Theodor Michael

DEUTSCH
SEIN
UND SCHWARZ
DAZU

Erinnerungen
eines Afro-Deutschen

Mit einem Nachwort
von Manfred Kock

Mit Bildteil

Deutscher Taschenbuch Verlag

Meinen und unseren Enkeln gewidmet

Der eine: »Ja, genau so ist es gewesen.«

Der andere: »Aber genau so war es nicht.«

Weiße Mutter, schwarzer Vater

Als ich in Berlin zur Welt kam, war das Jahr 1925 gerade 15 Tage alt. 14 Tage vorher hatte der apostolische Nuntius Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII. dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert die Glückwünsche des diplomatischen Korps überbracht. Niemand rechnete damit, dass Friedrich Ebert keine zwei Monate später sterben würde. Nach seinem Tod wurde der greise Feldmarschall Paul von Hindenburg, die lebende Legende seit dem Sieg über die russische Armee bei Tannenberg, Reichspräsident. Von all dem wusste ich natürlich nichts und hatte, wie mir später erzählt wurde, überhaupt große Mühe, auf die Welt zu kommen und am Leben zu bleiben. Meine Mutter war bei meiner Geburt bereits schwer krank und starb ein Jahr später.

Sie stammte aus dem kleinen Dorf Jersitz nahe der Provinzhauptstadt Posen, aus einer Familie von braven preußischen Handwerkern und Kleinbauern. Es muss schon eine kleine Revolution gewesen sein, dass sie um 1910, 25-jährig, nach Berlin, der Hauptstadt des Reiches, aufbrach. Und dort traf sie schließlich ausgerechnet meinen Vater, der aus einem ganz anderen Teil der Welt stammte. Mehr weiß ich darüber nicht. Als Kind hatte es mich nicht weiter interessiert. Später hätte ich gerne mehr erfahren, aber da waren beide Eltern schon tot. Meine Verwandten mütterlicherseits halfen mir auch nicht weiter. Sie verstummten jedes Mal, wenn die Rede auf meinen Vater kam. Er war, so lange ich denken kann, ein Tabuthema in der Familie meiner Mutter.

Aus den Erzählungen meiner älteren Geschwister und der Verwandten weiß ich jedoch, dass meine Mutter eine schöne und intelligente Frau gewesen war. Sie konnte sogar Klavier spielen. Wo immer ein Klavier stand, setzte sie sich hin und spielte ohne Noten. Wie es überhaupt dazu gekommen war, blieb mir ein Rätsel. Ihre Familie in Jersitz konnte sich mit Sicherheit kein Klavier leisten, geschweige denn Klavierunterricht.

Über den Grund dafür, warum sie das Dorf in der Provinz verlassen hat, kann ich nur Vermutungen anstellen. Als sie 1915 meinen Vater heiratete, brachte sie einen Sohn, Herbert, mit in die Ehe. Ein uneheliches Kind in dieser Zeit – das muss sehr schwierig für eine junge Frau gewesen sein. Vielleicht dachte sie, dass es einfacher ist, mit dem Kind in der Großstadt zu leben. Herbert wuchs aber nicht in der neuen Familie auf. Meine Mutter hatte zwei jüngere Schwestern, meine Tanten Else und Friedel. Beide hatten ihre Verlobten im Ersten Weltkrieg verloren und blieben ledig. Sie nahmen Herbert zu sich und zogen ihn groß. Nach der Heirat meiner Eltern kamen in kurzen Abständen drei weitere Kinder zur Welt, meine älteren Geschwister Christiane, James und Juliana.

Meine eigenen Erinnerungen beginnen mit der zweiten Frau meines Vaters, die, wie meine leibliche Mutter, mit Vornamen Martha hieß. Die Ehe dauerte nicht lange. Nach etwa einem Jahr ließ sie sich scheiden. Da war ich noch keine vier Jahre alt. Sie fühlte sich der Belastung einer Ehe mit einem Afrikaner nicht gewachsen. Beide Ehefrauen meines Vaters hatten ja nichts gewusst über das traditionelle afrikanische Sozialverhalten, das mein Vater und seine Landsleute aus Kamerun mitbrachten. Es kollidierte mit dem Leben im Europa der Zwanziger- und Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Mein Vater war kaum zu Hause, und meine Stiefmutter hatte es mit vier unbezähmbaren fremden Kindern zu tun. Dennoch hätte sie mich, das Nesthäkchen, nach der Trennung gerne zu sich genommen, ohne den Rest der Familie. Aber das ließ mein Vater nicht zu.

Alle weiteren Versuche meines Vaters, eine Frau für sich und eine Mutter für seine Kinder zu finden, scheiterten. Die Frauen waren durchaus an meinem Vater interessiert, denn er war ein gut aussehender, stattlicher und höflicher Mann, er hatte Charme. Aber vier Kinder zwischen vier und dreizehn, das war ihnen doch zu viel. Zumal mein Vater kein stetiges Einkommen vorweisen konnte, keinen soliden materiellen Hintergrund für seine große Familie.

Nach der Scheidung meines Vaters von Martha Schlosser, so der Mädchenname meiner Stiefmutter, fiel es meiner ältesten Schwester Christiane zwangsweise zu, die Mutterrolle in der Familie zu übernehmen. Sie war es, die die Jüngeren versorgte, einkaufen ging, Essen kochte, die Wohnung in Schuss hielt und mit den Geschwistern Schularbeiten machte. Vater liebte uns sehr, aber er war bei aller Liebe und allem guten Willen nicht in der Lage, seinen Vaterpflichten nachzukommen. Er begann an sich selbst zu verzweifeln. Irgendwann fing er an zu trinken und war dann erst recht überfordert. Auch Christiane war zweifellos überfordert, denn sie war ja mit ihren knapp 13 Jahren selbst noch ein Kind und ging noch zur Schule. Aber sie wuchs in dieser Zeit mit der Verantwortung für die Familie über sich selbst hinaus.

Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört das Einnehmen von Lebertran, zur Bekämpfung der Rachitis, der »Englischen Krankheit«, wie man damals sagte. Das war täglich eine Prozedur bei drei lautstark protestierenden Kindern, denen ein weiteres Kind mit der Flasche und einem Löffel in der Hand den widerlichen Inhalt einflößen musste. Ich als Jüngster nahm eine Sonderrolle ein. Ich quengelte viel, heulte bei jeder Gelegenheit und verpetzte die Großen bei meinem Vater. Was bei ihm wiederum dazu führte, dass er mich bevorzugt behandelte. Meine Geschwister haben das als ziemlich abscheulich empfunden. Ich war – und bin das bis heute geblieben – ein langsamer Esser. Die leckersten Stücke bewahrte ich mir gerne bis zum Schluss auf. Meine Geschwister waren viel schneller und griffen dann auf meinen Teller, um sie mir zu klauen. Ich war bei ihnen wirklich nicht sehr beliebt. Wahrscheinlich machten sie mich auch unbewusst für den frühen Tod unserer Mutter verantwortlich.

Mein Vater war eine große markante Erscheinung mit edlen afrikanischen Gesichtszügen. Er war stolz, herrisch und jähzornig. Er war aber auch gutmütig und bereit, das Letzte zu geben, wenn jemand ihn um Hilfe bat. Das war ein Wesenszug, der seine beiden Ehen erheblich belastete. Fast immer, wenn er nach Hause kam, hatte er im Schlepptau einen oder mehrere »Landsleute«. Sie tauchten auch sonst ganz plötzlich auf und wurden selbstverständlich bewirtet. Während der Zeit der Weimarer Republik bestand die afrikanische Diaspora in Berlin hauptsächlich aus Menschen, die aus den deutschen Kolonien stammten, und ihren Familien. Für uns waren alle Afrikaner und alle, die – modern gesagt – »schwarz« waren, »Landsleute«, ganz gleich, wo sie herkamen oder welche Nationalität sie hatten. Sie wurden von uns Kindern mit »Onkel« und »Tante« angeredet. Einbezogen waren auch alle Abkömmlinge der »Landsleute«, die späteren »Afro-Deutschen«.

Meine Mutter und später meine Stiefmutter konnten bei solchen Anlässen zusehen, wie sie die zusätzlichen Mäuler stopften. Auch wir Kinder waren nicht gerade erfreut über das Auftauchen von »Landsleuten«. Denn nach guter alter afrikanischer Tradition bekamen immer die Gäste die feinsten Sachen, und wir mussten zurückstecken.

Die Wurzeln in Kamerun

Mein Vater Theophilus Wonja Michael wurde, so steht es im Familienstammbuch, am 14. Oktober 1879, fünf Jahre vor Beginn der deutschen Kolonialherrschaft, in Victoria, im Bimbialand an der Atlantikküste Kameruns, geboren. Heute heißt dieser Landstrich Malimbe. Seine weit verzweigte Familie hieß ursprünglich M’Bele, nach anderer Schreibweise und auch phonetisch »M’Bella«. Der in der deutschen Kolonialgeschichte bekannte William Bell, der den Vertrag über den Anschluss des Duala-Landes an Deutschland ausgehandelt hat, kommt auch aus dieser Familie. Bell entspricht M’bele. Das konnten die Europäer nur schwer aussprechen und ließen deshalb das »M« weg. Der Großvater meines Vater wurde am Michaelitag getauft und seitdem ist Michael unser Familienname.

Einer der Vorfahren meines Vaters war Bona N’golo Mbimbi a M’Bele. Er war der Namensgeber des späteren Bimbia. Mag sein, dass sich auch der abwertende Begriff »Bimbo« für Schwarze davon herleitet. Dieser Mann war einer der berüchtigten afrikanischen Fürsten gewesen, die in der Zeit des Sklavenhandels reich und mächtig wurden. Die in den europäischen Quellen üblichen Bezeichnungen »Häuptling« oder »Chief« sind eher irreführend. Es waren Männer, die die Elite ihrer Völker bildeten, in einer Sozialstruktur, die an diesem Teil der Küste weitgehend feudalistisch war. Als die Baptisten aus der Karibik um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Lande Bimbia Fuß fassten und die Missionsstation Victoria gründeten, war die frühere Macht dieser Fürsten allerdings größtenteils dahingeschwunden. Die ersten Europäer, die in das Land kamen, berichteten von endlosen Kämpfen und Auseinandersetzungen unter den führenden Familien, von Intrigen und Kabalen, die sie untereinander und miteinander führten. Einige dieser Potentaten waren nicht unfroh, als sich die europäischen Mächte, England, Frankreich und Deutschland, plötzlich für diesen Küstenstreifen zu interessieren begannen. Erhofften sie sich doch, die Fremden für die Durchsetzung ihrer eigenen, persönlichen Ziele einsetzen zu können.

