Sarah N. Harvey

Arthur

oder
Wie ich lernte,
den T-Bird zu fahren

Aus dem Englischen von
Ulli und Herbert Günther

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Lynn

Eins

»Ich halte das nicht mehr aus!«

Meine Mutter ist in der Küche und telefoniert. Ich glaube, sie weint. Oder ihre Allergien spielen wieder verrückt. So oder so, sie hört sich miserabel an. Sie putzt sich lautstark die Nase, während sie jemandem am anderen Ende der Leitung zuhört. Ich bleibe auf halber Kellertreppe stehen. Leicht könnte ich umkehren und wieder in meinem Zimmer verschwinden oder mich durch die Kellertür davonmachen, aber etwas in ihrer Stimme – eine Mischung aus Verzweiflung und Ärger, vom Rotz halb erstickt – lässt mich aufhorchen und auf der vierten Stufe von oben stehen bleiben. Das und der Umstand, dass sie offenbar über mich spricht. Wieder mal.

»Er ist unmöglich, Marta«, sagt sie. »Absolut unmöglich. Hat keine Freunde. Schläft den ganzen Tag. Schaut die ganze Nacht fern. Duscht nie. Lässt sich die Haare nicht schneiden. Schiebt sein dreckiges Geschirr unters Bett oder steckt es zusammen mit seiner schmutzigen Unterwäsche in irgendwelche Schubladen. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«

Am liebsten wäre ich in die Küche gestürmt und hätte gerufen: »Hey! Es ist erst zwei Uhr. Ich bin auf. Ich habe geduscht. Ich bin angezogen. Und schmutziges Zeug – ob Geschirr oder Unterwäsche – stecke ich nie in Schubladen. Ich lasse es auf dem Boden liegen. Und wann warst du überhaupt in meinem Zimmer?« Ich habe meine Maßstäbe. Niedrige zwar, aber immerhin. Sie soll mal keinen Schwachsinn über mich erzählen. Gut, ich habe mir seit drei Jahren die Haare nicht schneiden lassen, aber ich wasche sie alle paar Tage. Sie sind sehr fein und schnittlauchgerade wie die von Mom. Man sollte meinen, sie hätte, was meine Haare angeht, etwas mehr Verständnis. Und nun jammert sie Marta etwas vor, ausgerechnet Marta, die wahrscheinlich nicht überrascht ist zu hören, dass sich ihr armer vaterloser Neffe so nachteilig entwickelt.

Marta ist meine Tante, die Halbschwester meiner Mutter. Sie ist mindestens sechzig (Mom erst achtunddreißig) und lebt seit Jahren in Australien. Mom sagt, sie sei so weit wie möglich weggezogen, ohne ihre Mitgliedschaft im noblen Familienklub aufzugeben. Ab und zu kommt sie mal nach Kanada, aber seit unserem Umzug quer durch das Land – von Lunenburg, Neuschottland, nach Victoria, British Columbia – hat sie uns noch nicht besucht. Wir sind hierhergezogen, um näher bei meinem Großvater zu wohnen, er ist fünfundneunzig. Früher war er ein berühmter Cellist, und er sorgt auch dafür, dass das keiner vergisst. Marta nennt ihn »ein Monster an Selbstbezogenheit«. Aber Mom meint, es sei verständlich, dass er mit sich selbst beschäftigt sei, weil er doch so alt ist und überhaupt. Ich kenne niemanden sonst, der so alt ist, deshalb weiß ich nicht, ob Alter automatisch mit zänkischem Egoismus einhergeht. Aber nach allem, was ich über meinen Großvater gehört habe, war er schon immer so, es liegt also wohl nicht nur am Alter. Mom bemüht sich einfach, eine beschissene Lage auf die bestmögliche Art darzustellen. Macht sie immer so.

»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, sagt sie gerade. »Ich muss etwas für ihn finden, einen Platz, wo ich ihn hinbringen kann. Und zwar schnell. Sonst kriege ich einen Nervenzusammenbruch. Im Ernst, Marta. Wirf mich auf den Müll. Steck mich in eine Zwangsjacke. Wünsch mir die Pest an den Hals. Egal. Immerhin hätte ich dann Ruhe.«

