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AFRIKAimageWUNDERHORN

Reihe für zeitgenössische afrikanische Literatur

Herausgegeben von Indra Wussow

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BINYAVANGA WAINAINA

EINES TAGES WERDE ICH ÜBER DIESEN ORT SCHREIBEN

ERINNERUNGEN

AUS DEM ENGLISCHEN
VON THOMAS BRÜCKNER

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Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom-Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e. V.

Titel der Originalausgabe:

Für Mum im Himmel & für Babs in Naks

Für Jim, für Ciru (unajua ka-magic ketu kadogo),

für Chiqy Für Wee William Wilberforce, für Bobo,

für Mary Rose, Emma und Eddy

Für AN – du weißt schon …

Alles, alles Liebe und Danke.

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

DANK

EDITORISCHE ANMERKUNG

GLOSSAR

Die Namen einiger Personen wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.

KAPITEL 1

Nachmittag. Wir spielen hinter dem Haupthaus Fußball, gleich bei der Wäscheleine. Jimmy, mein Bruder, ist elf und meine Schwester Ciru ist fünfeinhalb. Ich bin der Torwart.

Ich bin sieben und habe immer noch keine rechte Ahnung, warum anscheinend alle um mich herum wissen, was sie tun und warum sie es tun.

»Du bist nicht fett.« Das sagt Mum mir immer wieder. »Du bist pummelig.«

Ciru hat den Ball. Sie ist klein und schmal und goldig. Sie hat spitze Ellbogen und ein Lächeln so klar wie eine Bleistiftzeichnung. Ganz ebenmäßig gräbt es sich in ihre Wangen. Sie rennt auf Jimmy zu. Der ist groß und stark und dunkel.

Sie ist der Star ihrer Klasse. Wir haben 1978, und wir gehen alle drei in die Lena Moi Primary School. Ciru durfte letztes Trimester eine Klasse überspringen. Jetzt ist sie in Standard Two wie ich, im Klassenzimmer nebenan. Im ersten Trimester in Standard Two hat sie alle hinter sich gelassen und war Klassenbeste. Dabei ist sie die Jüngste. Alle anderen sind schon sieben.

Regungslos stehe ich zwischen den Metallstangen, die wir als Tor benutzen, und schaue zu, wie Ciru und Jim spielen. Stoßweise strömt mir der warme Atem aus den Nasenlöchern am Mund vorbei und teilt mir das Kinn. Ich kann das rosa leuchtende Fleisch meiner Lider sehen. Zufällige Geräusche dringen mir in die Ohren: Autos, Vögel, die Klingeln der Black Mambas, Kinderstimmen aus der Ferne, Hunde, Krähen und die Nachmittagsmusik des staatlichen Radiosenders. Kongo-Rumba. Vor unserem Grundstück unterhalten sich Leute in Sprachen, deren Klang ich kenne, von denen ich aber kein Wort verstehen oder gar sprechen kann, Luhya, Gikuyu.

Mein Lachen ist weit weg, tief in mir, wie bei einem Auto, das am Morgen nicht starten will, wenn der Zündschlüssel umgedreht wird. Es ist immer Ciru, die in der Schule die Beste ist, mit blauen und roten und gelben Sternchen auf jeder Seite. Immer ist es Ciru, die im weißen Kleid am Parents’ Day dem Ehrengast – Mr. Ben Methu – die Blumen überreichen darf. Wenn wir baden, spritzen und lachen und raufen wir und bald erfasst uns ein Tränenfieber oder ein Lachanfall.

Sie windet sich, den Ball vor den Füßen, um Jimmy herum und kommt auf mich zu. Ich bin bereit. Ich bin konzentriert und federe in den Knien. Ich warte auf den Ball. Jimmy rennt, um ihr den Ball abzunehmen; sie verkeilen sich und keuchen. Vor wenigen Augenblicken noch war die Sonne ein einziger gleißender Strahl. Jetzt ist sie in die Bäume gefallen. Im ganzen Garten toben tausend winzige Sonnen, blinzeln kugelförmig durch die Lücken im Laub und feuern tausende Strahlen ab. Die Strahlen fallen auf Äste und Blätter und zersplittern in zahllose kleinere vollkommene Sonnen.

Ich lache, als Ciru lacht, und in ihrem Lachen finde ich mich, und wir fallen hin und halten einander fest. Ich kann spüren, wie das Lachen in ihr anschwillt, noch bevor es aus ihr herausbricht, und da steigt es auch in mir hoch.

Ich weiß, wie ich mit ihren Launen umgehen muss, und ich weiß, wie ich mit Jimmys Launen umgehen muss. Meine Launen trampeln sich immer gegenseitig auf den Füßen herum, wenn ich unter Menschen bin. Sicher sind sie nur, wenn ich allein bin. Oder wenn ich in den Tag hineinträume.

Ciru lacht laut, ihr Mund ist weit offen und rot. Der Ton springt mich an, geflügelte Klangflächen, aber ich bin schon verloren. Arme und Beine und Ball sind vergessen. Die tausend Sonnen atmen. Sie atmen ein, legen sich matt und kühl zwischen die Blätter, und ich passe meine Atemzüge ihrem Rhythmus an; dann atmen sie aus und pusten Licht, das meinen Körper wärmt. Ich will mich schon völlig darin aufgehen lassen, als mir ein Gedanke kommt.

Die Sonne splittert gar nicht in Stücke.

Sie zersplittert nicht in körperlose Einzelteile, wenn sie in die Bäume und Dinge fällt. Jedes Sonnenstückchen bleibt immer eine vollständige kleine Sonne.

Ich fahre wieder in meine Arme und Beine und stehe im Tor und will Jimmy und Ciru die tausend Sonnen erklären. Ich bin ganz aufgeregt. Diesmal werden sie mir glauben. Ich werde nicht wie sonst oft als Dummkopf dastehen, wenn ich das sage und sie dastehen, mich ansehen, die Augen verdrehen und mir sagen, ich hätte nicht mehr alle Murmeln im Sack, Dassichdasnochmalsagensoll. Sie kommen näher. Jimmy schreit. Bevor ich wieder voll und ganz bei mir bin, platzt in meinem Ohr ein Loch auf. Der Ball trifft mich mitten ins Gesicht. Ich gehe zu Boden.

Toooor. Tausend Sonnen entladen sich in feuchtem Gelächter; sogar das Radio lacht. Ich schaue hoch und sehe, wie sie sich beide über mich beugen, schweißtropfend, die Hände in den Hüften.

Jimmy verdreht die Augen und sagt: »Du hast sie doch nicht mehr alle.«

»Ich hab Durst«, sagt Ciru.

»Ich auch«, meint Jim, und schon sind sie auf und davon, und ich will aufstehen und mit ihnen mitrennen. Mein Gesicht tut weh. Juma, unser Hund, leckt mir das Gesicht. Ich schmiege mich an seinen Bauch; meine Nase stupst in sein Fell. Die Sonne ruht unter den Bäumen, der Himmel ist klar, und ich bin nicht mehr zerteilt und in der Gegend verstreut. Ich rapple mich hoch und springe auf die Beine. Juma winselt wie ein jaulender Automotor. Ich pumpe meine Füße vorwärts, hole meine Stimme hervor und schwinge sie wie ein Lasso, um ihren Durst-Beschluss einzufangen.

»Hey!«, schreie ich. »Ich auch, ich hab auch Durst!«

Sie hören mich nicht.

