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Ein Kaleidoskop ist dieses autobiographische Buch voller Geschichten, Verse, Reflexionen und Bilder. Seinen Ausgangspunkt nimmt es in Hellerau, der Gartenstadt am Rande Dresdens, dem Geburtsort des Autors. Weit strahlte das Modell der berühmten Lebensreformsiedlung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts über die Grenzen einer deutschen Vorstadt hinaus: Sie wurde Station für Kafka, Rilke, Benn und viele andere. Von hier aus zieht Durs Grünbein den Faden des Erinnerns immer weiter herein in die Epoche wachsenden Unheils. Lebenswege und Schicksale der Vorfahren väter- und mütterlicherseits, die Zerstörung Dresdens berühren den Kreis der eigenen, unmittelbaren Erfahrung und Erinnerung: an Elternhaus und Schule, an Lektüren und Lieblingsspielzeuge, an Freundschaften, erste Liebe und frühes Leid, an Berufswünsche, Träume, Phantasien und Phantasmen. An den unauflöslichen Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Weite und der bleiernen Erfahrung eines Lebens im Zoo. Entstanden ist ein erzählerisches Geflecht, in dem Geschichte und persönliches Erleben sich immer wieder kreuzen, nach Art eines objektiven Zufalls, wie es in der Sprache der Surrealisten heißt. Beschworen wird, in stilistischer Vielfalt und Brechung, das eindringliche Bild einer Kindheit und Jugend am Rand der Geschichte in den langen Sommern des Kalten Krieges.

 

Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, lebt in Rom und Berlin. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er den Georg-Büchner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis, den italienischen Pasolini-Preis und den schwedischen Tomas-Tranströmer-Preis.

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Durs Grünbein

Die Jahre im Zoo

Ein Kaleidoskop

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015.

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Der Verlag weist darauf hin, daß dieses Buch farbige Abbildungen enthält, deren Lesbarkeit auf Geräten, die keine Farbwiedergabe erlauben, eingeschränkt ist.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Familie Grünbein

 

eISBN 978-3-518-74229-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

 

Ouvertüre im nachhinein

Fischwaren

Das Große Gehege

Die Ohrfeige

Spielzeuge 1: Lokomotiven

Tag der Arbeit

Die Lehre der Photographie

Der Löffel

Die Schuluhr

Im Garten der Gartenstadt

Die Gründerhexe

Das Trafo-Häuschen

Kindertotenlieder

Spielzeuge 2: Das Luftgewehr

Der kluge Hans

Nämlich

Die Russen vor Dresden

Unheimliche Mutter

Ungetauft

Zoologische Internationale

Spielzeuge 3: Das Kaleidoskop

Der Rätselmeister

Fort von zu Hause

Danksagung

Meinen Eltern und wie immer …

Ouvertüre im nachhinein

 

 

Mit der Verläßlichkeit von Erinnerungen ist es, wie jeder aus Erfahrung weiß, nicht weit her. Dies zumindest haben Materie und Gedächtnis gemeinsam, daß sie ganze Welten verschlingen können, ohne daß die Oberfläche der Tage auch nur die leiseste Kräuselung zeigt. Tatsächlich können, so wie Gesichter, Stadtviertel, Straßenszenen im Klick einer Pupille verschwinden, ganze Lebensphasen und die zugehörigen Schauplätze und Gefühlslagen fortgewischt werden, als hätten sie nie existiert.

Ganz genau weiß ich aber noch meinen ersten Alptraum. Er hatte sich mir eingeprägt, weil er sich viele Nächte lang wiederholte. Bis dahin muß ich mit allem und allen verbunden gewesen sein, nach der Art der Naturvölker und Kleinkinder: Von diesem Moment an war ich nur noch das Einzelkind in seiner ganzen Verlorenheit und Verfehltheit. Der Ablauf war immer derselbe. Es geschah in unserem Haus in der Hellerau-Siedlung am Stadtrand von Dresden, das wir bezogen hatten, kurz bevor ich zur Schule kam, und es muß in der Zeit gewesen sein, da man das Lesen und Schreiben und die ersten primitiven Rechenformen erlernte.

Kaum war es dunkel und ich lag im Bett ausgestreckt, da begann sich der Raum nach oben zu weiten und um mich zu drehen. Aus großer Höhe sah ich mich selbst, winzig klein, da unten in meinem geblümten Schlafanzug liegen. Über der Kammer, die nur eine Schiebetür mit Milchglaseinsatz vom Schlafraum der Eltern trennte, der uns tags als Wohnzimmer diente, war das Haus aufgebrochen. Die Decke hatte sich wie die Himmelsluke eines Observatoriums zur Nacht hin geöffnet. Zwischen mir und dem Weltall gab es kein Dach mehr, und über den Kleiderschränken begann nun das Firmament. Ich war dem feuchtkalten, unfaßbar schwarzen Außenraum ausgesetzt und hatte das Gefühl, mit großer Kraft nach draußen gesogen zu werden. Mein Bett, mein geliebtes Bett bot keinen Halt mehr, der einzige Ort, an dem ich geschützt gewesen war vor den Attacken der Welt. Ich war jener unglückliche Kosmonaut (man gebrauchte damals den offiziellen sowjetischen Ausdruck, Astronauten waren nur Amerikaner), der versehentlich durch eine Klappe aus seiner Raumstation gefallen war und nun abgenabelt und abgekabelt umhertrieb. Was mir Angst machte, war, daß ich nicht nur äußerlich keinen Halt fand in dieser Dunkelheit, in der es kein Oben und kein Unten mehr gab, sondern daß es sich anfühlte, als sei auch mein Schädel geöffnet worden und das Gehirn freigelegt, einem gekappten Frühstücksei gleich – wozu mir deutlich das ringförmige Küchenwerkzeug mit dem Scherengriff vor Augen stand, mit dem ein Teil der Verwandtschaft die gekochten Eier bei Tisch köpfte. Ein kühler kosmischer Hauch wehte mir um die Stirn, ich fror am ganzen Körper und war verloren bis in den kleinen Zeh. Eine grenzenlose Angst hatte mich erfaßt, eine im urtümlichen Sinn panische Furcht, mich auflösen, mich ausströmen zu müssen ins All. Die Eltern vergruben sich währenddessen im Nebenzimmer in ihren Betten und konnten oder durften mich nicht retten, so erbärmlich ich auch wimmerte. Mir schien, sie waren kilometerweit von mir entfernt. Zu Anfang war Mutter noch aufgestanden und hatte mich zu beruhigen versucht. Im Grunde aber verstand auch sie wenig von meiner Not, und ihre freundliche Ignoranz schnitt mir ins Herz. Der Vater brummte immer nur aus dem Hintergrund, ich solle die Albernheiten doch lassen. Später hat auch Mutter es aufgegeben, mir noch Glauben zu schenken, wenn ich zitternd vor Kälte von meinen Irrfahrten durch den Weltraum erzählte. Untröstlich blieb meine Lage. So schlief ich dann leise greinend irgendwann ein unter den fühllos blinkenden Sternen.

