Titelbild
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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97175-1

Februar 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Covermotiv: Cornelia Niere (Artwork); Shutterstock (Montagebilder)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Prolog

»Du hast Neuigkeiten über Lilo?«

Anna Kalkar hatte ihrem Mann den Hörer aus der Hand genommen und stand nun stocksteif im Flur. Sie hielt das altmodische Gerät so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Das leichte Zittern ihrer Hand setzte sich an dem geringelten Kabel fort, das den Hörer mit dem Telefon verband.

»Und warum kommst du nicht kurz zu uns rüber? Hast du sonst nicht schon Feierabend um diese Uhrzeit?«

»Tut mir leid, Frau Kalkar, ich habe gleich eine Besprechung mit den Kollegen, das wird vermutlich eine ganze Weile dauern. Aber gerade habe ich gehört, worum es in der Besprechung gehen soll. Natürlich komme ich etwas später am Abend gern noch bei Ihnen vorbei, aber ich wollte nicht, dass Sie das von jemand anderem erfahren – deshalb rufe ich jetzt kurz an. Aber ich komme nachher noch vorbei, versprochen.«

»Und … und was ist nun?«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Der Anrufer räusperte sich.

»Jetzt red schon!«, flehte Anna Kalkar. »Bitte!«

»Die Ermittlungsgruppe«, setzte er an, unterbrach sich aber noch für einen Moment, bevor er weiterreden konnte. »Die Ermittlungsgruppe wird aufgelöst.«

»Aber warum? Lilo ist noch immer spurlos verschwunden, da könnt ihr doch nicht einfach …« Sie wurde bleich und unterbrach sich. »Oder hat man … sie …«

Der Anrufer schwieg.

»Hat man sie gefunden?«

»Nein, wir haben nach wie vor keine richtige Spur von ihr.«

»Aber dann dürft ihr doch nicht einfach aufgeben. Ich meine, was sollen wir denn machen, mein Mann und ich?«

»Meine Vorgesetzten glauben nicht mehr, dass Lilo das Opfer eines Verbrechens geworden ist.«

»Wieso?«

»Das fragen Sie mich wirklich, Frau Kalkar?«

Auf ihrer Miene mischten sich Empörung und Scham.

»Sie haben gelogen, und das nicht nur einmal.«

»Aber es geht um das Leben meiner Tochter! Da habe ich vielleicht das eine oder andere …«

»Schon gut, Frau Kalkar. Mir müssen Sie das nicht erklären. Aber Ihre Schwindeleien und die Anschuldigungen, die sich als falsch erwiesen haben – das alles hat keinen guten Eindruck gemacht.«

»Das tut mir inzwischen ja auch leid, aber …«

»Inzwischen gibt es weitere Hinweise darauf, dass Ihre Tochter freiwillig von zu Hause weggegangen ist. Und dass sie das tut, was man ihr seit ihrem achtzehnten Geburtstag schlecht verbieten kann: mit dem Mann zusammen zu sein, den sie offenbar wirklich liebt.«

»Pah – den sie liebt!«, brauste sie auf. »Dieser alte Kerl könnte ja ihr Vater sein! Der hat garantiert …«

»Bitte, Frau Kalkar, lassen Sie es gut sein. Wenn ich darüber zu entscheiden hätte, würde die Ermittlungsgruppe weiterhin nach Lilo suchen, aber ich kann es nicht ändern. Vielleicht … vielleicht lässt sich doch noch etwas erreichen. Ich werde natürlich in der Besprechung alles versuchen, aber allzu viel Hoffnung kann ich Ihnen nicht machen. Tut mir leid. Ich komme nachher noch bei Ihnen vorbei, dann können wir gern in Ruhe über alles reden.«

Anna Kalkar zitterte nun am ganzen Körper wie Espenlaub. Ihr Gesicht war kreideweiß. Ihr Mann Gert, der das Telefongespräch über die Lautsprecherfunktion mit angehört hatte, trat nun direkt neben sie, um sie im Notfall stützen zu können. Auch er war erschüttert, machte aber einen leidlich gefassten Eindruck.

