten. Allerdings könnten seine Gegner erwidern, dass eine zweite Expedition der Menschheit möglicherweise neue Erkenntnisse über die Geschichte der Erde liefern werde. Und woher er denn wissen wolle, dass eine solche Wissenserweiterung die Menschheit zugrunde richten müsse, könnten sie nachlegen. In dieser Hinsicht reicht Dyers Argumentation bisher nicht aus, um ihr Vorhaben zu verhindern.

Da Dyer dieses Dilemma durchschaut, führt er weitere Gründe für seine ablehnende Haltung gegenüber einer zweiten Expedition an, wobei er rhetorisch so vorgeht, dass jedes neue Argument noch stärker wiegt als das vorangegangene. Zunächst geht er genauer auf mehrere Entdeckungen ein, die allesamt das Potenzial haben, die Glaubenssätze der Menschheit zu erschüttern. Die zusätzlichen Enthüllungen, die sich auf den Ursprung der Menschheit beziehen, hält Dyer für so gefährlich, dass er es für ratsam hält, sie sorgfältig unter Verschluss zu halten und ausdrücklich nur seinen Lesern, den »wenigen führenden Köpfen der Wissenschaft« zugänglich zu machen.

Seine Argumentation nimmt nun Züge persönlicher Betroffenheit an: Er teilt seinen Lesern mit, er sei seit seinen Entdeckungen davon überzeugt, dass die Menschheit in einem grausamen, amoralischen Universum lebe und nicht auf Hilfe durch ein wohlmeinendes höheres Wesen hoffen dürfe. Danach führt er einige Tatsachen an, die ihn zu dieser Aussage bewogen haben, angefangen bei den Ähnlichkeiten zwischen der Gesellschaft der Großen Alten und der menschlichen Zivilisation. Beispielsweise hätten die Alten ein Handelsnetz zwischen ihren Städten entwickelt, das dem Handelsaustausch zwischen modernen Staaten gleiche. Gerade die Aufdeckung solcher Ähnlichkeiten, so glaubt Dyer, werde sich als zerstörerisch für die von den Menschen geschaffene Kultur erweisen.

Die Gefahr, die in solchem Wissen liegt, wird deutlich, als Dyer berichtet, wie er den Wandreliefs entnehmen konnte, dass die Großen Alten eine ungeheure Vielfalt von Geschöpfen durch Zellevolution ins Leben riefen. Eines dieser Geschöpfe ist »ein watschelndes, primitives Säugetier (…), das von den Landbewohnern teils als Schlachtvieh, teils als lustiger Spaßmacher gehalten wurde – seine affenartigen und menschlichen Ansätze waren nicht zu übersehen«.

Eindeutig geht es Dyer in diesem Abschnitt seines Berichts darum, darauf hinzuweisen, dass die Menschheit sich auf Grundlage der von den Großen Alten durchgeführten Experimente entwickelt hat – was auch die Ähnlichkeit zwischen den Lebensweisen und Gesellschaften beider Arten erklärt. Keineswegs haben die Alten Charakteristika menschlichen Zusammenlebens in ihre Zivilisation übernommen. Es ist genau umgekehrt: Die Menschen ahmen ihre Schöpfer nach.

Dyer verdeutlicht das Gewicht seiner Entdeckung, soweit sie die Stellung der Menschheit im Verhältnis zu derjenigen der Großen Alten betrifft, indem er seine emotionale Reaktion auf den Tod vieler Großer Alter bei einem Shoggothenangriff beschreibt:

»… arme Große Alte! Wissenschaftler bis zuletzt – was haben sie getan, das wir an ihrer Stelle nicht genauso getan hätten? Gott, und was für eine Intelligenz und Beharrlichkeit! Was für ein Mut gegenüber dem Unglaublichen, gerade so wie ihre Artgenossen und Vorgänger den Mut aufgebracht hatten gegenüber Ereignissen, die kaum weniger unglaublich waren! Hohltiere, Pflanzen, Monster, Sternenbrut – um was auch immer es sich bei ihnen gehandelt hatte, sie waren Menschen!«