Von da an veränderte sich alles, und nichts war mehr wie in den Jahrhunderten meiner Kindheit zuvor. Heute scheint mir, als hätten gewisse Dinge in meinem Leben seither einen etwas eigentümlichen Verlauf genommen, eine Ablenkung, wie schwach auch immer, aber mit jedem Tag deutlicher, vom normalmenschlichen Kurs. Ich weiß kein besseres Wort dafür als Aberration, ein Terminus, nach allen Seiten hin ausstrahlend, der sich mir später im Astronomieunterricht einprägte. Dabei sah man es überall: Kein Individuum, das nicht auf seine Weise von der Art abwich. Kein Blick zum Sternenhimmel, bei dem die Gestirne sich nicht scheinbar vom Beobachter wegbewegten, wenn ihn der Schwindel der Erdumdrehung erfaßte. Kein Bild, das nicht seine optischen Täuschungen mitbrachte. Ich habe keine Ahnung, wofür diese Serie von Angstträumen gut war, aber sicher bin ich mir, daß sie damals einen Strich zog durch das noch kaum erwachte Bewußtsein. Ich war sieben, als die Gewißheit der Sterblichkeit mich streifte, das Gefühl des Ausgesetztseins im All.

Fischwaren

1

Aufgewachsen bin ich in einem alten Dresdner Mietshaus, das der Krieg begnadigt hatte; es gehörte jedenfalls nicht zu den zwanzig Prozent, die über Nacht wie vom Erdboden verschluckt wurden. Das graue Eckhaus, ein Gründerzeitkasten mit blatternarbigen Mauern, lag an einer der vielbefahrenen Straßen des Stadtteils, dessen Name mir später noch zwei Mal als Echo entgegensprang – aus der römischen Geschichte und aus der Literatur der Goethezeit – und also von weit her geholt schien: Cotta.

Das Haus stand als einziges seiner Art frei. An die Geräuschkulisse ringsum kann ich mich lebhaft erinnern, wenn ich die Augen schließe, in letzter Zeit kehrt sie manchmal im Halbschlaf zurück. Ein herzerfrischender Lärm lag in der Luft dieses Viertels. Es ging dort zu wie auf einer venezianischen Bühne in den Zeiten der Commedia dell'arte. Am liebsten wurde Goldoni gespielt, »Krach in Chiozza«. Jemand riß plötzlich ein Fenster auf und schrie hinaus in den Garten, in dem an langen Leinen zwischen Obstbäumen die Wäsche trocknete. Ein Preßlufthammer tanzte um den Bordstein. Oder ein Fußball knallte gegen die Brandmauer, die das Grundstück von der nächsten Parzelle trennte. Wenn die Straßenbahn um die Ecke rasselte, wurde das ganze Gebäude wach gerüttelt. Die Fensterscheiben klirrten jedesmal von den vorüberrumpelnden gelben Waggons der Linie 1, der ältesten, die schon damals eine Stadtlegende war. Nur in dem Fischladen im Erdgeschoß, an der stilleren Seitenstraße gelegen, blieb es auffällig ruhig. Vor den Mäulern der nach Luft ringenden Fische verstummte, wie unter Wasser, das Rauschen der kleinen Vorstadtwelt.

Unterm Dach lag die kleine Wohnung der Eltern, durch das Treppenhaus mit den ausgetretenen Sandsteinstufen über ein paar zusätzliche Holzstiegen erreichbar. Es war keine Wohnung, eher ein Taubenschlag. Ein langer, schlauchartiger Flur führte zu dem einzigen Zimmer, das ihnen gehörte. Küche und Bad teilten wir uns mit der Vermieterin, einer Märchengreisin, nahezu hundertjährig, mit schlohweißem Haar, seit langem Witwe: Sie hatte das Zeug zur Wahrsagerin. Das alte Weiblein hat meine Mutter einmal damit erschreckt (und nachher entzückt), daß sie im Flur vor dem Spülstein das Kind aus ihren Armen an sich heranzog und ihm aus der Hand las. Da fiel ihr das tief in den Babyspeck eingezeichnete M auf, und sie fing an, hexenhaft zu kichern, eine uralte Hexe des guten Willens.

Im Erdgeschoß wohnten die Großeltern. Sie hatten das junge Paar, das dankbar war für das Stück raren Wohnraums, in ihre Einflußsphäre gelotst, eine praktische Lösung für alle. Das klassische Trio Vater, Mutter, Kind hielt sich oft auf da unten, wo das Gemäuer und der Steinboden kälter waren, bei den Altvorderen, die weniger beengt hausten als die studentischen Turteltauben oben mit ihrer einzigen Brut.