Einen Platz, wo sie mich hinbringen kann? Was redet sie da? Ich finde es hier beschissen, das stimmt, aber für mich ist Lunenburg der einzige Ort, an dem ich leben will. Und dass ich die ganze Zeit zu Hause bin, dafür kann ich nichts. Ich habe kurz nach Weihnachten das Pfeiffer’sche Drüsenfieber bekommen, und als es mir endlich besser ging, fingen bald die Frühjahrsferien an, und dann war auch schon Ostern. Inzwischen hatte ich so viel Unterricht versäumt, dass ich Mom überzeugen konnte, mich das Schuljahr per Fernkurs beenden zu lassen. Und ja, ich bin viel allein. Zu Hause hatte ich ein paar richtig gute Freunde, Jungs, mit denen ich aufgewachsen war, aber hier habe ich keinen einzigen Freund. Bis jetzt jedenfalls. Mom meint, für Freundschaften sei ja noch jede Menge Zeit, aber sie irrt sich. Ich habe einfach nicht die Energie für gemeinschaftliche Aktivitäten. Oder das Interesse dafür. Auch vor meiner Krankheit hatte ich nie das Verlangen, zum Beispiel mal ins Kino zu gehen oder zu einem Hockeyspiel. Hat mich sowieso keiner gefragt, ob ich mitgehen will. Und so vergehen die Tage. Ein bisschen für die Schule machen, ein bisschen fernsehen, ein bisschen Musik hören, viel schlafen. Essen am liebsten aus der Mikrowelle. Ich esse nie zusammen mit meiner Mutter. Schon als ich noch klein war, hasste ich es, gemeinsam mit anderen Leuten zu essen. Ich konnte das halb zerkaute Zeug in ihren Mündern nicht sehen, wenn sie beim Essen redeten oder lachten. Keiner hat Manieren. Früher lachte Mom darüber und nannte mich Lord Fauntleroy. Inzwischen wendet sie sich seufzend ab, wenn ich mit meinem Essen die Kellertreppe hinunter verschwinde.

Sie ist sowieso nicht viel zu Hause. Im Frühjahr und Sommer ist sie spätestens morgens um acht draußen und arbeitet bis zum frühen Nachmittag in anderer Leute Gärten. Wenn sie nach Hause kommt, duscht sie und isst etwas, und gegen drei Uhr kommen so nach und nach ihre Klavierschüler. An manchen Tagen dauert das Bach-Geklimper bis abends um neun. In den Pausen zwischen den einzelnen Schülern isst Mom eine Kleinigkeit. Sie isst im Stehen und betrachtet dabei ihr Spiegelbild im Fenster über der Spüle. Würde ich mich neben sie stellen, würde ich Folgendes sehen: eine große, blasse, schlaksige Person (ich) und eine kleine, sonnengebräunte, drahtige Person (sie). Das gleiche strähnige Haar, die gleichen braunen Augen, der gleiche breite Mund. Die gleichen großen Zähne, nur kann man meine nicht sehen, weil ich nicht lächle. Unterschiedliche Nasen. Meine ist groß, ein Zinken. Ihre ist klein und dreht minimal nach rechts ab, wenn sie lächelt. Offenbar habe ich die Jenkins-Nase, was immer das heißen mag. An den Wochenenden arbeitet Mom in unserem eigenen Garten und übt Klavier. Und jetzt sagt sie, sie kann nicht mehr und will mich los sein. Scharf.

»Ich weiß, etwas Luxuriöses können wir uns nicht leisten«, sagt Mom. »Es muss nur sauber sein.« Sie schweigt eine Weile, ihre Finger spielen eine Fuge auf dem Tischset. Das macht sie immer, wenn sie Sorgen hat. Spielt Bach auf einem Phantomklavier. Wer weiß, vielleicht macht Tante Marta gerade den Vorschlag, mich in eine Jugendstrafanstalt oder so zu schicken. Nur habe ich keine Straftat begangen. Bis jetzt jedenfalls. Mom sagt: »Hm, mmh, vielleicht hast du recht. Nein, ich glaube nicht, dass er besonders viel trinkt. Ich mache ja alle Einkäufe, und nach Wein oder so was verlangt er nie. Ja, doch, bei einem dieser Diala-Bottle-Lieferdienste könnte er wohl anrufen.«

Trinken. Na klar. Ich bin sechzehn. Ich habe keine Freunde. Ich habe kein Geld. Der einzige Alkohol im Haus ist ein Fläschchen Kahlúa, mit dem Mom ab und zu ihren Kaffee nach dem Mittagessen aufpeppt. Einmal habe ich davon getrunken und hätte fast kotzen müssen. Ab und zu ein Bier, okay. Wie sollte ich mich also betrinken? Ich hätte absolut keine Lust dazu.

»Drogen weiß ich nicht, glaube ich nicht.« Mom klingt unsicher. »Ich sehe nie irgendwelche Anzeichen.« Als ob sie es merken würde, wenn ich gekifft hätte. Mit meinen Kumpels zu Hause hatte ich öfters geraucht. Hinterher, wenn wir dann hungrig und redselig zu uns gegangen waren, war Mom so glücklich darüber, dass ich Freunde mitbrachte, dass sie uns Eisbecher mit kleinen Schokoladenkuchen oder Omeletts mit Heidelbeeren gemacht hatte. Ich habe keine Ahnung, wie man sich hier etwas beschaffen kann, und ohnehin würde es allein keinen Spaß machen.

Mom spricht immer noch. »Die einzige andere Möglichkeit wäre, jemanden einzustellen, der ins Haus kommt. Vielleicht nicht den ganzen Tag – er schläft ja so viel –, aber wenigstens, um bei den Mahlzeiten zu helfen.«

Wovon spricht sie? Ein Babysitter? Sie muss total von der Rolle sein. Vorzeitiger Beginn von Alzheimer oder so. Eine Jugendstrafanstalt würde ich einem Babysitter jederzeit vorziehen. Und Hilfe bei den Mahlzeiten brauche ich nicht. Meine Fähigkeiten im Umgang mit der Mikrowelle sind auf einem hohen Level.

