Philip Roth

Die Prager Orgie
Ein Epilog

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Jörg Trobitius

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe:

»Epilogue: The Prague Orgy«

Farrar, Straus & Giroux, New York 1985

© 1985 by Philip Roth

ISBN 978-3-446-25169-4

Alle Rechte vorbehalten:

© 1986/2015 Carl Hanser Verlag München Wien

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

… aus Zuckermans Notizbüchern

New York, den 11. Januar 1976

»Ihr Roman«, sagt er, »ist unbedingt eins von den fünf oder sechs Büchern meines Lebens.«

»Sie müssen Mr. Sisovsky versichern«, wende ich mich an seine Begleiterin, »daß er mir genug geschmeichelt hat.«

»Du hast ihm genug geschmeichelt«, sagt sie zu ihm. Eine Frau von etwa vierzig Jahren, fahle Augen, breite Wangenknochen, dunkles, streng gescheiteltes Haar – ein verstörtes, fesselndes Gesicht. Eine blaue Vene wölbt sich gefährlich an ihrer Schläfe, während sie so auf der Kante meines Sofas hockt, ganz ruhig. In Schwarz, wie Prinz Hamlet. Ernstliche Anzeichen von Abnutzung an der Sitzfläche des schwarzen Samtrockes ihres Trauerkostüms. Ihr Duft ist stark, ihre Strümpfe haben Laufmaschen, ihre Nerven sind angegriffen.

Er ist jünger, vielleicht um zehn Jahre: der Körper ist dick, klein, stämmig, mit einem breiten, schmalnasigen Gesicht, das die bedrohliche Ausstrahlung einer behandschuhten Faust hat. Ich sehe ihn vor mir, wie er die Stirn senkt und Türen damit einrennt. Doch sein halblanges Haar ist das Haar des umschwärmten Idols, schweres seidiges Haar von nahezu orientalisch dunklem Glanz. Er trägt einen grauen Anzug von sanft schimmerndem Gewebe, das Jackett hat hoch angesetzte Ärmel und ist an den Schultern ein wenig knapp. Die Hose schmiegt sich an einen unproportioniert mächtigen Unterkörper – ein Fußballspieler in langen Hosen. Seine spitzen, weißen Schuhe sind reparaturbedürftig; sein weißes Hemd ist abgetragen, die oberen Knöpfe stehen offen. Etwas vom Schlawiner, etwas vom Gangster, auch etwas vom überprivilegierten Knaben.

Während die Frau einen starken Akzent hat, spricht Sisovsky ein nur leicht gefärbtes Englisch, das er mit so großem Selbstvertrauen artikuliert – die Vokale klingen seltsam elegant nach Oxford daß mir die gelegentliche syntaktische Holprigkeit als eine Art von Raffinement vorkommt, als ironisches Spiel, mit dem er den amerikanischen Gastgeber daran erinnern möchte, daß er schließlich nur ein Flüchtling ist, kaum mehr als ein Debütant in jener Zunge, die er schon so fließend und charmant beherrscht. Trotz all dieser Ehrerbietigkeit mir gegenüber scheint er mir zu den Starken zu gehören, zu den Draufgängern, deren Stärke in ihrer Unverfrorenheit liegt.

»Sagen Sie ihm doch, daß er mir von seinem Buch erzählen soll«, sage ich zu ihr. »Wie hieß es?«

Doch er fährt fort, von meinem zu sprechen. »Als wir von Rom aus in Kanada ankamen, war Ihr Buch das erste, das ich gekauft habe. Ich habe festgestellt, daß es hier in Amerika einen Skandal ausgelöst hat. Als Sie so freundlich waren, einem Treffen mit mir zuzustimmen, bin ich in die Bibliothek gegangen, um herauszufinden, wie die Amerikaner Ihr Werk aufgenommen haben. Die Frage interessiert mich aufgrund der Art und Weise, wie die Tschechen mein Buch aufgenommen haben, das nämlich auch einen Skandal ausgelöst hat.«