Die Zimmer der Großeltern grenzten an die Verkaufs- und Lagerräume jenes Fischladens. Man brauchte nur dem Geruch zu folgen, einmal ums Haus herum, schon stand man vor einem Aquarium, las überm Eingang das verblichene Schild mit der Aufschrift »Fischwaren« und hatte den Hafen erreicht. Die Benennung war absichtlich so abstrakt gehalten, um die wilden Phantasien zu unterdrücken. Man fuhr nicht auf Meere hinaus bei dem Wort Waren, man war sofort eingestimmt auf die schütteren Reihen von Konservenbüchsen und Einmachgläsern voll trüber Tunke, die einen drinnen erwarteten. Daß Fisch nicht stinken darf, nicht, wenn er frisch ist, lernte ich erst in einem späteren Leben.

Der Geruch war auch der Grund für die niedrigen Mieten, die man in den davon heimgesuchten Häusern bezahlte – ein Vorteil, der den Großeltern seit den späten zwanziger Jahren, den Zeiten allgemeiner Arbeitslosigkeit, zugute kam. Damals kannten nur Zeitungsleser den Namen Hitler, aber jeder Dresdner wußte, was das Handelshaus »Paschky/Seefische« an Köstlichkeiten zu bieten hatte – das zweifache S-c-h las sich als eine Verheißung von Frische und Meeresrauschen. Noch im Jahr 1936, anläßlich der Reichsgartenschau Dresden, warb der Familienbetrieb damit, seit einem halben Jahrhundert Garant zu sein für beste Qualität. Er war der Vorläufer jenes Ladens mit dem Zeichen der Handelskette HO, denn selbstverständlich war ein Unternehmen wie dieses, geschäftstüchtig und weltmarktverbunden, beim Umsturz aller Verhältnisse, im Zuge der Landesteilung als Unternehmen vertrieben worden. Was den Geruch um kein Jodmolekül minderte.

 

Wahrscheinlich rührt daher die stille Phobie, die mich vor Fischgerichten bis heute erfaßt. Sie können so köstlich zubereitet sein, wie es der Chefkoch versteht, immer höre ich den Alarmton, wenn auf dem Teller ein Kabeljau auftaucht, eine filetierte Forelle oder ein Loup de mer mit lupenrein weißem Fleisch. Widerlich sind mir die fetten Karpfen mit ihren schartigen Moosbuckeln, die ich noch vor mir sehe, wie sie auf dem Küchenbrett aufgebahrt lagen, immer um die Weihnachtszeit, als fette Leichname, mit den vom Verröcheln weit geöffneten Mäulern.

 

An ihnen war nichts Segensreiches, es waren tote Fische, vor denen mir graute. Sie bringen mir die schmale Küche in Erinnerung, das Außenklo eine halbe Treppe tiefer und den grausigen Porzellanglanz der Badewanne im Waschabteil nebenan, in der die Karpfen die letzten Stunden lebend verbrachten, gegen die schadhafte Emaille klatschend – dieselbe, auf Vogelklauen stehende Badewanne, in der ich von Kopf bis Fuß abgeschrubbt wurde, wobei mir beim Haarewaschen der Seifenschaum in die Augen geriet. Wild strampelnd stand ich unter dem klobigen Wasserboiler, tobte und schrie, woraufhin der lärmempfindliche Großvater sich in die Küche verzog. Lange saß er dann dort, die Unterarme entblößt. Auf den linken war, knapp über den Pulsadern, ein Ochsenkopf tätowiert, sein Blau verblaßt wie das Dekor verwaschener Tischdecken. In seiner Lehrzeit als Metzgerjunge hatte er ihn sich stechen lassen, eine Jugendsünde, wie die Frauen der Familie gern lästerten. Hatte er erst einmal die Bierflasche geöffnet, konnte er sich regelrecht einrichten dort und stundenlang Audienz halten neben dem Herd mit dem gargantuesken, gurgelnden Kochtopf, in dem ein paar Fischköpfe glotzäugig schwammen. Bei einer solchen Gelegenheit muß es gewesen sein, daß er dem Fünfjährigen, die Zigarette auf dem Herdrand abgelegt, einen Schluck aus der Pilsnerflasche anbot – amüsiert, als das Kind nach der Kostprobe sich schüttelte. »Schmeckt nicht, ist bitter.«

Großvater war von Beruf Fleischhauer, ein Mensch, der den größeren Teil seiner Lebenszeit im Stehen verbracht hatte, mit dem Ausweiden geschlachteter Rinder und Schweine befaßt. Auf keine andere Tätigkeit, scheint mir, hat die Bezeichnung Schinderei jemals besser gepaßt. Wenn er nach einem schweren Arbeitstag im Schlachthof nach Hause kam, setzte er sich auf seinen müden Hintern und blieb so, in thronender Position, sitzen, bis es Zeit war, ins Schlafzimmer zu wechseln. Es war eine Angewohnheit, die er mit Erreichen des Rentenalters noch einmal ausbaute. Niemand aus der Familie hat je so ausdauernd dasitzen können wie er. In den letzten Lebensjahren hatte er es darin zur Vollendung gebracht: Aus dem Schlachtermeister war die Statue eines sitzenden Buddha geworden, freilich eines, der fast niemals lächelte.