Sie laufen nicht in Richtung Küche, und ich renne ihnen hinterher, mit Juma auf den Fersen, im Garten durch hohe Büschel aus ungemähtem Gras und kurve wie sie um Babas Traktoren herum, schlage Bogen, um Hundescheiße auszuweichen, renne im Kikuyu-Gras durch Schatten und abklingende Sonne, vorbei an kleinen Termitenhügeln und Haufen mit vergessenen landwirtschaftlichen Ersatzteilen, die sich hinter der Hecke stapeln, die das Wohnhaus von den Hütten der Hausangestellten trennt. Dann biegen sie ab und rufen Hi zu Zablon, dem Koch, der in weißem Unterhemd und blauen Hosen gerade Geschirr spült und nach Lifebuoy-Seife und Holzkohle riecht. Ich rufe auch Hi und kann jetzt ganz gut mit ihren Bewegungen mitfliegen. Sie halten kurz an und biegen dann auf unsere übliche Rennpiste von den Hütten der Hausangestellten hin zur Küche.

Dort hole ich sie ein. Juma stupst die Nase gegen Jims Beine, und ich sehe zu, wie sie aus Gläsern die kühle Flüssigkeit hinunterstürzen, sehe, wie es ihnen die Wangen und den Hals hinunterläuft. Jim hat gelernt, ein ganzes Glas Wasser in einem einzigen Zug auszutrinken. Es fließt die Speiseröhre hinab, Murmelbläschen, die durch eine weiche, durchscheinende Klangröhre rollen wie bei einem Frosch.

Er knallt das Glas auf den Tresen, rülpst, dreht sich um und sieht mich an.

Was ist Durst? Das Wort splittert in hundert kleine Sonnen. Ich hebe mein Glas und sehe hoch. Ciru schaut mich an. Auch ihr Glas ist schon leer, als sie sich mit dem Unterarm die Lippen abwischt.

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Ich bin in meinem Zimmer. Allein. Vor mir steht ein Glas Wasser. Ich will versuchen, es so wie Jimmy hinunterzustürzen. Dieses Wort: Durst, durstig. Es steckt voller Entschlusskraft. Es treibt einen zu schnellem Handeln. Wörter, denke ich, müssen konkrete Dinge sein. Es kann doch nicht sein, dass sie nur deren Andeutungen sind, unscharfe Bilder: vereinzelte, wandelbare Wahrnehmungen?

Manchmal machen wir uns den Spaß und stibitzen Babas alte Golfbälle und werfen sie ins Feuer. Am Anfang rollen sie sich in einer Art Ekstase ein, als streichle man eine Katze. Dann beulen sie sich aus, beginnen zu blubbern und zu hüpfen, dann schießen sie wie Gewehrkugeln aus dem Feuer, gehäutet und frei. Unter der Haut befinden sich fest gewickelte Gummibänder, und die können wir jetzt ausrollen, und uns ansehen, wie die Bälle immer kleiner und kleiner werden, und die Gummibänder werden länger und länger, sodass es unmöglich scheint, dass sie aus diesem kleinen, harten Ball kommen.

Ich möchte so gewiss Durst haben wie Jimmy und Ciru.

In Wasser steckt mehr Form und Präsenz als in Luft, aber es ist eben farblos. Hast du erst einmal die Form des Wassers im Mund, entdeckst du deinen Körper. Weil Wasser rein ist. Es macht, dass du deinen Mund schmeckst, die Röhrenform deiner Kehle spürst und fühlst, wie dein Bauch zum Ball wird, wenn du trinkst.

Ich rülpse. Und reibe mir den Magen, weil es dort grummelt. Ich spiele mit dem Wasserhahn und mir fällt auf, dass das Wasser weiß wird, wenn man den Hahn voll aufdreht. Wasser hat Gestalt und Form und Richtung, wenn es mit Geschwindigkeit aus dem Hahn braust. Ich halte die Hand unter den Hahn und spüre, wie fest es ist.

Der Umriss eines Gedankens nimmt Gestalt an. Luft und Wasser und Glas. Wenn Wind sich schnell bewegt, gibt er der Luft Form; wenn Wasser sich schnell bewegt, nimmt es Form an. Vielleicht … Vielleicht ist Glas Wasser, das sich mit Übergeschwindigkeit bewegt? Wie im Fernsehen, wenn der Superheld sich so schnell fortbewegt, schneller als die Verwischung hinter ihm, dass er tausendmal schon wieder bei sich ankommt, bevor man überhaupt sieht, dass er sich rührt.

Nein. Nein. Durst ist … ist … eine schmerzende Leere, ein kleiner, hilflos schnappender Fisch an Land. Er treibt dich aus dem Überallundnirgendwo der Luft heraus, aus deinem atmenden Ich; du bist dann ein Strömen, ein unbeweglicher, fließender Ort, ein trinkendes Ich. Durst kommt eine Stufe vor dem Hunger. Der wohnt in einem festen Körper, einem Körper, der riechen, schmecken, sehen kann und Farben braucht. Ja genau!

Trotzdem – ich kann immer noch nicht sagen, warum das Wort mich so unsicher und grüblerisch macht. Ich schaffe es nicht, dass mir das Wasser mühelos die Kehle hinunterfließt. Es steigt mir in die Nase und nimmt mir den Atem. Andere Leute leben in einer Wörterwelt, und Begriffe wie Durst haben besitzen in ihrer Wörterwelt Länge, Breite und Höhe, haben eine feste Beschaffenheit, eine blinde Zugehörigkeit wie Hände und Zehen und Bälle und Türen. Sobald sie ihr Wort aussprechen, beginnt ihr Körper zu handeln, bestimmt und genau.

Ich stehe immer da und sehe zu, wie die Leute kühn nach dem Ruf der Wörter handeln. Ich kann ihnen nur folgen. Sie scheinen weder zu stolpern noch in die Löcher zu fallen, die ihre Überzeugung nicht sieht. Also muss ihre Sicherheit die richtige Welt sein. Ich setze das Glas ab. Irgendetwas stimmt mit mir nicht.

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Wir sind auf dem Nachhauseweg von einem Familientag in Molo. Wir knabbern House-of-Manji-Kekse.

Letzte Woche hat sich Beatrice, die mit mir in eine Klasse geht, das Bein gebrochen. Sie haben ihr Bein mit weißem Gips überzogen. Der Wasserboiler bei uns zuhause ist mit weißem Gips überzogen. Beatrices Zehen sind dicke, graue Zecken. Der Wasserboiler ist ein plumper Zylinder hinter weißem, pappighartem Zeug, wie Beatrices neues Bein. Sie hat jetzt Krücken.

Crunch, Knuspern, heißt etwas zerbeißen, damit man die knisternde Süße schmeckt. Crunch – Knack! Eclairs. Crutches – Krücken fallen um und zerbrechen. Crutch – Krach!

Kekse.

Uganda, das Heimatland meiner Mum, fiel und zerbrach. Crutch, Krach!

Ugandas Präsident, Feldmarschall Amin Dada, verspeiste seinen Minister zum Abendessen. Den Kopf des Ministers bewahrte er im Kühlschrank auf. Sein Sohn trägt die gleiche Uniform wie er. In den Fernsehnachrichten stehen sie nebeneinander und nehmen eine Parade ab.

Ich döse. Ciru schläft tief und fest. Jimmy bittet Baba anzuhalten, weil er pinkeln muss.

