Zu diesem Buch

Ein Lesebuch zu Schweizer Kindheit: Autorinnen und Autoren aus allen Landesteilen erinnern sich. Sie waren Wunschkinder, aber manchmal auch ein Esser zu viel. Sie wuchsen an der Zürcher Goldküste auf oder im hintersten Walliser Bergtal, im Dorf, in der Stadt, auf dem Bauernhof. Sie waren Kinder von Fabrikbesitzern, Bäckern, Pfarrern, Arbeitern, Wirten, Migranten. Sie wurden gehätschelt oder verdingt, gefördert oder übersehen, verwöhnt oder geschlagen. Sie lernten, spielten, arbeiteten und beobachteten die Erwachsenen und deren Tun. Rund dreissig Autorinnen und Autoren erinnern sich an ihre Kindheit an ihrem Ort in der Schweiz: im Tessin, Graubünden, Wallis, Basel, Bern, Zürich, St. Gallen, im Jura oder im Emmental … Neben bekannten Namen wie Charles-Ferdinand Ramuz, Laure Wyss, Niklaus Meienberg, Friedrich Glauser, Aline Valangin oder Daniel de Roulet schreiben viele Nichtprominente, denen allen eines gemeinsam ist: Sie wissen packend, anschaulich, sinnlich und prägnant Geschichten aus ihrer Kindheit zu erzählen. So entsteht ein einzigartiges Panoptikum von Kindheit in der Schweiz des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts.

Kindheit in der Schweiz

Erinnerungen

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Erwin Künzli unter Mitarbeit von Patrizia Huber

Limmat Verlag

Zürich

«Es sind die Mütter, die sich erinnern, die Liebenden und die Dichter.»

Erika Burkart

«Jemand hat gesagt, es sei nicht gut, an den Ort seiner Kindheit zurück­zu­kehren. Vielleicht hatte er recht. Ein Wiedersehen, man weiss es, kann ­enttäuschen, weil unterdessen so vieles geändert hat, die Gegend aussen und die Gegend innen. Die Kindheit, die noch ein Versprechen war, liegt schon weit zurück, eine verdämmernde Traumwelt; und was nachher kam – ein ­Leben mehr oder weniger fragwürdig, eine Kette von Wider­sprüchen, Niederlagen und Versäumnissen, fragmentarisch wie alles. Hat man sich überhaupt ­gekannt? Weiss man, wer man gewesen ist und wer man ­hätte sein können?»

Oscar Peer

Erzählte Kindheit

«Wie es war – war es so?»

Laure Wyss



Vierunddreissig Personen erzählen aus ihrer Kindheit in der Schweiz der letzten beiden Jahrhunderte. Der älteste, Jakob Senn, war ein Zeitgenosse von Gottfried Keller, er wurde 1824 in Fischenthal in ärmlichste Verhältnisse geboren, die jüngste, Meral Kureyshi, wurde 1983 in Prizren im Kosovo geboren und kam mit zehn Jahren in die Schweiz.

Die Texte stammen aus Büchern, die im Limmat Verlag im Verlauf der vierzig Jahre seit seiner Gründung erschienen sind. Sie sind alle in der Ich-Form gehalten, Erwachsene erzählen selbst aus ihrer Kindheit – auch wenn sie das Erzählte manchmal nicht selbst aufgeschrieben haben. Dabei wurden auch Auszüge aus Texten aufgenommen, welche die Gattungsbezeichnung Roman tragen, aber erklärtermassen autobiografisch geprägt sind. Die neuere Gedächtnisforschung hat festgestellt, dass Erinnerung etwas sehr Bewegliches und Veränderliches ist und dass das Erinnerte im Augenblick des Erinnerns gewissermassen ‹erfunden› wird. In diesem Sinn können wir mit Fug und Recht feststellen, dass alles ‹wahr› ist, was in diesem Buch steht.

Die Anthologie versucht nicht, irgendeine Art Geschichte der Kindheit in der Schweiz abzubilden, das ist einerseits kaum möglich, andererseits ist es erstaunlich, wie sehr sich die Welten der Kinder vom neunzehnten bis in die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch ähneln – fast möchte man sagen, dass die Schichtunterschiede prägender sind als die historischen. Das Auffallendste ist vielleicht, wie selbstverständlich Kinder arbeiteten, wie stark das Leben geprägt war von Religion und allerlei Autoritäten und wie selbstverständlich Kinder gestraft und geschlagen wurden, zu Hause, in der Schule. Daneben taten sie das, was Kinder bis heute tun: Spielen, Lesen, Lernen – nicht zuletzt durch das Beobachten der wunderlichen Welt der Erwachsenen.

Die Texte sind also nicht chronologisch angeordnet, der Reigen beginnt mit Geburt und ersten Erinnerungen, dann gibt der eine dem andern das Stichwort, als sässen die vierunddreissig Menschen zusammen, erzählten sich ihre Geschichten, und eine Erzählung ruft die nächste auf. Für die Leser und Leserinnen entsteht so ein weites Panorama der Kindheit, das sie vielleicht im Kopf mit ihren eigenen Erinnerungen ergänzen werden.

Erwin Künzli

1908, Val d’Anniviers VS

Adeline Favre

Ich wurde an einem 22. Mai geboren. Mama war an jenem Tag ganz allein zu Hause, denn mein Vater war ins Tal hinunter gegangen, um nach den Reben zu sehen. Im Tal unten war ein halber Meter Schnee gefallen, eher ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Wie alle Leute aus dem Val d’Anniviers hatten auch wir in der Gegend von Sierre, in ­Niouc, unsere Reben. Sie waren für uns fast die einzige Quelle für Bargeld, und eine Naturkatastrophe brachte schwe­re finanzielle Folgen für das kommende Jahr. Nun hatte Papa in diesem Jahr vorgearbeitet und die Reben schon frühzeitig aufgebunden. Dies im Hinblick auf meine bevorstehende Geburt: Er wollte zu Hause sein, wenn er benötigt wurde. Als er an diesem 22. Mai den Schnee sah, stieg er sofort ins Tal hinunter, um den Schaden an den Reben festzustellen. Es zeigte sich übrigens, dass er nicht so gross war wie bei den Nachbarn. Papa hatte auch die Kühe hinuntergetrieben, damit sie die abgebrochenen Zweige fressen konnten, die er auf dem Rücken des Maultiers bis nach Niouc gebracht hatte. Hierher trug man auch die dürren Rebenblätter, die man mit Heu mischte und den Kühen zu fressen gab.