Er konnte stundenlang ausharren auf seinem Stammplatz am unteren Ende des Wohnzimmertisches. Dieser blieb stets für ihn reserviert, mit einem Kissen im Rücken, das sein Revier markierte, dem Fernsehapparat gegenüber. Meistens lief irgendeine Tiersendung, wenn wir ihn am Nachmittag besuchten. Entweder war es der Fußball, der ihn alles ringsum vergessen ließ, oder es ging um Tiere, zumeist solche, die in Gefangenschaft lebten. Ein Zoodirektor stellte seine inhaftierten Menschenaffen vor wie entfernte Verwandte. Nicht jeder Orang-Utan war so geistesgegenwärtig, sein bekümmertes Bratpfannengesicht rechtzeitig abzuwenden. Mancher Gorilla, der es sich auf dem Autoreifen bequem eingerichtet hatte, winkte nur müde ab und vergrub die schlanken Hände im Fell. Dann schmückte sich der geschwätzige Tier-Impresario zur Abwechslung mit einem Totenkopfäffchen, das ihm auf der Schulter herumtanzte. Großvater sah sich das alles an, gab aber nie einen Kommentar dazu ab. Man konnte sagen, er hielt diesen Versuchen, sich bei den Tieren anzubiedern, eisern stand, wie einer, der ein Betriebsgeheimnis kannte, so furchtbar, daß er sich hütete, uns davon zu erzählen.

 

Es war jedesmal eine mittlere Sensation, wenn er überhaupt den Mund auftat. Alles, was über kurze Begrüßungen hinausging, lief schon Gefahr, als geschwätzig zu gelten. Er hatte einen festen Händedruck, und seine Hände erinnerten mich an die feuchtkalten, schweren Fleischpakete, mit denen er die Sippe versorgte. Seine Augen waren oft gerötet, man konnte sagen blutunterlaufen – vom Wasserdampf, dem er häufig ausgesetzt war, an den Brühanlagen im Schlachthof und von allem, was ihm entgegenspritzte, wenn er die Schutzbrille aufzusetzen vergaß. Er saß, wenn wir eintraten, auf seinem Stammplatz, wandte sich kurz um, gab uns die Hand, wobei der blaue Unterarm aufblitzte, dann starrte er wieder geradeaus, in seinem Nirwana mit dem Flimmern des Bildschirms eins. Während der Familienunterredungen, in Phasen des Klatsches, aber auch bei Anflügen echter Konversation mit meiner Mutter, behielt er immer den Fernseher im Blick.

Er sah das Elefantenjunge, noch wackelig auf den Beinen, in seinem engen Verschlag aus Bunkerbeton, beobachtete genau die Giraffe, wie sie sich umständlich herabbeugte, um dem Pfleger die Hand zu lecken. Aber die Feuchtigkeit hinter den Brillengläsern hatte nichts mit Tränen der Trauer zu tun, sie war eine Berufskrankheit. Dieser Stoiker des Sitzens verzog keine Miene, doch er schaute sich alles aufmerksam an: Flamingos bei der Morgentoilette, das Paarungsverhalten der Hyänen und die mühsame, fast halsbrecherische Art, mit der ein Kamel sich in die Liegeposition brachte, während die Kiefer ununterbrochen weitermahlten. Derweil brütete er seine eigene Theorie vom Sitzen aus, die anscheinend tief hinabreichte bis zu den Wurzeln unseres Stammbaums.

Denn keiner der lebenden Verwandten konnte sich mit seiner Beharrlichkeit messen. Verglichen mit ihm, waren wir alle, stets auf den Beinen und immerfort geschäftig, nur flüchtige Erscheinungen, sinnlos umherirrend wie jene Springböcke in den Savannen Afrikas, die über den Bildschirm huschten.

Ich kann mich nicht erinnern, den Tierparkchef, diesen armseligen Komiker, je vor der Kamera mit einem Krokodil gesehen zu haben. Dabei wäre ihm sicher das Scherzen vergangen. Auch wurden in seiner Sendung niemals Haie vorgeführt oder sonst eine Fischart, harmlos oder gefährlich. Grund dafür war wohl der niedrige Evolutionsrang dieser Lebewesen, Lurche und Kriechtiere inbegriffen. Mit Ausnahme der Schlangen, Boas und Pythons, die man sich fernsehtauglich um den Hals schlingen konnte, waren diese Kreaturen allesamt wenig präsentabel, als Bildschirmlieblinge ein Reinfall. Großvater beschwerte sich selten, aber manchmal zeigte er seinen Unmut über das immergleiche zoologische Repertoire. »Heute wieder Schimpansen«, knurrte er dann und sah mir verschwörerisch in die Augen.

2

Das Licht war anders – damals in den Vorstadtstraßen

Der ausgeglühten, leergeräumten Stadt. Die Morgenfrühe,

Auroras Mündungsfeuer, schmierte auf die Häuserkästen

Ein zähes Rot, das kämpfte mit den braunen Untergründen,

Und was sich zeigte, war das Grau, das Grau des Neuen.

Verwunschen war das meiste, eingeschläfert unterm Blick

Des Kindes, das dort umging, märchenstill, alleingelassen

Beim Spielen oder Kleingeldsammeln oder Zeittotschlagen.

Stunden vergingen so im Schatten der an Wäscheleinen

Erstarrten Hemden, Socken, nach der Größe aufgehängt.

Ein Nachmittag verrann vor einem morschen Bretterzaun,

An dem man jedes Astloch kannte, jeden krummen Nagel,

Den einer lange vor dem Krieg dort eingeschlagen hatte.

Einmal ein Wespenstich, das war schon großes Abenteuer,

So ungeheuerlich, daß sich die Welt im Aufruhr drehte

Draußen vorm Hoftor – und dann ruckhaft innehielt

Mit ihren Eisverkäufern, Hunden, gelben Straßenbahnen

Bis hin zum letzten Pflasterstein, den Fliegen an der Wand.

 

Einen Fischladen gab's da, umschwärmt von den Katzen

Des Viertels, zögernd, wenn sie den Bordstein beleckten,

Der vom Spülwasser feucht war, von Gräten und Köpfen.

