»Schon die Entgeisterung in meinem Umfeld, als ich auf mein erstes Udo-Jürgens-Konzert ging! Kaum etwas in meinem Leben hat zu so ambivalenten Reaktionen geführt« – so erinnert sich Andreas Maier, als er zum ersten Mal Udo Jürgens live erlebte. Im Oktober 2014 besuchte er in Frankfurt zum letzten Mal eines von dessen Konzerten. In seinem Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens am 21. Dezember 2014 entschloss sich Andreas Maier, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat, ein Jahr lang erschien seine Kolumne im Logbuch des Suhrkamp Verlags unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«. Nach einem Jahr der intensiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen U. J. diagnostizierte er in seiner letzten Kolumne: »Jetzt weiß ich: Die Musik von Udo Jürgens wäre sofort peinlich, hätte sie ein anderer gemacht, ein Nachgeborener, einer, der nicht diese langen Zeiten überbrücken kann, sondern post festum plagiiert. Udo-Jürgens-Musik setzte immer voraus, dass sie Udo Jürgens machte.«

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Heute lebt er in Hamburg.

Andreas Maier

Mein Jahr ohne
Udo Jürgens

Suhrkamp

Die folgenden Texte entstanden zwischen Januar und Oktober 2015

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

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Wir tragen die Krone der Schöpfung

eher so wie einen Karnevalshut

Spiel, Zigan, spiel,

sonst bist du als Zigeuner

nur ein Dieb, ein Streuner,

den man nirgendwo vermisst

NACH VORN

Neulich habe ich mir einen Plattenspieler gekauft

Neulich habe ich mir einen Plattenspieler gekauft. Meinen ersten seit zwanzig Jahren. Ich liege damit voll im Trend. Ich habe mir auch einen Röhrenverstärker gekauft. Ich gehöre jetzt zur Generation derer, die sich noch mal ein Rennrad kaufen und dann auch noch einmal den besseren Verstärker, den man sich schon immer gewünscht hat. Denn jetzt kann man es sich leisten, und es geht sowieso langsam auf das Ende zu.

Schön ist es und wie ein warmes Hinübergrüßen aus alten Zeiten, in einen der unzähligen Secondhand-Vinylshops zu gehen, die jetzt überall existieren. Denn die Crux oder auch der Vorteil der »physisch präsenten« Dinge ist, dass sie irgendwohin müssen, deshalb gibt es jetzt bei Büchern und Langspielplatten diesen riesigen Umlauf. Und wenn man sich, ohne es zu merken, eine Platte kauft, die man vor einem Vierteljahrhundert weggegeben hat, dann erinnert mich das fast ein bisschen an unser vergangenes Sorgerecht, das mit Sicherheit in diesen Jahren dazu führt, dass derzeit einige Väter Sex mit ihren Töchtern haben dürften bzw. umgekehrt, ohne dass die beiden Beteiligten überhaupt irgendetwas davon ahnen. Die antike Tragödie ist da auch nicht mehr weit. Und so kauft man dann vielleicht die eigene Platte wieder und weiß es nicht einmal.

Immer wenn ich einen dieser Plattenläden betrete, denke ich, was haben wir uns da nur einreden lassen im letzten Vierteljahrhundert? Und statt dass man immer weiter LPs gehört hat, muss man jetzt mit dem Retro-Makel kämpfen. Immerhin habe ich noch ein paar Platten.

Wer Vinyl hört, hört anonym. Kein Internetdienst kann rauskriegen, was du gerade hörst. Das ist umgekehrt wie bei Netz-Pornographie. Da weiß jeder, was du gerade guckst. Und hier wird es nun Zeit, Udo Jürgens ins Spiel zu bringen.

