WESTEND

Für B. A.

JÖRG ARMBRUSTER

BRENNPUNKT
NAHOST

DIE ZERSTÖRUNG SYRIENS
UND DAS VERSAGEN
DES WESTENS

WESTEND

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ISBN 978-3-86489-538-8
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

1 Damaskus 2011

2 Reportagen aus einem zerrütteten Land

ALEPPO, Rebellenland, OSTERWOCHE 2013

DAMASKUS, Assad-Land, SOMMER 2012

Assad und sein Clan

AZAZ, Rebellenland, OSTERWOCHE 2013

Religiöse und ethnische Minderheiten in Syrien

DAMASKUS, Assad-Land, SOMMER 2012

Shabiha-Miliz

Menschenrechtssituation

Flüchtlinge

Annan-Plan und die UN-Mission UNSMIS

ALEPPO, Rebellenland, OSTERWOCHE 2013

Aleppo

DAMASKUS, Assad-Land, SOMMER 2012

Armut in Syrien

Syrische Oppositionsgruppen

ALEPPO, Rebellenland, OSTERWOCHE 2013

Stichwörter zu Islamisten und Djihadistengruppen

DAMASKUS, Assad-Land, SOMMER 2012

Christliche Kirchen in Syrien

Monsignore Elias Toumeh, Weihbischof in Wadi al-Nasara, Homs

Michel Kilo über die zivile Opposition und die Perspektiven nach Assad

ALEPPO, Rebellenland, KARFREITAG 2013

Syriens Chemiewaffen

3 Syrien ist nicht Libyen!

Israel – der beste Feind

USA – der zaudernde Riese

Katar

Hisbollah – mehr als nur eine Miliz

Katar – ein riesiger Winzling

Iran – der Feind meines Feindes

Moskaus Syrien-Kalkül

Türkei

Deutsche Hilfe für Syrien

NGOs in Syrien

Ein russischer Freund

Türkei – vom Freund zum Feind

Alawiten

4 Das Alte am Ende?

»Verrat an den arabischen Völkern«

Syrien – teile und herrsche

Verraten und verkauft

Hundert Jahre später – Syrien

Hundert Jahre später – Irak

Muslimbrüder

5 Der syrische Teufelskreis

Vom arabischen Frühling zum blutigen Sommer

Die Muslimbrüder – ein tiefer Sturz

Syrien – im Griff der Gewalt

Ein Gedankenspiel: Friede möglich?

6 Chronik Syrien

1 Damaskus 2011

Ich hatte Glück bei meinem ersten Besuch in Damaskus nach Ausbruch der Aufstände, Reporterglück. Fast ein Jahr hatten wir auf die Visa gewartet; dann kam völlig überraschend die Einreisegenehmigung, wenn auch auf fünf Tage begrenzt. Das war im Dezember 2011. Die Aufstände gegen Assad drohten gerade zu kippen. Statt nur friedlicher Demonstrationen ging immer mehr Gewalt auch von den Rebellen aus. Zweifellos eine Antwort auf die Gewalt, mit der das Regime von Anfang an versucht hatte, die Proteste niederzuschlagen.

Im Dezember 2011 reisten wir also in die Hauptstadt dieses verschlossenen Polizeistaates, in dem es für einen westlichen Journalisten kaum möglich ist, einen unbeobachteten Schritt zu machen. Aber ich hatte ja Glück. Mit Hilfe der deutschen Botschaft in Damaskus gelang es mir, eine Oppositionsfamilie zu besuchen. Die deutschen Diplomaten hatten darauf verzichtet, laut und öffentlich die Demonstranten zu unterstützen, wie es ihre französischen und amerikanischen Kollegen getan hatten. Stattdessen hatten sie auf stille Diplomatie gesetzt. Sie hatten leise und unauffällig das Vertrauen verschiedener noch in Damaskus lebender Oppositioneller gewonnen und zu ihnen Kontakte aufgebaut. Eine schwierige Arbeit, denn jeden Kontakt eines Syrers zu einer ausländischen Vertretung wertet der Geheimdienst als Hochverrat. Umso erstaunlicher waren also diese engen Kontakte zu einigen Dissidenten. Wenigstens einen hätte ich gerne getroffen bei meinem Besuch. Die meisten winkten jedoch ab. Sie wollten keinen westlichen Journalisten treffen. Zu gefährlich, sie würden rund um die Uhr bewacht. Auf solche Treffen stehe Gefängnis, wenn nicht Schlimmeres. Einer war dann schließlich doch bereit, sich auf ein Gespräch mit mir einzulassen.