Efeu krallte sich in den Mauerputz. Der lästige Friedhofsfilz

Säumte den Eingang zu einer Grotte aus falschem Marmor.

Ein Mann stand davor, in Gummischürze, sich lange kratzend.

Das Schaufenster war ein Aquarium, meistens leer.

Hier blieb er gern stehen, sah durch die trübgrünen Schleier

Ein Becken, in dem Forellen und Karpfen um Atem rangen.

Durch und durch gingen die schartigen Rücken ihm, Mäuler,

Röchelnd geöffnet, Kiemen, zum stummen Leiden bestimmt.

Am Grund blinkten Schuppen im Algensud. Durch die Scheiben

Sah er im Ladeninnern dem Schlachten zu, in stiller Hypnose.

 

Manchmal war Kundschaft da. Und wie konnte das sein,

Daß der Mann mit dem Einkaufsnetz ins Leere starrte und pfiff?

Daß die Kiemen noch lang auf dem Richtblock matt klappten?

Daß ein Lichtstrahl die Kasse zum Glühen brachte und keiner

Die Fliegen vertrieb, dreiste Bande? Wie konnte das sein?

Hinterm Ladentisch spielte ein Radio süßliche Schlager.

»Lauf nach Hause zu Muttern!« Aber ich wohnte doch hier …

Es war nicht traurig, das Kerlchen im Ringelhemd, nur,

Was sollte es bei den Mädchen auf der anderen Straßenseite,

Den kichernden Mädchen mit ihrem Himmel-und-Hölle-Spiel?

Sollte es Springseiltanzen, sich verstricken lassen in Bänder,

Geknüpft aus den Schlüpfergummis ihrer rüstigen Mütter?

 

Hügelab, hügelan fuhr mit klapprigen Wagen die Straßenbahn,

An blinden Fenstern vorbei, Häusern, geduldig wie Leguane.

Ungute Stadt – der nichts geblieben war als ihr Schatten.

In den Strombügeln spielte der Wind einen langsamen Satz.

Dabei dachte er oft, an der Elbe zu angeln – die lag so nah.

Nie was gefangen, doch die Fische im Laden taten ihm leid.

Die Büchse Erinnerung, ein altes Blech voller Regenwürmer:

Man öffnet sie, und Kindheit, das Erbärmliche, weht einen an.

3

»Dem Sozialismus kann keiner entfliehen.«
Walter Ulbricht

 

Immer noch liegt er dort

In aller Unfrische auf dem Straßenpflaster

Der erste verdorbene Fisch den ich sah

Alles war Fisch damals nicht nur im Regen

Die Bänke Plakate die Zifferblätter es gab sie

Die schlierigen Himmel die schlechte Stimmung

Den Schriftzug Orwo Karma-Kosmetik Malimo

Das »HH« jeder Haltestelle beim Warten

Und die unmöglichen Blusen die Schuhe BHs

Die glänzenden Kniekehlen schwitzender Mütter

Die Kälte der Zäune den Sozialismus

Dem keiner entfliehen konnte

 

Fisch es schüttelt mich Fisch

Du bist mir noch eine Antwort schuldig

4

Daß dieses kleine, rundum verschlossene, neurotische Land eine eigene Hochseeflotte unterhielt, gehört zu den vielen Unbegreiflichkeiten jener Jahre. Man war von der Welt abgeschnitten, machte Front gegen die Nachbarn im Westen und später auch die im Osten – und leistete sich währenddessen eine stattliche Anzahl von Schiffen auf allen Meeren. Vor Westgrönland und bis in die Fanggründe vor der Küste Argentiniens wurden die Hochseefischer aus dem Schattendeutschland gesichtet. Fischerei und Handelsmarine waren ein beliebtes Thema in den Zeitungen. Hier ließ sich das überschüssige Fernweh in die vernünftigen Bahnen von Technikbegeisterung und das naturbeherrschende Pathos der Fünfjahrespläne lenken.

Ich erinnere mich, wie ich nachts am Radio unter der Bettdecke ergriffen den Schiffsmeldungen lauschte. Der Heimathafen hieß immer Rostock, es gab für den Überseeverkehr nur den einen. Mich aber interessierten die Positionen da draußen, tausende Seemeilen entfernt, Hafenstädte wie Paramaribo, Bombay oder Mombasa. In meiner Schlafhöhle, die nur der Leuchttropfen des Transistors erhellte, waren solch vokalreiche Ortsnamen die reine Wonne. Sicher förderte auch das Bett, mit dem der Lauscher allein in die Nacht hinausfuhr, die Bereitschaft zu Ozeanreisen.

In den Bilanzen spielte der Schiffsbau eine entsprechend große Rolle; er half, den Schein eines weltoffenen Landes zu wahren. Und er gab einfach die besseren Pressebilder her. Ein Schiff, das vom Stapel gelassen wird (mit oder ohne Champagnertaufe), die hochaufragenden Wanten an seinem Fertigungsplatz in der Ostsee-Werft, sind nun einmal photogener als die immergleichen versteinerten Mienen und das Händeschütteln sozialistischer Brüder. Mancher wußte von einem Bekannten, der das unwahrscheinliche Glück hatte, zur See zu fahren. Ein solcher Matrose, den die zurückgebliebenen Landratten so gut wie nie zu Gesicht bekamen, weil er wie der Fliegende Holländer natürlich immerfort unterwegs war, erzählte dann von der großen weiten Welt und von seinen Abenteuern in den Hafenstädten. Als wahres Eldorado galt etwa Kuba, dort konnte sich so ein armer Ostmatrose, der einen Teil seiner Heuer in Devisen empfing, sämtliche Männerträume erfüllen. Die Geschichten, die man darüber zu hören bekam, gipfelten in dem einen, höchst beeindruckenden Satz: »Für ein Stück Westseife tun die Hübschen in Havanna alles, was du willst.«