»Frau Kalkar? Es bleibt doch dabei? Wir reden nachher?«

Anna Kalkar legte auf. Minutenlang stand sie vor dem Telefon und starrte auf den Hörer. Dann sah sie ihren Mann traurig an und fuhr ihm mit den Fingerspitzen über die Falten um seinen Mund, die sie so mochte. Er ließ es gerne geschehen und sah sie forschend an.

»Und jetzt?«, fragte er nach einer Weile.

»Jetzt werden wir unsere Lilo wohl nie mehr zu Gesicht bekommen. Nicht lebend und nicht tot.«

»Ach, du wirst schon sehen: Die steht eines Tages putzmunter vor unserer Tür. Braun gebrannt von der langen Zeit im Süden. Und inzwischen ist es mir egal, wenn sie diesen alten Deppen mitbringt. Meinetwegen soll er sogar auf einen Kaffee oder ein Bier mit hereinkommen. Hauptsache, wir haben dann unsere Lilo wieder, findest du nicht auch?«

Ein trauriges Lächeln spielte um ihren Mund.

»Ja, Gert, so wird das sein.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Er sah sie an, nicht ganz sicher, wie er ihre Miene einschätzen sollte.

»Kommst du klar, Anna? Sollen wir spazieren gehen? Soll ich uns was kochen, oder fahren wir raus zum See?«

Um ihre Mundwinkel zuckte es ein wenig, und ihre Augen schimmerten.

»Du bist süß, Gert. Ja, koch uns was Schönes. Haben wir nicht noch das Fleisch für dein wunderbares Gulasch im Kühlschrank?«

»Schon, aber es dauert eine Stunde, bis ich das fertig habe.«

»Lass dir Zeit, Gert, ich hab eh noch keinen Hunger. Ich geh solange in Lilos Zimmer, ja?«

»Oder setz dich doch zu mir in die Küche, und wir reden nebenher ein bisschen. Ich schenk dir ein Bier ein oder mach dir einen Tee.«

»Lieb von dir, Gert, aber ich möchte jetzt ein bisschen allein sein. Ist das für dich in Ordnung?«

Er zögerte, dann nickte er.

»Und du machst uns ein schönes Gulasch«, sagte sie und schenkte ihm noch ein wehmütiges Lächeln.

Er sah ihr hinterher, wie sie den Flur entlangging, wie sie einen Moment zögerte, bevor sie die Tür zu Lilos Zimmer öffnete, wie sie ihm noch einen liebevollen Blick zuwarf und wie sie schließlich ganz leise in das Zimmer … ja, schwebte, so kam es ihm vor.

Und so beschrieb er es allen, denen er später von diesem Moment erzählte. Dem Notarzt. Der Polizei. Dem Psychologen. Dem einzigen Interessenten, der das Haus in der Hildesheimer Straße in Laatzen trotz der dramatischen Ereignisse dieses Spätnachmittags kaufen wollte.

Das Gulasch gelang ihm wie immer ausgezeichnet, aber an diesem Tag brachte Gert Kalkar keinen Bissen mehr herunter.

Samstag, 30. April

Jörg Burghamer hörte den alten Frieder schon kommen, noch bevor er ihn sehen konnte. Zwar hatte er ihm gestern gesagt, er solle endlich seinen rostigen Drahtesel in Ordnung bringen und vor allem die quietschenden Pedale ölen, aber so schlecht, wie Frieder inzwischen hörte, störte ihn der Geräuschpegel vermutlich nicht mehr allzu sehr. Also drückte Burghamer seinem Campinggast die letzte Broschüre in die Hand, die er für seinen morgigen Tagesausflug brauchte, und ging nach draußen. Unterwegs griff er sich das Ölfläschchen, das er für solche Fälle im Regal stehen hatte, und winkte dem heranrumpelnden Frieder zu.

»Hallo, Jörg!«, rief der Alte mit schwerer Zunge, und der Gast, der in diesem Moment ebenfalls aus der Rezeption des Campingplatzes trat, sah erschrocken zu ihnen hinüber, weil Frieder so laut gerufen hatte. »Na, ausgeschlafen?«

Burghamer grinste gutmütig und hob das Ölfläschchen hoch. Frieder stoppte sein dreirädriges Vehikel und verzog sein faltiges Gesicht zu einer zerknirschten Miene.