Heimlich, ein bisschen konspirativ, aber erstaunlich unkompliziert. Ein unauffälliges Treffen an der Kreuzung der Adnanal-Malki- und der Abdul-Mufti-al Riad-Straße mit einer Botschaftsmitarbeiterin, dann ein Taxi quer durch Damaskus, einmal gewechselt, schließlich ein kleiner Fußmarsch durch eine Plattenbausiedlung bis zu einem Hochhaus. Fahrt mit dem Aufzug in den zehnten Stock, dann noch zwei Stockwerke zu Fuß. Dann öffnete Mr. Samy Many die Haustür. Das war natürlich nicht sein richtiger Name. Den sollte ich erst viel später erfahren. Freundliche Begrüßung: »Schalten Sie bitte Ihr Mobiltelefon aus und lassen Sie es in der Garderobe. Die können uns auch über ausgeschaltete Telefone abhören. Wir gehen nach hinten.«

Zwei Stunden redeten wir. Ohne Kamera, aber mit einem Notizblock, den ich noch heute habe. Wenn ich meine Gesprächsnotizen lese, kann ich Samys politische Entwicklung zum Oppositionellen anhand meiner Stichworte nachzeichnen:

Sein erstes von mir notiertes Eingeständnis: »Hatte anfangs Vertrauen in die Reformbereitschaft Assads«, danach als Notiz: »Nichts ist geschehen. Jedes Vertrauen verloren« und schließlich: »fünf Jahre Gefängnis nach dem Damaszener Frühling 2001«, und immer wieder Samys Fazit: »Das Regime ändert sich nicht!«

Weitere Stichworte auf meinem Notizblock sind: »Korruption, Wirtschaftswunder in die eigene Tasche«, »die Wirtschaft in der Hand weniger« und schließlich »Fünfzig Prozent der Syrer unter Armutsgrenze. Hohe Arbeitslosigkeit. Große Unzufriedenheit.«

Ausführlich hatte er mir von den Foltermethoden der verschiedenen Geheimdienste erzählt. »Foltern ohne Grenzen«, das hatte ich mir notiert, denn das sei das Motto dieser Sicherheitsdienste: Vergewaltigung von gefangenen Frauen oder Männern, Fingernägel ausreißen, selbst bei Jugendlichen, Elektroschocks oder sechs Tage stehen am Stück, ohne sich anlehnen zu dürfen. »Wenn der so Gequälte in Ohnmacht fällt, dann wird er mit eiskaltem Wasser wieder aufgeweckt«, hatte er erzählt. Oft würden Gefolterte nach ein paar Wochen wieder freigelassen, damit sie draußen von dem Grauen erzählen. Das solle abschrecken und Menschen davon abbringen, zu Demonstrationen zu gehen. 150 000 politische Gefangene gäbe es im Augenblick, berichtete er mir im Dezember 2011. Westliche Menschenrechtsorganisationen bestätigen diese täglichen Schrecken in Syriens Gefängnissen. Einige sprachen damals allerdings von »nur« 30 000 politischen Gefangenen.

Und trotzdem gingen die Menschen auf die Straße, um zu demonstrierten. »Immer mehr würden es, auch wenn die Armee auf die Massen schieße. Die Mauer der Angst sei endgültig durchbrochen.« Samy war spürbar stolz auf seine unbeugsamen Syrer.

»Und was erwartest du vom Westen? Mehr Sanktionen?«, hatte ich ihn damals gefragt.

»Nein, Sanktionen bringen nichts. Die treffen nur die Armen. Das Regime bekommt sowieso immer, was es will. Ich hoffe, dass der Westen die Freie Syrische Armee militärisch ausrüstet und eine Flugverbotszone einrichtet.«

Das war Ende 2011. Seine Hoffnung wurde nicht erfüllt: keine militärische Aufrüstung außer Schutzwesten und Funkgeräte, keine Flugverbotszone, keine sicheren Korridore für Flüchtlinge. Mehrere Millionen Entwurzelte suchen inzwischen im Land irgendwo Schutz. Bald anderthalb Millionen sind in die Nachbarländer Türkei, Jordanien und Libanon geflohen. Außer Sanktionen und Flüchtlingshilfen keine weitere Unterstützung. Diese Sanktionen haben »die schlimmsten Auswirkungen auf die unteren sozialen Klassen« (nach Omar S. Dahi in Inamo, Jahrgang 19, Sommer 2013), schreiben Wirtschaftswissenschaftler des in Paris erscheinenden ›Syria Report‹.

In jenem Dezember 2011 meldeten die Berichterstatter 10 000 Tote, und die Welt gab sich erschrocken. Bis Juli 2013 hat die UNO über 100 000 Tote gezählt. Wirklich entsetzt ist aber kaum noch jemand, obwohl die Zahl der Opfer steigt und steigt. Auf beiden Seiten, der der Rebellen und der der Anhänger Assads. Und auf beiden sterben als erstes die Zivilisten. In Homs rückt die Assad-Armee vor, in Aleppo Djihadisten-Brigaden. Sie besetzen Stadtteile, die keine mehr sind, sondern Trümmerfelder. Geredet wird jedes Mal von militärischem Durchbruch. Tatsächlich hat sich im Sommer 2013 der Krieg festgefressen. Keine Seite scheint siegen zu können. Grund genug für einen Waffenstillstand. Eigentlich. Doch beide wissen genau, überlebt der Gegner, ist man selbst verloren. Der Hass sitzt zu tief, als dass Aussöhnung noch möglich zu sein scheint.