Was für Seemannsgarn da auch gesponnen wurde, ein Bewohner des Elbtals, tief ins Landesinnere verbannt, war dafür leicht empfänglich – noch dazu, wenn er gerade in seinen Büchern mit James Cook und Charles Darwin auf Weltumseglung war. Natürlich geriet er beim Anblick eines Matrosen, der verloren an einer Straßenbahnhaltestelle stand, ins Träumen. Gerade in Dresden hatte das Auftauchen der Männer in den blauen Schlaghosen und quergestreiften Pullis, den Seesack lässig über der Schulter, etwas Exotisches. Wie habe ich sie beneidet, diese Facharbeiter zur See, die genausowenig dorthin gehörten wie die vereinzelten Möwen, die am Altmarkt aus heiterem Himmel über eine Brotrinde herfielen. Sie waren die einzigen freien Vögel, so schien mir, in einer Voliere, die das ganze Land überspannte. So wie sie wollte ich sein, dieselbe Verächtlichkeit zur Schau tragen, den Landratten einen Blick entgegensenden, der glatt durch sie hindurchschnitt bis zum Horizont. So nahm ich mir vor, da man um den Militärdienst nun einmal nicht herumkam, zur Marine zu gehen. Es war eine von vielen Blasen, die schnell zerplatzten. Wer auf die Schiffe wollte, anstatt im Hinterland durch die Kiefernwälder zu kriechen, der konnte leicht auf einem Patrouillenboot enden, im gefürchteten Grenztruppendienst. Er hätte dann, die dänischen Inseln in Sichtweite, Jagd machen müssen auf Langstreckenschwimmer und tollkühne Schlauchbootflüchtlinge – eine etwas unsportliche Beschäftigung, wie ich fand. Und dafür mußte er noch erheblich mehr Zeit opfern als der gemeine motorisierte Schütze. Es war nicht der erste Handel von Lebenszeit, den ich ausschlug, und nicht der letzte.

Ich weiß noch, wie ich damals, nach überstandener Schule, mit der Aussicht auf öde achtzehn Monate in der Kaserne, mich einen letzten Sommer lang durch Dresden treiben ließ, vorzugsweise an den Ufern der Elbe hinauf und hinunter. Ich hatte es nicht sehr eilig, man kam ja doch nicht weit.

Aus irgendeinem Grund hielt ich mich immer besonders lange bei den Dampferanlegestellen auf. Die Fahrten, die sich mit den altmodischen, schornsteinbewehrten, schwimmenden Pendants unserer Bummelzüge machen ließen, hatte ich alle schon mitgemacht, und dies mehrmals. Flußabwärts ging es nach Meißen – und man wußte, daß in dieser Richtung irgendwann Hamburg erreicht wurde. Flußaufwärts kam man, am Lustschloß Pillnitz vorbei, in die Sächsische Schweiz mit ihren kleckerburgartigen Felsen. Einige der Elbdampfer waren noch echte Seitenrad-Oldtimer aus dem neunzehnten Jahrhundert, und man mußte sich nur in das feine rhythmische Stampfen versenken und die Kästen mit den hölzernen Schaufelrädern, um die das Wasser schäumte, beim An- und Ablegen nur lange genug betrachten, dann konnte der Strom sich hinterrücks unmerklich zum Mississippi weiten. Dann stand man mit einem Bein plötzlich in einer anderen Welt, an den Ufern Louisianas. Und erstaunlich auch, wie ein bloßer Name – die stillen Dampfer von der Eleganz großer Schwäne gehörten alle zur Weißen Flotte – immer noch einen Rest von Verheißung enthielt.

Und war nicht ein Fluß die beste Reklame für das nächste offene Meer? Auf den Gedanken konnte man leicht kommen – und ihn sogar in einer Verszeile festhalten –, wenn man die Elbwiesen entlangspazierte, landauswärts, in nordwestlicher Richtung. Aber dann machten schon ein paar tote Fische, bäuchlings im trüben Uferbereich dümpelnd, die ganze herrliche Werbeaktion zunichte.

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5

»On the back of the fish truck that loads
While my conscience explodes«
Bob Dylan, Visions of Joanna

 

»Zweimal in der Woche Fisch/bereichert jeden Mittagstisch!« Ich kann nicht sagen, daß mein Bewußtsein explodierte, wenn ich den Spruch auf dem Fischlaster sah, der vor der Tür ausgeladen wurde. Aber etwas muß in diesen Momenten mit mir geschehen sein. Vom Lesenkönnen war ich damals weit entfernt, doch der Schriftzug war mir vertraut, wenn ich ihn später im Straßenverkehr wiederfand. Es war, als hätte ich ihn schon früh, im süßen Stadium des Analphabetismus, unbewußt mitbuchstabiert, wobei der aufgeschnappte Reim sicher die gedächtniskitzelnde Rolle spielte – der Reim, der in meinem Leben noch manches auslösen sollte.

Der weiße Kühltransporter hielt in der Seitenstraße, und ich blieb jedesmal stehen und sah mir Schrift und Bild lange an, bemerkte auch die Rostflecken an der Verkleidung. Die streng riechende Ware wurde in schmuddeligen Plastikwannen und Paletten überbracht von Männern in weißen Kitteln, die an Krankenpfleger erinnerten. Doch den realistischen Teil blendete ich als Kind gern aus: Ich war das, was die Erwachsenen einen Träumer nannten.