»Oh, die Pedale?«, lallte er. »Hab ich ganz vergessen, entschuldige.«

Burghamer winkte ab und ging vor Frieders Gefährt in die Knie. Frieder hob erst das eine und dann das andere Bein an und sah dem Betreiber des Campingplatzes dabei zu, wie er den Pedalen mit ein paar Tropfen Öl das Quietschen austrieb.

»Danke, Jörg«, krähte Frieder schließlich. »Ich muss dann auch wieder, es ist sechs, und du weißt ja: Da mach ich meine Runde!«

Der Alte tippte mit dem Zeigefinger kurz an seine Hutkrempe, trat in die Pedale und brachte sein rostiges Dreirad wieder in Fahrt. Gemächlich rumpelte er ein paar Meter weit in den Campingplatz hinein und dann über die Zeltwiese zum Seeufer. Auf der Ladefläche des Lastenrads schepperten ein Blecheimer, eine Sichel und einige andere Utensilien. Eine Sense war notdürftig befestigt, deren langer hölzerner Griff hinten herausragte und mit jedem Rumpler des Rades mal in die eine, mal in die andere Richtung schwankte.

Burghamer holte eine Limo aus dem Kühlschrank in der Rezeption und setzte sich in seinen kleinen Biergarten. Hier hatte er einen schönen Blick auf den Platz und auf den See, und nach Hause konnte er auch in einer Stunde noch fahren. Der Campingplatz war sein Leben, sein Garten, sein Beruf und sein Hobby zugleich, während der Hauptsaison auch sein Wohnsitz. Deshalb wussten die meisten Gäste auch, dass das Schild mit den Öffnungszeiten der Rezeption nicht ganz ernst gemeint war. »Täglich von 9.00 bis 13.00 und von 15.00 bis 18.00 Uhr«, stand dort – aber außerhalb dieser Zeiten war sie immer offen, wenn Burghamer ohnehin gerade da war.

Bob und Werner, die gemächlich näher schlurften, jeder mit drei Flaschen Bier in der Hand, wollten aber nichts Geschäftliches von ihm. Burghamer stand auf und holte ihnen zwei Weißbiergläser. Werner setzte sich zu ihm, während Bob ein drittes Glas holte und es vor dem Campingplatzbetreiber abstellte.

»Feierabend, Jörg«, knurrte er mit seinem gutmütig dröhnenden Bass. »Jetzt kommt dieses Zuckerwasser weg, wir trinken ein Weißbier miteinander.«

Frieder radelte am Biergarten vorbei und winkte den Männern, dann wurde das Gerumpel und Geschepper seines vollbeladenen Gefährts auch schon wieder leiser und verklang in Richtung der Trekkinghütten.

Bob, Werner und Burghamer lachten über alte Geschichten, die sie sich schon dutzendfach erzählt hatten, und als aus einiger Entfernung metallisches Klopfen zu hören war, prosteten sich die drei Männer zu.

»Auf den alten Frieder«, deklamierte Werner. »Und darauf, dass er noch lange fit genug ist, um seine Sense zu dengeln!«

Es war wirklich ein Glück, dass Frieder eine Aufgabe gefunden hatte, und Burghamer ließ ihn dafür gerne auf seinem Campingplatz werkeln. Früher war er ein geschickter Schreiner gewesen, selbstständig mit einer kleinen Werkstatt drüben im Dorf, am Ortsrand von Oberried, in demselben windschiefen Häuschen, in dem Frieder noch heute wohnte. Dann erlitt er daheim einen Schlaganfall, wurde erst recht spät von einer Nachbarin auf dem Boden liegend entdeckt – und als er endlich wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte er nicht mehr arbeiten. Doch anstatt aus lauter Verzweiflung das Saufen anzufangen, kämpfte Frieder tapfer gegen die Folgen des Schlaganfalls an und war irgendwann wieder so weit, dass er sich mit gelegentlichen Aufträgen ein paar Euro dazuverdienen konnte. Stühle und Tische bekam er zwar nicht mehr hin und seine Arbeiten fielen recht grob aus, aber jeder im Dorf, der etwas brauchte, was nicht allzu elegant werden musste, ging damit zu Frieder.