So weit war es im Dezember 2011 noch lange nicht, damals war es schwer, sich eine solche Entwicklung bis hin zur Unversöhnlichkeit vorzustellen. Damals glaubten viele, lange könne sich das Regime ohnehin nicht halten. Nach zwei Stunden daher als meine letzte Frage:

»Wie lange gibst du dem Regime noch?«

Seine Antwort – im Notizblock im Wortlaut mitgeschrieben:

»Es wird noch vier bis sechs Monate dauern. Länger nicht!«

So hatten damals, 2011 und auch noch lange 2012, die meisten gedacht und gehofft.

2 Reportagen aus einem zerrütteten Land

ALEPPO, Rebellenland, OSTERWOCHE 2013

Der Mann im Nachbarbett stöhnte bei jeder Bewegung, mehrmals schrie er kurz, manchmal war nur ein Wimmern zu hören. Er muss fürchterliche Schmerzen gehabt haben. Selbst atmen schien für ihn eine Folter zu sein, manchmal reichte seine Kraft nur noch zu einem langen und lauten Jammerlaut. Die Pfleger kamen immer wieder, um ihm ein Schmerzmittel zu injizieren. Das schien für einige Zeit zu helfen. Jedenfalls atmete er dann ruhiger. Vielleicht schlief er sogar. Wie lange weiß ich nicht, ich hatte selbst jedes Zeitgefühl verloren. Auch ich schlief immer wieder ein dank der Schmerz- und Schlafmittel, die mir die Pfleger über Kanülen in meinen Körper tropfen ließen. Vermutlich dämmerte ich ohnehin die meiste Zeit in dem kleinen karg eingerichteten Kriegslazarett in Aleppo in einem Zustand irgendwo zwischen Schlaf, Bewusstlosigkeit und Halbwachem, nachdem der Chirurg Dr. Amar meine zerschossene Arterie im Unterarm zusammengeflickt und die Kugel aus dem Magen herausoperiert hatte. Meinen zertrümmerten Arm noch verbinden, das war’s. Mehr hatte er in dem Notkrankenhaus nicht leisten können. Mein Leben hatte er durch die gekonnten Eingriffe gerettet. Ein kleines Wunder. Ich würde weiterleben. Wie schwer meine Verletzungen tatsächlich waren, konnte ich damals nur ahnen. Dass um mich herum Menschen starben, nahm ich auch nur schemenhaft wahr, teilnahmslos, fast apathisch, wie durch einen Nebelschleier, in den mich die Schmerzmittel gehüllt hatten.

Irgendwann – vielleicht am frühen Morgen des nächsten Tages – stöhnte der Mann im Nachbarbett nicht mehr, zu mir drang ein immer leiser werdendes Röcheln. Dann kam nur noch ein Wimmern. Dann kamen die Klageweiber. Angehörige schlugen weiße Leintücher um den Toten. Später erfuhr ich, er soll ein Handwerker gewesen sein, der sich auf Dachantennen spezialisiert hatte. Bei einer Montage am Vortag hatten Scharfschützen der anderen Seite ihn entdeckt und regelrecht abgeschossen.

Vielleicht eine Stunde nach dem Abtransport des Toten kam endlich der Krankenwagen, der mich zur türkischen Grenze bringen sollte. »Den brauchen wir eigentlich für unsere verletzten Kämpfer«, hatte Dr. Amar ursprünglich entschieden, dann aber doch einen für mich freigegeben, obwohl ich in seinen Augen nur ein leichter Fall war. Der Ostersamstag war aber ein verhältnismäßig ruhiger Tag in Aleppo, also einer mit wenigen Verletzten, mit wenigen Toten. Am Vormittag transportieren mich zwei Pfleger auf einer Trage zum Krankenwagen, vorbei an drei auf der Straße liegenden Toten. In weiße Tücher waren sie gehüllt. Auch sie waren in der Nacht im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen.

Dann – eine Stunde Holperfahrt durch die Schlaglöcher der Verbindungsstraße zur Türkei. Mein Freund und Kollege Martin Durm hielt meine unverletzte linke Hand und versuchte mich zu beruhigen. Wie eine Erlösung sein Satz: »Jetzt haben wir Aleppo hinter uns gelassen.« Schließlich hatte der Krankenwagen die syrisch-türkische Grenzstation bei Killis erreicht. Bab al-Salam heißt sie, Tor des Friedens. Vor einer Woche waren wir hier eingereist in den von den Rebellen kontrollierten Teil Syriens.

DAMASKUS, Assad-Land, SOMMER 2012

Der allererste Gang eines Auslandskorrespondenten in Damaskus führt zu Abeer, egal ob geschossen wird oder nicht, egal ob eine Bombe explodiert ist, egal ob der Heimatsender nach einem live oder einem schnellen Bericht ruft. An Abeer kommt kein Reporter in der syrischen Hauptstadt vorbei. Ohne Abeer geht nichts, mit Abeer geht allerdings auch fast nichts. Abeer ist im syrischen Informationsministerium zuständig für die ausländischen Journalisten, also für die feindliche Presse, so jedenfalls nimmt uns der syrische Geheimdienst wahr.

Hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus dunklem Holz sitzt sie. Das Büro groß mit den üblichen Assad-Bildern an Wänden, denen ein paar neue Bahnen Tapete nicht schaden würden. Ein Fernseher läuft mit syrischen Nachrichten: »Die heldenhaften Soldaten vertreiben die von den USA gesteuerten Terroristen.« Von einer syrischen Tragödie ist in diesem Fernsehprogramm nichts zu spüren. Wir sitzen in einer ausgeleierten Couchgarnitur im Stil des arabischen Barocks und sehen sie erwartungsvoll an. Ein paar Floskeln über die Hitze, die Schönheit des Souks sollen den Eispanzer brechen, der sie umgibt. Ist sie einigermaßen erträglich gelaunt, bringt eine verschüchterte Sekretärin Tee für uns, hat Abeer schlechte Laune, was nicht selten vorkommt, bekommt man nichts, was nicht weiter schlimm ist, der Tee ist ohnehin immer unerträglich überzuckert. Für uns gilt: immer freundlich bleiben, und wenn sie fragt, was man von Syrien hält, dann dreimal schlucken und vorsichtig andeuten, dass das Land sicherlich noch eine großartige Zukunft vor sich habe. Lächelt sie zufrieden, ist das die beste Gelegenheit, Dreh- und Interviewwünsche vorzutragen. Sie hört zu, runzelt die Stirn, gleicht in ihrem Kopf unsere Wünsche mit den Vorschriften ihrer Vorgesetzten ab. Dann kommt die Sache mit dem Daumen. Sie ist gewissermaßen der publizistische Daumen des Regimes. Sie hebt oder senkt ihn bei Visa, sie hört sich gelangweilt an, was und wo wir drehen wollen, und wieder entscheidet ihr Daumen oben oder unten über ja oder nein. Erst wer diesen Bittgang erfolgreich hinter sich gebracht hat, kann seine Kamera auspacken und mit der Arbeit anfangen.

Alle fünf Tage wiederholt sich diese Prozedur. Alle fünf Tage muss die Dreherlaubnis erneuert werden. Allerdings, wer glaubt, mit einem Brief von Abeer einen Freifahrtschein für Dreharbeiten in der Tasche zu haben, irrt. Spätestens an der nächsten Straßensperre kann der Kommandant ein Drehverbot erteilen. Keine Dreherlaubnis für diesen Stadtteil, in dem gerade noch gekämpft worden war, keine Dreherlaubnis an dieser Moschee, die Kamera könnte Demonstrationen provozieren, keine Dreherlaubnis an jener Straßenkreuzung, dort stehen zu viele Soldaten. Keine Dreherlaubnis hier, keine dort. Höchstens mal ein Interview. Aber was heißt hier schon Interviews? Die Antworten sind immer dieselben, egal wen man fragt; denn neben der Kamera steht ein Begleiter des Informationsministeriums, der genau zuhört. Es wäre also verwunderlich, wenn jemand Kritik an Assad riskierte. Er müsste jederzeit mit einem Besuch des syrischen Geheimdienstes rechnen. Und der ist nie zimperlich mit Assad-Gegnern umgesprungen. Aus dem Machtbereich der Assads berichten zu müssen ist eine undankbare Aufgabe.

Assad und sein Clan

Baschar al-Assad: Präsident Syriens seit 2000, geboren am 11. September 1965, in den achtziger Jahren Ausbildung zum Augenarzt in London. Nachdem sein Bruders Basil, der als Nachfolger seines Vaters Hafiz al-Assad vorgesehen war, am 21. Januar 1994 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, wurde Baschar als Nachfolger aufgebaut.

Unter seiner Ägide ermöglichte der Präsident von 2000 bis 2001 den »Damaszener Frühling«, erlaubte Debattierclubs der Opposition und versprach, das Land politisch zu öffnen. Das Ergebnis: Trotz wirtschaftlicher Öffnung des Landes setzte eine brutale politische Verfolgung ein.

Mahir al-Assad (*1967), Kommandeur der Republikanischen Garde in Damaskus; ihm wird ein aggressiver und unkontrollierter Charakter nachgesagt. Er befehligte 2008 die Niederschlagung eines Gefängnisaufstandes in Saidnaya. Im Internet gibt es ein Video, in dem er dabei mit seinem Mobiltelefon Bilder von toten politischen Gefangenen macht.

Im Zuge der Proteste 2011 in Damaskus habe er persönlich auf Demonstranten geschossen. Bei einem Bombenanschlag in Damaskus am 18. Juli 2012 soll er ein oder sogar beide Beine verloren haben und sich seither in lebensbedrohlichem Gesundheitszustand befinden.

Assef Schawkat (*1950 in Tartus; † 18. Juli 2012 in Damaskus), Schwager von Baschar und Mahir al-Assad, war Generalmajor und seit 2009 Stellvertreter des syrischen Generalstabschefs. Zuvor war er vier Jahre lang Chef des syrischen Militärgeheimdienstes. Er soll bei der Ermordung des libanesischen Politikers Rafiq Hariri eine Schlüsselrolle gespielt haben. Wurde bei dem Anschlag am 18. Juli 2012 in Damaskus getötet.

Fawaz al-Assad und Munzer al-Assad. Beide Cousins von Baschar al-Assad, sollen Chefs der sogenannten der besonders grausamen Shabiha-Miliz sein.