Ich mochte den munteren blauen Fisch im Profil, mit seiner schwarzen Pupille und dem wie zum Sprechen geöffneten Maul, der meistens aufgerichtet auf seiner Schwanzflosse stand, als sei er auf dem Weg der Menschwerdung gestoppt worden. Einmal applaudierte er mit den Flossen wie die Seehunde bei der Zoovorführung, ein andermal hielt er einen Kochlöffel geschultert und hatte eine Kochmütze auf, oder er stützte sich auf den Tisch, auf dem schon die Schüssel mit der Fischsuppe dampfte. Er war wie ein guter Begleiter durch eine unfreundliche Welt, deren Härten man früh zu spüren bekam, wenn die Haut dünn genug war. Im Volksmund hatte er, soviel ich weiß, keinen eigenen Namen, wo doch sonst alles sogleich eingeheimst wurde mit Spitznamen und witzigen Etiketten.

Dieser Fisch war einfach der blaue sprachlose Fisch aus der Werbung, ein Maskottchen, das für die Produkte aus dem Kombinat Hochseefischerei Rostock salutierte. Man fing ihn hier und da im Straßenbild mit einem Seitenblick auf und ließ ihn dann wieder zurückgleiten in den Verkehrsstrom. Und eines Tages kam die Entdeckung der Abstraktion.

Kinder mögen das Abstrakte und im Abstrakten das Konkrete: die weiße Wurst aus der Zahnpastatube, das grüne Männchen, das in der Ampel wohnt, die Dampfwalze, die aus der schwarzen Streichmasse Asphalt einen glänzenden Teppich macht. Kinder fragen sich, ob man mit Tannennadeln nähen kann und wie es sich auf einer Wolkenbank sitzt. Im Kindergarten gab es mit schöner Regelmäßigkeit Fischstäbchen, es war das beliebteste Mittagessen. Diese kleinen braungelben Quader mit der köstlichen Kruste waren immer abgezählt: Man mußte die Köchin anbetteln oder mit anderen Kindern tauschen, wenn man mehr von ihnen wollte. Sie galten, ganz offiziell, als gesund, zeitsparend in der Zubereitung, waren grätenfrei und hielten sich lange als Tiefkühlkost frisch. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich mit Fischstäbchen zu bewerfen, wie wir es später mit den Kartoffeln und den Königsberger Klopsen taten. Keiner hätte sie mit den phantastischen Wesen verwechselt, die mancher im Kinderzimmer hielt: den Goldfisch in seinem Kugelglas neben dem Globus, den Guppys im beleuchteten Aquarium, die sich gegenseitig die tropisch bunten Flossen zerfraßen: die Schleierschwänze, Speerschwänze und Triangelschwänze – diese ersten Verkörperungen der Geometrie, die einem später im Matheunterricht auf dem Kästchenpapier wiederbegegneten als Dreieck, Rhombus und Kreisform. Ich hatte niemals ein Kinderzimmer, bis ich achtzehn war und aus der Wohnung der Eltern auszog, und dann war es dafür zu spät. Man kann sich das eigene Zimmer um keinen Preis der Welt zurückträumen, wenn man keins hatte.

Habe ich schon gesagt, daß ich noch lange danach keinen Fisch essen mochte? Denn die Fischstäbchen waren etwas für die Kleinen, das Kapitel war bald beendet – und Konserven zählten nicht. Daß ich mich später manchmal auf eine Büchse Dorschleber stürzte, einen Miniatursarg voller Sardinen, seltenes Importgut, kommt mir heute unwahrscheinlich vor.

In einem der Sommer an der Ostsee, als ich wie Robinson mit einem riesigen ausgefransten Strohhut umherlief, lernten wir in Surendorf den alten Fischer Peplow kennen. Das war ein Mann, wie von Ernest Hemingway in die Welt gesetzt, der manchmal abends mit seinem Kahn hinausfuhr und eine Wanne voll Aale zurückbrachte. Die wurden dann gehäutet und, auf Spieße gesteckt, am offenen Feuer gebraten – das gefiel mir. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie wirklich probiert habe, aber ich erinnere mich an die blutige Lauge, in der sie nach dem Schlachten leblos zuhauf lagen. Man griff hinein und hielt eine dieser glitschigen Schlangen in den eiskalten Händen, sie glänzten im Fackelschein wie rohes Geschmeide. Der Fischer Peplow saß währenddessen auf einem dreibeinigen Schemel, schmauchte seine Pfeife und putzte die Schuppen von den Meeräschen, die ihm als Beifang in die Reusen gegangen waren. An den übrigen Tagen konnte man bei ihm geräucherte Flundern kaufen, auf die mein Vater besonders scharf war. Sie kamen nie auf den Teller: Man aß sie vom Wachspapier, das Fett schlug beim Häuten der flachen Räucherfische allmählich durch, und man pflückte das weiße Fleisch von den Gräten, mit den bloßen Fingern, man brauchte dazu kein Besteck. Für die Eltern war dies einer der kulinarischen Höhepunkte jedes Campingsommers. Ich weiß noch, daß ich mich lange nicht satt sehen konnte an den kleinen gezähnten Spitzmäulern der Flundern und Schollen. Besonders das eine, nach oben gewanderte Auge entfachte die Phantasie. Kein Fisch, von dem ich mich nicht beobachtet gefühlt hätte.

Wenn man zu lange in die starren, schießscheibenförmigen Augen schaute, konnte es geschehen, daß man sich festsah. Dann rauschte man plötzlich in einen Zeitschacht ab und fand sich, um Jahre versetzt, in einer anderen Szene wieder – etwa beim Baden in einem Baggersee, im aufgewühlten Uferschlamm der Waldteiche hinter der Autobahn im Norden Dresdens oder beim Angeln am Hellerauer Gondelteich. Dieses Angeln im trüben Wasser, dem wir uns an den schulfreien Nachmittagen hingaben, war eine perfide Sache. Es war mit einem Verbrechen verbunden, dessen Schande ich jahrelang still mit mir herumtrug.