Bekanntlich kam es nicht so. Den Wettlauf um Kamerun gewannen die Deutschen, und die hatten ganz andere, eigene Vorstellungen und Ziele als die einheimischen Potentaten. Ab etwa 1875 hatten Kaufleute aus Hamburg und Bremen begonnen, mit den »Chiefs« an der Küste Handel zu treiben. Diese Kaufleute wollten ungehindert ihren Geschäften nachgehen, und zwar auch im Hinterland von Kamerun. Das wiederum wurde ihnen von ihren afrikanischen Geschäftspartnern, die selbst den Handel im Hinterland für sich monopolisiert hatten, verweigert. Damit wollten sich die Hanseaten nicht abfinden und verlangten, dass die Beauftragten der Regierung in Berlin sogenannte »Schutzverträge« zu ihren Gunsten mit den einheimischen Fürsten und Königen abschlossen. Ein solches Ansinnen stand zunächst im Widerspruch zu den Plänen des damaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck. Er war eigentlich ganz und gar gegen Kolonien. Denn deren Unterhalt würde den Staat – seiner Meinung nach – nur Geld kosten und nichts einbringen als Ärger, den das Deutsche Kaiserreich, so kurz nach seiner Gründung und dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, nicht gebrauchen konnte.

Aber das berüchtigte »Scramble for Africa« hatte begonnen und die Reichsregierung folgte diesen Forderungen letztlich doch. Man entsandte Gustav Nachtigal, den deutschen Konsul in Tunis, um entsprechende Verträge mit den afrikanischen Fürsten zu schließen. Darin nannte man diese Länder irreführend »Schutzgebiete«, nach damaliger Rechtsauffassung Protektorate, eine Zwitterbezeichnung. Am Ende setzte sich der Begriff »Schutzgebiete« für die deutschen Kolonien durch und hielt sich auch über das Ende der deutschen Kolonialzeit hinaus.

De facto war Kamerun nunmehr eine Kolonie des Deutschen Kaiserreiches. Ich gehe davon aus, dass die afrikanischen Fürsten, die diese Verträge mit ihren Kreuzchen gegenzeichneten, den genauen Wortlaut gar nicht kannten. Zum einen konnten sie selbst zumeist weder lesen noch schreiben. Denn Lernen war nach ihrer Auffassung »Arbeit« und deshalb für »Adelige« nicht standesgemäß. Erst später, als die Missionare Schulen einrichteten, in die vor allem unterprivilegierte Familien ihre Kinder schickten, merkten sie, dass sie einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatten. Die Kinder aus »adeligen« Familien fühlten sich plötzlich gegenüber den »nicht adeligen« Kindern benachteiligt, was zu sozialen Konflikten führte, von denen die Kolonialmacht und ihre Vertreter überhaupt nichts merkten. Zum anderen wurde der Wortlaut der schriftlichen Verträge durch die oft mehrfachen mündlichen Übersetzungen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Fürsten freiwillig ihre Autorität, Selbstständigkeit und ihren Landbesitz mit der eigenen Unterschrift einer fremden Macht preisgegeben hätten.

Das Original dieses Vertrages über den Landstrich Malimbe bzw. Bimbia ist nicht mehr auffindbar. Mein Großvater und mehrere andere Fürsten, die damals das Land regierten, hatten ihn mit einem Kreuz gezeichnet. Darunter standen ihre Namen. Der Journalist und Afrika-Reisende Hugo Zöller war in amtlichem Auftrag am Abschluss dieser Verträge beteiligt und hat 1885 ein Buch darüber veröffentlicht mit dem Titel ›Die deutschen Besitzungen an der westafrikanischen Küste‹. Darin wird unter dem Namen »Freeborn« auch mein Großvater erwähnt. Freeborn ist in etwa die englische Übersetzung von »Wonja« bzw. »Wonjange« oder auch »Wonjunge« in der Duala-Sprache. Mehr konnte ich über die Wurzeln meiner Familie auch in Kamerun nicht in Erfahrung bringen.

Einer der wenigen positiven Aspekte der deutschen Kolonialzeit war die Einführung von Schulen. In der Regel wurden sie von den christlichen Missionen getragen, und mein Vater hatte das Glück, eine solche besuchen zu dürfen. Es war das Ziel aller jungen Kameruner, insbesondere aus den aristokratischen Familien, unter allen Umständen nach Europa zu gelangen, um teilzuhaben an Kenntnissen, Fortschritt und Reichtum dieses Kontinents. Mein Vater gehörte zu diesen aufbruchsbereiten jungen Männern, die weg wollten aus der Enge der Stammesgesellschaft, aus der Bevormundung einer Kolonialverwaltung, aus Lebensverhältnissen, die so völlig anders waren als diejenigen, die die Repräsentanten von Kamerun ihren Familien begeistert beschrieben hatten, als sie von der Ersten Kolonialausstellung 1894 in Berlin nach Hause zurückgekehrt waren. Europa bzw. Deutschland erschienen wie das Gelobte Land. Wer es jedoch tatsächlich schaffte, nach Deutschland zu kommen, sah sich mit Umständen und Erfahrungen konfrontiert, die nichts mit paradiesischen Zuständen zu tun hatten. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Die Geschichte meines Vaters

Über den genauen Zeitpunkt, zu dem mein Vater nach Berlin kam, herrscht Unklarheit. Der Familienüberlieferung nach war das schon 1896, aber gesichert ist seine Anwesenheit erst ab 1903. Vorher, so die Familienüberlieferung, sollte er auf einer christlichen Missionsschule in England zum Priester ausgebildet werden. Er aber flüchtete von dort und ging nach Deutschland. Das war ihm möglich, weil er als Einwohner der deutschen »Schutzgebiete« einen entsprechenden Ausweis hatte. Verbürgt ist weiter, dass er am U-Bahn-Bau in Berlin arbeitete. Es war eine der wenigen Möglichkeiten, als »Ungelernter« gutes Geld zu verdienen. Eine »aristokratische« Beschäftigung war es definitiv nicht. Die amtlichen Eintragungen von damals geben als Beruf »Arbeiter« an.