Die Großen Alten waren die »Urmenschen«, und deshalb stellt die Menschheit nichts anderes dar als eine blasse Kopie einer längst ausgestorbenen Zivilisation. Das ist die klarste Aussage der Erzählung, die zugleich am meisten beängstigt: Die Menschheit nimmt im Kosmos nur eine unbedeutende Stellung ein. Die Entdeckung, dass die Menschheit die Brut der Großen Alten ist, widerspricht nicht nur der Vorstellung, dass wir als eine ursprüngliche Lebensform entstanden sind. Sie enthüllt auch, dass man keine der menschlichen Leistungen und Errungenschaften als einzigartig betrachten darf. Alles ist nur eine blasse Kopie dessen, was schon vorher existiert hat.

Natürlich erschüttert die Erkenntnis, dass die Großen Alten die Menschheit hervorbrachten, auch den Glaubenskern aller großen Weltreligionen. Die Menschheit verdankt ihre Entstehung keinem gütigen Gott. Stattdessen sind wir das Ergebnis eines Experiments, durchgeführt von einer fremdartigen Spezies, die neue Lebewesen zur eigenen Ernährung und Unterhaltung schaffen wollte.

Diese Entdeckung und deren mögliche Konsequenzen unterstützen nachdrücklich Dyers Plädoyer dafür, dass die Menschheit keine weiteren Expeditionen in die Antarktis unternehmen sollte. Zusätzliche Munition gegen ein solches Vorhaben liefert Dyer seinen Adressaten durch die Mitteilung, dass zwei der anderen uralten Arten in der Antarktis überlebt haben und irgendwann in der Zukunft die Weiterexistenz einer ihnen im Grunde hilflos ausgelieferten Menschheit ernsthaft bedrohen könnten. Dyer berichtet auch, dass sich die Große Alten möglicherweise in eine andere Stadt zurückgezogen hatten, die in Höhlen unterhalb des antarktischen Festlands liegt. Während ihrer Expedition haben sich Dyer und Danforth bemüht, diese Höhlen zu finden, mussten jedoch umkehren, als sie auf die Shoggothen stießen, die die Spezies der Großen Alten ausgelöscht hatten. Da die Shoggothen nach wie vor existieren, stellen sie eine Bedrohung für die Menschheit dar, sofern sie eine Möglichkeit finden, Zugang zur Außenwelt zu erlangen.

Diese Enthüllung ist Teil von Dyers Strategie, im Laufe seines Berichts von Abschnitt zu Abschnitt überzeugendere, schlagkräftigere Argumente gegen eine zweite Antarktis-Expedition vorzubringen. Die Gefahr, die die Shoggothen für die Menschheit darstellen, wiegt sehr viel schwerer als der Nutzen, den die Menschheit bei Erforschung der Antarktis vielleicht aus der Erweiterung ihres Wissens ziehen könnte. Doch Dyer fürchtet, dass selbst die Möglichkeit der eigenen Vernichtung die Menschen nicht von einer zweiten Expedition ins Unbekannte abhalten wird. Deshalb stellt er das stärkste Argument gegen die geplante Antarktis-Reise ans Ende seines Berichts: Nicht nur die Shoggothen, sondern weit entsetzlichere Dinge bedrohen die Menschheit. Mit der Schilderung des schlimmsten vorstellbaren Grauens appelliert er ein letztes Mal an die Organisatoren der Starkweather-Moore-Expedition, ihr Vorhaben aufzugeben. Schon vorher hat Dyer seine Leser auf diese Enthüllung vorbereitet: durch die Beschreibung mehrerer Wandreliefs, auf die Danforth und er in der zerstörten Stadt gestoßen sind:

»Es scheint, als habe es ein Gebiet in diesem alten Land gegeben – jene Region, die als erste aus dem Wasser aufstieg, nachdem die Erde den Mond abgestoßen hatte und die Großen Alten von den Sternen herabgekommen waren –, das gemieden wurde, weil es aus nicht näher bestimmbaren Gründen als unsagbar böse galt. Städte, die man dort errichtet hatte, zerfielen vorzeitig und wurden hastig verlassen. Als dann im ausgehenden Jura das erste große Aufbäumen der Erdkruste diese Region erschütterte, wuchs inmitten des tosenden Chaos plötzlich der Kamm eines gewaltigen Gipfels empor – und die Erde hatte ihre höchsten und entsetzlichsten Berge bekommen.«