Als der Campingplatz seinerzeit eröffnet wurde, hatte Frieder alle Schreinerarbeiten erledigt. Er hatte auch die Trekkinghütten gebaut, die mit ihren bunt lackierten Holzwänden neben der Rezeption wie ein winziges skandinavisches Dorf beisammenstanden. Heute reparierte er beschädigte Bretter an den beliebten Unterkünften, so gut es ging, und Burghamer übertrug ihm auch andere Arbeiten, selbst wenn er manchmal danach noch einmal selbst Hand anlegen musste – natürlich ohne dass es Frieder mitbekam.

Zu Fuß war der Alte seit dem Schlaganfall nicht mehr besonders gut unterwegs, er humpelte stark, aber auf seinem Dreirad kam er ordentlich voran. Obendrein hatte seine Aussprache sehr gelitten, oft gelang ihm nur noch ein manchmal schwer verständliches Lallen, und viele, die ihn nicht kannten, hielten ihn deshalb für betrunken – dabei rührte Frieder fast nie Alkohol an. Am schlimmsten war es mit seinen Ohren: Schon vor dem Schlaganfall hatte er schlecht gehört, inzwischen aber war er beinahe taub.

Für die Arbeiten, die für ihn auf dem Campingplatz anfielen, spielte das nur selten eine Rolle. Schwieriger waren da schon seine Marotten zu ertragen. Seine Wachgänse zum Beispiel, die er vor zwei Jahren angeschleppt hatte: Frieder hatte sie Burghamer angepriesen, weil sie ihm doch einen Wachhund ersparten, wenn man sie nachts draußen ließ. Da hatte er zwar recht, aber die Gänse regten sich leicht auf – und nicht jeder Gast fand es witzig, wenn ihn mitten in der Nacht wildes Geschnatter aus dem Urlaubsschlaf schreckte. Deshalb durfte Frieder die Viecher nur außerhalb der Hauptsaison am Westrand der Campingwiese halten, wenn nur Dauercamper wie Bob und Werner hier waren. In der Ferienzeit musste er seine Wachgänse rüber auf sein Grundstück am Dorfrand bringen, wo sie in einen Verschlag mit angrenzender Wiese kamen.

Anton hingegen durfte das ganze Jahr über am See bleiben. Er war zu seinen besten Zeiten der fleißigste Deckhengst eines Pferdezüchters drüben in Deisenhausen gewesen, und als er nicht mehr gut genug seinen Mann stand, wollte ihn sein Besitzer an den Pferdemetzger verkaufen. Frieder, der dem Züchter seit Jahren die Zäune und Ställe gerichtet hatte, überredete ihn, ihm den Gaul zu überlassen. Zum Ausgleich arbeitete er einige Stunden unentgeltlich für den Pferdebesitzer – der sparte dadurch vermutlich mehr Geld, als ihm der Metzger bezahlt hätte, und Anton landete erst auf Frieders Grundstück am Ortsrand und später in einem kleinen »Offenstall«, einem umzäunten Stück Weide, für dessen Bau Burghamer dem Alten nicht weit von den Trekkinghütten entfernt eine Ecke seines Platzes überlassen hatte.

So hatten alle Beteiligten etwas davon: Der frühere Besitzer machte keinen Verlust, Frieder hatte einen schönen Flecken für sein Pferd, Burghamer kam kostenlos zu einer Attraktion für die Kinder, und Anton hatte einen schönen Platz mit Blick auf den See – und in Frieder einen treuen Freund, der mehrmals täglich nach ihm schaute und sich ausgiebig mit ihm unterhielt.

Dann kam der Schlaganfall.