»Worin bestand der Skandal?«

»Bittschön«, sagt er, »es liegt nicht in meiner Absicht, unsere beiden Bücher zu vergleichen. Ihres ist das Werk eines Genies, meins ist ein Nichts. Als ich Kafka studierte, schien mir das Geschick seiner Bücher in den Händen der Kafkologen noch grotesker zu sein als das Geschick Josef K’s. Mir kommt es so vor, als ob das auch auf Sie zutrifft. Dieser Skandal als Reaktion stellt eine weitere groteske Dimension dar und gehört nun zu Ihrem Buch wie die kafkologischen Dummheiten zu Kafka gehören. Wie ja sogar das Verbot meines kleinen Buches eine Dimension schafft, die von mir überhaupt nicht beabsichtigt war.«

»Warum wurde es verboten, Ihr Buch?«

»Die Dummheit, die Sie ertragen müssen, wiegt schwerer als ein Verbot.«

»Stimmt nicht.«

»Ich fürchte, es stimmt, cher maître. Es bringt Sie dazu, die Bedeutung Ihrer Berufung zu schmälern. Es bringt Sie dazu zu glauben, daß es keine literarische Kultur gibt, auf die es ankommt. Es stellt eine eindeutige existentielle Schwächung Ihrer Position dar. Das ist bedauerlich, weil Sie tatsächlich ein Meisterwerk geschrieben haben.«

Doch sagt er keineswegs, was ihm an meinem Buch gefällt. Vielleicht gefällt es ihm in Wirklichkeit gar nicht. Vielleicht hat er es gar nicht gelesen. Was für eine Subtilität in dieser Beharrlichkeit. Der ruinierte Vertriebene läßt sich nicht davon abbringen, dem amerikanischen Erfolg Mitleid zu bezeugen.

Was will er bloß?

»Aber Sie sind es doch«, erinnere ich ihn, »dem das Recht verweigert wurde, seinen Beruf auszuüben. Was immer der Skandal war, ich bin reichlich – ja, auf bizarre Weise – entlohnt worden. Das geht von einer Adresse an der Upper West Side bis hin zur Unterstützung ehrenwerter Mörder, damit sie auf Kaution freigelassen werden. Das ist die Macht, die einem hier ein Skandal verleiht. Sie sind es, der am härtesten bestraft worden ist. Ihr Buch zu verbieten, die Veröffentlichung zu unterbinden, Sie aus Ihrer Heimat zu vertreiben – was könnte belastender und dümmer sein? Ich freue mich, daß Sie eine gute Meinung von meinem Werk haben, aber lassen Sie doch die Artigkeiten wegen cher maîtres Lage, mon cher ami. Woran lag es denn, daß das, was Sie geschrieben haben, zu solch einem Skandal wurde?«

Die Frau sagt: »Erzähl es ihm, Zdenek.«

»Was gibt es da zu erzählen?« sagt er. »Ein satirisches Lächeln ist für die ärger als ausgesprochen ideologischer Fanatismus. Ich habe einfach gelacht. Sie sind ideologiebesessen. Ich hasse Ideologiebesessene. Das ist die Ursache so vieler Ärgernisse. Es ist auch die Ursache meines Zweifels.«

Ich bitte ihn, mir sein Zweifeln zu erklären.

»Ich habe 1967 in Prag eine harmlose kleine Satire veröffentlicht. Die Russen kamen 1968 auf Besuch, und seitdem habe ich nichts mehr veröffentlicht. Mehr gibt es da nicht zu sagen. Was mich interessiert, sind diese törichten Rezensionen, die ich in der Bibliothek von Ihrem Buch gelesen habe. Nicht daß sie töricht sind, das versteht sich von selbst. Sondern daß keine darunter ist, die man intelligent nennen könnte. Man liest solche Sachen in Amerika, und es packt einen Angst um die Zukunft, um die Welt, um alles.«

»Angst um die Zukunft, sogar um die Welt, das verstehe ich. Aber ›um alles‹? Zeigen Sie Mitgefühl für einen Schriftsteller wegen seiner törichten Rezensionen, und Sie haben einen Freund fürs Leben gefunden, Sisovsky, aber nachdem das jetzt erreicht ist, würde ich gern von Ihren Zweifeln hören.«

»Erzähl ihm von deinem Zweifel, Zdenek!«

»Wie kann ich das? Ich glaube ja nicht einmal an meinen Zweifel, offengestanden. Ich denke nicht, daß ich überhaupt irgendeinen Zweifel habe. Aber ich denke, ich sollte ihn haben.«

»Warum?« frage ich.