Das Böse, das hinter den höheren Gipfelketten lauert, muss sehr viel Macht gehabt haben, wenn es die Großen Alten in derartige Furcht versetzten konnte. In keinem der Wandreliefs wird die Quelle des Übels deutlich umrissen, doch den Großen Alten war klar, dass sie dieses Gebirge meiden mussten. Den einzigen Hinweis darauf, was dort verborgen sein mag, erhält der Leser dadurch, dass der Student Danforth vom Flugzeug aus durch eine Wolkenspalte einen Blick zurück auf diese Berge wirft. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten hat Danforth stets nur in wenigen Bruchstücken beschrieben, was er dort gesehen hat. Und mit diesen Andeutungen schließt Dyer sein Plädoyer:

»Einige Male hat er zusammenhanglose und unverantwortliche Dinge geflüstert über ›den schwarzen Abgrund‹, ›den gemeißelten Grat‹, ›die Proto-Shoggothen‹, ›die fensterlosen Räume mit fünf Dimensionen‹, ›den unbeschreiblichen Zylinder‹, ›den älteren Pharos‹, ›Yog-Sothoth‹, ›das urzeitliche weiße Gelee‹, ›die Farbe aus dem All‹, ›die Schwingen‹, ›die Augen in der Dunkelheit‹, ›die Mondleiter‹, ›das Ursprüngliche, das Ewige, das Untote‹ und noch mehr bizarre Begriffe.«

Mit diesen spärlichen Hinweisen auf das im Gebirge lauernde Böse appelliert Dyer einerseits ein letztes Mal an die Organisatoren der geplanten Expedition, alle Vorbereitungen abzubrechen, andererseits will er seine Leserschaft dazu bewegen, eigenständige Schlüsse aus seiner Argumentation zu ziehen. Er lässt sie mit schauderhaften Bildern zurück, sodass sie sich fragen müssen, was genau Danforth denn eigentlich erblickt hat. Was dieses Grauenhafte ist, liegt im Dunkel. Aber es hat eindeutig solche Macht und ist so bedrohlich, dass es die Großen Alten in ihrer langen Geschichte – einer Geschichte voller Kämpfe gegen andere Arten und Kräfte, die auf ihre Vernichtung aus waren – mehr als alles andere in Angst und Schrecken versetzt hat.

Unausgesprochen schwingt in Dyers Ausführungen etwas mit, das seinen Lesern zu denken geben muss: Wenn dieses Böse selbst den Großen Alten solche Angst einjagen kann und das Potenzial besitzt, ihnen Fürchterliches anzutun, wie viel bedrohlicher muss es dann für eine von den Großen Alten geschaffene Spezies sein! Gegen eine solche Macht könnte die Menschheit niemals etwas ausrichten und müsste ständig in Furcht vor der grausamen und endgültigen Vernichtung leben. Das ist das schlimmste vorstellbare Übel, das die Expedition der Miskatonic University aufgedeckt hat, aber derzeit ist es noch nicht bekannt, da Dyer und Danforth niemals darüber gesprochen haben. Dyer will seine Leser davon überzeugen, dass man dieses finale Geheimnis und alles, was in den unerforschten Teilen der Stadt noch lauern mag, besser nicht antastet oder der Öffentlichkeit enthüllt. Denn würde offenbar werden, was jene Ruinen bislang noch eindämmen, würde das die menschliche Gesellschaft und deren Grundauffassungen für alle Zeiten verändern und höchstwahrscheinlich sogar vernichten. Damit endet die Geschichte, und der Leser muss sich fragen, ob Dyers Warnung ein in der Zukunft liegendes Ereignis – die zweite Expedition in die uralte Stadt in der Antarktis – hat verhindern können.