Rami Machluf (*1969) gilt als der reichste Geschäftsmann Syriens, Cousin ersten Grades des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Besitzer der syrischen Telekom. Außerdem kontrolliert er Duty-free-Shops, Freihandelszonen, Immobilien- und Bankgeschäfte. Es wird gesagt: kein Geschäft in Syrien ohne Rami.

Hafi z Machluf, ein Vetter Baschar al-Assads, hat ebenfalls einen führenden Posten in einem der Sicherheitsdienste. Er und sein Bruder Rami sind Neffen von Anisa Machluf, der Ehefrau des verstorbenen Präsidenten Hafis al-Assad. Möglichweise bei dem Anschlag am 18. Juli 2012 getötet.

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Junge Syrer aus der neuen Oppositionsbewegung in Damaskus zu treffen ist für ein Fernsehteam fast ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu sind wir mit unserem schweren Gerät zu auffällig. Verlassen wir unser Hotel, dann greift irgendein in der Lobby herumlungernder Geheimdienstler sofort zum Mobiltelefon und macht Meldung. Und ohne Begleiter dürfen wir ohnehin nicht mit unserer Kamera auf die Straße.

Bei unserem Besuch im Juni 2012 hatten wir es dennoch versucht. Per E-Mail und mit Hilfe der in Berlin ansässigen Organisation »Adopt a Revolution« hatten wir Kontakt zu einer Gruppe von Studenten in Damaskus aufgebaut, Mitglieder der unabhängigen »Union freier syrischer Studenten«, die sich als Gegengewicht zu den staatlichen Studentenverbänden gegründet hatten. Die Berliner Aktivisten hatten immer wieder geklagt: »Ihr berichtet nur über Gewalt in Syrien. Dabei gibt es auch immer noch die friedliche Opposition.« Leider nicht ganz falsch. Aber wie berichten, wenn der Kontakt fehlt?

Über mehrere Tage zog sich der Austausch der Mails hin. In einer der Nachrichten bestätigten die Studenten, die sich natürlich nur unter einem Decknamen meldeten, für sie kämen nur friedliche Mittel zu einem Umsturz in Frage, Gewalt führe unweigerlich zu noch mehr Gewalt. Sie hatten sich daher nur an friedlichen Demonstrationen beteiligt, sie wussten aber auch, dass der Geheimdienst hinter ihnen her war und auf eine Möglichkeit lauerte, sie festzunehmen. Und was das für jeden einzelnen bedeuten würde, wussten sie nur zu gut: endlose Verhöre, Folter, vielleicht sogar der Tod. Das war ihr Risiko bei einem Treffen, unseres im ungünstigsten Falle die Ausweisung.

Dhu al-Himma Schalisch ist der Cousin des Präsidenten und ist mitverantwortlich für dessen Sicherheit. Die US-Regierung verhängte wegen mutmaßlicher Waffenlieferungen in den Irak Sanktionen gegen ihn.

Der Machluf-Teil des Assad-Clans sichert ihn finanziell ab.

Die Assads selbst sichern die Macht des Clans durch Militär, Geheimdienste und Milizen ab.

Rifaat al-Assad ist ein jüngerer Bruder von Hafiz al-Assad. Er lebt in Europa im Exil und rechnet sich selbst zur Opposition. Die meisten Oppositionellen wollen mit ihm jedoch nichts zu tun haben, da er die Kritiker Hafiz al-Assads, des Vaters von Baschar, einst genauso mit Gewalt niedergemacht hatte, wie dies heute Mahir al-Assad tut. Einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Hama 1981. Schlüsselpositionen in Armee, Geheimdienst und Milizen sind mit Alawiten besetzt, der Religionsgemeinschaft des Assad-Clans.

Die Baathpartei ist die zweite Stütze des Regimes.

Parteivorsitzender: Baschar al-Assad seit 2000.

Staatspartei mit säkularer panarabischer Ausrichtung.

Gegründet 1947 als pluralistische Partei mit dem Slogan ›Einheit, Freiheit, Sozialismus‹.

Wie im Irak putschte sich die Baathpartei auch in Syrien an die Macht, und zwar am 8. März 1963. Ab da Staatspartei mit totalitären Zügen. Die Mitgliedschaft in der Baathpartei war Voraussetzung, um in Syrien Karriere im Staatsdienst zu machen.

Im syrischen Parlament verfügt die Baathpartei schon immer über eine klare Mehrheit. Syrien ist also de facto ein Einparteienstaat, auch wenn die Baathpartei formal eine Koalition mit kleineren Blockparteien eingegangen ist.

Seit 2011 sind auch andere Parteien zugelassen, aber nur wenn sie nicht religiös ausgerichtet sind. Das Machtmonopol der Baathpartei wurde dadurch nicht gebrochen.