Anton war völlig durch den Wind, als Frieder ihn von einem Tag auf den anderen nicht mehr besuchte. Immer wieder riss er aus seinem Gehege aus und suchte nach Frieder, anfangs nur auf dem Campingplatz, später auch drüben in Oberried. Burghamer kümmerte sich natürlich um den Gaul, und die Kinder auf dem Platz – Frieder hatte es mitten in der Hauptsaison umgehauen – balgten sich beinahe darum, ihm dabei helfen zu dürfen. Anton war trotzdem kaum zu beruhigen, ständig stellte er die Ohren auf und schaute auf den Weg, über den Frieder immer zu ihm gekommen war. Er schnaubte und wieherte, immer häufiger auch nachts, und es klang, als wollte er seinen alten Freund zu sich rufen.

Burghamer musste sich einige Beschwerden anhören, aber er brachte es nicht übers Herz, den Gaul hinter Frieders Rücken zu entsorgen. Bald darauf war er froh, dass er ausgehalten hatte. Anton wirkte zwar anfangs etwas ungehalten, als die Therapeutin den weitgehend gelähmten Frieder im Rollstuhl zu seinem Gatter rollte. Aber als das Pferd nach kurzem Zögern seine schwarzen Nüstern gegen den Oberkörper des Alten rieb und wie der mit viel Mühe seine weniger gelähmte Hand hob und sie dem Gaul auf die Schnauze legte – da wandte sich Burghamer schnell ab, um sich die Tränen unbeobachtet in der geschlossenen Rezeption abtupfen zu können.

Ohnehin hätte Burghamer gewettet, dass es die Freundschaft zu Anton war, die Frieder die nötige Kraft verlieh, seine Therapien, seine Übungen und all die Untersuchungen und Behandlungen durchzustehen. Während sich Burghamer und seine beiden Gäste wieder auf ihr Gespräch und ihr Bier konzentrierten, stand Anton dicht am Holzzaun, der seine kleine Weide umgab, und äugte zu seinem Besitzer hinüber, der sich in ruhigen Sensenschnitten und kleinen Schritten auf der Wiese zwischen dem Zaun und den Trekkinghütten voranarbeitete. Die Nüstern des Gauls bebten, als genieße er den Geruch des frisch gemähten Grases und die Vorfreude auf den bevorstehenden Leckerbissen. Denn ganz sicher hatte er schon den Apfel entdeckt, der bei jedem Schritt aus Frieders linker Hosentasche lugte.

Hansen ging im Wohnzimmer auf und ab. Das Bier, mit dem er sich etwas Mut antrinken wollte, war schon zur Hälfte geleert.

Den Samstagvormittag hatte er in der Füssener Innenstadt verbracht, und weil er kein Gespür dafür hatte, welcher Schmuck schön und stilvoll und welcher fad oder protzig wirkte, hatte er den Juwelier fast in den Wahnsinn getrieben mit seinem ewigen Hin und Her, mit seinem Zögern und Bemerkungen wie: »Könnte ich die ersten noch einmal sehen?« Als er sich endlich entschieden hatte, schob ihm der Juwelier das Kästchen mit den Verlobungsringen sehr erleichtert über den Tresen.

Nun war es später Nachmittag, und Hansen wartete auf Resi Meyer, die als Rechtsmedizinerin in München arbeitete und mal dort, mal bei ihren Eltern in Roßhaupten und immer häufiger auch bei ihm übernachtete. Dass er sie zur Freundin hatte, war das Angenehmste, was ihm seine Stelle als Leiter des Kemptener Kriminalkommissariats 1 bisher beschert hatte – das untere Ende der Skala markierte der Kater Ignaz, mit dem er sich das gemietete Bauernhaus am Ufer des Forggensees teilen musste.

Er hörte Frauenstimmen, und als er sah, dass Resi nicht allein aufs Haus zulief, war er für einen Augenblick enttäuscht. Er tastete nach dem Schmuckkästchen in seiner Tasche, das nun leider nicht zum Einsatz kommen konnte, dann gab er sich einen Ruck und ging zur Tür, um die beiden Ankömmlinge zu begrüßen.

»Hallo, Chef!«, rief ihm Hanna Fischer strahlend zu. Sie und Willy Haffmeyer waren seine liebsten Mitarbeiter, und seit seinem Dienstantritt in Kempten vor knapp drei Jahren waren sie auch privat ein gutes Gespann geworden.

