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Hans Joachim Teschner

Lolle kommt

Romaneske





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Eins

Entdeckt hatte ich ihn im Stadtpark. Er hockte auf einer Parkbank und schrieb oder zeichnete mit einem Bleistift auf einer Vorlage herum, die er auf seinen Knien hielt. Herabhängende Schultern, eine insgesamt trübselige, gleichwohl anmaßende Ausstrahlung, soweit sich diese Eigenschaften miteinander vereinbaren lassen. Darüber verlor ich allerdings keinen Gedanken, und ich wäre weitergelaufen, wenn er mich nicht an jemanden erinnert hätte. Dass ich nicht gleich darauf kam, an wen, verwunderte mich nicht, denn mit meinem Erinnerungsvermögen ist es nicht gut bestellt, und darin liegt wohl der Grund, weswegen ich regelmäßig Opfer eines nervenzehrenden Dranges werde, die noch verbliebenen Gedächtnisschnipsel aus den weißen Regionen meines Gehirns herauszusaugen, um ihrer habhaft zu werden. So wie auch hier beim Anblick des Fremden. Oft reicht ja ein winziges Detail, um diesen Drang auszulösen, ein Detail, welches man absichtslos mit den Augen oder Ohren aufgenommen hat und welches nun als juckender Speckjäger von Gehirnzelle zu Gehirnzelle hüpft auf der Suche nach Sinn, Heimat und eindeutiger Zuweisung.

Ich blieb stehen und sah ihm zu. Er ließ sich nicht stören in seiner Beschäftigung, und diese Beschäftigung konnte man kaum freundlicher als ein fahriges Gekritzel ohne Ziel oder Formwillen bezeichnen.

Gekritzel. Kritzeln. Kritzler. Endlich lichtete sich der Schleier. Seine Kritzelei war es, die die Verbindung herstellte, die mich im Innersten traf und meine Gedanken auf eine längst vergessene Person lenkte, was freilich alles andere als positive Schwingungen in mir auslöste.

Im Innersten traf: Geht es auch weniger theatralisch? Wird gestrichen.

Die Konturen schärfen sich, ein Bild schält sich aus den diffusen Erinnerungsschwaden, alte Freunde füllen den Rahmen. Wir hatten einen Wettbewerb organisiert, den Vortrags- und Rezitierwettbewerb Pinch the Poem. Wir, das waren drei Musiker der Rockband The Cavestones und ein paar Typen aus der Stadt, die immer bei unseren Proben im Gemeindehaus herumhingen. Als Aufgabe bei unserem Lyrik-Contest hatten wir ein Gedicht herausgesucht, dass von den Teilnehmern auf möglichst unkonventionelle Art vorzutragen war. Klingt einfach. Man stellt sich vor, wie ein paar der üblichen Wichtigtuer, die sich gern in den Vordergrund stellen, die Zeilen des Gedichtes singen, brüllen, dramatisch rezitieren, schmeichelnd flüstern oder auch mit Grimassen und wildem Gefuchtel begleiten. So in etwa hatten wir uns das auch gedacht, allerdings hatten wir zwei Regeln vorgegeben, die es in sich hatten: Zum einen musste das Gedicht auswendig vorgetragen werden. Schien keine unüberwindliche Hürde zu sein, solange man das Gedicht nicht kannte. Und das war der Knackpunkt: Wir hatten die Ballade »Der Ring des Polykrates« von Friedrich von Schiller ausgesucht mit ihren 15 umfangreichen Strophen. Dann war da noch der Preis: eine Flasche Weizenkorn und ein Korb voller Mettwürste, gesponsert vom Fleischermeister Karl-Heinz Büsing, dem Vater unseres Keyborders. Erinnerte an die Preisgelder bei Skatturnieren, aber mehr war nicht drin.

Als Veranstaltungsort hatten wir den Tanzsaal des Braunen Bären angemietet, den wir und die anderen lokalen Rock'n-Roll- und Heay-Metal-Helden schon wiederholt mit höllischen Lautstärken hatten erbeben lassen; die Konzerte genossen Kultstatus. Aber auch unsere sogenannten Kunstperformances waren wegen ihrer teils irren, teils anarchischen und der oft ausufernden Zügellosigkeiten berüchtigt. Wohl deshalb hatten wir einen enormen Zuspruch, und sogar aus den verschnarchtesten Dörfern unserer Landkreises eilte das sensationslüsterne Jungvolk herbei, um sich die Spektakel anzutun.