So musste mich Mama an jenem 22. Mai allein zur Welt bringen. Zudem wurde ich in Steisslage geboren. Die Hebamme, Madame Pont, eine Cousine von Mama, sagte zu ihr: «Ich kann dir nicht helfen, du musst es ganz allein fertigbringen. Ich kann dir nicht helfen …» Sie betete in einer Ecke des Zimmers, und Mama presste.

Madame Pont war verzweifelt, dass sie nicht helfen konnte. Zu ihren Gunsten muss man sagen, dass die Hebammen damals nicht vorbereitet waren auf Komplikationen und dass ihnen die medizinischen Kenntnisse, die mir später zugute kamen, fehlten. Sie taten ihr Bestes mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Oft allerdings blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu beten …

Weil Papa nicht da war, holte Madame Pont voller Angst ihren Mann zu Hilfe. Es geschah oft, dass der Ehemann der Hebamme zur Hand ging. Monsieur Pont war Schuhmacher. Mama hat uns später oft erzählt, wie sie sich um seinen Hals geklammert hatte, um besser pressen zu können. Ich war offenbar ein recht grosses Bébé, das achte und das erste der zweiten Hälfte von vierzehn Kindern.

1939, Meggen LU

Otto Scherer

Kaum auf der Welt, da ging der Teufel los. Der Vater und der Karrer mussten einrücken. Die beiden Pferde und ein Wagen wurden eingezogen. Der Melker schirrte den Zuchtstier und eine Kuh ein und versuchte, den widerspenstigen Viechern das Fuhrwerken beizubringen. Joch und Geschirr waren noch oben in der Remise geblieben vom Ersten Krieg.

1939. August, September, Oktober. Die Ernte war in vollem Gang. Oder eben nicht. Das Emd verfaulte draussen im Regen, die Kartoffeln warteten darauf, eingebracht zu werden. Das Mostobst sollte auf- und das Tafelobst abgelesen werden. Arbeit, wohin man schaute. Und zu wenig Hände, die zupacken konnten.

Wohl hatten die im Dorf einquartierten Truppen die Bauern und Knechte unter ihren Soldaten auf die Höfe zum Helfen abkommandiert. Aber im Eiholz fehlte der Meister. Dieser grub als Artillerie­kanonier hinter der Grenze Haubitzenstellungen aus, übte den Gewehrgriff, das Marschieren in Zweier-, Vierer- und Achterkolonne, das Zerlegen und Zusammenbauen der Waffen, das Schiessen. Aber auch das Faulenzen. Das war von allem beinahe das Schlimmste, denn er wusste von der Lücke, die er zu Hause hinterliess. Er ging fast drauf vor Sorge um Hof und Familie. Wer sollte jetzt dort das Zepter führen? Der gebrechliche, aber immer noch resolute Grossvater, der Karrer oder der Melker? Wohl jeder gegen jeden. Alles gehe drunter und drüber, hatte ihm Mutter geschrieben. Keiner pariere, keiner setze sich durch.

«D’Allmänd abhaue!»

«Domms Züg! Zerscht tömmer s’Chlöschterli ine!»

«Ich go met em Meieriesli zom Schtier!»

«Morn, hani gseit! Herrgottsakramänt!»

«Nei, hött sägi! Schtärne feufi nomol!»

«Ich be vor dier im Eiholz gsii.»

«Jetz losed emol.»

Klein, energisch, kaum dreissig Jahre alt, seit zwei Jahren erst auf dem Hof, stellte sich die Mutter zwischen die Riesen. Sie, die den grossen Haushalt zu führen hatte, musste zusätzlich auch noch zwischen drei oder vier Hitzköpfen schlichten.

Jetzt bestimmte sie die Richtung: «I d’Allmänd, ond zwar alli zäme. Klar? Oder hed no öpper e Frog?» Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte ihr Auftritt Erfolg.

Aber da waren auch ihre Ängste: Sie könnte ihrer neuen Aufgabe nicht gewachsen sein, der Krieg könnte auf das Land übergreifen, ihr Mann könnte umkommen. Da war Lisbeth, die einjährige Tochter, und da war ich, der Säugling und Stammhalter, der Vaters Namen trug und der sich nicht entscheiden konnte, ob er leben oder sterben wollte.

Mutter hätte zerbrechen können. Aber sie hatte es geschafft. Wir hatten es beide geschafft. Die Knechte nannten sie Meisterin.

1889, Vevey VD

Aline Valangin

Das Kind würde ein schöner Knabe werden, klug und rasch und in allem ganz anders als der Vater. Es würde ihr Freund werden und alles ersetzen, was sie in Brüche gehen sah. Ja, das Kind.

Fast ist sie daran gestorben. Der Mann hatte sich nicht die Mühe genommen, in seiner grossen Trägheit nachzudenken, dass die Geburt eine schwere schwere Stunde für die Frau ist. Die erste beste Hebamme wurde bestellt. Sie erschien betrunken. Die Geburt dauerte zwei Tage und drei Nächte, und die ganze Zeit über war die trinkende und ständig angeheiterte Frauensperson um meine Mutter als einzige Hülfe. Sie schrie, in grösserer seelischer Not noch als in körperlicher, obschon die physische Qual längst unerträglich war; sie schrie zum Himmel, er möge das Kind aus ihrem Leibe erlösen; sie schrie, sie brüllte, als die Schmerzen stiegen und unendlich sich ausdehnten, dass nichts als eine Hölle der Pein um sie war, das Kind möge unverletzt bleiben, es möge leben. Sie bäumte sich gegen die Schatten, die nach ihr griffen, gegen die Schwäche, die überhand nahm, und immer wieder schrie sie ihre Bitte um Erlösung. Langsam fing sie an, in Nacht zu tauchen. Seltsam war das. Sie wollte doch leben, aber etwas wollte nicht, dass sie lebe. Sie staunte. Müsste sie vielleicht sterben? Und ein Nein in ihr geschrien als Antwort. Und wieder beginnt der Kampf. Aber lahmer. Und wieder so eine Nacht und daraus eine Frage behalten: Wohl muss sie sterben? Oh, das schöne Leben. War es schön? Ja früher und jetzt … das Kind. Schrei um Schrei. Das Kind darf nicht sterben, auch nicht allein bleiben; also muss auch sie leben. Leben. Nicht dein Wille geschehe, nein, oh, bitte nein, nicht der deine. –

Und das Kind wurde geboren, mit ganz verschobenen Schädeldecken und einem Schopf braunen Haares. Es war ein braunes Mädchen. Ich.