Anfang der Zwanzigerjahre war er als Komparse beim damaligen Stummfilm tätig. Meine älteren Geschwister und später auch ich wurden oft von ihm ins Studio mitgenommen und ebenfalls engagiert. In einer frühen Stummfilmversion von Shakespeares ›Ein Sommernachtstraum‹ spielte meine ältere Schwester Christiane den Puck, James und Juliana waren zwei Elfen. Das war noch vor meiner Geburt. Die Lehrer waren über diese Engagements nicht begeistert, denn wenn die Kinder »beim Film« arbeiteten, konnten sie natürlich nicht die Schule besuchen.

Wir fanden das Leben mit unserem Vater immer spannend. Er versuchte ständig, die Einkünfte für sich und die Seinen zu verbessern. Auch wenn er die Gagen mit den Filmgewaltigen aushandelte. Dazu nahm er gerne seine Kinder mit. Die benahmen sich dann »afrikanisch«, d. h. sie waren ziemlich laut. Das verkürzte die Verhandlungen zu seinen Gunsten, denn es erzeugte bei den Verantwortlichen den dringenden Wunsch, diese Bande schnell wieder loszuwerden. Ähnlich taktisch ging mein Vater bei größeren Einkäufen vor. Gerne betrat er die Läden am Montagmorgen als Erster, weil er wusste, die Händler würden ihn nicht aus dem Laden lassen, bevor er etwas gekauft hatte. Das war eine gute Gelegenheit für ihn, kräftig zu feilschen. Diese Einzelhändler waren oft Juden. Aber mit dem damals bereits grassierenden Antisemitismus hatte sein Verhalten nichts zu tun. Ich bin mir sicher, er wusste gar nicht, was das bedeutete. Er hatte einfach Freude am Handeln.

Solche Geschichten waren typisch für ihn. Eine andere hat mir viel später einer seiner Freunde erzählt. Es gab da eine Zeit, wohl vor dem Ersten Weltkrieg, in der mein Vater über größere Geldmittel verfügte. Woher er die hatte, weiß ich nicht genau. Vielleicht hatte ihm die Familie aus Kamerun Waren geschickt, im wahrsten Sinn des Wortes Kolonialwaren, die er in Deutschland verkaufte. Er war also »flüssig«. Man riet ihm dringend, das Geld doch bei einer Bank anzulegen. Er folgte diesem Rat, ging zur Bank und legte das Geld auf den Tisch. Der Bankbeamte stellte ein Sparbuch aus, strich das Geld ein und verschwand damit. Mein Vater stand nun da, ohne Geld, aber mit einem kleinen Heft in der Hand, dessen Bedeutung er nicht wirklich verstand. Ihn beschäftigte die Frage, was dieser Bankmensch mit seinen Geldscheinen gemacht hatte. Also ging er am nächsten Tag wieder in die Bank und verlangte das Geld zu sehen, das er gestern eingezahlt hatte.

Der Bankbeamte verlangte nun seinerseits das Sparbuch, das mein Vater aber nicht bei sich hatte. Er wolle das Geld doch nur sehen und wissen, was die Bank mit seinem Geld gemacht habe. Ob es überhaupt noch vorhanden war, wohin es eigentlich verschwunden sei. Die beiden konnten sich nicht verständigen. Der Bankbeamte sah keinen Anlass dafür, mit einem Menschen zu verhandeln, der »sein Geld sehen« wollte und sich noch dazu überhaupt nicht als Kunde der Bank ausweisen konnte.

Er überredete schließlich meinen Vater, nach Hause zu gehen, das Sparbuch zu holen und damit wiederzukommen. Gesagt, getan. Mein Vater kam erneut in die Bank, legte das Sparbuch vor und verlangte nun endlich »sein Geld sehen« zu dürfen. Also stellte der Bankmensch eine Quittung aus, schrieb irgendetwas in das Sparbuch und schickte ihn an die Kasse. Dort legte der Kassierer ihm den Betrag vor, mein Vater zählte nach, alles stimmte. Dann schob er das gesamte Geld zurück, sagte »Danke« und verlangte sein Sparbuch zurück. Das wurde ihm verweigert. Das Geld war wieder ausgebucht, das Sparbuch war eingezogen. Er konnte »sein Geld« wieder mitnehmen. Das wollte er aber gar nicht. Es kam zu einer längeren, lautstarken Diskussion, in die sich auch andere Kunden und Bankangestellte einmischten. Die Bank konnte gut auf Kunden verzichten, die den normalen Betrieb aufhielten, weil sie nur »ihr Geld sehen« wollten. Die schönen braunen und blauen Scheine landeten wieder dort, wo sie auch vorher schon gelegen hatten: in einer alten Zigarrenkiste.

Die Zeit verging. Die Inflation kam. Die alten Geldscheine wurden wertlos. Meine Geschwister entdeckten die Zigarrenkiste und benutzten die schönen blauen und braunen Scheine als Spielgeld für den Kinderkaufladen. Das wiederum machte meinen Vater fuchsteufelswild, denn er konnte – oder wollte – nicht begreifen, dass diese Scheine keinen Wert mehr hatten. Er war der Meinung, dass sie irgendwann wieder ihren alten Wert zurückbekommen würden. Schließlich stand ausdrücklich darauf, dass sie jederzeit in Gold eingetauscht werden konnten, besiegelt, was noch wichtiger war, durch die Unterschrift des Kaisers. Dass es den Kaiser nicht mehr gab, wusste mein Vater wohl, aber seiner Meinung nach war das nur ein vorübergehender Zustand. Dass es sich nicht um die Unterschrift des Kaisers handelte, wusste er nicht. Und dabei blieb es. Die Geldscheine landeten wieder in der Zigarrenkiste, und beim Kaufmannsladen-Spiel wurde – wie vorher auch – »angeschrieben«.