Ich hatte einmal einen Onkel, er hieß Onkel J., Heinohörer, Waldgänger, den ich literarisch im Sinne eines Gedankenversuchs immer mal wieder an den Bahnhofskiosk schicke, damit er sich dort ein pornographisches Magazin oder ein Erotikmagazin kauft, Schlüsselloch, Praline oder noch frühere Ausgaben, er lebte ja schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren sein Leben, von dem ich mir kaum etwas vorstellen kann. Bei ihm war es, wenn es denn so war, umgekehrt wie bei unserer heutigen Netz-Pornographie. Zwar konnte man das vor allem und jedem verstecken und geheim halten, man war ja nicht online, aber man musste beim Kauf dem Verkäufer gegenübertreten und die Kaufware dann auf den Tresen legen. Das ist eine irgendwie noch viel überwältigendere, weil direkte Art von Öffentlichkeit, wenn auch nur einer Person gegenüber: dem Kioskbesitzer. Einmal Praline bitte. Und St. Pauli Nachrichten der Herr? Und wie immer mit Tüte?

Wenn ich in einen der Vinylläden trete, spüre ich etwas, das im Raum liegt, eine Form von Mainstreamigkeit. Da geht man rein und sucht eine frühe Metallica. Oder die alten Animals, als Eric Burdon noch … oder Chuck Berry. Ich glaube, wer in einen Vinylladen tritt und nach Chuck Berry schaut, der ist normal, der wird ernst genommen, da gibt es keine Unsicherheit im Blickkontakt zwischen Käufer und Verkäufer. Wenn man in den Secondhandladen geht und sagt: Ich suche Chuck Berry, so die Phase 67/68/69, dann ist das so, als ginge man in den Buchladen und sagt: Ich hätte gern den Doktor Faustus, aber bitte als Band aus der neukommentierten Fischer-Gesamtausgabe.

In jedem Vinylladen spüre ich die Unsicherheit in meinem Blick, das leicht Devote, das ich bekomme, wenn ich nach Udo Jürgens frage. Ich bin schon vor dem Betreten des Ladens nervös. Ich fühle mich nicht schuldig, nein, aber ich muss dann immer an meinen Onkel denken, wenn ich ihn mir am Kiosk ausmale. Bis ins Detail verhalte ich mich ähnlich: Wenn ich in den Laden gehe und Chuck Berry im Sinn habe, ist mir völlig egal, wer sonst noch im Laden ist, ich schaue mir die Leute gar nicht an, sie liegen außerhalb meiner Wahrnehmung. Gehe ich mit dem Vorsatz Udo Jürgens hinein, untersuche ich sofort den ganzen Raum: Wer steht wo, wie sehen die Personen aus, wer steht so nah am Tresen, dass er es mitkriegen könnte? Ich fühle mich geradezu schmuddelig. Und tatsächlich sehe ich in den Augen des Verkäufers, wie es Klick macht und er ein Bild von mir bekommt, wenn ich »Udo Jürgens« sage. Ich hatte mal einen so langen Bart, dass mich Menschen, die mich nicht kannten, für einen Schrat und einen Deppen hielten und dann auch so mit mir umgingen. Das machten sie gar nicht absichtlich, sie bemerkten ihre Diskriminierung gar nicht. Sie tun dich ab und stehen eben einfach über dir. Wenn sie mich dann in der Zeitung oder im Fernsehen sahen, wechselte ihr Bild von mir natürlich sofort. Aber mit Bart stand ich bisweilen in Schlangen und wurde einfach nicht beachtet und manchmal sogar weggeschubst, und ich hörte Leute über mich sagen (sie wollten mich verteidigen): »Jetzt lasst ihn doch in Ruhe, er kann doch hier stehen wie du und ich auch, oder!?«

Es wurde also über mich in der dritten Person geredet. Dagegen bin ich seit meiner Kindheit allergisch. Das schafft ein langer Bart (es war noch vor der jetzigen Bartmode, und mein Bart war nicht modisch, er sah eher nach Verwesung aus, auf der Straße schrie mir eine Gruppe Jugendlicher mal das Wort »Fotzenhuber« hinterher).