Ich merke sofort, dass ich auch pinkeln muss.

Wir halten auf dem Buckel über einem Tal, das sich unter uns zu einem Puzzle aus Gärtnereien verläuft. Ich wollte schon immer mal an den Bruchlinien dieses Puzzles entlangwandern. Da draußen, in der Ferne, wartet die Welt, unbestimmt, unscharf und bezaubernd.

Ich möchte durch die Säume gleiten und auf die andere Seite hinüber.

Nachdem ich gepinkelt habe, gehe ich einfach weiter: ins Tal hinunter, vorbei an Unkraut jätenden, erstaunt aufblickenden Mammas, über einen schmalen Bach, durch eine Rinder-boma, deren Boden mit Dung bedeckt ist.

Sieh nur, sieh mal den Fieberbaum!

Sein Blätterdach ist wuschelig, die Rinde glänzt in Grün und Gold. Es sieht aus, als sei er mit spitzem Bleistift von der Seite gezeichnet, damit er seine scharfen Kanten jedem in die Seele schneiden kann, der ihn aus der Ferne betrachtet. Man klettert nicht auf ihn hinauf; er hat Dornen. Dieser Baum ist die Akazie.

Sie ist zum Träumen gemacht.

Ich bin enttäuscht, dass diese ganze ferne Landschaft, blau und dunstig, wie sie zunächst war, immer wirklicher wird, je näher ich ihr komme: Da gibt es keine Unbestimmtheiten, an denen die Klarheit verschwimmt, an der die Gewissheit kraftlos wird und die Träume wirklich werden.

Einige Zeit später sehe ich, wie mein Bruder Jimmy hinter mir her gerannt kommt. Damit fängt ein neues, spannendes Spiel an: ihn auf Abstand zu halten, immer schneller zu rennen.

Ich verwandle mich in einen Gummiriesen, einen Superhelden, den die Cartoon-Geschwindigkeit immer länger werden lässt. Ich bin so lang wie die Entfernung zwischen ihm und mir. Die Welt aus Licht und Wind und Klang schlägt mir ins Gesicht und ich werde schneller und schneller.

Wenn ich mich anstrenge, kann ich sie in mich aufsaugen, kann das ganze Vorbeizischen der Welt in mir aufnehmen. Ich beiße die Zähne zusammen, stähle meinen Bauch.

Er kommt, der Augenblick kommt.

Wenn ich diesen Augenblick richtig erwische, kann ich meine Sinne aus mir herausplatzen und in der Welt aufgehen lassen, die ich dann wie einen Wagen hinter mir herziehe. Wie einen Golfball, der aus dem Feuer schießt. Nein! Nein! Nicht wie ein Golfball! Da flatterte die Welt sinnlos hinter mir her, wie … wie der Umhang eines Superhelden.

Frei werde ich sein, frei von meiner Schwerfälligkeit, frei von Ciru, von Jimmy, von Träumen über Idi Amin. Die Welt wird zu Streifen aus blendendem Licht. Mein Körper reißt sich vom Vorbild der anderen los, wie ein Klettverschluss.

Später wache ich auf der Rückbank des Autos auf.

»Da sind wir«, sagt Mum immer gern, wenn wir zuhause ankommen. Meine Haut glüht, und Mums sanfte Knöchel streichen mir über die Stirn. Draußen kann ich zehntausend heiße, prickelnde Grillen im Chor zirpen fühlen. Ich möchte mir die Kleider herunterreißen und meine Haut in der knisternden Nacht nackt sein lassen. »Shhh«, flüstert sie, »shh, shh«, und ein rosa schmeckender Sirup läuft mir die Zunge herunter, und Babas starke Arme legen sich unter meine Knie. Ich werde zwischen die gebügelten Laken geschoben, die wie eine Lasche über die Decke zurückgeschlagen sind. Mum zieht sie mir über den Kopf. Ich bin ein Brief, denke ich, ein heiß brennender Brief, und ich sehe eine große, sirupklebrige Zunge, die sich daran macht, den Umschlag anzulecken und mich darin einzuschließen.

Ein paar Minuten später bin ich hoch und tapse hinüber zu Jimmys Bett.

KAPITEL 2

Sophia Mwela wohnt im Nachbarhaus. Sophia geht in meine Klasse. Sie ist Klassensprecherin. Ich sitze neben ihr, aber sie redet kaum mit mir. Sie ist immer Klassenbeste, wie Ciru. Ihre Familie ist reich und piekfein. Die Mwelas sprechen durch die Nase wie die Leute im Fernsehen, wie die Leute aus England oder Amerika. Wir sagen wrengwreng dazu. Ihr Haus hat ein Obergeschoss, und sie haben einen Butler und einen Fahrer mit Livree. Sie nehmen Klavierunterricht.

Ihr Vater arbeitet für Union Carbide. Er ist der Chef und deshalb arbeiten sogar Weiße für ihn. Ciru und ich werden es denen mal so richtig zeigen. Wir werden uns als Amis verkleiden. Das ist meine Idee.

Ciru und ich fallen in Mums Kleiderschrank ein. Ich setze mir eine von ihren Afro-Perücken auf, schminke mich mit Lippenstift und ziehe hochhackige Schuhe an, die ich mit Klopapier ausstopfe. Ich sage zu Ciru, dass sie sich auch in Schale werfen soll. Nein, sagt sie. Wir wollen so tun, als ob ich ihre Cousine aus Amerika wäre. Ich pudre mir das Gesicht, und wir müssen niesen. Ein leuchtendes Midi-Kleid. Ein Maxi für mich. Ich schiebe mir massenweise rosa Big-G-Kaugummi-Würfel in den Mund. Wir klettern auf den Baum, Ciru und ich, auf den Baum, der unsere Hecke von deren trennt.

Wir rufen Sophia.

»Sophiaaah«, brüllt Ciru. Wir kichern.

»Sophiaaanh«, brülle ich, so richtig amerikanisch. »Sow-phiaaanh.«

Sophia kommt, würdevoll, den Kopf zur Seite geneigt, die Stirn gerunzelt, wie eine ernstzunehmende Person, wie jemand, der etwas weiß, von dem wir keine Ahnung haben.

»Das ist meine Cousine Sherry aus Amerika. Sie ist Negerin«, sagt Ciru.

»Haaangi. Wrengwreng«, sage ich ganz amerikanisch, wiehere durch die Nase und lasse eine kleine Kaugummiblase vor dem Mund platzen. Mir fallen gleich die High Heels ab.

»Ich komm von Ohi-ow. Laas Angelis. Airrrprrrt, Baarston. Wrengwreng …«

Ich fächle mir Luft ins Gesicht und mache einen Kussmund wie die Frau auf der Lux-Seife. Dann lasse ich die Lippen schmatzend platzen. Mpah!

Sophia fragt: »Wie ist es in Ohio?«

»Oh, groovy. Is so richtig wrengwrengwreng.«

Ich sage: »Bin mit Pan Am gekommen. Mit ner siebnfiersiebn …«

Sie dreht den Kopf und nickt. Sieh nur! Sie glaubt’s!

Ich zucke mit den Schultern: »Bin einfach nur mal innen Jet, weißnich wann ich zurückfliege.«

Sie wendet sich ab.

»Ruf mich an. Meine Nummer is fünf-fünf-fünf …«

Am nächsten Tag petzt Sophia allen in der Klasse, dass ich die Kleider meiner Mutter angezogen und so getan hatte, als käme ich aus Amerika.