Und dennoch: Immer wieder versuchten wir uns zu verabreden, machten geheime Erkennungszeichen aus, legten Treffpunkte fest, versprachen die kleinste Kamera unserer Ausrüstung mitzunehmen, den Begleiter abzuschütteln und nur zu zweit zu kommen. Doch jedes Mal kurz vor dem Treffen kam diese Mail: »Es geht nicht. Zu viele Geheimdienstler im Stadtteil. Es ist zu gefährlich.«

Feststeht: Im Bürgerkrieg in Syrien gewinnen immer mehr die Radikalen die Oberhand, die sunnitischen Djihadisten und Terroristen aus den verschiedensten islamischen Ländern auf der einen Seite. Assad wiederum kann sich auf seine Unterstützer verlassen, auf die Mullah im Iran, die Kämpfer der Hisbollah aus dem Libanon und auf Russland, das fast nibelungentreu zu ihm steht. Doch es gibt diese ganz Mutigen immer noch, die fest daran glauben, sie könnten das Regime mit friedlichen Mitteln stürzen, die kleinen Gandhis und Mandelas, die an die Kraft konsequenter Verweigerung glauben, an den zivilen Ungehorsam, an die Stärke gewaltfreier Demonstrationen. Und das mitten in einem Meer von Blut, Schlachtfeldern, auf denen es keine Gnade gibt und mitten unter Religionskriegern, die sich inzwischen gegenseitig die Köpfe einschlagen, und das im Namen des gleichen Gotts. Auch wenn ich die Studenten der »Union freier syrischer Studenten« nie kennengelernt habe, sie haben meinen größten Respekt.

AZAZ, Rebellenland, OSTERWOCHE 2013

Azaz hämmert. Azaz bohrt. Azaz lärmt. Azaz ist Krach. Azaz ist ein ölverschmierter keuchender Dieselmotor, der das Gestänge eines Bohrturms antreibt. Jeden Morgen um sechs springt die Lärmmaschine an und treibt den Bohrkopf immer tiefer in Richtung Erdmittelpunkt, ohrenbetäubend und jeden aus dem Schlaf reißend, bis zehn Uhr abends geht das so. Natürlich stand diese Anlage neben dem Haus, in dem wir untergebracht waren, als wir das von den Rebellen kontrollierte Nordsyrien besuchten. Sie warf uns jeden Morgen um sechs Uhr von den Matratzen.

Azaz ist natürlich auch eine mittelgroße Stadt in Syrien und liegt nur wenige Kilometer entfernt von der syrisch-türkischen Grenze. Azaz – ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Norden des Landes. Straßen aus der Türkei kreuzen sich mit syrischen Straßen aus dem Osten oder Westen. 70 000 Menschen lebten hier zu Friedenszeiten, die meisten sind geflohen, dafür haben sich Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes hier niedergelassen. Vielleicht zehn- oder 20 000 Menschen leben noch zwischen den Trümmern der Stadt. Azaz ist eine Geisterstadt. Am 20. Juli 2012 hatten die Rebellen die Stadt erobert, doch Friede hat diese Befreiung den Menschen in der Stadt nicht gebracht.

Syriens Präsident plant offensichtlich, Azaz systematisch unbewohnbar zu machen, genauso wie auch andere von den Rebellen eroberte Städte. Regelmäßig lässt er die Stadt bombardieren. Das große Krankenhaus – durch seine Raketen zerstört. Ebenso Schulen, Moscheen und andere öffentliche Einrichtungen – alles in Trümmern. Kaum eine Straße ohne Ruinen. In Schutt und Asche soll die Stadt offensichtlich gelegt werden. Die Rebellenstädte sollen entvölkert, die Bewohner in die Flucht getrieben werden. Das scheint der Plan zu sein. Ein fast alttestamentarisches Strafgericht soll über das eigene Volk hereinbrechen, das es gewagt hat, sich gegen den König zu erheben. Nirgends sollen sich die Bewohner mehr sicher fühlen. Jederzeit können Raketen einschlagen, Bomben fallen, Granaten explodieren. Wie von den Göttern gelenkte Blitze aus heiterem Himmel. Terror pur gegen die eigene Bevölkerung.

Große Teile der Infrastruktur sind schon zerstört, Elektrizität, Müll, Kanalisation und die Wasserversorgung. Denn darunter leidet Azaz ganz besonders, wie überhaupt die meisten Städte und Regionen Syriens: Wassermangel infolge der Kriegszerstörungen, aber auch wegen einer seit Jahren andauernden Dürre. Daher bohren an verschiedenen Stellen in der Stadt Such trupps nach Wasser. Auch die Krachmacher vor unserem Haus sind Wassersucher.

»Wir brauchen Wasser, sonst können wir hier nicht mehr lange durchhalten. Das müsst ihr halt aushalten«, hatte unser Gastgeber und Führer Anwar uns gemahnt.

Anwar, ein Kämpfer bei einer Rebelleneinheit. Seine Kalaschnikow hat er für die Zeit unseres Besuchs in die Ecke gestellt, um uns durch das Kriegsgebiet führen zu können. Auch freute er sich, seine vor einem halben Jahr geborene Tochter nun öfters sehen zu können. Nach unserem Besuch will er zu seiner Kampfbrigade in Aleppo zurückkehren.

Er wird uns die nächsten Tage begleiten, als kundiger Führer und engagierter Oppositioneller. Anwar spricht begeistert von seinen befreiten Gebieten, fast so, als habe er ganz alleine die Truppen Assads vertrieben.