1939, Zürich

Jeannot Bürgi

Ich war meinen leiblichen Eltern kein Wunschkind. Mit dieser Feststellung und Erkenntnis bin ich sicher nicht allein, kein Sonderfall. Trotzdem, eine Frage beschäftigte mich ein Leben lang: Warum hat mich meine Mutter ausgesetzt, in einer Kartonschachtel beim Müll am Strassenrand entsorgt? Ich dachte, ich sei schon längst darüber hinweg, es mache mir überhaupt nichts aus, darüber zu sprechen, nachzudenken. Jetzt entdecke ich, nachdem ich siebzig Jahre alt geworden bin und ein ganzes, reiches Leben hinter mir habe, dass es mir noch immer etwas ausmacht, dass da noch immer die Frage im Raum steht, dieses «Warum», auf das ich bis zum heutigen Tag keine Antwort gefunden habe.

Meine Erklärung ist einfach und auf der Hand liegend: Ich war ihr Last und Störung, ich passte nicht in ihr Leben, sie hatte sich das so nicht vorgestellt. Ein Gof, das fehlte gerade noch, damals Ende der dreissiger Jahre, mitten in Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, mit dem Krieg vor der Tür. Das Leben damals war schon allein schwer genug, ein Kind ein Esser mehr, eine Sorge dazu, ein Hindernis, Verantwortung und Kosten. Sie musste über die Runden kommen, Anschaffen hiess das in ihrem Fall, für sich und wahrscheinlich auch für ihren Zuhälter. Sicher war sie jung, leichtsinnig und oberflächlich, schliesslich war es ihr egal, was mit dem geschah, was sie da in die alte Schachtel stopfte. Abfall eben, den man los sein will.

1951, Basel

Urs Schaub

Fürs Erste, was ich tat, als ich auf die Welt kam, war ich zwar nicht verantwortlich, aber ich tat es gründlich: Ich enttäuschte meinen Vater.

Sein Herzenswunsch war eine Tochter. Sogar wie sie heissen sollte, war längst ausgemacht. Warum sich allerdings ausgerechnet jener Name in seiner Seele eingenistet hatte, war aus ihm nie herauszubringen gewesen. Hatte er ein Pin-up der nationalen Schönheit gesehen, deren internationale Filmkarriere kurz nach meiner Geburt begann? Wie auch immer: Aus traditionellen Gründen war ebenso klar, dass zwei Kinder genügen mussten, es also auch in Zukunft für den geliebten Namen keine Verwendung mehr geben würde. Basta und aus. Kurzerhand wurde der Name um seinen weiblichen Teil amputiert, und die übrig gebliebenen drei Buchstaben wurden zu meinem Namen. Ein hierzulande sehr verbreiteter Name, der im Ausland – zumindest in zwei von vier Himmelsrichtungen – nicht besonders gut auszusprechen war. Mir hätten die drei abgeschnittenen Buchstaben besser gefallen. Vor allem in meiner Indianerphase wären mir diese mythisch klingenden drei Buchstaben unbedingt willkommen gewesen.

1878, Trimmis GR

Paul Thürer

Ich wurde geboren am 17. Juli 1878 als erstes von vier Kindern des Bauers Georg Thürer, Bürger von Valzeina, wohnhaft in Trimmis, Kanton Graubünden und der Elisabeth Meng von Says, wohnhaft auf Valtana [Valtanna] und wurde in der evangelischen Kirche von Trimmis am 21. Juli von Pfarrer Paul Hitz getauft. Nach seiner Verheiratung wohnte mein Vater ein Jahr lang bei seinem Schwiegervater Johannes Meng-Engi auf Valtana. Er erkannte aber bald, dass er es hier nicht weit bringen würde und gab daher seinem Freunde und Geschwisterkind seiner Frau, Peter Florian Meng auf dem Hofe Plankis bei Chur den Auftrag, sich für ihn nach einem Bauerngut in der Nähe von Chur umzusehen. Dieser meldete ihm bald darauf, dass die Gaisweid [Geissweid] in der Nähe von Plankis käuflich sei. Das Gut wäre billig, allerdings in sehr schlechtem Zustande. Ein junger, tüchtiger Mann könnte aber etwas aus ihm machen. Mein Vater kaufte das Gut und zog am 8. Februar 1879 mit seiner Familie auf die Gaisweid. Die Schwester meines Vaters, Betti Thürer, trug mich kleinen Burschen mitten im Winter auf ihren starken Armen drei Stunden weit von Valtana bis auf die Gaisweid. Denn einen Kinderwagen besassen meine Eltern nicht und haben einen solchen überhaupt nie besessen. Man legte die Kinder zum Schlafen in die Wiege oder trug sie im Sommer in einer Zeine aufs Feld oder machte im Baumgarten aus einem Heutuch für sie eine Hängematte, der man einen Stoss gab, wenn sie zu schreien anfingen. Oft habe ich so als kleiner Knabe meine Schwester geschaukelt, wenn sie in der Matte oder in der Wiege lag.

