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Das Buch

Im Herbst 1618 besteigen die junge Apothekerin Jana Jeschek und ihr Geliebter, der Arzt Conrad Pfeiffer, ein Schiff in Richtung Amerika. Sie sind im Besitz einer geheimnisvollen Schatzkarte. Ziel ihrer Suche ist das sagenumwobene El Dorado. Doch die beiden sind nicht die Einzigen, die sich auf den Weg in die Neue Welt machen. Ein hochverschuldeter Engländer und ein katholischer Mönch wissen ebenfalls davon. Ein gefährliches Wettrennen – auf dem Meer und auf einem Kontinent, den zu dieser Zeit nur wenige Europäer gesehen haben – beginnt. Die Reise führt von der Karibik aufs Festland und in eine unbekannte Welt voller Abenteuer und Gefahren. Werden Jana und Conrad finden, was sie suchen?

Die Autorin

Beate Maly, geboren in Wien, ist Autorin zahlreicher Kinderbücher, Sachbücher und historischer Romane. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Wien.

Von Beate Maly sind in unserem Hause bereits erschienen:

Das Sündenbuch
Die Zeichenkünstlerin von Wien
Die Hebamme von Wien
Die Hebamme und der Gaukler

Beate Maly

Der Fluch
des Sündenbuchs

Historischer Roman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

ISBN 978-3-8437-0634-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: Frau und Schiff: © getty images,
Pergament: © FinePic® München
Karte im Innenteil: © Peter Palm, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.
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Verbreitung, Speicherung oder Übertragung
können zivil- oder strafrechtlich
verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

London,

September 1618

Aqua Vitae. Das Getränk wärmte den Magen, vernebelte die Sinne und half dabei, die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten zu vergessen. Es war Richard Waltons Lebenselixier. Der Saft, der ihn am Leben hielt, seine Medizin gegen Selbstzweifel und Angst, die ihn großzügig alle eigenen Fehler verzeihen ließ. Nichts hätte er im Moment dringender gebraucht als jenen starken Brand gemalzter Gerste, den man in der Heimat seiner Mutter Usquebaugh nannte. Ein Wort, das nur aus dem Mund eines Schotten so klang, wie der Brand schmeckte: herb, scharf und, erst wenn er längst den Gaumen passiert hatte, überraschend malzig mild. Aber ausgerechnet jetzt war Richard so trocken wie selten zuvor. Dabei befand er sich an einem der feuchtesten Orte der Stadt: auf einem wackeligen Ruderboot mitten auf der Themse.

Angeekelt hielt er sich die Hand vor Nase und Mund, um sich vor dem entsetzlichen Gestank zu schützen, der vom Wasser her aufstieg. Er hasste schlechte Gerüche. Konnte es sein, dass alle Bewohner Londons ihren Abfall in den Fluss kippten? Schwamm dahinten ein totes Kaninchen? Oder waren es die Überreste eines üppigen Abendessens? Wegen des immer dichter werdenden Nebels und der mondlosen Dunkelheit der Nacht konnte ­Richard nicht erkennen, worum es sich bei dem leblosen Bündel handelte, das auf der schwarzen Wasseroberfläche neben ihm trieb. Süßlicher Leichengeruch stieg ihm in die Nase, und er schluckte hart, um ein Würgen zu unterdrücken. Vergeblich versuchte er seine Gedanken auf erfreulichere Dinge zu lenken, zum Beispiel auf seine hübsche Frau Julia. Aber sosehr er sich auch konzentrierte, das Bild wollte nicht auftauchen.

Nun durchdrang die stinkende, feuchtkalte Nachtluft seinen Mantel und kroch ihm bis unter die Haut. Richard zitterte, doch das Klappern seiner Zähne rührte nicht von der Kälte, sondern von seiner Angst. Sein Ziel war der Tower. Er war noch nie zuvor in der Festung gewesen. Es hieß, nur wenige Männer, die das Gebäude betraten, verließen es lebend.

Was hätte er jetzt für eine Flasche Aqua Vitae gegeben. Das Getränk hätte ihm geholfen, sein Zittern zu verbergen. Aber bevor er in das wackelige Boot des alten Fährmanns gestiegen war, hatte Tom ihm die Flasche mit dem kostbaren Inhalt abgenommen. Wie einem Kleinkind, dem man ein Stück Kuchen verweigerte.