So sind wir sozialisiert. Die feinsten Nuancen nehmen wir wahr, auch im Vinylladen. Jeden Tag bestätigen wir unsere Vorurteile und können gar nicht anders. Ausgrenzung überall, unbewusste Inklusion ebenso. Möglicherweise ist es ja sogar vorauseilender Gehorsam, denn auch wenn ich nun den Gang antrete in mein erstes Jahr ohne Udo Jürgens und beginne, diese Texte hier über ihn zu schreiben, ein Jahr lang, so habe ich ja doch zunächst dieselbe Schule durchgemacht wie alle anderen: Pink Floyd, Motörhead, ZZ Top, Blues, Rock ’n’ Roll, und auch in mir ist es eingepflanzt, dass da Udo Jürgens nicht reingehört, dass das was anderes ist, dass das irgendwie …

Schon die Entgeisterung in meinem Umfeld, als ich auf mein erstes Udo-Jürgens-Konzert ging! Kaum etwas in meinem Leben hat zu so ambivalenten Reaktionen geführt. Einige Leute waren schockiert. Andere begannen Die kleine Kneipe in unserer … zu pfeifen, was auch etwas unpassend war. Bei vielen, wurde mir damals klar, sitzt der Buenos-Dias-Argentina-Schock noch tiefer, als es eine Thomas Bernhard’sche Verstörung je sein könnte.

Nun ist er tot. Nun ist alles klar und am Platz. Von nun an gehen wir erhobenen Hauptes in den Plattenladen. Und kaufen einfach alles, was wir noch kriegen können.

Neulich wurde Winter

Neulich wurde Winter, und da fiel mir auf, dass ich seit zwei, drei Jahren keine Probleme mehr mit Erkältungen habe.

Ich war früher viel erkältet. Das heißt, als Jugendlicher, als ich Jethro Tull und Motörhead und Pink Floyd hörte und mit Udo Jürgens nichts am Hut hatte, war ich ebenfalls nie erkältet. Ich hatte mich damals, im heldischen Zeitalter (fünfzehn, sechzehn), einer wirklichen Abhärtung unterzogen. Diese bestand darin, dass ich immer das Fenster offen ließ, auch im dicksten Winter. Ich lebte damals in Friedberg in der Wetterau an einem kleinen Flüsschen, das Usa heißt, wir nennen es »die Us«. Flüsse sind im Wetterauischen wie im Lateinischen weiblich: die Usa, die Wetter, die Nidda. (In Klagenfurt sind die Flüsse auch weiblich, und wenn die Glan oder die Lend mal zu irgendeinem Jubiläum nach Udo Jürgens umbenannt wird, wird man an »der Jürgens« entlangflanieren können.) Ich galt meinen Altersgenossen als zu spät gekommenes Blumenkind. Tatsächlich kannte ich mich mit Wiesenblumen überhaupt nicht aus, sondern war ein zwischen dem Blauen Bock und der Friedensbewegung aufgewachsenes Kind, aber manchmal pflückte ich Blumen und legte sie dem einen oder anderen Mädchen nachts auf das Fensterbrett, während es schlief. Das hätte auch Udo Jürgens gefallen, und womöglich hatte er das auch manchmal gemacht, als Kind, als er noch diese beeindruckenden Ohren hatte und deshalb vielleicht auch lieber nur nachts auftrat, wenn alle schon schliefen und ihn keiner sehen konnte mit seinen Dumbo-Ohren.

Und weil ich ein Blumennarr war und insgesamt einen wohl irgendwie aus der linksalternativen Szene ererbten Naturkult aufführte, ließ ich immer das Fenster offen. Im Winter schneite es tatsächlich auf meinen Schreibtisch. Damals hatte ich den Zauberberg noch nicht gelesen. Hätte ich damals bereits den Zauberberg gelesen, hätte ich sicherlich zu husten angefangen und gedacht, möglicherweise erwirbst du dir auch eine Lungenkrankheit, direkt vor dem Fenster, und wirst dann selbst Literatur. Es ist schon erstaunlich, wie ein Mensch im Jahre 1985 (ich) immer noch so viel mit Lungenkrankheit zu tun haben konnte, nämlich durch Lektüre. Zauberberg, Dostojewski, Marcel Proust, wer es nicht an der Lunge hatte, konnte ja eigentlich gar nicht mitreden. Vielleicht ließ ich auch deshalb das Fenster offen.