Hansen bat die beiden Frauen herein. Unterwegs flüsterte er Resi zu: »Wolltest du nicht allein kommen und Hanna später abholen?«

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Hanna hat mich auf dem Handy angerufen, und wir haben beschlossen, dass wir uns etwas mehr Zeit zum Umziehen nehmen.«

Die beiden hatten einen großen Rollkoffer ins Haus geschafft, aus dem Hanna nun ein Kostüm nach dem anderen hervorzog. Offenbar besaß Hansens füllige Mitarbeiterin einen großen Fundus an Kleidung, die sich für eine zünftige Party in der Walpurgisnacht eignete. Für Resi waren die meisten Sachen zu kurz und alle viel zu weit, aber die beiden hatten einen Heidenspaß, und Hanna führte ihnen fröhlich vor, was ihr neuerdings wieder alles passte.

Sie hatte ihrem Freund Thomas zuliebe fünf Kilo abgenommen, was ihr außer ihm allerdings niemand ansah. Hansen hatte sie zwar artig gelobt, als sie ihn auf den Erfolg ihrer Diät hinwies, aber jedes Wort war gelogen: Ihre Figur war so üppig, dass es auf fünf Kilo mehr oder weniger nicht ankam. Nur ihrem Thomas, einem Polizeikollegen von der Inspektion Memmingen, war es wirklich aufgefallen – und er hatte sich prompt bei ihr beschwert, weil er wohl fürchtete, sie würde nach einer noch länger andauernden Hungerkur einen Teil ihrer Rundungen verlieren, die er so an ihr liebte. Wobei Hungerkur nicht ganz das richtige Wort war: Hanna aß noch immer mit Genuss Sahnetorte und fetten Braten, aber wenn sie satt war, hörte sie auf und ließ sich nicht wie bisher einen weiteren vollen Teller reichen.

Während die Frauen Kleider probierten, saß Ignaz auf der Kommode, aufrecht wie eine Statue und mit gespitzten Ohren. Er ließ weder die beiden Frauen noch seinen zweibeinigen Mitbewohner Hansen aus den Augen.

Nach gut einer Stunde hatte sich Resi für ein Outfit entschieden. Mit Maske, schwarzem Umhang, weitem Rock und spitzen Stiefeln machte sie einiges her als alte Hexe – mächtige Hakennase, fette Warze und ein umgeschnalltes Kissen als Wampe inklusive. Als sie Hanna zeigte, was sie alles unter den Gürtel stopfen musste, bis ihr die Kostümierung nur halbwegs passte, prustete diese lauthals los.

Hanna hatte sich als Otfried Preußlers kleine Hexe ausstaffiert. Irgendwo hatte sie eine Maske aufgestöbert, die tatsächlich an das Gesicht der Kinderbuchfigur erinnerte. Auch der spitze Hut passte, das rote Kostüm war allerdings einige Nummern größer als das des Originals, doch Hanna gefiel sich, als sie sich vor dem großen Spiegel im Flur ein paar Mal um sich selbst drehte.

Kichernd hakten sich die beiden Frauen unter, Hanna schnappte sich den Reisigbesen, den sie mitgebracht hatte, und Resi bedankte sich bei Hansen mit einem kurzen Kuss dafür, dass er ihr ein Fluggerät aus dem Schuppen beschafft hatte. Sie eilten den Flur entlang, aufmerksam verfolgt von den Blicken des Katers. Dann waren sie auf dem Weg zur großen Frauenfete am Riedener Ufer des Forggensees. Als die Tür ins Schloss fiel, musterte Ignaz seinen zweibeinigen Mitbewohner, fand aber offenbar nichts Interessantes an ihm und sprang schließlich von der Kommode, um in der Küche nach etwas Essbarem zu fahnden.

Hansen sah ihm grinsend hinterher und schenkte sich im Wohnzimmer etwas Bier nach. Dann fiel ihm ein, was er fürs Abendessen vorbereitet hatte. Er flitzte in die Küche und konnte den Leckerbissen gerade noch vor dem ständig hungrigen Kater in Sicherheit bringen. Der Fisch war noch nicht ganz aufgetaut, aber Ignaz machte nicht den Anschein, als würde ihn das abschrecken.