»Ich erinnere mich an die Zeit vor dem Einmarsch in Prag«, sagt er. »Ich schwöre Ihnen, daß nicht eine einzige Rezension Ihres Werkes in den Sechzigern in Prag hätte erscheinen können – das Niveau ist einfach zu niedrig. Und das trotz der Tatsache, daß wir nach vereinfachten Begriffen ein stalinistisches Land waren und die USA das Land intellektueller Freiheit.«

»Zdenek, er will nicht von diesen Rezensionen hören – er möchte von deinem Zweifel hören!«

»Beruhige dich doch«, sagt er zu ihr.

»Der Mann hat dir eine Frage gestellt. «

»Ich beantworte sie ja.«

»Dann tu es doch. Tu es endlich. Er hat dir schon gesagt, daß du ihm genug geschmeichelt hast!« Italien, Kanada, jetzt New York – sie ist ihn ebenso leid wie ihre Irrfahrten. Während er spricht, schließen sich ihre Augen für einen Moment, und sie berührt die geschwollene Vene an ihrer Schläfe – wie in Erinnerung an einen weiteren unwiederbringlichen Verlust. Sisovsky trinkt meinen Whiskey, sie will nicht einmal eine Tasse Tee. Sie will fort, wahrscheinlich sogar bis in die Tschechoslowakei zurück, und wahrscheinlich auf eigene Faust.

Ich greife ein – ehe sie schreien kann – und frage ihn: »Hätten Sie in der Tschechoslowakei bleiben können, trotz des Verbots Ihres Buches?«

»Ja. Doch wenn ich in der Tschechoslowakei geblieben wäre, dann, fürchte ich, wäre ich auf den Weg der Resignation geraten. Ich konnte nicht schreiben, nicht in der Öffentlichkeit reden, ich konnte nicht einmal meine Freunde sehen, ohne zu einem Verhör abgeholt zu werden. Wenn man versucht, etwas zu tun, egal was, dann setzt man das eigene Wohlergehen aufs Spiel und das Wohlergehen von Frau, Kindern und Eltern. Ich habe eine Frau dort. Ich habe ein Kind dort und eine alte Mutter, die schon um allzu vieles gebracht worden ist. Du entscheidest dich für Resignation, weil dir klar wird, daß du nichts tun kannst. Es gibt keinen Widerstand gegen die Russifizierung meiner Heimat. Die Tatsache, daß die Besetzung bei allen auf Haß stößt, ist auf lange Sicht überhaupt keine Verteidigung. Ihr Amerikaner denkt in Zeitbegriffen von einem oder zwei Jahren; die Russen denken in Jahrhunderten. Sie wissen instinktiv, daß sie in einer langen Zeit leben und daß die Zeit ihnen gehört. Sie wissen es tief im Inneren, und sie haben recht. Die Wahrheit ist, daß die Bevölkerung im Laufe der Zeit langsam ihr Schicksal hinnimmt. Acht Jahre sind vergangen. Nur Schriftsteller und Intellektuelle werden nach wie vor verfolgt, nur Schreiben und Denken wird unterdrückt; ansonsten sind alle zufrieden, sind sogar zufrieden mit ihrem Haß auf die Russen, und zumeist leben sie besser als je zuvor. Die Bescheidenheit allein verlangt allerdings, daß wir sie zufriedenlassen. Man kann nicht dauernd Geschrei machen wegen Veröffentlichung, ohne sich zu fragen, ob es nicht nur die eigene Eitelkeit ist, die sich da zu Wort meldet. Ich bin kein großer Genius wie Sie. Die Leute haben Musil und Proust und Mann und Nathan Zuckerman, die sie lesen können, warum sollten sie mich lesen? Ein Skandal ist mein Buch nicht wegen meines satirischen Lächelns gewesen, sondern weil ich 1967, als ich veröffentlicht wurde, fünfundzwanzig Jahre alt war. Die neue Generation. Die Zukunft. Doch meine Generation der Zukunft hat ihren Frieden mit den Russen besser als sonst jemand gemacht. In der Tschechoslowakei bleiben und mich auf Ärger mit den Russen einlassen wegen meiner kleinen Bücher – warum? Warum ist ein weiteres Buch von mir wichtig?«