»Und auch beim Duschen muss ihm jemand helfen.«

Ich traue meinen Ohren nicht. Seit wann brauche ich Hilfe beim Duschen? Jetzt springe ich aber doch die letzten vier Stufen hinauf und stürme in die Küche. In meiner Hast stoße ich mir den Kopf am Türpfosten und muss mich erst mal setzen, bis die Welle aus Schmerz und Benommenheit abebbt. Das ist mir schon so oft passiert, seit wir hier wohnen, dass Mom jetzt nicht einmal aufschaut. Man sollte meinen, ich lerne es endlich. Als ich sprechen kann, kommt meine Stimme nur krächzend aus der Kehle. »Kommt nicht infrage, Mom. Verdammt noch mal, nein!«

»Warte, Marta. Gerade kommt Rolly herauf«, sagt sie ruhig. Sie wirft mir einen Blick zu, der ausdrücken soll Wir unterhalten uns gleich. »Rolly, du weißt, was ich von Fluchen halte. Ich telefoniere gerade.«

»Sag nicht dauernd Rolly zu mir«, murmle ich zwischen den Zähnen. Mir ist, als würde mein Kopf explodieren.

Sie deckt das Telefon mit der Hand ab und zischt: »Was ist los mit dir?«

»Ich gehe nicht in irgendein Jugendgefängnis und ich brauche erst recht keinen Babysitter. Wenn das deine Pläne sind, dann bin ich hier weg.« Ich stehe auf, um wieder in den Keller zu gehen, aber Mom hält mich am Arm fest.

»Jugendgefängnis? Wer hat etwas von Jugendgefängnis gesagt? Was redest du da? Hast du Probleme?« Sie zieht die Stirn kraus und sagt ins Telefon: »Ich muss später noch mal anrufen, Marta.«

Für eine kleine Frau ist meine Mom ganz schön kräftig. Wahrscheinlich könnte sie mich glatt aufs Kreuz legen, wenn sie wollte. Ich befreie meinen Arm aus ihrem Griff und reibe über die Stelle, an der sie mich festgehalten hat. Morgen habe ich da bestimmt einen blauen Fleck.

»Rolly … Royce. Ich weiß ja, dass es schwer war für dich … hierherziehen … eine neue Schule … krank werden …«

»Aber, Mom …«

»Lass mich ausreden, Royce. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für dich, und ich wünschte, du würdest Freunde finden, aber mehr, als ich im Augenblick tue, schaffe ich nun mal nicht.«

»Ich suche mir einen Job. Ich werde mehr helfen. Bloß keinen Babysitter.«

»Babysitter?«

»Ich habe doch gehört, wie du mit Marta besprochen hast, mich wegzuschicken. Oder einen Babysitter zu engagieren.«

Mom verschränkt die Arme auf dem Tisch und legt den Kopf auf die Arme. Das Haar fällt ihr übers Gesicht, und ihre Schultern beben.

»He, Mom. Wein doch nicht«, sage ich. »Es wird schon werden.« Keine Ahnung, ob das stimmt, aber im Moment scheint es mir die richtige Erwiderung zu sein. Außerdem tut mir der Kopf viel zu weh, als dass ich jetzt klar denken könnte.

Keine Antwort. Nur ein Schluckauf und ein Schnauben, gefolgt von einer Art Wiehern. Ihr Benehmen bringt mich allmählich auf die Palme, deshalb tippe ich an ihre Schulter, und sie hebt das Gesicht. Tränen laufen ihr über die Wangen, und unter der Nase hängt ein bisschen Rotz, aber sie weint nicht – sie lacht, wie immer dann, wenn ich ihr eine meiner Imitationen des fetten Elvis vorführe.

»Was ist so komisch?«, frage ich. Ich sollte froh sein, dass sie lacht, aber ich mag es nicht, wenn man über mich lacht. Erst recht nicht, wenn ich gar nicht versucht habe, komisch zu sein.

»Du«, japst sie schließlich. »Was hast du dir denn gedacht? Dass ich dich satthabe?«

»Hm, ja.«

»Ach, mein Schatz«, sagt sie. »Nie.« Sie prustet noch einmal. »Sagen wir, so gut wie nie.«

»Worüber hast du dann mit Marta geredet?«

Sie hört auf zu lachen und wischt sich mit dem Pulloverärmel über die Nase. »Über deinen Großvater.«

Ich muss einen Moment überlegen. Seit wir hier sind, besucht Mom ihren Vater jeden zweiten Tag und ruft ihn jeden Abend an. An den Wochenenden kocht sie ihm seine Mahlzeiten für die folgende Woche vor. Sie macht die Wäsche und die Einkäufe für ihn. Sie schneidet ihm die Haare. Die paar Male, die ich bei ihm war, ist er mir ganz fit vorgekommen. Alt und mürrisch, aber einigermaßen fit. Nicht etwa, dass er mit mir spricht. Er sieht mich an, gibt einen Grunzer von sich und wendet sich dann wieder seiner Fernsehsendung zu. Er lästert über Moms Essen. Oder darüber, wie sie sein Bett macht. Oder über die Marke der Zahnpasta, die sie ihm besorgt hat. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, verstehe ich, warum sie ihn am liebsten in ein Heim stecken würde.