Sie kriegen sich gar nicht mehr ein vor Lachen.

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Jimmy verdreht gern die Augen und sagt so groovy amerikanische Sachen wie: »Du hast doch nicht mehr alle Murmeln im Sack« und »Daskannstdulautsagen.«

Tausende Murmeln – jede mit einem Gummiband an deinem Verstand befestigt – werden von ihm in die harte, glatte Welt verstreut, die er vor sich sieht.

Golfballmurmeln.

In der Welt, die du siehst, wogen unzählige parallele Wellentäler – eine Million Gedankengassen. An jedem neuen Tag wirfst du deine Murmeln in die Welt und folgst ihnen mit Füßen und Armen und Schultern, und schon bald nisten einige Murmeln knallbunt in den Furchen und rollen, von dir gesteuert, mit Autorität und Präzision und wachsender Kühnheit weiter.

Jede Murmel ist eine vollkommene, kleine, runde Version von dir selbst. Das ist wie mit den Sonnen.

Groovy in der Rille.

Aber genau in dem Augenblick, in dem deine Murmel vorwärts trudelt, so toll die Wände deiner Furche hochrollt und wieder runterkullert, sich bis an den Rand wagt, da werden das Pfeifen und Kaugummikauen und Downhill-Biking und Jo-Jo-Schnipsen und amerikanischer Schotter, auf den vor deinem Schlafzimmerfenster der Regen schlägt, zu einer bratenden Wurst, und bratende Würste können sich verwandeln und zu blutigen, sich windenden Eingeweiden werden, oder zu einer Armee schnauzbartstachliger Ziehharmonikas, die hinter dir her sind und lachen wie Idi Amin.

Deine Murmel rutscht aus der Rille und rasselt in eine andere, in der schon eine Murmel rollt und sie klackern aneinander, und dann machen Würste und Schotter und Eingeweide und hundert wahnsinnige Ziehharmonikas einen donnernden, schwammigen Krach.

Und da setzt du dich in Bewegung, voller Panik und verloren. Ich fürchte mich vor Ziehharmonikas, vor schwammigen Geräuschen, davor, nicht mehr alle Murmeln im Sack zu haben.

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»Hier ist Voice of Kenya Television. Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann wird Ihnen präsentiert von KJ Office Supplies.«

»Sieht gut aus bei NASA One.«

»Roger. BCS-Arm ist eingeschaltet.«

»Okay, Victor.«

»Raketenarm-Landung eingeschaltet.«

»Drosselklappe auf. Schutzschalter ein.«

»Verbindung getrennt.«

»Roger.«

»Innenbord- und Außenbordmotoren ein.«

»Ich komme mit Querslip rein.«

»In Ordnung.«

»Ah, Roger.«

»Ich hab einen Fresser. Luftklappe drei!«

»Neigungswinkel auf null stellen.«

»Neigungskontrolle ist aus! Kann die Höhe nicht halten!«

»Korrigiere, Alpha Hold ist aus, nehme Wählschalter – Notfall!«

»Flight Com! Ich kann sie nicht halten! Sie bricht auseinander, sie bricht aus –«

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Samstag.

Ich tue so, als hätte ich Nasenbluten, und Mum lässt mich mit ihr zur Arbeit gehen.

Ich will auf keinen Fall Sophia Mwela über den Weg laufen. Ich weiß, dass sie an die Hecke zwischen unseren Häusern kommen und nach Ciru rufen und sie fragen wird, wo ihre amerikanische Cousine steckt.

Und sie wird lachen.

Mit Ciru rede ich nicht. Die lacht keiner aus. Ich möchte heute nicht zuhause bleiben. Jimmy hat keine Ahnung, was passiert ist. Ich bin mir aber sicher, dass Ciru es ihm erzählen wird.

Mum hat ein Friseurgeschäft, das einzige ordentliche Friseurgeschäft in Nakuru, und das ist die viertgrößte Stadt in Kenia. Es heißt Green Art. Mum verkauft auch Gemälde und Holzschnitzereien.

In Mums Friseurgeschäft setze ich mich unter den riesigen buckligen Raumfahrer auf den Fußboden. Ich kann aufgebrühten Kaffee riechen, aus dem Kenya Coffeehouse nebenan.

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Der Trockenhauben-Astronaut hat einen grauen Plastikkopf. Sein Gesicht ist ein riesiges Loch, das mich anstarrt, und das Loch ist ein flaches, rundes Netz, damit er heiße Luft verblasen kann. Ich stecke meinen Kopf in seinen Helm und spiele Sechs-Millionen-Dollar-Mann.

Mary schwatzt mit Mum über Idi Amin. Sie reden immer über Idi Amin auf Luganda, Marys Muttersprache, die Mum ebenfalls fließend kann, obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. Musevenis Rebellenarmee steht in Tansania und sammelt sich. Während sie reden, knabbern sie gemächlich am gerösteten Mais. Mum kann Kinyarwanda (Bufumbira), Luganda, Englisch und KiSwahili. Baba spricht Gikuyu, KiSwahili und Englisch. Wir Kinder sprechen nur KiSwahili und Englisch. Baba und Mum sprechen Englisch miteinander.

Heute werde ich ein stiller Superheld sein. Mit meiner Tarnkappe durch den Himmel sausen. Mit meinen bionischen Muskeln.

Ich werd es ihnen zeigen.

»Steve. Austin. Ein Maann, der kaumnoch lebt«, sage ich wrengwreng-amerikanisch. »Gennlemen, wir könn’ ihn wieda aufbaun. Wir habn die Teck-noloschie. Wir können den ersten bionischen Menschen der Welt baun … Ich kann sie nicht haltn; sie brrriiicht auseinanda! Sie brrriiicht …«

Der Plastikhelm der Trockenhaube ist von meinem Atem beschlagen. Ich fange an, mit dem Finger darauf zu schreiben.

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Mary hat große, sanfte Augen, und beim Gehen schwingt sie die Hüften, sodass Ciru und ich immer kichern müssen.

Idi Amin bringt Leute um und wirft sie den Krokodilen vor. Tote Leiber verstopfen den Nil. Wir haben viele Onkel und Tanten in Uganda. Meine Großeltern, Mums Eltern, wohnen in Uganda.

Babas Freund ist an der Grenze verschwunden, nur noch seine zerbrochene Brille hat man in einem Massengrab gefunden.

Mary kommt aus Buganda. Sie ist vor Amin nach Kenia geflohen. Viele Leute fliehen vor Amin nach Kenia. Mum ist eine Bufumbira. Trotzdem spricht Mum Marys Muttersprache, weil Mum in Buganda auf eine Mädchenschule gegangen ist. Auf die beste Mädchenschule in Buganda, die Mt. St. Mary’s Namagunga.

Mums Bauch wird dicker. Ein neues Baby. Sie will noch ein Mädchen.

Mum und Baba sind sich begegnet, als sie am Kianda College in Nairobi war. Er war sehr groovy. Er hatte ein Motorrad und ein Auto und war mal in England gewesen. Wir sind Kenianer. Wir wohnen in Nakuru. Mum kam in Uganda zur Welt, ist aber jetzt Kenianerin. Baba ist Kenianer. Er ist Gikuyu. Er ist Geschäftsführer beim Pyrethrum Board of Kenya.