»Denkt an Julia«, hatte der Diener seiner Frau gesagt und ihn anklagend angesehen. So wie er es immer tat, wenn Richard sich Mut antrank, was in den letzten Jahren immer öfter geschehen war. Er wusste genau, warum er den Saft dringend brauchte, doch die Antwort war so entsetzlich, dass er sie vergessen wollte.

Sein Boot, das bisher lautlos durchs eiskalte Wasser geglitten war, schrammte nun unsanft gegen eine graue Steinmauer, die plötzlich aus dem dicken Nebel auftauchte.

Der Fährmann, ein alter, zahnloser Mann mit einem Mantel, der aussah, als diente er einem ganzen Heer von Wanzen und Flöhen als Unterkunft, hob den Kopf und nickte ihm zu. Sie hatten ihr Ziel erreicht.

Nur widerwillig erhob sich Richard von der nassen Holzbank. Er war das Schwanken des kleinen Bootes nicht gewöhnt und wankte unbeholfen an dem alten Mann vorbei, bemüht, den Mantel nicht zu berühren. Ungeschickt kletterte er eine feuchte, glitschige Strickleiter hoch. Seine glatten Stiefelsohlen und seine klammen Finger drohten am kalten Schleim, den Wasser und Algen hinterlassen hatten, abzurutschen. Aber er gelangte oben an, landete allerdings unsanft auf allen vieren. Schon als Kind hatte er Klettern und Balancieren gehasst. Warum sollte er jetzt als Erwachsener Freude daran haben?

Für einen kurzen Moment war er dankbar für den dichten Nebel und die Dunkelheit. Erst als er sich wieder aufrichtete und rasch seine Hosen abklopfte, erblickte er den jungen Wachmann in königlicher Uniform. Richards Unbehagen wuchs. Was hatte er erwartet? Dass man ihn allein in den Tower spazieren ließ? Der Bursche war sehr jung, Richard schätzte ihn auf zwanzig Lenze oder weniger. Trotzdem hatte er Schultern, die doppelt so breit waren wie Richards. In seiner Linken hielt er eine rußende Fackel, seine Rechte ruhte auf dem Griff einer Waffe. Ein Degen, der in einem ledernen Gürtel steckte.

»Master Richard Walton?«, fragte der Junge. Seine Stimme überschlug sich, als wäre er immer noch im Stimmbruch.

»Habt Ihr jemand anderen erwartet?«, fragte Richard, bemüht, lässig zu klingen.

Der Junge antwortete nicht und bedeutete ihm zu folgen. Seine schweren Stiefel knirschten laut auf dem gekiesten Weg. Er führte Richard durch die Byward-Seitenpforte gegenüber dem Ende der Mint Street. Das kleine Tor wurde durch ein keilförmiges Türmchen geschützt. Der Bau stammte noch aus der Regierungszeit Eduard I., trotzdem war er mit Schießscharten versehen, die dem neuesten Stand der Technik entsprachen. Im Moment war der kleine Turm unbewacht.

»Hier entlang«, sagte der junge Bursche.

Richard beeilte sich, mit dem Jungen mitzuhalten. Auf jeden Schritt des Burschen kamen zwei von Richard. Er stellte sich vor, dass er aussah wie eine der zappelnden Puppen seiner vierjährigen Tochter Mary. Der Gedanke amüsierte ihn.

Zu Richards Linken erhob sich eine massive Mauer, sie musste Teil des Bell Towers sein. Wenn es stimmte, was Tom ihm erzählt hatte, würde er nun gleich den Bloody Tower erreichen, jenen Turm, der für besonders prominente Gefangene vorgesehen war. Der Diener seiner Frau hatte Richard nicht verraten, warum er so genau über den Tower Bescheid wusste, und Richard hatte nicht nachgefragt. Es gab Dinge im Leben eines jeden Mannes, über die man besser schwieg.

Vor einer schweren Holztür stand ein weiterer Wachmann in königlicher Uniform. Er war deutlich älter als Richards Begleiter und mindestens doppelt so dick.

»Wurde aber auch Zeit«, brummte er unfreundlich, öffnete die beschlagene Tür und ließ die beiden eintreten.