Völkerschau

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg musste ein Drittel des ehemaligen Reichsgebiets an Nachbarländer abgetreten werden, und auch die Kolonien waren für Deutschland verloren. Das kümmerte aber die im Reich hängen gebliebenen »Schutzangehörigen« aus diesen verlorenen Kolonien wenig. Nicht nur mein Vater, auch andere Kameruner hatten mit deutschen Frauen Familien gegründet. Soweit sie nicht Staatsangehörige eines der 25 Bundesländer der neuen Republik waren, bekamen sie nun den Status »ehemalige Schutzangehörige«. Rechtlich änderte sich damit für sie vorerst nichts. Man rechnete immer noch mit der Rückgabe der Kolonien. Es gab sowohl im Reichstag als auch in der Öffentlichkeit eine große Lobby dafür. Die ehemaligen Kolonialangehörigen hatten nach wie vor die Reisepässe des Deutschen Reiches und konnten sich im Inland wie vor dem Krieg bewegen. Sie konnten auch ins Ausland reisen, nur eines konnten sie nicht: wählen. Das war vor dem Krieg, zu Kaisers Zeiten, nicht anders gewesen. Die Kolonien hatten nicht den Status eines Bundeslandes und somit kein Wahlrecht.

Ansonsten änderte sich doch einiges. Nationalistische Parteien und Medien, rechte Gruppierungen machten Propaganda gegen die Stationierung afrikanischer Truppen (zumeist Nordafrikaner) im französisch besetzten Rheinland. Es entstand eine allgemeine afrikanerfeindliche Stimmung, die auch die »deutschen« Afrikaner und ihre Familien zu spüren bekamen. Natürlich richtete sich diese Propaganda vor allem gegen Frankreich, den »Erzfeind«, aber man schlug den Sack und meinte den Esel. Afrikaner verloren, soweit sie überhaupt eine regelmäßige Beschäftigung gehabt hatten, ihre Arbeit (»Der nimmt einem von uns die Arbeit weg.«). Unter diesen Umständen gestaltete sich die Arbeitssuche als schwierig. Auch angesichts von Millionen »deutscher« Arbeitsloser. Sie waren überhaupt nicht mehr gut gelitten, die Afrikaner, die doch bisher als afrikanische Landsleute bezeichnet wurden. »Sollen sie dahin gehen, wo sie hergekommen sind!«, war die allgemeine Auffassung im Land.

Mein Vater scherte sich wenig um derartiges Gerede. Er musste schließlich vier Kinder ernähren. Und so kam er mit seinem Anhang in der Völkerschau des Zirkus Holzmüller unter, der mit einer bunten Schar exotisch aussehender Musiker, Tänzer und Artisten durch Deutschland tingelte. Jeder Vier-Masten-Zirkus, der etwas auf sich hielt, schaffte sich damals eine Völkerschau an. Sie sprossen wie Pilze aus dem Boden. Personal dafür gab es genügend. Für die deutschen Afrikaner war dies neben der Komparserie beim Stummfilm eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten, da ihnen ja nun sogenannte »bürgerliche« Berufe verschlossen blieben. In diesen Völkerschauen sollten sie das sein, was sich die Menschen in Europa in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts unter »Afrikanern« vorstellten, ungebildete, mit Baströckchen bekleidete, kulturlose »Wilde«.

Schon sehr früh begann ich, diese Völkerschauen und meine Mitwirkung dabei gründlich zu hassen. Wo ich ging und stand, wurde ich begafft, wildfremde Leute fuhren mir mit den Fingern durch die Haare, rochen an mir, ob ich echt sei, sprachen in gebrochenem Deutsch und in Zeichensprache mit mir, in der Annahme, ich würde sie nicht verstehen. Das begann lange, bevor ich zur Schule ging. Und dennoch gehörte diese Zeit zu den eher glücklichen meiner Kinderjahre. Das unstete, aber bunte Leben, das wir mit unserem Vater führten, gefiel uns Kindern sehr.

Irgendwann, es dürfte noch im Jahr 1929 gewesen sein, setzte das Jugendamt in Zusammenarbeit mit dem Vormundschaftsgericht diesem Herumziehen meines Vaters mit seinen Kindern ein Ende. Man stellte fest, dass mein Vater, wie es im amtlichen Schreiben hieß, »nicht in der Lage sei, seinen vier unmündigen Kindern ein ordentliches Leben zu sichern«. Nur, wie hatte ein »ordentliches Leben« im Deutschland dieser Zeit auszusehen? Wer wollte sich mit diesen »undisziplinierten«, exotisch aussehenden Kindern abgeben, was sollte aus ihnen werden? Am besten, sie blieben im Showbusiness, da gehörten sie ja auch hin. Also erst einmal ab ins Waisenhaus. Dann wurde die Familie auseinandergerissen, die Kinder wurden verteilt. Zu Pflegeeltern. Christiane kam zur Familie von Mohamed ben Ahmed, der eine »ostafrikanische Schau« führte und von dem noch viel zu erzählen sein wird. Sie war inzwischen 15 Jahre alt und sollte dort den Haushalt »lernen«. James kam zur marokkanischen Truppe von Abdulla Bonamanes. Es war eine sogenannte Springertruppe, die in bunten Fantasiekostümen menschliche Pyramiden baute und Salto mortale sprang. James war zierlich und elastisch und stellte in dieser Truppe den »Obermann«.