1924, Schwyz

Martha Farner, *1903

Im Vorsommer 1924 – ein unvergleichlich schöner Tag. Die Fenster im Parterre weit geöffnet zum Hof hinaus, ich hörte ein dünnes Stimmchen, es weinte. Darauf eine tiefe Frauenstimme, die sagte «Nenäi, Chindli, die Stäinli tüend dier nid wee. Lueg d Vögäli hend au ekäni Schue und singid nu derzue!» Wie schön, dachte ich, aber schon läutete die Hausglocke. Ich öffnete. Vor mir stand eine Frau mit einem kleinen Kind kaum älter als drei Jahre. Tränen bahnten ihren Weg über das schmutzige Gesichtlein. Die Hand lag in der seiner Mutter. Die Frau war klein von Wuchs und von einer dürren Magerkeit. Braun gebrannt die Haut, lachte sie mir entgegen mit dunklen Augen und langen Wimpern. Mutter und Kind waren barfuss. Der Rockschurz hing an ihr wie an einem Kleiderbügel, obschon sie hochschwanger war. Auf den ersten Blick sah ich es: Diese Frau war eine Feckerin. «Guten Tag, Frau», sagte sie, «ich bitte um die Ehre als Patin für mein sechstes Kind.» Noch die schöne Antwort von den Vögelein ohne Schuh in den Ohren, gab ich sofort meine Zusage. Als ich später dies meiner Mutter erzählte, freudig natürlich, sagte sie lächelnd: «Du dummes Kind, diese Frau hätte viel lieber eine Absage mit einem Fünfliber entgegengenommen, diese Leute machen das so.»

Einige Tage später kam der, wie mir schien, glückliche Vater; er zeigte die Geburt eines gesunden Buben an. Die Taufe war in zwei Tagen. Es war damals der Brauch, dass die Patin eines Knaben alles für die Taufe organisiert und bezahlt, hingegen bei einem Mädchen musste der Pate alles berappen. Der Götti war ein gut beleumdeter Handwerker. Ich setzte mich sofort mit ihm in Verbindung, da ich meinte, es wäre besser, den Leuten das Geld zu geben, statt zu festen. Aber die Antwort kam sehr spontan und energisch: «Nüd isch, gschlotteret muess sii und de nu miteme Gutschli.» (Gschlotteret heisst Taufessen).

Der Götti holte mich mit einem Einspänner ab, und wir beide fuhren zusammen zur Kirche. Ich fand es furchtbar lustig, so durch das Dorf zu fahren. Vor der Kirchentür erwartete uns die Hebamme, dies war bei uns so der Brauch und für die Hebamme die Krönung nach der Arbeit einer «Vorgängerin». Dieses Wort wurde damals noch gebraucht für Hebamme, weil sie doch vor der Geburt nach der Schwangeren sehen musste. Diese Frau trug den Säugling in einem richtigen Bettfederkissen, die eine Ecke so fest eingedrückt, dass es wie ein Tragkissen aussah. Bald kam der Pfarrhelfer mit dem Sigrist; der «Herr» war zu meiner Schulzeit mein Religionslehrer, zum Teil gefürchtet, weil er den Kindern, die er nicht mochte (nicht etwa die nichts lernten), mit dem «Kanisi» (Katechismus) auf den Kopf hackte. An diesem Buch war eine Ecke extra verhärtet; auch ich spürte diesen Kanisihack. Dies war seine Originalstrafe, und am Ende nahm man ihm diese Strafe auch gar nicht so übel. Wer keinen Hack bekam, musste die Stunde durch auf dem Holzboden knien.

Unter der offenen Kirchentür wurde gebetet und gesegnet, denn das Kind, welches ja noch ein Heide war, wurde erst durch die Taufe zum Christen. All meinen Patenkindern gab ich den Namen Johann oder Johanna, weil meine Mutter sich so nannte. Der Götti und ich legten die Hände auf den Täufling, also auf das Heidenkind, derweilen der Pfarrhelfer seine lateinischen Gebete murmelte. Mitten im Gebet stockte er, schaute mich an und fragte: «Wie soll das Kind heissen?» – «Johann», sagte ich mit klarer Stimme, und der Herr fuhr weiter mit seinem lateinischen Murmeln. Ganz plötzlich und leise sagte er auf deutsch: «Da merkt me wider, wer Gotta isch», und weiter ging das Gebet. Anschliessend ging man zum schönen Taufstein der herrlichen Barockkirche in Schwyz. War das Kind getauft, musste die Patin mit dem Getauften in den Armen vor dem Marienaltar knien und ein Gebet verrichten, welches die Hebamme vorsagte. Das kleine Menschlein stank füchterlich. Erleichtert gab ich es der Hebamme zurück.

Hier stand während der Taufe niemand «z Ehrä», so waren auch wir allein beim Schlottern. «Z Ehrä staa» ist ein schöner Brauch, z. T. heute noch: Verwandte, Freunde und Bekannte stehen um den Taufstein herum, so quasi als Zeugen und Bewunderer des Täuflings. An der Taufe meiner jüngsten Schwester standen über 25 Personen rund um den Taufstein, welche man natürlich auch zum Schlottern eingeladen hat.

Niemals jedoch durfte die Mutter des Täuflings dabeisein.

In der Herrengasse dann wartete unser Gutschli. Wir wollten gerade abfahren, das Rössli zog an, da rief ich: «Nei au, halt, wir haben den Pfarrhelfer vergessen.» (Ich kannte die Bräuche anscheinend noch zuwenig.) Aber da kam schon der «Herr» mit fliegendem Chorhemd und vor sich hinschimpfend eiligen Schrittes auf uns zu. Böse schaute er mich an und sagte: «Ich ha dich meini idr Schuel nid gnuäg glehrt, ier wärid oni mich abgfahrä.» Aber im Gutschli beruhigte sich der Pfarrhelfer, und schliesslich verlief die «Schlotteretä» sehr friedlich. Dies war aber sonst gar nicht immer der Fall. Einmal stritten sich die Grossväter so sehr, dass man den Arzt rufen musste. Einmal trank die Hebamme ein bisschen über das Mass. Der Heimweg im Schnee war so mühselig, dass sie den Täufling verlor; er rutschte aus dem Kissen, und leider wurde dies erst im Bergheimen oben bemerkt. Als man ihn endlich gefunden hatte, war er bereits erfroren. Dem sagte man: «Er ist nun ein Engel im Himmel.» Einmal war ich an einer Beerdigung eines Kleinkindes, einziges, langersehntes Kind eines rechtschaffenen Bauernehepaars. Nach der Beerdigung stand die Frau am Ausgang des Friedhofs; bleich, starr und wie aus Stein gegossen, nahm sie die Gratulationen entgegen, weil sie nun eben einen Engel im Himmel hatte.