Richard wich dem eisigen Blick des dicken Wachmanns aus und heftete sich dem Jungen an die Fersen. Rasch lief er hinter ihm her und folgte ihm über eine schmale, ausgetretene Steintreppe. Um im Dunkeln auf dem glatten Stein nicht auszurutschen, hielt er sich mit seiner Rechten an der rauen Steinmauer fest.

Vor einer niedrigen Holztür blieb der Uniformierte stehen, klopfte und holte gleichzeitig einen schweren Schlüsselbund unter seinem Rock hervor. Mit einem besonders großen Schlüssel sperrte er die Tür auf und stieß sie vorsichtig auf.

Einladende Wärme, der behagliche Schein eines offenen Kaminfeuers und der köstliche Duft gebratenen Hühnchens schlugen Richard entgegen.

»Sir, Euer Besuch ist da«, sagte der Bursche. Er sprach mit der Unterwürfigkeit eines Bediensteten, nicht mit der Strenge eines Gefängniswärters.

»Lasst uns allein!« Der Befehl kam aus dem hintersten Teil des Raums, von dort, wo sich ein offener Kamin befand. In einem komfortablen, breiten Holzstuhl neben dem knisternden Feuer saß ein alter Mann. Sir Walter Raleigh. Er war einst einer der einflussreichsten Männer des Reichs, Abenteurer, Entdecker und Pirat von Eli­sabeth I. gewesen, heute war er ein zum Tode verurteilter Gefangener.

Der junge Wachmann verbeugte sich und verließ ohne sich dabei umzudrehen den Raum.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, zuckte Richard zusammen. Es war anzunehmen, dass der König nichts von seinem Besuch wusste. Was, wenn der junge Bursche ihn nicht wieder abholte und zurückbrachte? Würde man ihn gemeinsam mit Raleigh köpfen? Er spürte, wie seine Hände feucht wurden, dabei fürchtete er den Tod seit langem nicht mehr. Dennoch zitterte er heftig. Nur ein Schluck Aqua Vitae, und er würde sich deutlich besser fühlen.

Vorsichtig schaute er sich um. Der Raum war prunkvoll eingerichtet. Verglaste Fenster, gerahmte Bilder an den weiß getünchten Wänden, ein massives Schreibpult, eine Truhe, ein Himmelbett, zwei kunstvoll verzierte Stühle vor einem Tisch, einladend gedeckt mit einer köstlichen, aber noch unberührten Abendmahlzeit. Es gab unerfreulichere Orte in der Stadt und ganz sicher auch im Tower.

»Nehmt Euch einen Stuhl und kommt zu mir«, sagte Raleigh. Es war mehr ein Befehl als eine freundliche Aufforderung. Der alte Mann hatte trotz seiner Gefangenschaft nichts an Würde eingebüßt. Unter einer bestickten Samtjacke trug er ein makelloses Hemd mit sauberem Spitzenkragen. Sein schütteres Haar war penibel frisiert, sein Bart säuberlich gestutzt. Sicher kam regelmäßig ein Diener, der ihm bei seiner Toilette half und ihm seine schmutzige Kleidung abnahm, um sie zu waschen. Kerzengerade saß Raleigh in seinem Stuhl und beobachtete jede von Richards Bewegungen. Etwas ungeschickt schnappte dieser einen der Stühle beim Esstisch. Die Holzbeine scharrten über den sauber gekehrten Steinfußboden. Richard trug den Stuhl zum Feuer. Rasch wurde ihm in seinem dicken Wollmantel heiß. Aber er weigerte sich, das Kleidungsstück auszuziehen, denn er wollte keinen Moment länger als notwendig hier verbringen.

»Ihr fragt Euch sicher, warum ich Euch an diesen garstigen Ort bestellt habe«, begann Raleigh. Auf einem kleinen Beistelltischchen neben seinem Stuhl standen ein Weinkelch und ein Krug aus geschliffenem Glas. Die Flüssigkeit funkelte rubinrot im Licht des offenen Kamins. Richards Kehle war ausgedörrt. Er schleckte mit der Zunge über seine trockenen Lippen.