Juliana und ich, wir kamen »bürgerlich« bei Clara Krone unter. Eine sehr mütterliche großherzige Frau, die, selbst kinderlos, Pflegekinder aufnahm. Wahrscheinlich auch, weil es vom Jugendamt dafür Geld gab. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich unter anderem mit Näharbeiten, und an ihr stundenlanges Sitzen an der Nähmaschine erinnere ich mich noch genau. Sie nähte auch für mich, ich war immer gut angezogen und ihr ganzer Stolz. Sie hat, vor allem Fremden gegenüber, immer so getan, als sei ich tatsächlich ihr eigener Sohn. Ich nannte sie auch »Mutter«. Sie hat, das wurde mir erst viel später klar, bis zu meinem achten Lebensjahr eine ausgezeichnete Erziehungsarbeit an mir geleistet.

Sie war zudem Besitzerin eines Süßwarenladens, der aber verpachtet war. Mir erschien sie alterslos, sie war aber mit einem Mann liiert, der viel jünger war als sie, und der als »Untermieter« auch in der Wohnung lebte. Ihn habe ich als »Onkel Hermann« in guter Erinnerung. Wir wohnten im obersten Stock eines großen Mietshauses mit vielen Hinterhöfen in der Saarbrückerstraße, mit einem weiten Blick über den Kiez Prenzlauer Berg.

Von der Wohnung aus konnte man auch in den ersten von mehreren Hinterhöfen sehen. Da erschien oft ein Leierkastenmann und spielte zur Freude aller Hausbewohner fröhliche und auch traurige Musikstücke. Manchmal war ein dürres Mädchen – oder war es seine Frau? – dabei, die sang sogenannte Küchenlieder oder Balladen. Die Zuschauer und Zuhörer warfen dann in Zeitungspapier gepackte Pfennige in den Hof. Wir Kinder waren nicht mehr in der Wohnung zu halten und rannten hinunter in den Hof, um das Musikereignis von Nahem zu erleben. Der Poet und Ingenieur Heinrich Seidel hat in dem Gedicht ›Die Musik der armen Leute‹ dem Beruf des Leierkastenmannes ein Denkmal gesetzt.

Vom Fenster aus bewunderten wir die Müllmänner, die mit ihren langen Lederschürzen und dicken Handschuhen zu zweit die schweren Müllkästen mit einer Hand am Griff und mit der anderen über Kreuz – die Schulter des Nachbarn stützend – aus den Hinterhöfen auf die Straße zu den Müllwagen schleppten. Ein Ereignis waren auch die Bollewagen, deren Kutscher Milch und Milchprodukte verkauften. Anfänglich waren es noch Pferdewagen, später wurden sie mit leisen Elektromotoren betrieben. Wir Kinder hängten uns gerne hinten an die Griffe und ließen uns mit dem Roller ziehen. Der Bürgersteig vor den Häusern bestand aus großen rechteckigen Quadern, die sich ausgezeichnet zu Hüpfspielen eigneten, Spiele, die die Mädchen gerne spielten und bei denen wir Knaben fasziniert zuschauten, ohne mitzumachen, denn das war ja nur etwas für »Mieken«.

Die für uns Michael-Kinder zuständige Fürsorgerin vom Jugendamt stammte selbst aus dem Artistenmilieu und unterhielt immer noch beste Kontakte zu diesen Kreisen. Und so vermittelte sie Juliana zu einer Seiltänzertruppe, die »Rosetti« hieß. Sie hatte es recht gut dort, konnte aber wegen Ausbruchs einer Krankheit, die ihr die Ausübung des Berufes als Seiltänzerin unmöglich machte, nur zwei Jahre bleiben. Danach kam sie wieder zurück zu »Mutter Clara«.

Schule

Eines Tages bekam ich eine große, mit Obst und Süßigkeiten gefüllte Tüte in die Hand und musste zur Schule. Die war gleich in der Nähe. Am ersten Tag in der Pause kam ein etwa gleichaltriger Junge auf mich zu, strahlte mich an und sagte: »Wollen wir Freunde sein?« Natürlich sagte ich Ja. Er hieß Horst, wurde »Hotte« gerufen, hatte strohblondes störrisches Haar und Sommersprossen. Sein Vater war, wie viele andere Väter auch, arbeitslos. Hotte durfte deshalb wie ich an der täglichen Schulspeisung teilnehmen, die eine christliche amerikanische Organisation – ich glaube, es waren die Quäker – für die deutschen Kinder nach dem Ersten Weltkrieg eingerichtet hatte. Wir trafen uns, spielten und machten zusammen Schularbeiten. Aber bald zogen seine Eltern fort und wir haben uns nie wieder gesehen.

Insgesamt machte mir die Schule großen Spaß, ich fand viele Freunde dort und hatte immer Begleitung auf dem Schulweg. Im Unterricht benutzten wir im ersten Jahr noch Schiefertafeln und uralte Fibeln, die schon Generationen von ABC-Schützen in den Fingern gehabt hatten. Ich lernte sehr schnell und saß in der ersten Bank, die Bank für die Besten im Unterricht. Wer schlechte Noten hatte, rutschte nach hinten, wer Pech hatte, landete in der letzten Bank. Natürlich entwickelten wir alle – es war eine reine Jungenschule – ziemlichen Ehrgeiz, ganz nach vorne zu rutschen.