So war es auch diesmal. Schon eine Stunde vor Beginn war der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Vor der Theke drängelten sich die Säufer, Zwischenrufer und Abschlussrandalierer. Unsere Konzerte wie auch die Performances endeten noch jedes Mal mit einer Prügelei zwischen studentisch tuenden Oberschülern und den Lehrlingen der ansässigen Metallgießerei. Ich hatte den Verdacht, dass es den meisten sowieso nur um die Prügelei ging und die eigentliche Veranstaltung als Aufhänger diente, um am Wochenende so richtig die Sau rauszulassen, ich berichtige, Dampf abzulassen.

Um die Zeit bis zum Beginn der Rezitationen zu überbrücken, auch, um die nächsten Konzerte anzusagen, trat ich vor das Mikrophon. Einige applaudierten, ich weiß nicht warum. Vielleicht glaubten sie, der Wettbewerb habe begonnen. Sie waren ja unsere Regellosigkeiten gewohnt. Einmal hatten wir die angekündigte Veranstaltung sogar um drei Stunden vorgezogen, und als die ersten Gäste eintrafen, war schon Schluss. Behaupteten wir. Das war natürlich perfide, denn niemand außer uns konnte bezeugen, dass wir nackt einen Eurhythmietanz aufgeführt hatten mit einer Dornenkrone auf dem Haupt und dem gleichzeitigen Absingen der deutschen Nationalhymne, erste Strophe. Bei der anschließend sehr emotional geführten Abschlussprügelei trugen wir jede Menge Beulen davon, aber das war uns der Spaß wert.

Ich wedelte abwehrend mit den Armen, um anzudeuten, dass das Publikum sich noch etwas gedulden möge. Mein nonverbales Kommunikationstableau, so möchte ich es einmal nennen, findet wenig Widerhall bei meinen Mitmenschen, und meine Frau Anna winkt auch nur ab, wenn ich verheißungsvolle Bewegungen ausführe, die ich als Offerte verstehe, Anna aber lediglich als spastisches Surrogat meines verkümmerten Sprechapparates. Das nur nebenbei.

Ein paar Bierdeckel des Unmuts segelten auf die Bühne, einer traf meine Schulter. Davon unbeeindruckt stellte ich das Mikrophon an, rief probeweise ein paarmal »One two, one two Test« hinein und »Alle mal herhören« und legte mit einer Ansprache los, die, wie ich hoffte, die Ungeduldigen da unten etwas beruhigen würde. Ich führte aus, dass der Wert des Kreativen und Unangepassten in einer Welt der Uniformierung, der konformen Duckmäuserei, die das Subjekt in der Spiegelung seines urtümlichen In-die-Welt-Geworfenseins ...

An dieser Stelle brauste aus dem Saal der Sturm einer ins Negative gewendeten Affirmation auf, so möchte ich es einmal nennen, der meine Rede übertönte. Oder einfach ausgedrückt: die Leute pfiffen und buhten.

Ich brach ab und trat zurück. Nicht aus Angst vor dem Mob. Im Gegenteil, in dieser angespannten und gleichwohl erwartungsvollen Stimmung würde die Vortragskunst gedeihen wie Schimmel auf dem Käse. Mit den Vergleichen habe ich es nicht so. Wird gestrichen.

Egal, der Wettbewerb galt als eröffnet, eine halbe Stunde vor Beginn, daran konnte ich nichts mehr drehen.

Eine kleine dickliche Dame erklomm die Bühne, pummelig eingewandet in Waldorfstrick. Sie gab sich als Selberdichterin aus, als Dichterin, die selbst dichten könne, ja, und das täte sie auch täglich, und sie bräuchte sich nicht vor den Ergüssen der sogenannten Klassiker zu verstecken.

»Mach zu«, schrie einer der Metallgießerlehrlinge aus dem Publikum. Sie solle endlich das Gedicht aufsagen oder verschwinden. Eine Stimmung braute sich zusammen wie bei den Poetry Slam-Veranstaltungen, die ab den 90er Jahren aufkamen. Wir waren unserer Zeit weit voraus, predige ich nicht zum ersten Mal meiner Frau, aber die legt ungerührt Tomatenscheiben auf den Pizzateig und behauptet, meine Phantasie erzeuge Bilder des Größenwahns und der spirituellen Abgehobenheit.

Die selberdichtende Dame rückte näher an das Mikrophon. »Ihr da, ihr da unten«, keifte sie angriffslustig, »ihr werdet schon noch von mir hören.« Sie umfasste das Mikrophon mit der Hand, worauf die Lautsprecheranlage infernalisch zu pfeifen anfing. Ein Stöhnen ging durch den Saal. Erschrocken ließ die Selberdichterin das Mikrophon los, das Pfeifen brach ab, und die Leute atmeten erleichtert auf. »Merkt euch schon mal meinen Namen«, kreischte sie nun in die Stille hinein.

Kein Laut. Nur ungläubiges Schweigen.