»Ich bin mit Eurer Tochter verheiratet«, sagte er vorsichtig. Er wollte nicht zugeben, dass er gekommen war, weil Tom ihn dazu überredet hatte, der Einladung nachzugehen. Von sich aus hätte er das Schreiben heimlich verschwinden lassen.

»Ihr seid mit meiner unehelichen Tochter verheiratet«, korrigierte Raleigh ihn. Es klang bitter, und in den Augen des alten Mannes lag Bedauern. Julia hatte Richard erzählt, dass Raleigh ihre Mutter aufrichtig und innig geliebt hatte und sie geheiratet hätte, wenn die Umstände andere gewesen wären. Aber wie so oft, war es zu keiner Ehe gekommen, weil Julias Mutter weder die richtige gesellschaftliche Stellung gehabt noch über die entsprechende Mitgift verfügt hatte. Sie war nicht einmal eine Engländerin gewesen, sondern war mit ihren Eltern aus Hamburg zugewandert.

So als könnte Raleigh Richards Gedanken lesen, schüttelte er den Kopf und fuhr mit ernster Stimme fort: »Ich habe Julias Mutter bis zu ihrem Tod finanziell unterstützt und danach Julia. Gott ist mein Zeuge, und niemand kann das besser wissen als Ihr.«

Richard zuckte mit den Schultern. Wohl wissend, dass es besser war zu schweigen als zu erwähnen, dass das Geld nie ausgereicht hatte. Sicher wusste Raleigh von Richards Vorliebe für Aqua Vitae. Julias kleiner Woll­laden hatte nicht genug Geld abgeworfen, und letzten Monat hätten sie beinahe das kleine Häuschen in der Roseline räumen müssen. Aber irgendwie hatte seine Frau es geschafft, die Gläubiger zu beruhigen.

Raleigh holte Richard aus seinen Überlegungen: »Nächste Woche werde ich einen Kopf kürzer gemacht, und das ist sowohl für mich als auch für Julia unerfreulich.«

Etwas an dem Satz irritierte Richard. Wo war die Angst in Raleighs Stimme? War der Vater seiner Frau ein begnadeter Schauspieler, ein Freund des verstorbenen William Shakespeares womöglich, oder hatte er tatsächlich keine Angst vor dem Tod?

»Weder meine Frau noch meine Kinder werden sich um Julia kümmern. Verständlicherweise haben sie kein Interesse an ihr. Meine Familie muss froh sein, wenn sie ihren eigenen Lebensstandard halten kann. Deshalb liegt es nun an Euch, tatsächlich für Julia und Eure Kinder zu sorgen.«

Richard öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, aber Raleigh hielt ihn mit einer ungehaltenen Handbewegung davon ab.

»Die wenigen Stunden, die mir noch bleiben, sind zu kostbar, als dass ich Eure armseligen Entschuldigungen hören möchte.«

Richard fühlte sich ertappt. Verlegen blickte er zu Boden und klopfte mit seinen Fingern auf die Oberschenkel. Hätte er sich bloß nicht von Tom zu diesem Besuch überreden lassen. Während Raleigh ihn schweigend musterte, wurde er immer nervöser. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seiner Oberlippe. Am liebsten wäre er aufgestanden. Warum tat er es nicht einfach?

Schließlich brach Raleigh das Schweigen und sagte: »Ihr seid ein Versager, der beim kleinsten Problem zur Flasche greift. Julia hat etwas Besseres als Euch verdient.«

Richard hob seinen Kopf und erwiderte gekränkt: »Wie ich meine Probleme zu lösen versuche, ist meine Sache.«

»Das sehe ich anders. Ihr tragt die Verantwortung für Eure Frau und Eure Kinder.«

Richard schluckte hart. Er war selbst der Meinung, dass Julia einen besseren Mann verdient hatte. Sie war nicht nur schön, sondern auch ausgesprochen klug und geduldig. Gott allein wusste, warum sie sich für ihn entschieden hatte. Vielleicht weil Richard zu den wenigen Menschen gehörte, die mit einem wohlgeformten Körper und einem ansprechenden Äußeren ausgestattet waren. Oder aber weil Richard mit ihr in der Sprache ihrer Mutter reden konnte. Während Richards Mutter eine waschechte Schottin gewesen war, stammte sein Vater aus Hannover. Ehr­licherweise verwarf Richard beide Möglichkeiten wieder. Er wusste, dass Julia sich nicht in den Mann verliebt hatte, der er heute war, sondern in einen Burschen, der weder getrunken noch auf Kosten seiner Frau gelebt hatte.