Ungefähr vor einem Monat, als ich ihn zusammen mit Mom besucht habe, war das Erste, was er zu mir sagte: »Du siehst scheiße aus.«

Als Bemerkung von einem schrulligen alten Opa in ausgebeulten braunen Kordhosen, fleckigem beigem Pulli und Pantoffeln mit ausgeschnittener Zehenöffnung fand ich das schon ein starkes Stück.

»Danke gleichfalls, Großvater«, sagte ich.

Wir funkelten einander sekundenlang wütend an, bevor er sich an meine Mutter wandte und sagte: »Du musst dringend wieder heiraten. Der Junge braucht einen Mann im Haus. Eine starke Hand. Du bist der Sache eindeutig nicht gewachsen.«

Mom und ich gingen an ihm vorbei die Treppe zur Küche hinauf und verstauten schweigend die Einkäufe für ihn. Moms Lippen waren zu einer harten geraden Linie zusammengekniffen, sie knallte die Dosensuppen in den Schrank und die Milchtüten in den Kühlschrank. Als wir fertig waren, sagte sie zu Arthur, der uns in die Küche gefolgt war: »Bis nächste Woche dann.«

»Kannst du nicht noch ein paar Minuten bleiben?«, jammerte er. »Mir einen Kaffee machen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Muss noch eine Menge erledigen. Tut mir leid.«

»Und was ist mit dir, Junge?«, sagte er. »Weißt du, wie man Kaffee macht?«

»Nö«, sagte ich. »Ist ja kein Mann im Haus, der mir so was beibringt.«

Wir gingen, und Arthur schrie hinter uns her, wir seien unbrauchbare eigennützige Parasiten. Seitdem war ich nicht mehr dort.

»Was willst du also tun?«, frage ich sie.

»Ich weiß noch nicht«, sagt sie. »Wenn unser Haus größer wäre, könnte er ja vielleicht mit bei uns wohnen.« Sie erschaudert. Mein Kopf dröhnt, und mir ist übel. Vielleicht habe ich eine Gehirnerschütterung, vielleicht kommt es aber auch von der Vorstellung, mit Großvater zusammenzuleben.

»Ich muss eine Pflegekraft für ihn finden«, sagt Mom. »Das wird ihm gefallen.«

»Am besten eine, die eine hohe Toleranzschwelle gegenüber verbalen Angriffen hat«, sage ich.

»Du bringst es auf den Punkt«, sagt Mom.

Als ich mich umdrehe, um wieder nach unten zu gehen, setzt sie hinzu: »Und ich hoffe, die Sache mit dem Job hast du ernst gemeint.«

Zwei

Bevor ich weitererzähle, sollte ich euch über ein paar Dinge informieren. Zuerst: Ich heiße Royce Peterson. Einen zweiten Vornamen habe ich nicht. Als ich zwölf war, startete ich eine Kampagne, um meinem Namen Isaac oder Ichabod anzufügen, sodass ich die Initialen R.I.P. gehabt hätte, aber Mom wollte den Änderungsantrag nicht unterschreiben. Sie meinte, zwei Namen seien genug. Als ich ein Baby war, nannte mein Dad mich Rolly (Rolls Royce, versteht ihr?), und das blieb an mir hängen. Jetzt nennt mich die ganze Familie so, und alle, außer mir, finden es immer noch niedlich. Als wir nach Victoria zogen, musste Mom mir versprechen, mich von da an Royce zu nennen. Ich wollte keine Wiederholung der Situation, die ich als Sechsjähriger in Lunenburg durchzustehen hatte, als mich die Kinder in der Schule Rolli-Möpschen nannten. Das ergab noch nicht einmal einen Sinn, weil ich eher wie ein Bambusstängel aussah (und aussehe). Dünn mit knubbeligen Stellen.

Aber weiter. Meine Mom heißt Nina, und mein Dad hieß Michael. Er starb, als ich zwei Jahre war. Eines Sommerabends wurde er beim Joggen von einem betrunkenen Autofahrer umgefahren. Er war auf der Stelle tot. Ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern. Früher dachte ich, ich hätte doch ein paar Erinnerungen an ihn, aber irgendwann wurde mir klar, dass diese Bilder in meinem Kopf nur Fantasievorstellungen waren, die ich mir aus den Fotos in unserem Album zurechtgebastelt hatte. Dad am Strand, wie er dem Hund, den wir damals hatten, eine Frisbeescheibe zuwirft. Dad im Garten hinter dem Haus, wie er ein Blumenbeet für meine Mom umgräbt. Dad auf dem Campingplatz an einem See, wie er sich um ein Feuer kümmert. Dad nach dem Joggen. Ich kann das Meer riechen, die feuchte Erde, den Rauch des Feuers, seinen Schweiß. Ich kann seine Bartstoppeln an meiner Wange spüren, wenn er mir einen Gutenachtkuss gibt. Aber das ist alles Quatsch, auch wenn ich es mir noch so sehr wünschen würde.