Hätte ich damals Udo Jürgens gehört, hätte ich das Fenster vermutlich schnell zugemacht, damit keiner hört, dass ich gerade Udo Jürgens höre. Als kleines Kind übrigens habe ich wirklich Udo Jürgens gehört, und zwar freiwillig, das habe ich dann erst etwa fünfunddreißig Jahre später wieder gemacht. Als Kind habe ich eine »3 mal 9«-Schallplatte meiner Mutter aufgelegt (wer weiß noch, was eine »3 mal 9«-Schallplatte ist?), und am liebsten hörte ich das einzige Udo-Jürgens-Lied auf dieser Platte: Siebzehn Jahr, blondes Haar. Ich war damals sechs oder sieben. Damals wurde dieses Lied zum Grundmuster meines Lebens. Das erste Mädchen, das mit mir schlief, war zwar fünfzehn, also eigentlich zwei Jahre zu jung für das Udo-Jürgens-Sprach- und Denk-Universum, aber es hatte immerhin blondes Haar. Dieses erste Mädchen hat mich bis heute geprägt, ich bin jetzt siebenundvierzig. Noch heute sind Mädchen für mich eigentlich fünfzehn und haben blondes Haar. Siebzehn kam mir damals, als ich sechs, sieben war, natürlich vor wie geschätzte fünfzig oder sechzig. Das waren einfach Erwachsene. Alte. Als ich fünfzehn war und Sex mit Fünfzehnjährigen hatte, war das Lied von Udo Jürgens längst aus meinem Bewusstsein entschwunden. Als ich siebzehn war, hatte ich dann eine wundervolle Liebschaft mit einer Achtunddreißigjährigen. In die Udo-Zeitrechnung konnte ich mich also nie richtig einklinken, und was das Lied für mich damals, als ich sechs oder sieben war, bedeutet haben mag, kann ich nicht mehr eruieren. Etwas, was siebzehn Jahr alt war und blondes Haar hatte, war offenbar etwas Wünschenswertes. (Ich habe ja auch die Bacardi-Werbung früher nie so recht verstanden, und die Zigarettenwerbungen auch nicht. Ich wusste zwar immer, dass das begehrenswerte Dinge waren, aber nie warum.)

Nun wurde es also Winter, und ich dachte an Markus Lanz. Ich habe keinen Fernseher, aber ich habe eine Bekannte, Nina, eine Lehrerin aus dem Gießener Raum, mit der ich in den letzten Jahren zu Udo Jürgens’ Konzerten zu gehen pflegte. Manchmal schickt sie mir Links. Einmal schickte sie mir einen Link zu einer Talkshow von Markus Lanz mit Udo Jürgens. In dieser Talkshow sagte Udo Jürgens einen Satz, der für mich sofort bedeutsam wurde. Ich muss dazu sagen, dass ich Markus Lanz bis zu diesem Link nicht kannte und bis heute auch nicht viel mehr über ihn weiß als seinen Namen und dass er Südtiroler ist, was man ihm in der Sendung aber nicht angehört hat. Er versuchte in dieser Zwei-Mann-Talkshow eigentlich ständig, Udo Jürgens zu unterbrechen. Aber Udo Jürgens, dieser damals, ich glaube mit achtundsiebzig Jahren, völlig in sich ruhende Mann (womöglich war er auch leicht angetrunken), schaute so dermaßen mild und verständnisvoll auf diesen jugendlich Aufgeregten, dass es eine philosophische Wonne war. Lanz also fragte Jürgens, was für dessen so blendendes Aussehen verantwortlich sei. Udo Jürgens antwortete, meiner Erinnerung nach, erst einmal dahingehend, dass er weder aufgehört habe zu trinken noch auf irgendeine andere Weise Spaß zu haben. Aber!, sagte er, aber eines sei vielleicht in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Er dusche kalt. Er dusche immer kalt. Und dann sagte er diesen Satz, über den ich erst einmal lange nachdachte, der für mich zuerst nur Theorie war, bei dem ich aber nach einigen Wochen in die praktische Probephase überging. Udo Jürgens sagte: »Kalt duschen bringt einen so richtig nach vorn.«

Dieser Satz ist etwas ambivalent formuliert. Das Nach-vorn-Bringen kann man so oder so verstehen. Es empfehlen zwar unzählige christliche und vor allem katholische bzw. pietistische Gläubige immer wieder, eiskalt zu duschen, um gerade nicht nach vorn zu kommen. Wer aber Udo Jürgens in diesem Moment gesehen hat (78, bei Markus Lanz), der spürte die Ambivalenz des Satzes.