»Ich werde Euch eine einmalige Gelegenheit bieten, Julia und der ganzen Welt zu beweisen, was in Euch steckt«, sagte Raleigh.

Überrascht hob Richard seine Augenbrauen. Was sollte das für eine Möglichkeit sein? Plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Raleigh wollte, dass er sich statt seiner opferte und vom Henker köpfen ließ. Warum sonst hätte er ihn heimlich nachts kommen lassen sollen? Der alte Mann war in einer Luxuszelle gefangen, bewacht von Wärtern, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablasen und ihn behandelten wie einen Herzog. Niemand wusste von seiner Anwesenheit hier. Was für ein groteskes Ende eines tragischen Lebens. Schade, dass niemand davon erfahren würde. Er zuckte zusammen, als Raleigh sich umständlich von seinem Stuhl erhob und die hölzernen Beine über den Steinboden kratzten.

Jetzt sah Richard, dass Raleigh ein alter, magerer und gebrechlicher Mann war, der nur im Sitzen noch gebieterisch und resolut wirkte. Mit unsicheren Schritten ging Raleigh zu seinem Schreibpult, griff zielsicher nach einem Bogen Papier und kam wieder zurück. Direkt vor Richard blieb er schnaufend stehen.

»Ich mache das nicht, weil ich glaube, dass Ihr der fähigste Mann für diese Aufgabe seid, sondern weil ich keine andere Wahl habe.«

Richard überlegte, was man falsch machen konnte, wenn man sich anstelle eines anderen köpfen ließ? Es wollte ihm nichts einfallen.

Aber Raleigh fuhr rasch fort: »Ich habe die letzten Wochen genutzt, um eine Karte zu zeichnen.«

»Was für eine Karte?«, fragte Richard vorsichtig und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von Stirn und Oberlippe. Neben dem offenen Feuer war es fast unerträglich heiß.

Raleigh senkte seine Stimme und blickte zur Tür. Als fürchtete er, etwaige Zuhörer könnten sie belauschen.

»Es ist das Duplikat der wertvollsten Schatzkarte der Welt.«

»Schatzkarte?«, fragte Richard überrascht. Er hatte mit einer Wegbeschreibung zum Schafott gerechnet.

»Pssst!«, zischte Raleigh ungeduldig und starrte erneut zur Tür.

»Wollt Ihr, dass der ganze Tower mithört?«, rügte ihn der alte Mann.

»Habt Ihr je von El Dorado gehört?« Raleighs Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Der sagenumwobene Goldschatz, den die Spanier und die Portugiesen in der Neuen Welt suchen? Und den auch Ihr auf Eurer Expedition entlang des Orinokos finden wolltet?«, fragte Richard. Ihm war immer noch nicht ganz klar, worauf Raleigh hinauswollte.

»Genau der«, Raleigh grinste. Es war erstaunlich, wie viele Zähne er trotz seines Alters noch im Mund hatte.

Er hielt ein zusammengerolltes Schriftstück knapp vor Richards Nase. »Hier ist die Karte. Leider ist es nicht das Original, denn die wurde mir auf der Rückfahrt meiner letzten Reise geraubt.«

»Wer hat Euch die Schatzkarte geraubt?«, fragte Richard. Sein Interesse war nun geweckt.

»Männer der Kirche«, antwortete Raleigh. »Ich kam erst kurz vor unserer Abfahrt in den Besitz der Karte. Es war purer Zufall, denn eigentlich war das Schriftstück dafür bestimmt gewesen, vernichtet zu werden. Wie auch immer. Plötzlich hatte ich die Karte und konnte mein Glück nicht fassen. Ich wollte mich sofort auf die Suche begeben, aber wir hatten uns an den Befehl der Krone zu halten, und der hieß: sofortige Rückkehr nach England. Mit diesem Befehl begann eine Serie von Unglücksfällen. Vor Trinidad, der spanischen Insel der Dreifaltigkeit, wurden wir von Piraten überfallen. Zumindest dachten wir, es wären ausschließlich Piraten. In Wirklichkeit waren auch Jesuiten an Bord gewesen, die von der Karte erfahren hatten.«