Am ersten Tag führt er uns nach Tel Rifa’at. Eine Kleinstadt, eine halbe Stunde von Azaz entfernt, eigentlich viel zu unbedeutend, um eine dramatische Rolle in diesem Bürgerkrieg spielen zu müssen – hätte die Stadt nicht das Pech, nur sieben Kilometer von einem heftig umkämpften Hubschrauberflugplatz entfernt zu liegen. Die Menschen dort – Bauern, Handwerker, ehemalige Staatsangestellte. Heute sind fast alle arbeitslos. Und auch hier, obwohl klein und unauffällig, in Tel Rifa’at erleben wir das Gleiche wie in größeren Städten wie Azaz oder Aleppo: Assads Staatsterror gegen die eigene Bevölkerung. Regelmäßig wird das Städtchen bombardiert, obwohl es militärisch keine wichtige Rolle spielt. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres sollen 25 Raketen in Wohngebiete eingeschlagen sein. Elf Meter lange aus Nordkorea stammende Scud-Raketen, die große Sprengköpfe transportieren, sollen es gewesen sein, erzählten uns die Einwohner.

»Die Rakete schlug ein, als die ganze Familie zusammensaß. Ganz plötzlich. Wir hatten nichts gehört. Keine Warnung. Nichts, plötzlich war sie da«, berichtet uns Khalid Nawaf, ein Mann mit fast weißem Haar, obwohl er erst Anfang vierzig ist.

Er führt uns in die Trümmerlandschaft, die einmal sein Haus gewesen war. »Es war halb zehn abends. Es gab nur Verletzte. Alhamdullilah. Jetzt haben wir nichts mehr, außer dem, was wir auf dem Leib tragen.«

Die Nächte in dem von den Rebellen kontrollierten Teil im Norden Syriens sind die gefährlichste Tageszeit für Zivilisten und Wohngebiete die bevorzugten Ziele von Assads Raketenoffizieren. Meistens abends oder mitten in der Nacht feuern sie ihre Geschosse ab, dann können Assads Strategen sicher sein, dass auf der feindlichen Seite der Front die Menschen beim Essen zusammensitzen oder nachts sich die Familien in ihren Häusern versammelt haben und schlafen. Raketenangriffe also immer zu Zeiten, zu denen möglichst viele Menschen getötet und unter den Trümmern verschüttet werden. Auch die Giftgasgranaten vom 21. August explodierten in den Vororten von Damaskus, zwei Stunden nach Mitternacht.

Bei unserem Rundgang durch die Straßen von Tel Rifa’at spricht Anwar einen Mann an und stellt uns ihm vor. Es ist Ahmed Abu Saif, Sprecher des neu eingesetzten Stadtrats von Tel Rifa’at. Solche Stadträte – in einigen Orten gewählt, in anderen von Militärkommandanten ernannt – sind die ersten Versuche, so etwas wie Ordnung in das Kriegschaos zu bringen und Selbsthilfe zu organisieren. Denn von außen kommt so gut wie keine Hilfe in das von den Rebellen kontrollierte Gebiet. Sicherheit sei das größte Problem, sagt der Sprecher des Stadtrats, Abu Saif, noch vor Wassermangel und dem fehlenden Strom.

»Wir sind dem Beschuss hilflos ausgeliefert«, klagt er, »wir können uns nicht wehren, wir haben keine Flugabwehrgeschütze. Wir können unsere Bürger nicht warnen. Selbst Blindgänger können wir nicht entschärfen.«

Dann klettert er mit uns auf ein Hausdach und zeigt uns einen runden Metallbehälter, ungefähr dreißig Zentimeter lang und fünfzehn Zentimeter im Durchmesser.

»Das ist ein Bomblet aus einer Streubombe, die ein Kampfflugzeug über uns abgeworfen hat.« Solche Streubomben verteilen ihre Bombenlast großflächig im Zielgebiet, in Wohngebieten zum Beispiel. Bis zu dreißig Prozent dieser Minibomben landen als Blindgänger und explodieren erst bei Berührung. Seit Wochen lag dieser kleine, aber mörderische Explosivkörper auf dem Dach, und niemand wagte ihn anzurühren. Aus gutem Grund. Denn diese heimtückischen Waffen können so eingestellt sein, dass sie bei der geringsten Berührung jeden zerreißen.

«Professionelle Bombenentschärfer gab es weit und breit nicht«, klagt der Stadtsprecher. Besonders Kinder seien gefährdet, die spielen den ganzen Tag im Freien und fassen alles an. »Noch nicht einmal Schulen haben wir, um sie wenigstens für ein paar Stunden von der Straße zu holen.«

Der engagierte Stadtrat Ahmad Abu Saif wird immer wieder auf der Straße von Bürgern angesprochen:

»Was sollen wir machen? Wir haben keine Arbeit.« Oder »Seit Wochen haben wir kein Wasser.« Viel versprechen kann er nicht, daher kommt fast immer als Standardantwort:

»Wenden Sie sich bitte an den entsprechenden Ausschuss. Vielleicht können die was machen.« Die neun Ausschüsse des Stadtrats versuchen die drängendsten Probleme der Bürger von Tel Rifa’at zu lösen, fehlendes Wasser, kaum Elektrizität oder das Krankenhaus, das immerhin mit Geldern aus Kroatien wiederaufgebaut wurde. Die zerstörte Schule wollten die Grünhelme von Rupert Neudeck, eine deutsche Hilfsorganisation, wieder einsatzfähig machen, doch sie mussten die Bauarbeiten im Frühjahr 2013 wieder einstellen. Die ständigen Luftangriffe waren zu gefährlich für die deutschen Freiwilligen. Einige Wochen später wurden sie an einem anderen Einsatzort von Islamisten entführt. Die beiden Deutschen des Teams kamen nach sieben Wochen wieder frei, der dritte Entführte, ein Deutsch-Syrer, erst Anfang September. Nichtsyrische Djihadisten hatten sie als Geiseln genommen. Die Geiseln erzählten nach ihrer Freilassung, zu den Kidnappern gehörten auch deutsch sprechende. Möglicherweise ist sogar eine islamistische Hilfsorganisation aus Deutschland in diese Entführung verstrickt.

Keinen Einfluss hat der Stadtrat von Tel Rifa’at auf die horrenden Lebensmittelpreise. In den meisten Städten bieten Händler zwar fast alles an, Tomaten, Kartoffeln, Obst, Auberginen oder Zucchini. Alles aber bis zum Fünffachen der früheren Preise. Für das gesamte Rebellengebiet müssen immer mehr Lebensmittel aus der Türkei importiert werden, auch weil die syrische Luftwaffe ihre Streubomben über Feldern abwirft, um sie so für die Landwirtschaft unbrauchbar zu machen. Kein Bauer wagt sich mit seinen Traktor auf einen Acker, der mit Bomblets verseucht ist. Wenn er überhaupt bezahlbaren Diesel für seinen Traktor bekäme. Benzin oder Diesel könnten die Bürger literweise in den Straßen kaufen. Händler haben es in Flaschen oder Kanister abgefüllt und bieten es zu horrenden Preisen an. Woher es stammt? Zwischen der Regierungsseite und der Rebellenseite gäbe es einen blühenden Schmuggel, erklärt uns Abu Seif. Die einzige noch arbeitende Raffinerie läge im von Assad kontrollierten Teil Syriens. Dort würden es Händler besorgen, in das Rebellengebiet schmuggeln und hier dann teuer verkaufen. Ein Bombengeschäft.

Wie in Azaz haben Kämpfer der Freien Syrischen Armee im Sommer 2012 auch in Tel Rifa’at die Truppen Assads zum Rückzug gezwungen. Ruhe hat diese Eroberung der kleinen Stadt aber ebenfalls nicht gebracht. Bombardierungen aus der Luft, Raketenbeschuss, einschlagende Granaten, all das gehört hier schon fast zum Alltag der Menschen. Ebenso wie fast jeden Tag Kriegstote. Ganze Straßenzüge sind zerstört. Kein Wunder, dass ein großer Teil der Einwohner in die nahe Türkei geflohen ist. Fast zwei Drittel sollen es sein. Viele der Menschen, die im Augenblick in Tel Rifa’at leben, kennt Abu Saif gar nicht, weil sie sich als Flüchtlinge aus dem umkämpften Aleppo gerettet hatten oder aus Dörfern nahe der Frontlinie, die sich jeden Tag verschiebt. Ständig kommen neue Flüchtlinge, oder Familien kehren in ihre Heimatdörfer zurück, weil dort die Gefahr vielleicht nachgelassen hat.

Religiöse und ethnische Minderheiten in Syrien

73 % der Syrer sind Sunniten.

Christen, etwa zehn Prozent, leben hauptsächlich im Großraum von Damaskus, Homs und Aleppo. Es gibt insgesamt elf christliche Konfessionen.

Alawiten, eine Abspaltung von den Schiiten, etwa zwölf Prozent, leben hauptsächlich im Nordwesten des Landes in Latakia und dem Gebirge Dschebel Ansariye.

Drusen, eine weitere Abspaltung von den Schiiten, etwa vier Prozent, leben an den Rändern des Golan im Dschebel ad-Duruz.

Schiiten, etwa ein Prozent, leben in Damaskus.

Jeziden, ein paar Tausend, werden meistens den Kurden zugerechnet, leben zwischen Aleppo und Afrin.

Juden, nur noch wenige in Damaskus und Aleppo, die meisten der ursprünglich großen Gemeinden (1943 ungefähr 45 000 insgesamt) sind ausgewandert.

Kurden, etwa 10 bis 13 Prozent der Bevölkerung, leben in Damaskus, in Aleppo und in der Provinz im Nordosten des Landes Al-Hasaka. Zahlen ungenau, da vielen in den sechziger Jahren die Staatsangehörigkeit entzogen worden war.

Armenier, etwa zwei Prozent der Bevölkerung, leben hauptsächlich in Aleppo und kleinere Teile in Damaskus.

Hinzu kommen Tscherkessen und Turkmenen als Minderheit und christliche aramäisch sprechende Assyrer.

Außerdem 476 000 palästinensische Flüchtlinge in und um Damaskus.

Während Abu Saif uns durch die Straßen von Tel Rifa’at führt, hören wir in der Ferne immer wieder dumpfes Grollen. Assads auf dem Hubschrauberlandeplatz eingeschlossene Armee beschießt die Belagerer mit Artillerie. Die antwortet mit Mörsergranaten.