Meine Mom war erst vierundzwanzig, als mein Dad starb. Ihr Vater hielt sich damals Gott weiß wo auf, und ihre einzige Schwester lebte in Australien. Marta ist mit einem Banker namens Horst verheiratet, sie haben sechs Kinder und einen Haufen Enkelkinder. Alle spielen Tennis. Auch Golf. Ein paar der Typen spielen Polo, wenn man’s glauben kann. Nicht Wasserpolo, was schon blöd genug wäre. Richtiges Polo mit Pferden. Sie sind das ganze Jahr über sonnengebräunt, und bis jetzt hat noch keiner von ihnen Hautkrebs. Bis auf Mandy, die Jüngste, die ungefähr zwanzig ist, sind meine Cousins und Cousinen alle viel älter als ich. Als ich zehn war, habe ich zwei von ihnen kennengelernt, die Zwillinge Chris und Rick, die damals nach Kanada gekommen waren, um Extremsport zu machen. Mountainbike-Touren oder Snowboarding oder Drachenfliegen. Ich weiß nicht mehr, was es war. Ich habe es verdrängt. Sie jagten mir damals einen Mordsschrecken ein mit ihren Outdoor-Multifunktions-Shorts, ihren verspiegelten Sonnenbrillen, wollenen Socken und behaarten Waden. Sie nannten mich Kumpel und versuchten, meine Mutter zu überzeugen, mich nach Australien zu schicken, damit sie mich zum Schnorcheln am Großen Barrier Riff mitnehmen könnten. Sie wollten einen Mann aus mir machen. Mich mit Pfeilhechten und Haien bekannt machen. Als Mom ihnen sagte, dass ich nicht schwimmen könne, rissen sie ihre hellblauen Augen auf, und ihre identisch eingekerbten Kinnladen klappten herunter. »Da laust mich doch der Affe!«, sagten sie einstimmig. Am nächsten Tag brachen sie kraftstrotzend auf, um irgendeinen Berggipfel zu erklimmen, und seither habe ich weder sie noch sonst einen meiner Cousins je wiedergesehen. Würden sie mich jetzt fragen, würde ich vielleicht nach Australien gehen, und wer weiß, vielleicht würde ich dort sogar schwimmen lernen. Bei Polo müsste ich allerdings passen – Pferde machen mir höllische Angst. Aber wenigstens wäre ich dann weg von hier.

Meine Mom hat ihre Mutter nie gekannt. Die Familie meines Vaters wohnt in Südafrika, deshalb war sie keine große Hilfe nach Dads Tod. Hin und wieder mal ein Geburtstagsgeschenk. Eine Weihnachtskarte oder zwei. Und so machte sich Mom daran, mit den beiden Fähigkeiten, die sie hatte, Geld zu verdienen: Klavierstunden geben und gärtnern. Ich war immer dabei, entweder in einem Babykorb neben dem Klavier oder in einem Laufstall im Garten eines Kunden. Sie sparte die Kosten für die Kindertagesstätte, und ich erhielt eine Überdosis an klassischer Musik und Sonne.

Den Vater von Mom habe ich erst kennengelernt, als wir hierherzogen. Arthur war fast achtzig, als ich zur Welt kam. Er erklärte Mom, die Zeit des Reisens sei für ihn vorbei, und deshalb kam er uns nie besuchen, obwohl er es sich hätte leisten können. Er bot auch nie an, uns einen Flug nach Victoria zu bezahlen. Nie dachte er an Geburtstage oder Weihnachten. Wahrscheinlich waren wir für ihn nicht interessant oder brauchbar genug. Das änderte sich Ende Oktober, als er einen leichten Schlaganfall hatte und im Krankenhaus landete. Mom, die als Arthurs nächste Angehörige registriert war, bekam einen Anruf von einem Arzt in Victoria, der sagte, man würde Arthur zwar nach Hause entlassen, aber er könne in Zukunft weder Auto fahren noch sich allein verpflegen oder sich um sein Haus kümmern. Die ersten zwei Wochen nach seiner Entlassung bekomme er von seiner Krankenversicherung eine Betreuung rund um die Uhr bezahlt. Danach müsse jemand anders die Sache in die Hand nehmen. Marta wohnte zu weit weg und war zu beschäftigt mit ihrem Tennis und ihrem Banker, all ihren Kindern und Enkelkindern. Mom hatte nur mich und ein paar Klavierschüler. Und einen Haufen Schuldgefühle, wie sich herausstellte.