Ich habe zugegebenermaßen wochenlang am Kaltduschen geübt. Am Anfang ging es gar nicht. Dann nur ein paar Sekunden. Später ging es länger, und heute springe ich in jeden angeeisten See. Ich bewerte Hotelzimmer inzwischen dahingehend, wie kalt das Wasser ist. Auch mein Umzug nach Hamburg war ganz gut, weil das Wasser in meiner neuen Dusche wesentlich kälter ist als im mediterranen Frankfurt am Main, wo ich früher immer gewohnt habe.

Als ich Udo Jürgens diesen Satz sagen hörte, fiel mir natürlich gleich das bekannte Sprichwort ein, das lautet: »Den Säufer und den Hurenbock, den frierts im dicksten Winterrock.« Damals beschloss ich, von Udo Jürgens zu lernen. Der Mann war deutlich älter als ich, aber ich spürte eine gewisse Seelenverwandtschaft. Seit damals dachte ich jeden Tag an Udo Jürgens, nämlich immer beim Duschen. Meistens sang ich dabei munter: Heute beginnt der Rest deines Lebens. Munter, denn ich hielt ihn ja offenbar für unsterblich. Ich sang den ganzen Refrain, das war mein Zeitmaß für die Dusche. Meine Frau war davon nicht begeistert (sie musste es ja hören). Aber selbst die Haut wurde wieder jünger. Und nackt unter der Dusche im eiskalten Wasser an einen Mann zu denken, bringt einen heterosexuellen Menschen tatsächlich nur auf eine der beiden besagten Weisen nach vorn.

Jetzt ist jedes morgendliche Duschen ein Totengedenken. Die früher mitschwingende Ironie und Munterkeit ist gänzlich weg. Auch unter der Dusche hat er uns allein gelassen. Jetzt singe ich Heute beginnt der Rest deines Lebens und weiß, wovon das Lied wirklich handelt. Vom Nachsterben.

Neulich erhielt ich eine SMS

Neulich (am 27. 2.) erhielt ich eine SMS von meinem Bruder aus Berlin. Es handelte sich wieder einmal um eine Todesnachricht. Immer wenn jemand stirbt, brummt es in meiner Tasche.

Mein Bruder ist fünf Jahre älter als ich. An Weihnachten erwischte es ihn diesmal eiskalt, denn er besuchte mich über die Feiertage in Frankfurt, d. h. vier Tage nachdem es wegen Udo Jürgens in meiner Tasche gebrummt hatte (21. 12.). Mein Bruder bekam also den ganzen Frankfurter-Apfelweinwirtschafts-Sermon über Udo Jürgens ab, obgleich er mit Udo Jürgens nichts anfangen kann und dieser ihm völlig egal ist. Zur Erinnerung: Es waren die Tage, als der halbe deutschsprachige Raum an einem Udo-Jürgens-Tinnitus litt. Nicht nur überall in den Läden, die man betrat, war aus dem Radio Udo Jürgens zu hören, auch nachts dudelte der Kopf stundenlang alles von Udo Jürgens, was man kennt. Bei mir dauerte dieser akute Tinnitus ca. zwei Wochen. In der ersten Januarwoche wurde es langsam besser.

Natürlich baute mein Bruder im Verlauf der Weihnachtstage die übliche Front gegen Udo Jürgens auf. Für ihn war er bloß ein Schlagerstar, und da mein Bruder selbst ausgebildeter Marxist und ein exzellenter politischer Demagoge ist, konnte er auch den sozial- und zivilisationskritischen Kämpferauftritten von Udo Jürgens nur ein müdes Lächeln abgewinnen. Udo Jürgens = Teil des Systems.