H. P. Lovecrafts Erzählung Berge des Wahnsinns zählt zu den besten seiner fiktiven Prosatexte. Es ist eine sorgfältig konstruierte Geschichte über die Entdeckung einer unsagbar alten Stadt voller Geheimnisse, die eine Bedrohung für die Weiterexistenz der gesamten Menschheit darstellen könnten, und die verzweifelten Bemühungen eines Wissenschaftlers, die Enthüllung dieser Geheimnisse zu verhindern. Sie fasziniert nicht nur durch ihre fantastische und beängstigende Bildersprache, sondern auch wegen ihres raffinierten Aufbaus.

Im Kern besteht sie aus einer auf Überzeugung abzielenden Argumentation. Dyers gut durchdachtes Plädoyer dafür, auf eine erneute Antarktis-Expedition zu verzichten, beweist Lovecrafts Fähigkeit, Vorbilder altgriechischer Rhetorik für die Schauerliteratur des Zwanzigsten Jahrhunderts nutzbar zu machen. Die Ausführungen des Ich-Erzählers stehen in der Tradition klassischer Reden, auch wenn es sich hier um das fiktive Plädoyer eines fiktiven Erzählers handelt. Die von Lovecraft konstruierte, auf Überzeugung angelegte Argumentation stellt weit mehr als eine schlichte Warnung vor künftigen Erkundungen unseres Planeten dar. Sie konfrontiert den Leser mit einer neuen Wirklichkeit und neuen Einsichten darüber, wie die Welt beschaffen ist, die die Spezies der Menschen zu beherrschen und zu kontrollieren sucht.

Besonders in jenen Schlussfolgerungen Dyers, die die Ohnmacht der Menschheit angesichts eines grausamen und gleichgültigen Kosmos betreffen, schlagen sich Lovecrafts eigene grundsätzliche Annahmen über die Welt, in der er lebte, nieder. Zur Vermittlung dieser Auffassungen benutzt er die klassische rhetorische Form der auf Überzeugung abzielenden Argumentation, die den Leser in die Handlung und deren Ausgang einbezieht. Struktur, Stil und Form der Erzählung Berge des Wahnsinns verdeutlichen eindrucksvoll, dass klassische rhetorische Muster ihre Kraft und Nützlichkeit selbst heute noch in Bereichen entfalten können, die mit der gesprochenen Rede und dem nicht-mimetischen Diskurs vergangener Epochen kaum noch etwas gemein haben.

Literaturhinweise der englischen Originalfassung

Aristotle. On Rhetoric: A Theory of Civic Discourse. Translated by George A. Kennedy. New York: Oxford University Press, 1991.

Burleson, Donald R. Lovecraft: Disturbing the Universe. Lexington: University Press of Kentucky, 1990.

Joshi, S. T. H. P. Lovecraft. Starmont Reader’s Guide 13. Mercer Island, WA: Starmont House, 1982.

Lévy, Maurice. Lovecraft: A Study in the Fantastic. Translated by S. T. Joshi. Detroit: Wayne State University Press, 1988.

Price, Robert M. H. P. Lovecraft and the Ctulhu Mythos. Mercer Island, WA: Starmont House, 1990.

Literaturhinweise der deutschen Übersetzung

Christoph Rapp: Aristoteles, Rhetorik. Übersetzung, Einleitung und Kommentar, 2 Bände, Berlin 2002.

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Originaltitel und Copyrightangaben:

H. P. Lovecraft: Berge des Wahnsinns. ›At the Mountains of Madness‹.

Copyright © 1936 by Street and Smith Publishing Company for Astounding Stories Magazine.

Aus dem Amerikanischen von A. F. Fischer.

Will Murray: Das Problem mit den Shoggothen. ›The Trouble With Shoggoths‹.

Copyright © 1985 by Will Murray for Crypt of Cthulhu #32, 1985.

Aus dem Amerikanischen von Usch Kiausch.

David A. Oakes: Eine Warnung an die Welt: Der Appell in Berge des Wahnsinns. ›A Warning to the World. The Deliberative Argument of At the Mountains of Madness‹.

Copyright © 1998 by David A. Oakes for Lovecraft Studies 39, Necronomicon Press, USA

Aus dem Amerikanischen von Usch Kiausch.

Impressum

1. Auflage Oktober 2015

© dieser Ausgabe 2015 by Festa Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-423-2

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