Raleigh setzte sich und schloss für einen Moment die Augen. Richard hatte Angst, der alte Mann würde einschlafen, und fragte neugierig: »Was ist bei dem Überfall passiert?«

Raleigh öffnete die Augen wieder und zuckte mit den Schultern: »Wir haben alles verloren, was wir in den Wochen davor erbeutet hatten, und die Jesuiten nahmen die Karte an sich.«

»Das heißt, Ihr seid mit leeren Händen nach Hause gekommen.«

Raleigh nickte mit einem bitteren, humorlosen Lächeln. »Nicht nur das, unser ehrenwerter König hat bei meiner Heimkehr beschlossen, mich ins Gefängnis zu stecken, und was nächste Woche passieren wird, wisst Ihr bereits.«

Zum ersten Mal schwang Bedauern in Raleighs Stimme, aber immer noch keine Angst.

»Das heißt, die Originalkarte hat ein Jesuit«, schlussfolgerte Richard.

Raleigh schüttelte den Kopf: »Der Dummkopf hat sich die Karte von einem einfachen Seemann abnehmen lassen, der keine Ahnung hatte, was er in seinen Händen hielt. Der Mann hat versucht, die Karte zu verkaufen, was ihm angeblich auch gelungen ist. Seither gilt die Karte als verschwunden. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Kirche alles daransetzt, sie wiederzubeschaffen. Der Goldschatz soll von einem gigantischen Ausmaß sein.«

Richard betrachtete stirnrunzelnd das eingerollte Schriftstück in Raleighs Hand.

»Als ich an die Karte kam, studierte ich sie so eingehend, bis jede Linie auf dem Papier in meinem Kopf eine Spur ­zurückgelassen hatte wie in frisch gefallenem Schnee.«

Richard hätte gern erwidert, dass Schneespuren schnell verwischt werden können, unterließ es aber.

»Während der letzten Tage habe ich die Schatzkarte aus meinem Gedächtnis noch einmal zu Papier gebracht.«

»Warum erzählt Ihr ausgerechnet mir davon?«, fragte Richard skeptisch. Raleigh hatte keine hohe Meinung von ihm. Warum sollte ausgerechnet er nun von dem Geheimnis der Karte erfahren?

»Ich bin in die Neue Welt gesegelt, weil ich den Schatz für England finden wollte. Ich war fest davon überzeugt, dass nur unsere Nation es wert war, in den Besitz eines derart gigantischen Goldschatzes zu gelangen. Ich war ein Narr!«

Raleigh schnaufte verächtlich: »Eine Nation taugt immer nur so viel wie ihr Regent. Meine Königin ist tot, und ihr Nachfolger wird mich nächste Woche hinrichten lassen. Ein feiger, unsicherer König, der sich vor den Spa­niern ins Hemd macht. Ich bin ein alter Mann, und meine treusten Weggefährten leben nicht mehr. Jene, die geblieben sind, haben sich als Verräter entpuppt. Was einst Querdenker und Mitglieder der School of Night waren, sind heute Mitläufer und Feiglinge.«

Richard horchte auf. Er hatte sich immer gefragt, ob es die geheime Vereinigung wichtiger Männer wirklich gegeben hatte. Die School of Night, eine Gruppe gelehrter Männer, Mathematiker, Astronomen, Geographen, Philosophen und Dichter, die sich angeblich rund um Raleigh versammelt hatten, um über Religion und Politik zu diskutieren und die Gesellschaft neu zu ordnen. Es hieß, sie hätten den Atheismus studiert, was de facto mit Hochverrat gleichzusetzen war. Wie konnte es sein, dass Raleigh mit all diesen Männern gebrochen hatte?

»Euer Gesicht verrät Eure Gedanken«, sagte Raleigh ­lachend.

»Keinem von denen, die noch leben, will ich diese Karte überlassen. Sie alle würden den Schatz für politische Intrigen nutzen. Macht, Einfluss und wieder Macht. Ich habe dieses Spiel endgültig satt.«

Richard verstand immer noch nicht, welche Rolle er in dem Spiel übernehmen sollte.