Eigentlich hatte sich mein Bruder bei uns in Hessen erholen wollen. Sein Lebensweg bis hin zum Weihnachtsfest 2014 in kurzen Worten: Das früheste Zeugnis aus seinen Händen, von dem mir berichtet wurde, war die Saturnrakete, die mein Bruder zeitgleich zur Mondlandung mit sechs Jahren baute (Revell) und die meine Schwester gleich wieder zerstörte. Frühkindliche Erinnerungen, die ich an ihn habe, zeigen nie ihn selbst, sondern Fernsehfiguren, zum Beispiel Commander Straker aus der Sci-Fi-Serie UFO, der bis heute bekannt ist durch seine wasserstoffblonde Frisur. Mit Lego wurde in unserer Familie die Mondstation aus der Serie nachgebaut. Dann kam der 27. Mai 1972, ein Samstag. Ich habe dieses Datum schon vor Jahren und noch in meiner Vorinternetzeit rekonstruiert, heutzutage geht das natürlich auf Knopfdruck. An diesem Tag gab es ausnahmsweise keinen Bundesligafußball, denn zur Vorbereitung des EM-Turniers und zur Einweihung des Münchner Olympiastadions hatte am Vortag das Spiel BRD  Russland stattgefunden. Deshalb wurde keine Sportschau geschaut, sondern der andere Kanal, das ZDF. Mein Bruder stand damals zehn Tage vor seinem zehnten Geburtstag (Udo Jürgens war damals 38). An diesem Tag sah er ihn zum ersten Mal: Mr. Spock (zu der Zeit 41).

Ab Raumschiff Enterprise hatte mein Bruder einen geraden braunen Pony, und er wurde immer mehr zum Techniker und Logiker. Für die Fleischmann-Modelleisenbahn entwarf und lötete er alle Schaltungen selbst. Er schrieb Programme für Taschenrechner, besaß als Erster im Landkreis einen Pet 2001 (das war der erste bezahlbare Homecomputer, noch lange vor dem Commodore 64), gründete mit siebzehn oder achtzehn Jahren seine erste Softwarefirma, floh 1981 mit seiner Firma über Nacht nach Westberlin, weil er aus dem Atombunker, in dem er seinen Ersatzdienst leistete, infolge von Hinweisen auf gewisse Missstände wegen angeblicher Zersetzung rausflog und am nächsten Tag der Gestellungsbefehl für die Bundeswehr kommen sollte. In Berlin startete die Firma durch, Geschäft immer größer, zeitweise Dutzende Angestellte, Filialen in New York, San Francisco. Ich komponierte für seine Computerspiele die Musik und machte gutes Geld, da war ich sechzehn, siebzehn.

Schnitt. Von alldem ist nichts geblieben. Heute lebt mein Bruder auf dem Existenzniveau eines Fahrradkuriers. Microsoft etc. konnte er nicht überleben. Und als aufklärerischer Marxist und permanenter Optimierer von Betriebsabläufen macht man sich auch in Berlin nicht unbedingt beliebt.

Es ist nun so, dass sich dieser ganze Lebenslauf eigentlich von Spock her erklärt. Mein Bruder ist sozusagen die realweltliche Ausformulierung dieser Figur. Mein Bruder ist die Beantwortung der Frage: Was wäre aus Mr. Spock geworden, wäre er hier und jetzt geboren, das heißt, genauer gesagt, im Juni 1962 in Bad Nauheim in der Wetterau, und zwar an der Stelle meines Bruders. Die SMS, die mir mein ansonsten ganz und gar unpathetischer Bruder am 27. 2. schrieb, lautete: »spock ist tot. der wichtigste mensch meines lebens.«

Um zu ermessen, was diese SMS aus den Händen meines Bruders bedeutet, muss man sich nur Spock beim Schreiben einer solchen SMS vorstellen. Sicher würde er diese SMS, und zwar aus zwingend logischen Gründen, nur einmal in seinem Leben schreiben, denn der Superlativ würde von ihm, dem Sprachkorrekten, natürlich ernst genommen. Vor allem erwartet man eine so empathische SMS nicht alle Tage von einem Spock. Man weiß: Schreibt Spock so eine SMS, dann hat das nichts mit unserer normalen Gefühlsduselei zu tun. Vielmehr ist es dann ein Faktum. Und als Faktum ist es beweis- und analysierbar.