Ich mag, was Marys Finger alles können, selbst wenn ihre Augen woanders hinsehen. Sie kippt den Kopf der Kundin von oben nach vorn, dreht ihn von einer Seite auf die andere, und ihre Finger klicken flink wie Stricknadeln aneinander, und aus dem verkorksten Haarbusch entstehen Linien und Türme, ganz wie unsere neuen Straßen, Eisenbahnlinien und Brücken.

Kenyatta ist unser Präsident. Er ist der Vater unserer Nation.

Kenia ist eine friedliebende Nation.

Wir ziehen alle an einem Strang und singen in der Schule im Chor harambee, wie beim Tauziehen, weil das nämlich heißt: Wir ziehen alle an einem Strang. Auf dem Podest vor dem Chor steht ein Dirigent und schwenkt einen Fliegenwedel: Präsident Kenyatta, er hat gruselige rot unterlaufene Augen und einen Bart. Man erzählt uns, dass Kenyattas Mercedes einmal im Schlamm stecken geblieben war und er daraufhin harambee rief, damit die Leute zusammenkommen und seinen langen Mercedes-Benz aus dem Schlamm schieben und ziehen, und so ziehen und schieben wir alle gemeinsam; wir werden den Mercedes schon aus dem Schlamm kriegen.

Mary taucht die Finger ab und zu in die Pomade und zieht Ölspuren durch die Korridore und das Straßennetz auf dem Kopf der Kundin, sodass sie wie Amerika im Fernsehen glänzen. Manchmal isst sie auch, während sie das tut. Alle paar Wochen kommt eine neue Frisur auf, aus Westafrika oder AfrikaAmerika oder von Miriam Makeba oder aus der Drum und von den Jackson Five: Sie heißen uzi, afro, raffia oder pineapple, und Mary weiß sofort, wie sie die machen muss.

Kenyatta ist der Vater unserer Nation. Ich frage mich, ob Kenia nach ihm oder Kenyatta nach Kenia benannt wurde.

Die Leute im Fernsehen sagen immer Kienia. Wir sagen Ke-nia. Kenia ist fünfzehn Jahre alt. Damit ist Kenia sogar älter als Jimmy.

Kenia ist nicht Uganda.

Der Regen prasselt auf das Wellblechdach des Green Art Hair Salon. Heiße Schweinewürstchen aus den Uplands spucken Fett in einer Bratpfanne. Der Regen ist jetzt ein Sturm geworden, und das Regengeräusch schwillt an, wird immer lauter, wie die Menge im Stadion, wenn ein Tor gefallen ist.

Die Tür öffnet sich mit einem Zischen und Wassertröpfchen von draußen schlagen mir ins Gesicht.

Ting-ting-ting-ting.

Irgendwie haust heute ein Schmerz in meiner Brust, süß, eindringlich und wehe, wie wenn man sich in die Zunge geschnitten hat und dann Süße und Schmerz prickeln, nachdem man eine kräftige Ananas gegessen hat.

»Hab ich dich!«

Würde Sophia sagen, wenn sie in diesem Augenblick in den Laden hereinplatzte.

Ciru fehlt mir.

Mir schwirren bereits so viele Dinge durch den Kopf, die ich ihr unbedingt erzählen muss. Wenn sie hier wäre, würde sie mich aus mir selbst herausziehen. Einen Augenblick lang wäre ich ziemlich wacklig auf den Beinen, doch dann würde ich schnell und fest hinter ihr her stolpern und rennen.

Mehrere Frauen stürzen herein. Sie haben sich für eine Hochzeit fein gemacht. Sie sind hysterisch. Ihre mit dem Heißkamm behandelten Haare sind im Regen in sich zusammengefallen. Die ganze Nacht haben sie sich zuhause herausgeputzt. Nun kommen sie zu spät zur Hochzeit.

Die Braut weint.

»Gennlemen, wir könn’ ihn wieda aufbaun. Wir haben die Teck-noloschie.«

Mum gibt Anweisungen. Schrill explodieren Stimmen: Ein Klacken und Zischen und Schäumen wie von Händen, die im Waschbecken das Besteck durchschütteln. Sie blubbern wie Wasser, kurz bevor es Glas wird. Stapelt man alle Luftblasen in Schichten übereinander, kann man ein Fenster bauen. Anfangs wäre es rund und weich, und man könnte ein großes Buch drauflegen, und dann draufspringen und auf ihm herumhüpfen, bis es flach und hart und sicher ist.

Ob Sophias Mutter mit den Hochzeitsfrauen gekommen ist? Sie wird mich erkennen, und jeder wird erfahren, dass ich mich gestern als Mädchen verkleidet habe.

Mum wird erfahren, dass ich ihre Kleider angezogen und die Perücke aufgesetzt habe.

Alle sind sie gegen mich. Der Schmerz meiner Ananas-Situation pocht gegen meine Brust, und ich lasse ihn herumtollen. Das tut gut.

Ich höre, wie Füße auf mich zupoltern. Ich springe vom Stuhl unter der Trockenhaube und lege mich unter dem Stuhl auf den Fußboden. Ich halte die Hände vors Gesicht. Ein Körper sinkt schwer auf den Stuhl; ein Kopf manövriert sich in den Helm. Der Trockner beginnt zu schnaufen und ich spüre Häppchen heißer Luft auf meinem Kopf.

Es ist die Braut! Ich schiele durch meinen rauen, gelben Schmerz zu ihr hoch. Durch die Finger vor meinem Gesicht. Sie sieht biestig aus mit ihren Augen, die auf dem Kopf stehen und dem umgekehrten Mund mit dem rosa Lippenstift drauf. Ich werde ganz plötzlich zart und ananasrosa. Schmetterlingsbauch. Barfuß auf glühenden Kohlen. Ihre Lippen sehen aus wie ein rosa Pavianhintern, der echt weh tut. Ich stähle meinen Blick, mein Herz.

Ich konzentriere mich auf die Lippen. Sie sehen zuverlässiger aus: Spielzeugland in Lippenstiftrosa, die Farbe fröhlicher Bonbons und Kaugummiblasen und harten, entschlossenen Glücksgefühls.

Auf einmal bin ich wach und klar und glücklich. Ich nehme die Hände vom Gesicht und stehe auf. Sie zieht eine Grimasse und kreischt.

»Oooohhh, weeer ist das denn? Warum versteckst du dich?«

Mir entgleisen die Gesichtszüge.

»Nicht weinen! Ohh, bitte weine nicht!«

Jetzt will ich tatsächlich weinen. Ihr Gesicht verschwimmt und alles ist verknäuelt und zerklüftet. Sie beugt sich zu mir, diese Hochzeitsfrau mit der eingefallenen Frisur. Jetzt sind ihre Lippen rosa Regenwürmer und Schnecken und Zähne. Ihr Gesicht schwillt zu mir herunter, reißt sich aus dem wirren Verkehrsmuster um mich herum und zeigt sich als unvermeidliches Ganzes.

Ich keuche. Und sehe sie an. Das Biestige ist weg. Sie ist ein Mensch als Gesamtes, ist wieder uninteressant und unteilbar. Ich zweifle an den Zweifeln, die ich gerade hatte. Wie konnte sie etwas anderes sein als das, was sie jetzt ist?