Später besuchte ich die Wöchnerin, die Mutter meines Täuflings, in ihrem «Verschlag»; ein Wohnwagen am Bach oder an einem See wäre weniger schlimm gewesen als dieses verlotterte Haus. Es war ja alles ein Jammer, aber helfen hätte man nur von Grund auf können.

Offenbar war der Göttibub doch kein gesunder Knabe; kaum drei Wochen nach der Taufe stand die Feckerfrau wieder vor meiner Tür. Sie sah aus wie ein «Maschgrad»: Auf dem kleinen Kopf baumelte ein riesiger Hut, der wohl einmal schwarz gewesen war. Die Frau war noch magerer, die Wangen eingefallen, und von ihren Schultern hing ein schwarzweisses Baumwolltuch, das den Boden berührte. Durch diese Kleidung gab sie ihre Trauer kund, denn sie sagte. «Frau, üüche Göttibueb isch tot. Wills Gott chönd ier übers Jahr wider Gottä sii.» Es war ein alter Brauch, dass man, wenn ein junges Patenkind starb, dem nächstfolgenden Kind denselben Götti gab.

Die Beerdigung war gleich anderntags; diese Leute hatten keinen Platz im Haus. Früh um sieben Uhr kam das Totenzüglein von Ibach heraufgezogen, dem Hauptplatz zu. Bei der Kirche stellten sich der Pfarrherr, Kreuz und Fahnenträger ein. Ich reihte mich am Schluss des Zuges ein. Noch lag eine morgendliche Stille über dem Dorf, nur das Totenglöcklein für Kinder schwang seine hellen Töne in die Landschaft hinaus. Ein prachtvoller Morgen, die Sonne stand neben dem Grossen Mythen, der noch kurz seine Schatten in den Wald hineinwarf. Es war ein Bild, als hätte Richter es gezeichnet: Der Götti, in schwarzem Kleid, trug das kleine, weisse Särglein unter dem Arm. Der Johann benötigte keinen Totenwagen. Nach dem Götti folgten die Grabbeterin und ein kleiner Zug von Begleitern, den Schluss machte ich. Der Pfarrhelfer und die Grabbeterin beteten den Rosenkranz vor, und alle Begleiter stimmten ein. Der Zufall wollte es, dass derselbe «Herr» die Beerdigung ausführte wie damals die Taufe des kleinen Johann. Die Grabbeterin winkte mir, sich rückwärts drehend, energisch zu, dann noch einmal, und alle Köpfe der Begleiter schauten ebenfalls zurück, immer wieder. Ich wusste kaum mehr was tun. Alles an meinen Kleidern war in Ordnung – so liess ich sie schauen und betete mit. Der Weg von der Kirche bis zum Friedhof hat seine gute Viertelstunde; man macht ihn unter stetigem Beten des Rosenkranzes. Aber in diesem Leichenzüglein hatte niemand die richtige Andacht. Immer wieder wurde nach mir geschaut, die Köpfe drehten sich, war ich doch am Ende des Zuges. Wiederum kontrollierte ich mich unbemerkt – alles war in Ordnung, Strümpfe, Rocksaum, Mantel –, doch schon traf mich ein böser Blick des Pfarrhelfers. Endlich standen wir vor dem schmiedeisernen Tor des Friedhofs, es war weiss Gott ein langer Gang unter diesen Blicken.

Bevor man in den Friedhof trat, wurde die Leiche im Sarg mit Weihwasser besprengt, gesegnet. Erst dann ging man zur Reihe der Kindergräber, wo eine schmale Grube in lehmiger Erde bereitstand. Niemand weinte. Auf dem nahen Kastanienbaum sang eine Amsel ihr Morgenlied. In Gedanken ging ich dem Friedhoftor zu, wo sich die Leute besammelten.

Laut den Rosenkranz betend, kam der Pfarrhelfer als letzter auf uns zu. «Heilige Maria, Muttergottes», pumps, hatte ich einen heftigen Ellbogenstoss an meinen Rippen. Zischend zwischen den Lippen, aber laut genug, sagte er: «Du dummä Lümmel du, d Gottä lauft doch z voruus.» So lief ich an der Spitze des Zügleins, hinter dem Kreuzträger und der Grabbeterin – und alle Betenden waren es zufrieden.

Biografien und Quellen

Die Personen sind alphabetisch nach den Vornamen geordnet

Adeline Favre, 1908 bis 1983, aufgewachsen in St. Luc im Val d’Anniviers als achtes von vierzehn Kindern. Gegen den Willen ihrer Eltern besuchte sie in Genf die Hebammenschule. Als kaum Zwanzigjährige kehrte sie ins ­Wallis zurück und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Hebamme, anfangs in den Häusern der Familien, zuletzt im Spital von Sierre. Ihr Leben erzählte sie ihren Nichten, die es aufschrieben.

Adeline Favre, Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d’Anniviers. Erinnerungen herausgegeben von Yvonne Preiswerk nach Aufzeichnungen von Gesprächen Adelines mit ihren Nichten Marie-Noëlle Bovier und Pierette Mabillard. Originaltitel: Moi, Adeline, accoucheuse. Aus dem Französischen von Maja Spiess-Schaad. Mit einer Einführung von Susanne Perren. 2009. 208 Seiten, 64 Abbildungen, gebunden.

Aline Valangin, 1889 bis 1986, aufgewachsen in Bern. Ausbildung als Pianistin. Verheiratet mit dem Juristen Wladimir Rosenbaum. Im Zürich der Dreissigerjahre empfing und ­betreute sie in ihrem Haus Emigranten und Künstler. Befreundet mit Ignazio Silone und dem Komponisten Wladimir Vogel. Seit 1936 lebte sie im Tessin. Tätigkeit als Psychoanaly­tikerin, Publizistin und Schriftstellerin.