Meine erste Lehrerin hieß Frau Hering. Wir Schüler riefen immer »Fräulein«, denn Lehrerinnen waren zu dieser Zeit meistens unverheiratet. Sie korrigierte dieses »Fräulein« jedes Mal nachdrücklich in »Frau«. Mein gutes Verhältnis zu den anderen Kindern und Schulkameraden hatte aber auch Schattenseiten. Bei den Streichen, die Jungen in dem Alter nun mal unternehmen und an denen ich teilnahm, wenn auch oft nur passiv, war ich der Einzige, den man – aufgrund seines Aussehens – identifizieren konnte. Ratschlag meiner Pflegemutter: »Halte dich fern von den bösen Buben.« Er half nicht viel.

Mein Vater kam uns oft in der Saarbrückerstraße besuchen. Manchmal nahm er mich auf einen Spaziergang durch den Kiez mit. Bei einem solchen Spaziergang sahen wir einmal einen Aufzug von bräunlich gekleideten Männern. Von der anderen Seite kam eine Gruppe mit Schalmeienmusik. Als beide Gruppen aufeinanderstießen, gab es eine furchtbare Prügelei. Plötzlich hörten wir die Signale, tatütata, der Berliner Schutzpolizei und mein Vater sagte: »Nimm deine Beine in die Hand, Junge, wir müssen rasch hier weg.« Die Polizei prügelte ihrerseits die Prügelnden auseinander und wir hatten Angst, etwas abzubekommen. Ich verstand natürlich nichts. Erst viel später habe ich begriffen, was da vor sich gegangen war. Die einen waren die Nazis und die anderen die Kommunisten.

Politisch waren »Mutter« und »Onkel Hermann« auf der linken Seite des politischen Spektrums anzutreffen. Sie besuchten hin und wieder Veranstaltungen der SPD und auch der KPD. Ich erinnere mich an Volksfeste der Kommunistischen Partei, zu denen Onkel Hermann mich mitnahm und wo viel von »Rot-Front« geredet wurde. Mit Onkel Hermann streifte ich per pedes quer durch Berlin, durch Friedrichshain und den Tiergarten, auch durch den Zoo. Er kannte viele Tricks, wie man ohne zu zahlen an den Kassen vorbeikam, und ich bewunderte ihn sehr dafür. Zum Beispiel kannte er einen unbewachten Notausgang im Zirkus Busch am S-Bahnhof Börse, der während der Vorstellungen immer offen stand und durch den wir nach Beginn der Nachmittagsvorstellungen reinschlüpften, wenn sich die Platzanweiser schon zurückgezogen hatten. Ich liebte die Zirkusatmosphäre, mit ihren Künsten, mit den Artisten und Tieren. Nur die Rolle, die ich darin zu spielen hatte, habe ich aus vollem Herzen gehasst.

An einer Wand des Wohnzimmers hingen nebeneinander zwei Bilder von den Reichspräsidenten Ebert und Hindenburg. Über der rechten Ecke des Bildes von Ebert befand sich ein schwarzer Streifen. Bei Mutter Clara und Onkel Hermann spielte Religion keine Rolle und ich wurde auch nicht angehalten, in die Sonntagsschule, wie der Kindergottesdienst im damaligen Sprachgebrauch hieß, zu gehen. Religionsunterricht gehörte zur Schulpflicht und wurde von uns Kindern hingenommen wie alle anderen Unterrichtsfächer auch.

Mir gefiel eigentlich alles an der Schule. Die Lehrer, die Schulkameraden, die Fächer. Mein liebstes Fach war Zeichnen. Wo sich ein leeres Stück weißes Papier fand, malte ich darauf herum. Und Lesen. Ich las, was immer ich in die Finger bekam. Zeitungen, vor allem solche mit Bildern, Illustrierte, Bücher, einfach alles. Das meiste verstand ich noch nicht, konnte es auch noch nicht einordnen und fragte meine Umgebung deshalb Löcher in den Bauch. Vor allem Onkel Hermann. Der wusste einfach alles und hatte auf alles eine Antwort. Aber auch Mutter und Juliana waren damals meine Quellen der Erkenntnis.

Irgendwann ließ mein Vater – eher beiläufig – einen Satz fallen, den ich mir gemerkt habe, dessen Bedeutung mir aber damals noch nicht richtig bewusst wurde: »Kinder, nur lernen allein reicht nicht, ihr müsst mehr können als die anderen, sonst schafft ihr es nicht.« Es ist auch ziemlich die letzte Äußerung von ihm, an die ich mich noch erinnern kann. Er wurde krank und immer kränker und brachte mehr und mehr Zeit in Krankenhäusern und Asylen zu. Er war sozial und wirtschaftlich völlig abgerutscht. Sein Charme zog bei der Weiblichkeit nicht mehr. Seine früheren Freunde kümmerten sich nicht mehr um ihn, finanziell gab es nichts mehr zu holen, und so tauchten auch die »Landsleute« nicht mehr auf.

Eine kleine Geschichte aus dieser Zeit hat mir später meine Schwester Juliana erzählt. Im Nachbarbett im Krankenhaus lag ein Mann, auf dessen Nachttisch ein Bild von einem Uniformierten mit einer Hakenkreuz-Armbinde stand. Eines Tages nach einem Besuch von Frau und Kindern des Bettnachbarn fragte ihn mein Vater, wer denn der Mann auf dem Bild sei, ein Bruder oder sonstiger naher Verwandter? Der Bettnachbar war entrüstet. Das sei doch Adolf Hitler, der Führer seiner Partei, der demnächst die Regierung übernehmen und Deutschland wieder groß machen werde. Mein Vater machte ein erstauntes Gesicht und fragte, ob er denn mit ihm verwandt sei, was der Bettnachbar natürlich verneinte. Mein Vater verhielt sich, als verstehe er die Welt nicht mehr. Das Bild eines fremden Menschen statt das seiner Frau und seiner Kinder auf den Nachttisch zu stellen, das wollte ihm nicht in den Kopf. Er zeigte auf seine Töchter Christiane und Juliana, die gerade zu Besuch waren, und dann auf das Bild von den vier Kindern auf seinem eigenen Nachttisch. Schließlich lachten beide über das Missverständnis. Meine beiden Schwestern, denen bei diesem Gespräch eher mulmig wurde, waren über diese Auflösung sehr erleichtert.