»Alle wollen diesen Schatz besitzen, der ihnen Macht garantiert. Ich selbst war nicht besser. Wäre mein Wunsch nach Einfluss nicht so groß gewesen, könnte ich noch ein paar Jahre zufrieden leben. Aber die feige Entscheidung eines armseligen Königs kostet mich nun mein Leben.« Raleigh spuckte auf den sauberen Fliesenboden.

»Doch solange ich noch atmen und denken kann, will ich verhindern, dass er oder einer seiner Männer jemals die Karte besitzen wird.«

Ein spitzbübisches Lächeln, das erahnen ließ, wie gutaussehend er einst gewesen war, stahl sich auf Raleighs Gesicht.

»Ihr seid ein Trinker, der abenteuerlustig genug ist, sich auf die Suche nach dem Schatz zu machen, und solltet Ihr ihn tatsächlich finden, weiß ich mit Sicherheit, dass Ihr keinerlei politische Ambitionen hegen werdet. Im besten Fall hört Ihr mit dem Saufen auf und kehrt zu Euerm früheren Leben zurück, im schlimmsten Fall gebt Ihr einen Teil des Goldes für Schnaps aus und schickt den Rest an Eure Familie.«

»Habt Ihr eine Idee, um wie viel Gold es sich handelt?«, fragte Richard vorsichtig.

Raleigh schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nur, dass es ein riesiges Vermögen sein muss. Wenn Ihr den Schatz findet, werdet Ihr Julia zu einer reichen Frau machen und Euren Kindern und Enkelkindern ein gutes, sorgenfreies Leben ermöglichen.«

Raleighs Augen waren vom Alter trüb, aber sie strahlten immer noch Willensstärke aus.

»Ich will, dass Ihr in die Neue Welt segelt und dafür sorgt, dass weder Spanien noch die Niederlande, England oder gar die katholische Kirche in den Besitz des Goldes kommen. Und ich will, dass Ihr den Diener meiner Tochter mitnehmt: Tom Reasley!«

»Warum das denn?«, fragte Richard entsetzt.

»Um sicherzugehen, dass Ihr lossegelt und die Karte nicht bei der ersten Gelegenheit verkauft«, entgegnete Raleigh.

Richard schluckte hart. War er wirklich so leicht zu durchschauen? Seine Hände hatten aufgehört zu zittern, es hatte wohl keinen Sinn, zu protestieren. Er nahm den Bogen Papier entgegen und rollte ihn auf. Als Kind hatte er gelernt, wie man Karten las. Danach hatte er dieses Wissen selten angewendet. Aber er konnte dem Geflecht aus Linien und Symbolen das Bild einer Landschaft entnehmen. Richard erkannte Berge, Flüsse, Wälder und kleine Siedlungen, auch wenn er keinerlei Ahnung hatte, wo auf der Welt sich diese Landschaft befand.

»Die Karte hilft Euch erst weiter, wenn Ihr nach Altamira de Càceres gekommen seid«, erklärte Raleigh. »Die Eingeborenen nennen die Stadt Barinas, ein Wort, das für einen heftigen Wind während der Regenzeit steht.«

Richard hatte beide Namen noch nie zuvor gehört. Er kannte einige Städte auf dem Kontinent wie Paris, Antwerpen oder Barcelona vom Hörensagen beziehungsweise aus dem Lateinunterricht, der allerdings viele Jahre zurücklag. Selbst war er noch nie weiter als bis nach Stirling gereist, wo seine Mutter vor einigen Jahren verstorben war. Richard hatte noch nie ein großes Schiff betreten, und er hatte den Großteil seines Lebens in London verbracht. Dort hatte er, nachdem er das bescheidene Erbe seines ­Vaters für dessen Beisetzung ausgegeben hatte, zuerst als Händler, dann als Koch, als Gehilfe eines Schmieds, als Schreiber und schließlich, mit seiner Eheschließung, als Besitzer eines kleinen Wollladens gearbeitet. Wie sollte er bis ans andere Ende der Welt gelangen und diese Stadt, die den Namen eines Windes trug, finden?

Aber für Raleigh, einen Mann, der viele Jahre seines Lebens auf See gewesen war, schien diese Reise eine Kleinigkeit zu sein.