Aline Valangin, Mutter. Herausgegeben von Liliane Studer. 2001. 96 Seiten, gebunden.

Anne Cuneo, 1936 bis 2015, geboren in Paris. Sie wuchs in Norditalien auf und lebte nach dem Tod ihres Vaters in mehreren Waisenheimen in Italien und in Lausanne, wo sie Französisch lernte. Nach einem Studium an der Universität Lausanne arbeitete sie als Schriftstellerin, Journalistin und Regisseurin.

Anne Cuneo, Porträt der Autorin als gewöhnlicher Frau: Die Zeit der weissen Wölfe. Originaltitel: Le temps des loups blancs. Aus dem Französischen von Peter Sidler. 1985. 290 Seiten, broschiert.

Anny Klawa-Morf, 1894 bis 1993, geboren in ­Basel, aufgewachsen in Zürich. Sie kämpfte seit ihrer Jugend für die Rechte der Frauen und erlebte die Revolutionen nach dem ­Ersten Weltkrieg. 1922 gründete sie in Bern die sozialdemokratische Organisation der Kinderfreunde Bern.

Annette Frei, Die Welt ist mein Haus. Das Leben der Anny Klawa-Morf. 1991. 240 Seiten, zahlreiche Fotografien, broschiert. Das Buch kann bestellt oder als PDF heruntergeladen werden auf www.freiberthoud.ch

Burkhard Reber, 1848 bis 1926, geboren in Benzen­schwil AG, Besuch der Bezirksschule Muri. Danach Apothekerlehre in Weinfelden, Fachstudien in Neuenburg, Strassburg und Zürich, dort 1877 Abschluss mit Staatsexamen. 1885 Eröffnung einer eigenen Apotheke in Genf. Vielfältige Sammeltätigkeit, insbesondere zur Pharmaziegeschichte, ­sowie zahlreiche Publikationen. 1913 Privat­dozent an der Universität Genf.

Burkhard Reber, O! Freundschaft, du machst mich fast betrunken! Tagebuch eines Bauernburschen aus dem Aargau 1867–1868. Herausgegeben von Paul Hugger. Das volkskundliche Taschenbuch 49. 2008. 200 Seiten, 19 Abbildungen, gebunden.

Charles-Ferdinand Ramuz, 1878 bis 1947, ­geboren in Lausanne, studierte Altphilologie in der Schweiz und Paris, wo er zu schreiben begann. Mehr als zehn Jahre verbrachte er in Paris, wo er auch seine Frau Cécile Cellier kennenlernte. Ab 1926 erschienen seine ­Bücher im französischen Verlag Grasset, er gilt als Klassiker der französischen Literatur, seine Romane wurden in die Pléjade aufgenommen.

Gérald Froidevaux, Ich bin Ramuz – nichts weiter. Materialien zu Leben und Werk. Übersetzt von Peter Sidler, sowie Heide Bucher, Hugo Loetscher, Elisabeth Brock-Sulzer, Ursula von Wiese, Christine Maeder Viragh. 1987. 268 Seiten, broschiert.

Charlotte Louise Staehelin-Burckhardt, 1877 bis 1918, aufgewachsen in Basel. Welschlandjahr in Colombier. Drei Aufenthalte bei ihrer in London verheirateten älteren Schwester. 1901 Heirat, Geburt dreier Kinder. 1906 bis 1910 auf Rigi Scheidegg – ihr Ehemann war Kurarzt –, 1912 in Bad Ragaz. Reise nach Nordafrika im Jahre 1913.

Charlotte Louise Staehelin-Burckhardt, Unter
dem Siegel der Verschwiegenheit. Aus den Tage­büchern einer Baslerin des Fin de Siècle 1877–1918.
Herausgegeben von Paul Hugger. Das volkskund­liche Taschenbuch 32. 744 Seiten, 114 Abbildungen, vergriffen.

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller, Autor von autobiografischen wie essayistischen Werken sowie Roma­nen, im speziellen der zehnbändigen «Simulation humaine». Daniel de Roulet wurde in Frankreich mit verschiedenen Preisen aus­gezeichnet. Er lebt in Genf und Frankreich.

Daniel de Roulet, Double. Originaltitel: Double. Un rapport. Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle. 1998. 216 Seiten, gebunden.

Dora Stettler, geboren 1927 in Bern. Technische Zeichnerin während 36 Jahren bei Hasler AG und PTT. Nach der Pensionierung begann sie, ihre Geschichte als Verdingkind auf­zuschrei­ben. Dora Stettler lebt in Muri bei Bern.

Dora Stettler, Im Stillen klagte ich die Welt an. Als «Pflegekind» im Emmental. 2004. 180 Seiten, 6 Schwarz-Weiss-Fotografien, gebunden.

Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenen­bildner für Informatik und Sprache. Autor von Romanen, Hörspielen, Bergmonografien, Kinder- und Jugendbüchern. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet.

Emil Zopfi, Vivi Kola. Unveröffentlicht.

Erika Burkart, 1922 bis 2010, geboren in Aarau. Wuchs in Althäusern bei Aristau im Aargauer Freiamt auf in der «Wein- und Speise-Wirtschaft» ihres Vaters. Nach der Ausbildung zur Primarlehrerin unterrichtete sie einige Jahre an verschiedenen Schulen, danach freie Autorin. Für ihre ­Gedichte und Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet.

Erika Burkart, Am Fenster, wo die Nacht einbricht.Aufzeichnung. Herausgegeben von Ernst Halter. 2013. 304 Seiten, gebunden.

Ernst Halter, geboren 1938 in Zofingen AG. Studium der Germanistik und Arbeit als Lektor bei Orell Füssli. Ab 1986 freischaffender Schriftsteller, Publizist und Herausgeber. Verheiratet mit der Lyrikerin und Schriftstellerin Erika Burkart.

Ernst Halter, Die Stimme des Atems. Wörterbuch einer Kindheit. 2003. 320 Seiten, vergriffen.