»Das ist nicht der Standpunkt, den Solschenizyn vertritt.«

»Wie gut für ihn. Warum sollte ich alles aufs Spiel setzen für den Versuch, noch ein Buch mit einem satirischen Lächeln herauszubringen? Was beweise ich denn schon damit, wenn ich gegen die dort kämpfe und mich selbst und alle, die ich kenne, in Gefahr bringe? So sehr ich jedoch dem Weg rücksichtsloser Eitelkeit mißtraue, dem Weg der Resignation stehe ich leider noch argwöhnischer gegenüber. Nicht für andere – sie handeln, wie sie handeln müssen – doch für mich selbst. Ich bin kein mutiger Mensch, aber ganz und gar feige sein kann ich auch nicht.«

»Oder ist das auch bloß Eitelkeit?«

»Ganz genau – ich bin eben total vom Zweifel befallen. In der Tschechoslowakei, wenn ich dort bleibe, ja, da kann ich irgendeine Art von Arbeit finden und wenigstens in meinem eigenen Land leben und daraus einige Kraft schöpfen. Dort kann ich wenigstens ein Tscheche sein – aber ich kann kein Schriftsteller sein. Solange ich im Westen bin, kann ich ein Schriftsteller sein, aber kein Tscheche. Hier, wo ich als Schriftsteller ganz unbedeutend bin, bin ich nur Schriftsteller. Da ich all die anderen Dinge nicht mehr habe, die dem Leben einen Sinn gegeben haben – meine Heimat, meine Sprache, Freunde, Familie, Erinnerungen, etcetera –, ist Literatur zu machen für mich hier alles. Doch die einzige Literatur, die ich machen kann, betrifft so sehr das Leben dort, daß sie nur dort die Wirkung haben kann, die ich mir wünsche.«

»Was also noch schwerer wiegt als die Verbannung, ist dieses Zweifeln, das sie entfacht.«

»Bei mir. Nur bei mir. Eva hat keinen Zweifel. Sie hat nur Haß.«

Eva ist erstaunt. »Haß auf wen?«

»Auf alle, die dich verraten haben«, sagt er zu ihr. »Auf alle, die dich verlassen haben. Du hast einen Haß auf sie und wolltest, sie wären tot.«

»Ich denke nicht einmal mehr an sie.«

»Du wolltest, sie würden in der Hölle schmoren.«

»Ich habe sie vollkommen vergessen.«

»Ich würde Ihnen gern von Eva Kalinova erzählen«, sagt er zu mir. »Es ist wirklich reichlich ordinär, eine solche Ankündigung zu machen, doch es wäre zu lächerlich, wenn Sie nicht Bescheid wüßten. Es ist persönlich erniedrigend, wenn ich Sie mit dem großen Drama meines Zweifels behellige, während Eva hier sitzt, als wäre sie niemand.«

»Ich bin froh, daß ich dasitze, als wäre ich niemand«, sagt sie. »Du kannst dir das sparen.«

»Eva«, sagt er, »ist die große tschechische Schauspielerin von Prag. Gehen Sie nach Prag und fragen Sie. Niemand wird das dort bestreiten, nicht einmal das Regime. Eine Nina wie sie, eine Irina, eine Mascha wie sie gibt es heute nicht mehr.«

»Laß das«, sagt sie.

»Wenn Eva in Prag in die Straßenbahn steigt, dann applaudieren die Leute immer noch. Ganz Prag liebt sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr.«

»Deshalb wohl schreiben sie mir ›Judenhure‹ an die Wand? Weil sie mich lieben? Sei kein Dummkopf. Das ist vorbei.«

»Sie wird bald wieder auf der Bühne stehen«, versichert er mir.

»Um in Amerika eine Schauspielerin zu sein, mußt du ein Englisch sprechen, von dem die Leute keine Kopfschmerzen bekommen!«

»Eva, setz dich wieder.«

Doch ihre Karriere ist zu Ende. Es hält sie nicht mehr auf dem Sofa.

froh