Es begann damit, daß wir am Zulauf des Gondelteiches aus Stöcken und Pflastersteinen ein winziges Wehr errichtet hatten, in dessen Staubecken wir die geangelten Stichlinge, bald eine ganze Population, einsperrten. Die zentimeterlangen, grüngesprenkelten Süßwasserfische mit den gefürchteten Stacheln, die sich bei Gefahr aufrichten konnten und uns manchmal die Fingerkuppen ritzten, waren uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und wir Knaben, bebend vor Mordlust und Langeweile, spielten mit ihnen Herr über Leben und Tod. Ich werde nie vergessen, wie wir nach einem Tag voller Zwietracht und leerlaufender kleiner Gemeinheiten uns schließlich zusammenrauften zu einem Massaker, kurz vor Toresschluß. Es war im Herbst, die Tage wurden kürzer, vor Einbruch der Dunkelheit mußte jeder zu Hause sein: Grund genug, die Gereiztheit wegen der nassen Turnschuhe, durchweichten Strümpfe und der vom kalten Wasser schmerzenden Hände mit einem letzten Gewaltakt zu besiegeln. Wir waren uns wortlos einig: Unsere Stichlinge sollten die Nacht nicht überleben. So trat das kleine Sonderkommando zusammen, wir pumpten das Staubecken ab, griffen uns die Fische, einen nach dem anderen, heraus und klatschten sie gegen das Mauerwerk, bis der letzte aufgehört hatte zu zappeln. Danach ging jeder, die Angel lässig wie ein Maschinengewehr geschultert, seiner Wege.

6

Vor einigen Jahren trieb es mich in das alte Meereskundemuseum in Stralsund. Ich kannte das Gebäude, in dem das Skelett eines Finnwals an der Decke schwebte, seit den Sommern der Kindheit. Selten, daß wir den Besuch dort ausließen, wenn ich wie in jedem Jahr mit den Eltern an die Ostseeküste zog, zum Camping auf der Insel Rügen oder auf dem Darß. Damals beschäftigten mich vor allem die Trophäen und Relikte gefährlicher Meeresbewohner. Ich starrte lange auf die riesigen teleskopartigen Beine der Tiefseekrabbe und auf das Haifischgebiß mit den Reihen von Dreieckszähnen, die immer wieder nachgeladen wurden, wie Patronen im Magazin eines Trommelrevolvers. Das Technische von Natur und Mensch nahm die Aufmerksamkeit in Beschlag: der Stoßzahn des Narwals, der Panzer der Karettschildkröte, Schiffsschrauben und Fangwerkzeuge.

Ich erinnerte mich an den maßstabsgetreuen Nachbau eines Schleppnetzes mitsamt dem silberblitzenden Schwarm, der darin gefangen war – für alle Museumsewigkeit in der Falle. Jetzt erst ging mir das Sinnbild des Fangschiffes auf, in der Presse des Landes gern Trawler genannt. Ganze Populationen von Kiemenatmern wurden über die Stahlrampe am Heck an Bord gezogen, dort in einem Produktionsgang sortiert, zur bloßen Sache verwandelt und, mit Eisgranulat bedeckt, in Paletten verpackt, alles bei voller Fahrt. Mein Blick hing lange an diesem Schwarm, um den das Netz sich geschlossen hatte. Die armen Leute, dachte ich, dort im magischen Licht der Vitrine.

Und noch etwas interessierte mich, das ich damals übersehen hatte. Ich beugte mich über die Schaukästen mit den Fischkonserven aus sozialistischer Produktion. Jetzt wußte ich: Dies war die Vergangenheit. Sicher, der penetrante Geruch fehlte, die Exponate sahen armselig und grau aus, Zeit hatte die Etiketten entfärbt. Aber als hätte jemand an Aladins Wunderlampe gerieben, rollten sich vor meinen Augen die Blechdosen auf, und ich sah wieder den Hering in Tomatentunke. Es gab die Einmachgläser mit dem metallisch glänzenden Rollmops, die Büchsen voll der rotbraunen streichfähigen Masse, die man der Bevölkerung als Fischpaste verkaufte. Alles war wieder gegenwärtig, und die Kindheit erwischte mich mit einem Streiflicht, als gelinder Schrecken, der durch den Magen ging.

Ich sah die erbarmungswürdige Produktpalette planwirtschaftlicher Fischverarbeitung, dies karge Sortiment, das als Ersatz herhalten mußte für den Reichtum unerreichbaren Meereslebens. Ersatz – ein Wort, das in das Deutsche einzog, als die Weltmarktprodukte knapp wurden im Hitlerkrieg und das noch lange darüber hinaus in der abgeschotteten Hälfte des Landes Praxis blieb. Es gab Ersatzstoffe aller Art: Ersatz-Kaffee, Schokoladen-Ersatz, Ersatz-Fisch. In diesem Museum war die Substanz eines ganzen Landes und seiner untergegangenen Eßkultur aufbewahrt. Hätte ich ahnen können, daß solche unscheinbaren, fäkalienfarbenen Überreste mich einmal bestürzen und entzücken würden?

7

Wie lange hatte ich mir als Kind eine richtige Armbanduhr gewünscht. Als ich sie endlich geschenkt bekam und Vater sie mir um das schmale Ärmchen band, war ich enttäuscht. Immer wieder rutschte sie mir übers Handgelenk. Einige Zeit darauf wiederholte sich mehrmals ein Traum. Ich stehe an einer der seltenen Fischbuden an, die es damals in den Ostseeurlauberorten gab. Der Fischverkäufer preist seine ungewöhnlichen Matjesbrötchen an. Ich sehe ihm dabei zu, wie er die Brötchen aufschneidet und aus einem großen Bottich einzelne Armbanduhren herausfischt und zwischen die Hälften legt. Merkwürdig, die Enden der Armbänder zuckten und zappelten wie die Schwänze aufs Land geworfener Fische.