»Na, wie heißt du denn, Muttchen«, schrie einer hinten an der Theke.

»Mein Name, und das, Bürschelchen, schreib dir gut hinter die Ohren, mein Name lautet Alma Kondolenza Stute.«

Die Leute johlten. Die Unruhe im Saal verstärkte sich, und vorn drängelten sich schon die ersten Krawallmacher, die nicht lange zögern würden, um eine Saalschlacht anzuzetteln.

Mir kam plötzlich der Verdacht, dass der Vorspann dieser angeblichen Alma Kondolenza Stute bereits ein exakt geplanter Teil ihrer Performance war. Hatten wir sie unterschätzt? Ich wollte gerade nach vorn an den Bühnenrand springen und das Publikum zur Ordnung rufen, da begann Alma zu deklamieren, in einer künstlichen falsettartigen Stimmlage:


stand vergnügten hin das Macht gestehe getroffen
ich noch Zweigen Polydor gesendet Märe trauen Wald
versetzt von Jubel Feldherr stellt mein Zepters
bekränze deinesgleichen Bote mastenreicher...

Die weiteren Worte gingen in einem Pfeifkonzert unter.

Ich begriff, im Gegensatz zu dem Pöbel da unten. Sie hatte die Worte des Gedichtes durcheinander gewürfelt und nach dem Zufallsprinzip vorgetragen. Genial, dachte ich, welche Wirkung mochte diese Zerstückelung wohl auslösen, welches perzeptionelle Konzept tat sich hier auf, eine Strategie der ausschließlich die Sinne ansprechenden Adaption, da musste ich hinterher, und dann fiel mir noch der Begriff Dekonstruktion aus dem Gedächtniskästchen, das musste ich meiner Frau beibringen, die würde sich ihre Tomatenscheiben unter die Achseln klemmen und »Alle Achtung« rufen und »Donnerwetter, darauf wäre ich nie gekommen« und Lobpreisungen gen Himmel senden und das alles, was ich seit vielen Jahren vermisse, etwas, was mit Respekt und Anerkennung zu tun hat.

Aber damals waren wir noch gar nicht zusammen, wir kannten uns nicht einmal. Die von mir so fein gesponnene Genugtuung muss also gestrichen werden. Schade.

Ein bulliger Kerl springt mit einem Satz auf die Bühne, schubst die kleine Dame beiseite und brüllt ein einziges Wort in die Tiefe des Saals: »Schnauze!«

Der Lärm bricht ab. Verblüfft starren die Zuschauer den Kerl an. Der drischt mit der Faust auf das Redepult und bölkt:

»Er stand auf seines Daches Zinnen!«

Pause.

Der knallt erneut seine Faust auf das Pult und brüllt:

Pause.

Diesmal hämmert der Kerl seine Faust so heftig auf das Pult, dass es umkippt und von der Bühne in die erste Reihe kracht.

Unter normalen Umständen, denke ich, ach was, normal kann jeder, hier must the show go on, und deshalb schnappe ich mir das Mikrophon. »Mit dem nächsten Teilnehmer«, rufe ich in die Gemeinde der Mutlosen, »haben wir nichts Geringeres als eine Sensation aufgemacht, ein Geheimtipp, der noch von sich reden machen wird. Leute, schaut her und lasst euch überraschen. Ihr werdet nicht glauben, was ihr gleich zu sehen bekommt.«

Ein bebrillter Kurzhaariger schleicht auf die Bühne. Er schielt verschüchtert auf seine Fußspitzen und öffnet den Mund. Heraus quält sich eine einzige Silbe, die er ständig wiederholt, mehr gestolpert als gesprochen. Fast zwei Minuten geht das so:

Ich erinnere mich heute, dass er zwischendurch keine Luft holte.

Der Saal tobte, Beifallsklatschen, hysterisches Jauchzen, Bravorufe, Wahnsinn, das ganze Programm.

»Andreas ist Stotterer«, antwortete sie lakonisch, »er hat den zweiten Buchstaben nicht herausbekommen.«

»Wegen der vielen Strophen musste ich den Text mehrfach überschreiben«, erklärte der Jüngling hochnäsig, als habe er es mit einer Horde Analphabeten zu tun.

Unten mischte wieder die Tussi auf. »Genau«, nölte sie und spuckte einen Kaugummi in die Ecke, »das ist kein Vortrag, das ist Bullshit.«

Das war nun völlig daneben. Vergrätzt drängten die Zuschauer zum Ausgang. Mit einem blöden Griffel und einer noch blöderen Schiefertafel hatte der aufgeblasene Schnösel es fertiggebracht, die Stimmung restlos zu versenken. Sogar die Lust auf die traditionelle Abschlussprügelei war den Leuten vergangen.