Wir packten also unsere Habseligkeiten, verabschiedeten uns von unseren Freunden und fuhren in unserem alten Audi quer durch Kanada – vom äußersten Osten bis zum äußersten Westen. Es war nicht gerade wie in einem Roadmovie. Kein bisschen wie im Kino. Bevor wir Neuschottland verließen, legte ich ein Schweigegelübde ab, das immerhin bis Saskatoon anhielt; dort musste ich aufgeben und Mom um einen Burger anflehen, weil ich nicht wieder eins dieser Sandwiches essen wollte, die sie jeden Abend in einem der schäbigen Motelzimmer für den nächsten Tag zurechtmachte. Sie hatte die Stille wohl genossen, was weiß ich, jedenfalls sagte sie nur: »Ist dir McDonald’s recht?« Danach fand ich es anstrengender zu schweigen als zu reden, und so verging die Zeit, und die Landschaft flog rasch an uns vorüber.

Später dann, auf der Fähre nach Vancouver Island, war ich geradezu ausgelassen (für meine Verhältnisse). Ich blieb die ganze Fahrt über draußen, hielt Ausschau nach Walen, schoss Fotos für japanische Touristen mit deren teuren Digitalkameras, hielt mir die Ohren zu, wenn die Schiffssirene ertönte. Eine andere Fähre kam an uns vorüber, bedenklich nahe, wie mir schien, und ich winkte einem Typen zu, der sich gerade über die Reling beugte. Er winkte nicht zurück. Ich zeigte ihm einen Vogel, aber da merkte ich, dass er sich übergab. Oha. Eine Frau in roter Jacke, die mit verschränkten Armen hinter ihm stand, sah ihm beim Kotzen zu.

Meine Mom war zu mir an Deck gekommen, der Wind schlug ihr den Pferdeschwanz ins Gesicht. Sie musterte die beiden auf der anderen Fähre mit einem kurzen Blick und grinste. »Ein Glück«, sagte sie. »Wenigstens bist du keine Spuckdrossel.«

»Du kennst mich ja«, sagte ich. »Magen aus Stahl.«

Ein Haar hing an ihrem lippenstiftroten Mund, und sie wischte es weg. »Mir tut das alles sehr leid, Rolly. Der Umzug. Dein Großvater. Ich weiß, es ist schwer für dich. Aber ich kann ihn nicht einfach sich selbst überlassen. Er hat mich großgezogen. Wenn wir uns inzwischen nicht mehr nahestehen, heißt das ja nicht, dass er nicht sein Bestes versucht hätte.«

»Genau«, sagte ich. »Sein Bestes waren Kindermädchen, die mit im Haus wohnten, Internate und Sommercamps. Was für ein Typ.«

»Er hatte keine Wahl«, protestierte sie. »Meine Mutter hat uns verlassen, als ich drei Jahre war. Er musste hingehen, wo Arbeit war. Er konnte nicht gut ein Baby mit auf Tournee nehmen, oder? Und er war sehr gefragt. Berlin, New York, Paris. Alle wollten den großen Arthur Jenkins. Er konnte längst nicht alle Nachfragen erfüllen. So musste ich eben ohne ihn auskommen.«

»Sehr verbittert?«, fragte ich.

Sie sah mich kurz an und wandte sich dann ab, um wieder ins Schiffsinnere zu gehen. »Nicht so verbittert wie er.«

Nachdem sie monatelang auf jede seiner Launen eingegangen ist, führt sie nun Vorstellungsgespräche mit Pflegekräften und befasst sich mit Einrichtungen für Senioren, die in etwa Internaten entsprechen. Keine Privatsphäre, scheußliches Essen und Mitbewohner, die ins Bett machen. Siehst du, Großvater: Wie du mir, so ich dir. Früher oder später rächt sich alles. Und was es sonst noch für Redensarten in der Richtung gibt.

Mom spricht mit ungefähr einem Dutzend Bewerbern, ehe sie jemanden findet, der ihr wenigstens ein bisschen sympathisch ist. Eine winzige Frau, die selber aussieht wie um die achtzig und sich rühmt, ihre »alten Herren unten rum« piksauber zu halten. Ungeeignet. Ein Anwärter erscheint auf einem riesigen Motorrad. Er hat einen kahl rasierten Schädel und haufenweise Gefängnis-Tattoos, blau und ekelerregend. Er übernehme nur alte Männer, sagt er, und auch nur, wenn es sich um Heteros und Weiße handle, außerdem müsse er montags immer freihaben wegen seiner »Meetings«. Mom sieht ihm ins Gesicht und erklärt, dass Großvater schwarz ist (was eindeutig nicht der Fall ist) und homosexuell (ebenso wenig) und Jude (was ich nicht genau weiß, bei einem Namen wie Jenkins aber bezweifeln möchte). Der Motorradtyp zieht ab, wobei er etwas über Juden, Schwule und Nigger nuschelt. »Nazischwein«, sagt Mom.