Evelyna Kottmann, 1961 in der Innerschweiz geboren. Clownin, Schauspielerin, ­Psychodramatikerin und Leiterin Themenzentriertes Theater. Evelyna Kottmann lebt in Zürich.

Evelyna Kottmann, Kreuz Teufels Luder. 2015. 384 Seiten, gebunden.

Friedrich Glauser, 1896 bis 1938, geboren in Wien. Nach der Volksschule ging er 1910 ins «Schweizer Landerziehungsheim Glaris­egg» am Bodensee und danach in Genf ins ­Gymnasium. Er führte ein unstetes Leben und schrieb Erzählungen und Romane, bekannt ist er bis heute als Autor der Wachtmeister-Studer-Romane.

Friedrich Glauser, Dada und andere Erinnerungen aus seinem Leben. 2013. 128 Seiten, gebunden.

Fritz Bär, 1919 bis 2002, aufgewachsen in Ob­felden ZH und Zug. Nach der Schulzeit Bauernknecht in der Westschweiz, Bäckereiausläufer in Winterthur, Bäckerlehre in ­Zürich, 1939 Rekrutenschule, 1941 Unter­offiziersschule. Heirat, Fabrikarbeiter in einer Spinnerei in Zug. Ab 1957 Gewerkschaftssekretär, später Gastwirt.

Fritz Bär, Marienkäfer und Kakerlaken. Erinnerungen an eine bewegte Jugend 1919/1941. Heraus­gegeben von Paul Hugger. Das volkskundliche ­Taschenbuch 31. 2003. 288 Seiten, 23 Abbildungen, broschiert.

Fritz Brupbacher, 1874 bis 1945, aufgewachsen in Zürich. Er studierte Medizin, arbeitete ab 1901 in seiner eigenen Praxis im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl und engagierte sich für einen freiheitlichen Sozialismus und Frauenrechte. Er schrieb politische Artikel und Bücher.

Fritz Brupbacher, 60 Jahre Ketzer. Selbstbiographie. Mit einem Nachwort von Karl Lang. 1981. 376 ­Seiten, 10 Fotografien, vergriffen.

Gertrud Mosimann, 1916 bis 2001, geboren in Zürich und aufgewachsen in verschiedenen Pflegefamilien und in einem Heim. Sie war von Geburt an sehbehindert, kämpfte jedoch beharrlich für ein normales Leben, wenn auch in Armut.

Dorothee Degen-Zimmermann, Mich hat niemand gefragt. Die Lebensgeschichte der Gertrud Mosimann. 2000. 264 Seiten, als E-Buch erhältlich.

Jakob Senn, 1824 bis 1879, geboren in Fischen­thal, Kanton Zürich. Erste literarische ­Versuche mit zwanzig Jahren, Bekanntschaft mit dem Volksschriftsteller Jakob Stutz. 1856 angestellt in einem Zürcher Antiquariat, ab 1862 freier Schriftsteller, 1864 Heirat und Übersiedlung nach St. Gallen. 1867 Ausreise nach Südamerika, Rückkehr 1878.

Jakob Senn, Hans Grünauer. Roman. Mit einem Nachwort von Matthias Peter. 2006. 320 Seiten, ­gebunden.

Jeannot Bürgi, 1939 bis 2011, aufgewachsen in Bürglen OW. Nach der Kunstgewerbeschule Luzern freier Bildhauer in Holland, ab den Achtzigerjahren in der Schweiz, in Frankreich und Griechenland. 1986 wurde er mit dem ersten Küsnachter Kulturpreis ausgezeichnet.

Jeannot Bürgi, Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Eine Kindheit aus der Innerschweiz. 2011. 220 Seiten, gebunden.

Joli Schubiger-Cedraschi, geboren 1935 in ­Zürich. Mit vier Jahren kam sie zu ihrer Grossmutter ins Tessin, wo sie zweieinhalb Jahre verbrachte. Ihre Erinnerungen erzählte sie Jürg Schubiger, der sie aufgeschrieben hat. Joli Schubiger lebt in Uster.

Jürg Schubiger, Haus der Nonna. Aus einer Kindheit im Tessin. Mit Texten von Joli Schubiger-Cedraschi. 1996. 140 Seiten, vergriffen.

Laure Wyss, 1913 bis 2002, geboren in Biel / Bienne. Nach der Matura Sprachstudium in ­Paris, Zürich, Berlin und Lehrerinnenpatent in Zürich. Die Kriegsjahre verbrachte sie in Schweden und Davos und übersetzte Werke aus dem skandinavischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Wieder in der Schweiz arbeitete sie ab 1946 als Journalistin und Redaktorin beim Fernsehen, wo sie das erste Frauenprogramm gestaltete. 1970 ­Mitbegründerin des Tages-Anzeiger- ­Magazins.

Laure Wyss, Schriftstellerin und Journalistin. Herausgegeben von Corina Caduff. 1996. 200 Seiten, gebunden.

Mädchen, aufgewachsen im Bündner Oberland, wurde 1943/44 von Emil Brunner für seine Sammlung fotografiert. Ihre Erin­nerungen erzählte sie Erika Hössli, die sie für einen Fotoband aufschrieb.

Emil Brunner, Tausend Blicke. Kinderporträts von Emil Brunner aus dem Bündner Oberland 1943/44. Herausgegeben von der Fotostiftung Schweiz. Mit Texten von Peter Pfrunder, Paul Hugger, ­Erika Hössli. 2009. 220 Seiten, 190 Duplexfoto­grafien, gebunden.

Marcel Lévy, 1899 bis 1994, geboren in Paris. Während des Ersten Weltkriegs zog er mit seiner Mutter nach Zürich, wo er bereits früh höhere Schulen besucht hatte, in einer Versicherung arbeitete und in der Freizeit malte. Mit 93 Jahren veröffentlichte er ein Buch über sein Leben, das in Frankreich mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

Marcel Lévy, Das Leben und ich. Berichte und Gedanken eines Versagers. Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle. Mit einem ­Vorwort von Laure Wyss. 1996. 296 Seiten, gebunden.