»Was bedeuten all die kleinen roten Kreuze auf der Karte?«, wollte Richard wissen.

»Sie zeigen Euch gefährliche Stellen an, denen Ihr ausweichen solltet. Wasserfälle, steile Klippen, Felsvorsprünge, tiefe Gräben …«

»Die Karte ist von den Kreuzen übersät. Kann es sein, dass Ihr zu viele davon eingetragen habt?«, fragte Richard.

»Unsinn«, winkte Raleigh ab. »Ich habe mich auf die wichtigsten beschränkt.«

»Wie beruhigend«, meinte Richard, begann die Kreuze abzuzählen und hörte wieder damit auf, als er die Zahl dreißig erreicht hatte.

»Nutzt die wochenlange Überfahrt auf See und erlernt die spanische Sprache«, riet Raleigh. »Im südlichen Teil der Neuen Welt haben sich viele Spanier niedergelassen. Die Einheimischen haben in den letzten hundert Jahren die Sprache ihrer Eroberer übernommen.«

Richard wollte nicht Spanisch lernen, behielt es aber für sich. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich auf diese waghalsige Suche begeben wollte. Andererseits konnte er auf diese Weise vielleicht seiner Vergangenheit entfliehen. Er brauchte Geld, denn die Gläubiger saßen ihm im Nacken. Mit etwas Glück könnte diese Karte ihm einen Weg in ein besseres Leben zeigen.

»Wie viele Menschen wissen von der Existenz der Karte?«, fragte er.

»Mindestens zwei. Der Jesuit und jene Person, an die der Seemann die Karte verkauft hat.«

»Und was ist mit dem Seemann?«

»Wenn die Nachrichten meines Informanten stimmen, dann ist er tot.«

Richard unterließ es, nach dem Informanten zu fragen. Raleigh saß nicht grundlos im Gefängnis, er hatte zeit seines Lebens an den Fäden der Macht gezogen. Jetzt hatte er sich darin verstrickt. Stattdessen stellte Richard eine Frage, von der er die Antwort zu kennen glaubte: »Starb er eines natürlichen Todes?«

Raleigh schüttelte den Kopf: »Und ich fürchte, er ist nicht der Einzige, der sein Leben lassen musste, weil er im Besitz der Karte war. Wie gesagt, alle wollen den Schatz finden, und es muss Euch klar sein, dass die Suche ge­fährlich wird. Irgendjemand hält das Original in den Händen, und wer weiß, vielleicht gibt es mittlerweile Abschriften. Wer also am schnellsten ist, gewinnt. Wie bei einem Hunde­rennen.«

Tierrennen, bei denen man auf den Sieger setzen konnte, waren ein Gebiet, auf dem Richard sich auskannte. Was ihm nicht gefiel, war, dass er nun einer der Hunde sein sollte.

»Weiß Julia von unserem Gespräch?«

Raleigh schüttelte entschieden den Kopf: »Nein, und sie darf auch nie davon erfahren. Es wäre zu gefährlich.«

Richard lachte: »Wie stellt Ihr Euch das vor. Was soll ich Julia erzählen? Sie wird glauben, ich will sie verlassen.«

»Nicht, wenn Ihr Tom mitnehmt. Es wird Euch etwas einfallen. Lasst Eure Fantasie spielen.«

Richard war anderer Meinung. Er kannte Julia und wusste, dass er ihr nicht so leicht eine Lügengeschichte auftischen konnte. Er hoffte auf Toms Einfallsreichtum.

Der Rotwein funkelte verlockend in der Kristallflasche, und Richard warf alle guten Vorsätze über Bord. Den tadelnden Blick Raleighs ignorierend, schenkte er unaufgefordert das leere Weinglas bis zum Rand voll, prostete dem alten Mann zu und trank es in einem Zug leer. Augenblicklich fühlte er sich besser, sein Zittern verschwand und die Selbstzweifel verflogen. Es konnte doch wirklich nicht so schwer sein, einen Schatz zu finden.

»Erzählt mir in Ruhe, wie ich es anstellen soll, in die Neue Welt zu kommen«, sagte er und zog seinen Mantel aus. Dann lehnte er sich entspannt zurück. Er wollte die Nacht dazu nutzen, um alles zu erfahren, was Raleigh bereit war zu erzählen.