Analyse: Lassen wir Logik, Technik und Distanz zu Gefühlen mal außer acht, das sind ja die gängigen Spock-Klischees, und gehen wir gleich zum richtigen Gedankenspagat über: Mein Bruder ist durch Spock Marxist geworden.

Natürlich ist er in erster Linie durch Marx zum Marxisten geworden. Aber als er kurz vor seinem zehnten Geburtstag stand, kannte er Marx noch nicht, es sei denn als Schimpfwort (wir kommen aus einem CDU-Haushalt).

Das Erste, was meinen Bruder prägte, war technische Machbarkeit. Es wurde ihm durch die Serie Raumschiff Enterprise, sagt er, zwar keine utopische sozialistische Gesellschaft vorgeführt, aber eine Gesellschaft, deren technische Möglichkeiten so weit gediehen waren, dass sie a) sich selbst versorgen konnte und b) Arbeit dafür weitgehend überflüssig geworden war. Die Ressourcen standen allen zur Verwertung offen, und der Umweg über Geld, Schaffung von Mehrwert und Arbeitskraft war nicht mehr nötig. (Hm, und was ist mit all den Minenarbeitern auf den fremden Planeten, machten die das freiwillig?)

Mit der Zeit festigte sich bei meinem Bruder die – wie wir heute wissen – nicht ganz falsche Einsicht, dass wir die Stufe der technisch machbaren Vollversorgung von Gesellschaft oder gar Menschheit spätestens in den Siebzigerjahren erreicht hatten. Allein, es hapert bei der Verteilung. Wieso hapert es bei der Verteilung? Es hapert aufgrund von Partikularinteressen. Partikularinteressen sind bei kompletter Versorgungsmöglichkeit allerdings was? – genau: unlogisch. Eine ganze Reihe humaner Affekte sind unlogisch: Machtstreben, Streben nach außergewöhnlichem Reichtum etc. Mit Spock gedacht, sind es also die menschlichen Seiten am Menschen, die dem Menschen Probleme bereiten (!). Da laut dem Spock’schen Gesetz der Einzelne weniger wichtig ist als die Allgemeinheit, ist es also was, wenn der Einzelne sich selbst, aber nicht die Allgemeinheit zur Maxime macht? Richtig! Unlogisch.

Seitdem verfolgte mein Bruder zwei Wege in seinem Denken. Erstens war sein Sci-Fi-gestützter Geist ständig damit beschäftigt, vernünftige Konzepte für dies und das zu entwickeln. Etwa für den Individualverkehr (der so, wie er jetzt läuft, was ist? Richtig! Unlogisch!). Geld lehnt er ohnehin ab, das kann man ja auch verstehen. Im Geld sind all die schönen unlogischen menschlichen Affekte aufgehoben, eingekapselt und quasi steril verwahrt. Aber sie sind eben drin. Und kommen irgendwann wieder raus, und zwar ziemlich geballt.

Der andere Weg war der politisch-ökonomische, mein Bruder wurde zum Spezialisten in Sachen Marx. Heute kann mein Bruder wunderbar jeden Fehler dieser Welt erklären. Dass die Welt weiterhin ständig alle ihre Fehler begeht und darunter auch den größten ihrer Karriere, den Kapitalismus, kann er allerdings nicht erklären, denn das ist nichts anderes als – unlogisch.

Das ist mein Bruder. Ein einziger Vernunftappell an die Menschheit, allerdings vorläufig noch ohne realpolitische Auswirkungen. Auch auf dem Raumschiff ist Spock ja nur Erster Offizier, aber nicht Chef. Der Chef des Raumschiffs ist ein egobesessener, halbwegs sexsüchtiger, adrenalingesteuerter Haudrauf. Das könnte man jetzt wiederum auf die gesamte Menschheit beziehen. Aber darüber hat Rainald Goetz neulich schon einen Roman geschrieben, das muss ich hier nicht nochmal tun.

Spock ist also ein nicht gerade vieldimensionales Wesen. Mit Heidegger und Geworfenheiten etc. hätte er nicht viel am Hut gehabt. Das wäre ihm zu unlogisch gewesen. Das Laster hat er nicht hochleben lassen. Doch nun ist er tot.