»Mama Jimmy. Ist das dein Erstgeborener? Ist das Jimmy?«

Sie hat die geschlossene, verkrampfte Welt aufgetan. Ich habe mir Mühe gegeben, dass meine Lippen eins bleiben – festzusammenzu. Für immer und ewig. Stumm. Zwei Lippen zu öffnen heißt, Spinnweben auseinander zu reißen. Ein stummer Superheld. Cool.

»Hello, Auntie«, sage ich und male mit den Zehen Muster auf den Fußboden. In meiner Brust drängt die Ananas hoch. Vielleicht gibt sie mir was von der Hochzeitstorte ab? Der quietschend schmerzliche Geschmack vollkommen weißer Süße. Zuckerguss schmeckt so wie zwei Styroporstücke klingen, wenn man sie aneinander reibt.

Fast nicht auszuhalten.

Ich hebe den Blick, langsam und niedlich. Mit diesem Spiel kenne ich mich aus. Ich sehe schräg nach oben und lasse meine Augen kurz ihren Blick streifen, dann schaue ich wieder hinab.

Sie gurrt.

Meine Mum dreht sich zu uns um und sieht mich durchdringend an.

Ob Mum etwas weiß? Hat Sophias Mutter sie angerufen?

Mums Stimme klingt wie Scherben aus Wasser und Ströme von Glas. Sie steigt ihr wie warme Seifenlauge die Kehle hoch. Sie hat ein kleines Doppelkinn, wo dieser Klang erzeugt wird, eine nasale Aussprache, aber nicht amerikanisch oder englisch. Ihre Nase ist lang und dünn.

Ich habe herausgefunden, dass die nasale Aussprache bei Leuten vorkommt, die lange, dünne Nasen haben. Wrengwreng. Meine Nase ist auch dünn, aber nicht so dünn wie die von meiner Mum. Manchmal versuche ich, mich selber zu hören und bilde mit der Hand eine Höhle über dem Ohr und drehe den Mund zur Seite, aber ich kann mich nicht näseln hören. Mum streckt den Arm aus und nimmt meine Hand. Sie leckt einen Finger an und glättet meine Augenbrauen. Dann greifen ihre Finger um mich herum und ziehen mich an ihre Brust. Mein Rücken weicht von der harten Beule ihres Bauchs zurück. Ich will dem Baby nicht wehtun. Mum riecht gut nach Puder und Parfüm und heißem Haaröl.

»KenKen« – das ist der peinliche Spitzname, den Mum mir verpasst hat – »was machst du da?« Sie lacht, und mein Herz schnurrt.

»Er ist mein zweiter. Der Schüchterne.«

Eine Biene hört sich anders an als ein Bienenschwarm. Die Welt ist in die Geräusche von Einzeldingen und Vieldingen unterteilt. Wasser, das aus dem Duschkopf auf einen eingeseiften Kopf strömt, ist Vieldinggesplitter aus fallendem Glas, ting-ting-ting.

Und alle zusammen sind: Shhhhhhhhhhhh.

Shhhhh entsteht aus vielen vielen blechernwinzigen ting-ting-tings, die so klein sind, dass die Geräusche von klirrendem Glas zu sanftem Flüstern gerinnen; als würden beim Schulappell alle auf einmal reden, was ganz anders klingt, als wenn einer allein redet. Bratende Würste hören sich an wie Regen auf einem Blechdach, und das klingt wie eine Menschenmenge.

Der Regen hat nachgelassen. Die Hochzeitsfrauen haben Lockenwickler auf. Die Haartrockner sind allesamt blasende rote Augen. Mum klopft sacht das Haar der Braut auf und flüstert ihr etwas in Swahili zu, das Mum mit einem Akzent voller kehliger ugandischer gh’s und rwandischer kh’s spricht. Weich klingt ihre Stimme und kribbelig, und die Leute werden kribbelig und tun, was sie sagt. Sie wird nie laut.

Von draußen dringt das Geräusch scheppernden Metalls herein. Mary eilt hinaus. Dann schreit Mary jemanden in ihrem lustigen Swahili an. Als nächstes hört man Schreie. Die Hochzeitsfrauen stehen auf. Wir alle stürzen zur Tür. Die Braut fängt wieder an zu weinen.

Es ist Mrs. Karanja. Mrs. Karanja gehört das Kenya Coffeehouse nebenan. Sie mag nicht, wenn wir unsere Tonnen für die städtische Müllabfuhr neben ihrem Café abstellen. Obwohl das die Stelle ist, an der wir sie abstellen sollen. Die Müllabfuhr will nicht in unseren Hof kommen und sie rausholen.

Schweiß steht auf ihrem Gesicht. Ihre Augenbrauen sind saubere, vollendet nachgezogene Ovale, und an ihren Wimpern und Lidern kleben braune Kleckse. Braune Tusche sickert aus den Konturen und rinnt ihr die Wangen herunter, und ihre rubinrot bemalten Lippen sind verächtlich zur Seite gezogen. Auf einem Zahn entdecke ich einen Fluoridfleck, den ich vorher noch nie gesehen habe. Sie zerrt an einer riesigen Blechmülltonne, und Mary, die dunkel und hart und dünn ist, zerrt unsere Mülltonne zurück. Überall auf dem Beton liegt Müll.

Hinter Mrs. Karanja steht ihr Hausdiener, ein Pokot, ein Krieger, der in billiges Militärkhaki gekleidet ist und Sandalen aus Autoreifen an den Füßen trägt. Jonas. Er schenkt mir immer Tropenfruchtbonbons, wenn er mich sieht. Ich sitze gern auf seinen Knien, wenn er auf seinem kleinen Hocker sitzt. Er hat parallele Linien ins Gesicht geschnitten und eingerissene, eingerollte Ohren.

Mrs. Karanja hat eine fette, buttrige Haut. Wenn man das Haar einfacher Leute malt, dann kann man für kurze Haare einfach zufällige Punkte auf dem Kopf verteilen oder, für langes Haar, mit Bunt- oder Bleistift wild herumkritzeln. Präsident Kenyatta nennt einfache Leute wananchi.

Bei Weißen aus Übersee und internationalen Musikstars wie Diana Ross oder den Jackson Five malt man sorgfältig den Umriss und füllt ihn anschließend bis in die kleinste Stelle mit Gelb oder Schwarz oder Braun aus, bis das Bild eine einzige, klare Farbe hat und man die Linien oder Kritzel nicht mehr sehen kann, sondern nur noch Gelb, Braun oder Schwarz. Wenn Ciru und ich Leute aus Übersee malen, geben wir uns Mühe, dass sie wie in den Malbüchern oder im Fernsehen aussehen.

Mrs. Karanja hat nachgezogene Augenbrauen, zwei dünne schwarze, durchgehende Linien, wie sie zu Leuten gehören, die keine unausgemalten Stellen in sich haben. Aber sie bricht auf. Sie schreit: »Warum stellt ihr immer eure Mülltonne neben meinen Laden? Ich hab es satt. Richtig satt! Ihr Ugander habt euer Land kaputt gemacht – warum kommt ihr hierher und macht unsers auch noch kaputt?«

Der Regen hat aufgehört. Die Sonne steht hoch am Himmel und der Bürgersteig füllt sich mit bebenden Menschengruppen. Schlaghosen flattern, und einige bloße Füße spreizen die Zehen wie Fächer, weil sie noch nie Schuhe getragen haben. Fußtruppen stampfen heran: die Kuriositätenhändler von der Kenyatta Avenue, die Broker, die sich vor dem Coffeehouse herumtreiben, die Zeitungsverkäufer, die Leute, die zufällig gerade vorbeikommen und sich langweilen und vom Regen nass geworden sind.