Als Mavis auftaucht, ist Mom schon ziemlich verzweifelt. Mavis ist ehemalige Krankenschwester, Britin, mit einem feinen weißen Schnurrbart, fleckigen Zähnen und muskulösen Unterarmen. Sie sagt, sie habe viel Erfahrung mit »alten Leuten« und Mr Jenkins sei doch bestimmt »ein ganz Lieber«. Alles eher als das, hätte ich gern gesagt. Als sie auch noch behauptet, »beim Tee gern Brahms zu hören«, hat sie bei Mom sofort einen Stein im Brett, und da sie so viel besser qualifiziert ist als alle anderen Bewerber, gibt Mom ihr den Job auf der Stelle. Ohne sich ein Zeugnis vorlegen zu lassen, was mir unklug erscheint.

Am nächsten Tag fängt sie an, und wie zu erwarten war, kann Großvater sie auf Anhieb nicht ausstehen. Er weigert sich, mit ihr zu reden oder die Sachen zu essen, die sie für ihn zubereitet. Ich hätte Mom sagen können, dass sich Großvater, obwohl er steinalt ist, von einer jungen schnuckeligen Betreuerin versorgen lassen will, aber da sich keine derartige Person beworben hat, wäre meine Meinung wahrscheinlich ohnehin nicht hilfreich gewesen. An diesem ersten Tag ruft Großvater ungefähr zwanzig Mal auf Moms Handy an und zetert, er werde sie enterben. Wirft ihr vor, wie undankbar sie sei. Er vergleicht sich sogar mit King Lear, wobei Mom wohl Cordelia sein soll, die gute Tochter. Und ich offenbar der Narr. Mavis nennt er eine alte Kuh, eine Lesbe und Sadistin (offenbar hat sie ihm etwas zubereitet, das sich Spotted Dick nennt, eine Art Pudding aus Rindernierenfett und Trockenfrüchten, etwas Britisches). Zwei Tage später kündigt Mavis, und Mom beginnt mit der ganzen Prozedur von vorn.

Aber diesmal hat sie von Anfang an Glück. Lily ist von den Philippinen, ausgebildete Pflegerin und hoch motiviert, weil sie sparen will, um Mann und Kinder nach Kanada holen zu können. Von klassischer Musik versteht sie nichts, aber sie lacht viel, hat keine Tattoos (jedenfalls nicht, soviel ich sehen kann) und ist zweifellos keine Lesbe. Sonntags möchte sie gern freihaben, um in die Kirche gehen zu können. Das ist alles. Sie ist glücklich damit, sechs Tage die Woche täglich zwölf Stunden zu arbeiten – glücklich im wahrsten Sinn des Wortes. Noch nie habe ich jemanden gekannt, der so viel lacht und so wenig Grund dazu hat.

»Sie ist perfekt«, sagt Mom, nachdem Lily gegangen ist. »Dad wird sie lieben.«

»Klar, versteht sich«, sage ich und stelle mir vor, wie er Lilys Hintern begrapscht, wenn sie ihm sein Essen bringt.

Einen Augenblick zieht Mom ein Gesicht, als hätte sie Schmerzen. Vielleicht durchlebt sie in Gedanken eine frühere Verletzung noch einmal, vielleicht ist es auch einfach nur ein Krampf im Bein. Ihr Vater hat nie mehr geheiratet, nachdem sich ihre Mutter davongemacht hatte. Sie weiß nicht einmal genau, ob ihre Eltern je verheiratet waren, doch laut Mom hatte Arthur immer irgendeine Partnerin, während sie heranwuchs. Zweimal im Jahr tauchte er im Internat auf, um mit ihr essen zu gehen, dann wurde er mal von einer Carmen, mal von Graziella oder von Therese begleitet. Alle viel jünger als er, alle Musikerinnen. Besonders gern hatte er Sängerinnen. Aber keine von ihnen kam ein zweites Mal mit. Und jetzt hatte Mom also eine nette und ziemlich attraktive junge Frau in die Höhle des Drachen geschickt.

»Es wird bestimmt gut gehen«, sagt sie. »Dad ist viel zu alt, um …«

Ich schnaube verächtlich.

»Außerdem ist Lily verheiratet, Royce.«

»Was hat denn das damit zu tun?«, frage ich.

Zwei Wochen später ist Lily Geschichte. Anscheinend hat sich Großvater vor ihr zur Schau gestellt, und zwar nicht nur beim Duschen. Die ersten Male ging sie lachend darüber hinweg, aber als er sie aufforderte, sich auf seinen nackten Schoß zu setzen, rannte sie aus dem Haus, rief meine Mutter an und kündigte.

»Wahrscheinlich muss ich froh sein, dass sie keine Strafanzeige gestellt hat.« Mom telefoniert einen Tag nach Lilys Kündigung mit Marta. Ich sitze ihr gegenüber am Küchentisch und versuche zu erraten, was Marta sagt. Nichts Gutes, nach Moms Gesichtsausdruck zu schließen.

»Das kann ich nicht von ihm verlangen«, sagt sie. »Und ich kann es mir auch nicht leisten, weniger zu arbeiten. Jetzt nicht. Überhaupt nicht. Und selbst wenn ich es könnte, ich würde Dad innerhalb einer Woche umbringen.« Sie zwingt sich zu lachen, runzelt aber gleichzeitig die Stirn. Ihre Haare sehen aus wie meine: matt, platt, strähnig. Der einzige Unterschied ist, dass sie ihre zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet, wenn sie draußen arbeitet. Übrigens, bei Jungs sieht ein Pferdeschwanz läppisch aus. Mom steht auf und geht in der Küche auf und ab: Spüle, Kühlschrank, Herd, Tisch, Spüle, Kühlschrank, Herd, Tisch.