Der Reichstag brennt

Solche Menschen wie diesen Bettnachbarn hat es hunderttausendfach gegeben. Ich weiß bis heute nicht, ob diese Frage eine gezielte Provokation meines Vaters war, was man ihm durchaus zutrauen konnte, oder echte Naivität. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass er nicht wusste, wer dieser Adolf Hitler war. Denn er und seine berüchtigte SA-Truppe waren in Berlin des Jahres 1932 sehr präsent. Soweit ich das aus meiner kindlichen Perspektive wahrnehmen konnte, war die öffentliche Meinung über Adolf Hitler geteilt. Die einen, Kommunisten und Sozialdemokraten, lehnten ihn von vornherein ab. Die anderen wollten ihm zumindest eine Chance geben, wussten aber nicht, was genau er wollte. Die Monarchie wieder einführen, den Versailler Vertrag revidieren? Deutschlands frühere Größe wiederherstellen und dies auch geografisch? Dass er um die Jahreswende 1932/33 der kommende Mann war, spürten alle, auch seine Gegner. Unter anderem auch wegen seines Versprechens, die hohe Arbeitslosigkeit abzuschaffen.

Unser Kinderleben war zunächst nicht unmittelbar beeinflusst von dieser unruhigen politischen Stimmung, auch wenn wir die Straßenkämpfe, politischen Umzüge, Propaganda-Plakate und Fackelzüge durchaus mitbekamen. Eines Tages hieß es dann: Flaggen heraus! Und: »Deutschland, erwache!« Die Straßen waren voll mit Fahnen, in der Mehrzahl schwarz-weiß-rot als Trikolore, dann die Hakenkreuzfahne, die ebenfalls schwarz-weiß-rot war, und die schwarz-weiße Preußenfahne. Gelegentlich sah man auch schwarz-rot-gold, Rot fast überhaupt nicht mehr. Es war ein kalter Tag im Februar 1933, als der Ruf »Der Reichstag brennt!« durch die Saarbrückerstraße lief. Wer von den Erwachsenen Zeit hatte, eilte an den Ort des Geschehens, kam aber nicht in die Nähe, denn die Polizei hatte das Gebiet weiträumig abgesperrt. Wir Kinder sahen das leuchtende Rot des brennenden Reichstags aus dem Fenster, verstanden die Aufregung der Erwachsenen aber nicht, brannte es doch alle naselang in Berlin und das Tatütata der Feuerwehr war uns sehr vertraut. Mutter und Onkel Hermann diskutierten danach mit Nachbarn und Freunden über die möglichen Täter und die Folgen. Alle waren überzeugt, dass die Nazis den Reichstag angesteckt hatten, war er ihnen doch besonders verhasst. Die »Quasselbude«, wie er, aber nicht nur von den Nazis, genannt wurde.

Einige Wochen später änderte sich das Leben von uns Kindern doch. Unsere Fürsorgerin, Frau Marlow, kam eines Tages aufgeregt zu Mutter Clara und erzählte von Veränderungen in ihrem Amt. Sie werde in Kürze versetzt und da, wo sie hinkomme, könne sie nichts mehr für uns, die Michael-Kinder, tun. Die neue Regierung habe da andere Vorstellungen, die für uns eher bedrohlich seien, und es sei besser, wenn Juliana und ich ins Ausland gingen. Der Vater, der gerade mal wieder im Krankenhaus lag, habe zugestimmt. Die beiden älteren Kinder, Christiane und James, seien mit ihrer jeweiligen Artistentruppe ja ohnehin schon weg. Sie wisse da einen Weg. Da müsse man aber schnell handeln, weil sie später nach ihrer Versetzung keinen Einfluss mehr auf die weitere Entwicklung der Kinder habe.

Es wurde ein sehr schmerzlicher Abschied von der so geliebten Mutter Clara und Onkel Hermann, von meiner Schulklasse und meinen Freunden im Kiez. Man hatte uns gesagt, dass wir aus taktischen Gründen erst noch ins Waisenhaus müssten. Alleine das Wort klang schon außerordentlich erschreckend. Gab es doch damals die Steigerung »Waisenhaus, Erziehungshaus, Arbeitshaus, Zuchthaus«.

Wir wurden von einer anderen Fürsorgerin in der Saarbrückerstraße abgeholt und ins Städtische Waisenhaus gebracht. Dort mussten wir uns völlig ausziehen, die persönlichen Sachen verschwanden und wir bekamen eine Art Anstaltskleidung. Der nächste Schritt war die Isolierstation. Nach Jungen und Mädchen getrennt. Der Raum, in dem ich alleine untergebracht war, erschien mir riesengroß, es gab mehrere leere Stockbetten, einen Tisch, ein paar Kinderstühle, einen Linoleumfußboden, der stark nach Krankenhaus roch, ein Fenster, das so hoch war, dass ich nicht rausschauen konnte, und eine Kiste mit hölzernen Bausteinen zum Spielen. Ich hörte wohl die anderen Kinder im Haus, sah aber niemanden. Für mich war eine Welt zusammengebrochen. Zuerst die Trennung von Mutter Clara und dann die völlige Verlassenheit in diesem Raum.