Mrs. Karanja gibt Mary einen Stoß und die geht zu Boden. Jetzt schlagen sie aufeinander ein. In der Menge drängeln verlegen die Körper, Finger reiben unsicher an den Oberschenkeln auf und ab, Fäuste ballen sich.

Mrs. Karanja schreit, stößt Mary von sich, steht auf und schreit und zeigt auf Mum. Mum gräbt ihre Hand in meine Schulter und zieht mich an ihre Brust. Ihre Hand langt nach meiner. Ich versuche, mich davonzustehlen, aber sie ist schneller als ich.

Der Hausdiener hat Mary losgelassen, steht aber immer noch hinter ihr. Sie atmet schwer, hat die Augen weit aufgerissen; tränenerfüllt sind sie und wild und starr auf Mrs. Karanja gerichtet, die sich von einer Seite zur anderen dreht.

Niemand spricht. Die Hochzeitsfrauen schweigen. Meine Ohren werden ganz heiß. Es ist, als wäre Kenia da drüben, bei der Menge auf der anderen Seite, und hinter uns stünden die Hochzeitsfrauen – die sich auf Ugandas Seite geschlagen haben. Mrs. Karanja hat ganz Kenia hinter sich zusammengezogen. Und die Hochzeitsfrauen schweigen beschämt.

Jetzt schlurfen Menschenmengenbeine aufeinander zu, man flüstert und zieht die Stirn in Falten und feixt, die Nasenlöcher geweitet und zuckend. Sogar der askari des Stadtrats unternimmt nichts. Sein Knüppel ruht hilflos in der Hand; sein Hals reckt sich zu Mrs. Karanja hinüber, die Augen weit aufgerissen.

Mums Hand hält meine Hand ganz fest. Leiber reiben sich aneinander. Mum wird meine Hand nicht loslassen. Wäre ich ein Golfball, könnte ich schnell losrollen und diese Mülltonne da treffen und uns umstürzen. Ich will losflennen und meinen Kopf unter Mrs. Karanjas Rock stecken und laute, spuckende Rotzgeräusche machen, oder hart mit dem Kopf an die Betonwand schlagen und mit dem befriedigenden Gefühl von ihr abprallen, dass ich nicht aus Gummi bin. Leute strömen aus der Barclays Bank und mischen sich unter die Menge auf der anderen Straßenseite. Ich versuche immer noch, meine Finger aus Mums Griff zu winden, damit ich sie richtig fest zwicken kann.

Mrs. Karanja geht an die Ecke und greift sich eine weitere Mülltonne. Die ist voll. Sie kippt sie um und starrt uns an.

Da liegt jetzt ein Haufen auf dem Boden: Alte Haare, tausende winzige, ölige Locken aus schwarzem, unfrisiertem Haar, feuchte, alte Teeblätter, KCC-Milchtüten, Shampooflaschen, Kekspackungen, graue Klumpen nasser, alter Zeitungen, eine Lyons-Maid-Eiskremschachtel, mehrere Packungen Elliot’s Bread, eine Büchse Mua-Hills-Pflaumenmus, Kronkorken, Maiskolben, die wie gefletschte Zähne aussehen, eine Flasche Trufru-Orangensaftkonzentrat, eine Lucozade-Flasche aus der Zeit, als Ciru krank war, vergilbende Maishäute, an denen zerzauste Büschel Maishaar hängen, das wie das Haar von Weißen aussieht, leere Büchsen Dax-Pomade, Raffiapakete, Schnur, Bananenschalen und Maiskolben, Ameisen.

»Geh wieder in den Laden.« Sie stupst mich in den Rücken.

Ich will nein sagen, aber ich gehe. Ich knalle die Tür hinter mir zu. Die Gasflammen sind noch an und lassen die Kämme glühen und im Laden ist es heiß und es riecht nach versengten Haaren und Idi Amin.

Ich steige auf einen Stuhl und sehe vom Fenster aus zu.

Mum fängt an, den Müll aufzusammeln. Mary hilft ihr. Mrs. Karanja steht vor der Menge und sieht zu. Als die erste Tonne gefüllt ist, heben sie sie an und gehen auf Mrs. Karanjas Laden zu. Dort stellen sie sie ab, zwischen den beiden Läden, wo alle Tonnen aus der Straße abgestellt werden sollen.

Mrs. Karanja folgt ihnen auf dem Fuß.

»Ihr werdet’s noch sehen. Ihr werdet’s noch sehen.«

Die Menge bleibt stumm. Sie winkt den Hausdiener herbei und weist ihn an, den Müll wieder vor Mums Tür auszukippen. Er zuckt der Menge gegenüber mit den Achseln, die Augen argwöhnisch und ängstlich. Er nimmt die Tonne, geht, ihren Blicken ausweichend, an Mum und Mary vorbei, und kippt sie vor der Tür aus. Er geht zurück, mit hängenden Schultern, und folgt ihr ins Coffeehouse. Eine Frau springt aus der Menge heraus und hilft dabei, den Müll wieder einzusammeln; bald ist es eine kleine Gruppe, die Mum und Mary hilft. Auch die Hochzeitsfrauen springen vor und beginnen einzusammeln. Sogar die Braut macht mit.

Mum kommt in den Laden zurück und Mary folgt ihr. Auch die Hochzeitsfrauen kommen wieder herein. Alle sind einen Augenblick lang still, und dann setzt das atemlose Geschnatter wieder ein und die Haartrockner beginnen zu brüllen.

KAPITEL 3

Ferien. Es ist kalt. Juli eben. Ich stehe vor der neuen Wetterstation der neuen Schule, beobachte, wie sich die Aluminiumkegel im Wind drehen, und sehe meinen Vater auf mich zu kommen.

Ich renne ihm entgegen und springe: uGhh! »Hast du aber schwere Knochen«, sagt er. Hart fassen seine Hände unter meine Achseln, und meine Nase brennt von der kalten Luft, durch die er mich wie die Windkegel wirbelt.

Ich habe nicht Geburtstag. Warum ist er dann hier?

Er sagt: »Geh und hol deine Schwester.«

Ciru kommt. Jimmy sitzt schon im Auto.

»Ihr habt eine kleine Schwester. Wir fahren ins War Memorial Hospital.«

Meine neue Schwester Chiqy sieht genauso aus wie ich, als ich ein Baby war, sagt Mum.

Ich jubele innerlich.

Weil sie das zweitgeborene Mädchen ist, wird sie, wie ich mit Binyavanga, auch einen Bufumbira-Vornamen bekommen. In meiner Geburtsurkunde steht Kenneth Binyavanga Wainaina. Sie wird Kamanzi heißen, Melissa Kamanzi Wainaina. Wir geben ihr den Spitznamen Chiqy. In unserer Familie werden, wie in den meisten Gikuyu-Familien, der erste Sohn und die erste Tochter nach den Großeltern väterlicherseits benannt. Der zweite Sohn und die zweite Tochter erhalten die Namen der Großeltern mütterlicherseits. Jimmy heißt James Muigai Wainaina. Ciru heißt June Wanjiru Wainaina nach Wanjiru, der Mutter meines Vaters. Ich heiße nach dem Vater meiner Mutter Binyavanga. Und so weiter. Dadurch wird Binyavanga zu einem Gikuyu-Namen.