»Ich werd darüber nachdenken, Marta«, sagt sie. »Gefallen wird ihm das nicht.«

Marta muss wohl einen australischen Ausdruck gebraucht haben, der so viel bedeutet wie scheiße für dich, denn Mom fängt auf einmal an zu schreien: »Warum schickst du nicht Mandy her, Marta? Du hast doch selber gesagt, sie bräuchte mal einen Tapetenwechsel – eine Herausforderung. Warum muss alles an Royce und mir hängen bleiben? Weiß Gott, du hättest das Geld. Und die Zeit. Warum kannst du nicht den Tennisschläger für eine Saison an den Nagel hängen? Marta? Marta?« Sie nimmt das Telefon vom Ohr und starrt es an, als wäre es eine tote Ratte. »Sie hat einfach aufgelegt! Kannst du dir das vorstellen? Sechzig Jahre und hängt einfach auf, wenn ich mit ihr rede?«

Ich ziehe die Schultern hoch. Ich habe keine Geschwister, nicht einmal Halbgeschwister. Keine Ahnung, warum sich Geschwister streiten. Gerade will ich wieder runtergehen, da sagt Mom: »Weißt du, was Marta meint?«

Ich schüttle den Kopf. Ewas Gutes kann es nicht sein. »Was?«

»Sie meint, du könntest dich um ihn kümmern.«

Jetzt bin ich es, der vom Affen gelaust wird. Ich habe immer geahnt, dass ich diese komische Redensart einmal selber würde anwenden können. »Warum ich?«, quieke ich. »Er hasst mich!«

»Sei nicht albern, Rolly. Er hasst dich nicht. Er kennt dich überhaupt nicht. Du bist nicht mehr krank, du gehst nicht zur Schule, du hast weiter nichts zu tun, du hast keinen Job, und ich brauche Hilfe. Vielleicht hat Marta recht. Vielleicht wäre es ja gut für dich. Ich weiß nicht.«

»Gut für mich«, wiederhole ich automatisch. »Warum denn das?«

»Geld, Selbstachtung, ein Job, den du später mal in deinem Lebenslauf anführen könntest. Such dir was aus. Hättest du’s lieber, wir würden zu ihm ins Haus ziehen? Oder wir würden ihn bei uns aufnehmen? Ob so oder so, in jedem Fall müssten wir den ganzen Tag nach seiner Pfeife tanzen, Tag für Tag. Und nach einem Teilzeitjob wirst du dich trotzdem umsehen müssen. Wie ich höre, suchen sie bei McDonald’s ständig Leute. Oder aber du gehst fünf Tage die Woche jeweils für ein paar Stunden zu Arthur. Deine Entscheidung. Und es wäre ja nicht für immer, nur bis Herbst, wenn die Schule wieder anfängt. Bis dahin werde ich wohl eine andere Lösung gefunden haben.«

»Wie viele Stunden pro Tag?«

»Sechs für den Anfang.«

»Wie viel Geld?«

»Was ich den anderen gezahlt habe, fünfzehn die Stunde.«

»Bar?«

Sie seufzt. »Ja. Bar.«

»Wer zahlt?«

»Er.« Weiter vertieft sie diesen Punkt nicht. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber er muss wohl stinkreich sein.

Ich rechne erst mal: 90 Dollar pro Tag, fünf Tage die Woche. 450 Dollar pro Woche, steuerfrei. 1800 Dollar im Monat, und das vier Monate lang. 7200 Dollar. So viel würde ich mit Burger-Verkaufen oder Benzinzapfen nie verdienen. Am Ende des Sommers würde ich mehr als genug haben, um mir ein Auto kaufen und zurück nach Neuschottland fahren zu können. Ich würde ja fliegen, aber ich habe panische Angst vorm Fliegen. Schlechte Erfahrung in einem kleinen Flugzeug, als ich zehn war.

»Also bis September. Auszahlung jeden Freitag.«

Mom nickt.

»Ich denk drüber nach«, sage ich.

Sie nickt noch einmal. »Mach das«, sagt sie. »Du hast eine Stunde.« Sie geht ins Wohnzimmer, setzt sich ans Klavier und fängt an zu spielen. Etwas Langsames, Trauriges – Satie vielleicht oder Debussy. Diese beiden verwechsle ich ständig. Ich hüte mich, Mom zu stören. Sie erzählt jedem, dass sie Klavier spiele und Gartenarbeit mache, weil sie sich eine Therapie nicht leisten könne. Mich hat sie zum Therapeuten geschickt, kaum dass wir hierhergezogen waren, weil sie dachte, ich wäre vielleicht depressiv. Ich war ein paarmal dort, damit sie nicht weiter nervte, aber