Wir sind also ein durcheinandergemengtes Volk. Wir haben auch ein völlig verworrenes System der Namensgebung: das englischkoloniale System, die alte Gikuyu-Art, die fremden Namen aus dem Land meiner Mutter, das wir nicht kennen. Als die Brüder und Schwestern meines Vaters in die koloniale Schule kamen, mussten sie mit einem Familiennamen antreten. Und sie mussten zeigen, dass sie gute Christen waren, indem sie sich einen westlichen Namen zulegten. Sie entschieden sich für Großvaters Namen als Familien namen. Wainaina.

Baba sagt, dass damals, in der alten Zeit, jeder mehrere Namen hatte, aus vielfältigen Gründen: einen Namen nur für die Angehörigen deiner Altersgruppe, einen Namen als Sohn deiner Mutter, einen weiteren Namen, nachdem du zum Mann geworden warst. Heutzutage heißt man meistens so, wie es in der Geburtsurkunde steht.

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Wir fürchten uns im Haus. Gestaltlose Ziehharmonikaarmeen haben das Universum angegriffen. Kenyatta, der Vater Kenias, ist gestorben. Mum ist ständig müde und redet immerfort auf unsere neue Schwester ein.

Letzten Monat ist der Papst gestorben, und diesen Monat der neue, der lächelnde Papst. Heute haben sie im Fernsehen den ganzen Tag grießliche alte Aufnahmen von Gikuyu-Tänzern gezeigt, die vor Kenyatta auftraten. Ein Mann und eine Frau tanzen einen Gikuyu-Walzer, während sie ein anderer Mann mit formlosen Klängen aus einer Ziehharmonika begleitet, und Kenyatta, groß und behaart, auf einem Podest sitzt. Die Trauer um Kenyatta scheint ewig zu dauern. Die Schule fällt aus.

Georgie und Antonina heißen unsere neuen Nachbarn. Wir schlüpfen manchmal durch die Hecke in ihren Garten. Auf einem ganzen Viertelmorgen im hinteren Teil steht reif der Mais.

An einem wärmer-als-sonst-Tag während dieser nie endenden Ferien rennen wir herum und spielen – irreglücklich vor Ungewissheit, das Laub raschelt und knistert – heiß und gewiss brennt die Sonne. Die weichen Federn und das Gras in einem verlassenen Vogelnest riechen gut, modrig und fedrig. Wir spüren Rattennester auf und Mischlingswelpen und tollen mit gelben und braunen Käferdrachen herum. Wir binden den Käfern die Beine zusammen und lassen sie hinter uns her fliegen. Heißer Schweißsirup tropft in die Augen und brennt und ich verliere mich in dieser Weizenfarbenwelt aus Flügelschlag und bloßen Füßen, die sich in die heiße Erde graben.

Wir vergessen, uns rechtzeitig zurückzuschleichen und als wir durch das Loch in der Keiapfel-Hecke schlüpfen, steht Mum da. Mit einem Gürtel in der Hand und Baby Chiqy auf dem Rücken. Chiqy weint. Mums Gesicht ist wie versteinert. Sie sagt nichts. Wenn sie zornig wird, spricht sie nicht.

Am Ende dieses Zauns liegen ein abgestorbener Baumstamm, ein alter Eukalyptus und ein abgewracktes Auto herum, das wir jeden Tag aufs Neue verschandeln. Während wir Mum bettelnd folgen, bleibe ich einen Augenblick stehen und vollziehe das Ritual dieses Ortes. Jedes Mal, wenn wir auf den alten Baumstamm klopfen, strömen Ameisen heraus. Das hört gar nicht mehr auf. Manchmal sind es so viele, dass sie bis in unsere Kleider schwärmen. Du schlägst und schlägst nach ihnen, und sie strömen weiter aus dem abgestorbenen Klotz hervor. Sie folgen Mustern, die ich nicht erkennen kann, doch Rhythmus und Timing sind vollendet. Man klopft, sie schwärmen. Endlose Ameisenströme im Schutz von Holzkloben. Sie sprechen nicht deine Sprache und ihre Ordnung ist eine andere als die, die man dir beigebracht hat.

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Es ist dunkel, und ich habe keine Ahnung, wo Jimmy und Ciru stecken. Als sich die Nachmittagsschatten breit machen, klopfe ich an Mums Tür. Sie macht nicht auf. Ich gehe ins Wohnzimmer und schabe den ganzen Weg mit dem Rücken an der Wand entlang, damit ich die Welt spüren kann.

Ich habe Hunger, mag aber nicht in die Küche gehen. Im Esszimmer hängt ein riesiges Kenyatta-Porträt. Seine Augen verfolgen dich, rot und lebensecht. Ich schalte den Fernseher ein. Trickfilme. Laut rufe ich nach Jimmy und Ciru, damit sie mit mir zusammen gucken können. Sie kommen nicht. Ich kann sie draußen spielen hören. Ich setze mich auf das große, grüne Samtsofa.

Täglich sehen wir den ganzen Tag Kenyatta im Fernsehen, wie er ausgestreckt und tot daliegt, und Leute, die seinen Leichnam sehen wollen. Sein Körper ist grau und mit Totenschmiere überzogen.

Ich möchte platzen wie die Schweinswürste aus den Uplands in der Bratpfanne.

Meine aufgeworfene Schwanzspitze tut weh, schwillt an und reibt kitzelnd an meiner Hose. Dann lassen Jazztrompeten den Damm brechen und eine wunderbare Wärme sickert in meine Unterhose, flötet den Oberschenkel hinab in den schwammigen, grünen Samt unter meinem Hintern, ein glatter, anhaltender Strom von Klang und Flüssigkeit.

Ich renne hinaus, damit ich Ciru und Jimmy finde, bevor Mum herausfindet, was ich getan habe. Als ich am Esszimmer vorbeiflitze, mache ich die Augen ganz fest zu.

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Mum macht uns Abendbrot, und das ist nett. Baby Chiqy schläft. Dann geht Mum Chiqy füttern, und Baba ist noch nicht zuhause. Wenn Ziegenkutteln singen könnten, dann würde sich das genau so anhören: kochende Ziegenkutteln, die im Fernsehen singen, für Kenyatta. Jimmy ist in seinem Zimmer und hört Top of the Pops auf BBC. Er hat eine groovy Laune, und das heißt, dass er nichts mit uns zu tun haben will. Ciru und ich springen auf den Sofas herum und versuchen, die eigenartige Stille mit Handeln zu füllen.

Auf dem Schwarzweißbildschirm grinst ein alter Mann. Sein Bart bewegt sich. Zähne blitzen. Er schabt mit einem Stock über einen bespannten Holzbogen, köchelnde Kutteln und Bohnen, sodass sich an einem heißen Tag der Geruch im ganzen Haus verbreitet. Ich habe meine leuchtend gelbe Mundharmonika, die wie ein Maiskolben geformt ist, im Mund. Ich spreche ganz dumpf und lasse den Klang meiner Worte durch die Harmonika summen. Die Musik klingt … klingt wie Chaos.

Stimme im Fernsehen: »Diese Delegation aus der Provinz Nyanza spielt auf der nyatiti. Sie ist angereist, um für den verstorbenen Präsidenten Kenyatta zu singen. Die nyatiti ist ein traditionelles Musikinstrument der Luo.«

Matiti. Ciru kichert. Ich kichere. Titi. Titten.