Maria Colombo, 1918 bis 1993, aufgewachsen in Pontresina, Kantonsschule und Lehrer­seminar in Chur, Studium an der Uni­versität Zürich, Tätigkeit als Journalistin, ­Sekretärin und Sachbearbeiterin.

Maria Colombo, Drei Häuser. Eine Jugend im Engadin. Mit einem Nachwort von Liliane Studer. 2003. 224 Seiten, gebunden.

Marie-Rose De Donno, geboren 1950 in Apulien. Sie kam als Kind in den fünfziger ­Jahren in die Schweiz. Ihre Lebensgeschichte erzählte sie Sylviane ­Roche, die sie aufgeschrieben hat.

Marie-Rose de Donno / Sylviane Roche, Die Ita­lienerin. Originaltitel: L’Italienne. Aus dem ­Fran­zösischen von Peter Sidler. 2000. 240 Seiten, ­gebunden.

Martha Farner, 1903 bis 1982, geboren in Schwyz. Nach dem Tod ihres ersten Gatten bildete sie sich 1930 als Heimweberin aus und arbeitete anschliessend als Weblehrerin mit Bergbauernfrauen im Kanton Schwyz. Ende der siebziger Jahre begann sie mit der Aufzeichnung ihrer Erinnerungen.

Martha Farner, Alles und jedes hatte seinen Wert. Mit einem Nachwort von Laure Wyss. 2000. ­128 ­Seiten, 20 Abbildungen, vergriffen.

Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren im ehemaligen Jugoslawien, lebt seit 1992 in Bern. Nach Abschluss des Studiums am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne gründete sie das Lyrikatelier in Bern.

Meral Kureyshi, Elefanten im Garten. Roman. 2015. 144 Seiten, gebunden.

Niklaus Meienberg, 1940 bis 1993, aufge­wachsen in St. Gallen, Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten.

Niklaus Meienberg, Reportagen 1. Herausgegeben von Erwin Künzli, Marianne Fehr, Jürg Zimmerli. 2000. 450 Seiten, broschiert.

Oscar Peer, 1928 bis 2013, geboren und aufgewachsen im Unterengadin. Nach abge­brochener Lehre als Maschinenschlosser ­absolvierte er das Lehrerseminar in Chur, dann Studium der Romanistik, Promotion zum surselvischen Schriftsteller Gian Fontana 1958. Viele Jahre unterrichtete er an Mittelschulen, daneben entstand kontinuierlich sein literarisches Werk.

Oscar Peer, Das Raunen des Flusses. 2015. 304 ­Seiten, gebunden.

Oskar Pfenninger, geboren 1930 in Winterthur. Schauspiel-Akademie Zürich, Japan-Korrespondent von Radio DRS. Seit 1973 zahlreiche Veröffentlichungen von Gedichten, Erzählungen, Romanen und Hörspielen. Oskar Pfenninger lebt in Zürich.

Oskar Pfenninger, Vaters Liebe. 2004. 160 Seiten, ­gebunden.

Otto Scherer, 1939 bis 2012, geboren in Meggen. Lehre als Hochbauzeichner und Architekturstudium in Luzern. Projektleiter bei ­Metron Architektur AG in Brugg. 1980 bis 1999 Professur an der Architektur­abteilung der Fachhochschule beider Basel. Er ver­öffentlichte zwei Bücher über das Leben auf dem elterlichen Hof Eiholz in Meggen.

Otto Scherer, Eiholz. Eine Kindheit im Zentrum der Welt. Mit Texten von Fredi Scherer, Heiri Scherer, Lisbeth Huber-Scherer. 2012. 256 Seiten, 41 Schwarz-Weiss-Fotografien, gebunden.

Paul Thürer, 1978 bis 1967, aufgewachsen in der Nähe Churs zwischen bäuerlichen Alltag und dem kleinstädtischen Leben in Chur. Nach der Matura studierte er Theologie in Basel, Heidelberg, Berlin, Zürich und Florenz. 1904 erste Pfarrstelle in Monstein, 1906 Heirat. Ins kollektive Gedächtnis ist er als «Skipfarrer von Monstein» eingegangen, der den Skiunterricht in der Schule eingeführt hat.

Paul Thürer, Damals in Monstein. Wie ein Bündner Bauernbub zum «Skipfarrer» wurde. Erinnerungen 1887–1906. Herausgegeben von Andrea Mittelholzer und Thomas Gadmer. Das volkskundliche Taschenbuch 41. 2005. 290 Seiten, 48 Fotografien, vergriffen.

Tony Ettlin, 1950 in Stans NW geboren, Jugend in der «Freien Republik Schmiedgasse», Stans, Verkehrsschule in Luzern, berufliche Tätigkeit bei der Swissair, Studium in Organisationspsychologie in Zürich, seit 1987 selbständiger Berater für Organisationsentwicklung. Tony Ettlin lebt in Uitikon ZH.

Tony Ettlin, Blätterteig und Völkerball.Eine Jugend im Schatten des Stanserhorns. Mit einem Vorwort von Peter von Matt. 2007. 256 Seiten, 27 Fotografien, gebunden.

Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspielregisseur und war Schauspiel­di­rektor in Darmstadt und Bern. Er war Dozent an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003 bis 2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006 bis 2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Urs Schaub lebt in Basel.

Urs Schaub, Das Lachen meines Vaters. Geschichten aus der Kindheit. Mit Illustrationen von Sebastian Schaub. 2014. 96 Seiten, gebunden.

Der Verlag dankt

Für grosszügige Unterstützung in seinem verflixten vierzigsten Jahr dankt der Limmat Verlag dem Förderverein des Limmat Verlags sowie folgenden Personen ganz speziell:

Felix Aeppli und Barbara Matthis, Brigit Allenbach, François Baer, Hans Baumann, ­Nicola Behrens, Hans-Conrad Daeniker, Dorothee Degen-Zimmermann, Hans-Jürg Fehr, Anna Fierz, Fischteich (Peter Kuntner und Stephan Lichten­steiger), Ida Häberli, Martin Hänz, Urs Helfen­stein, Daniel Hitzig, Urs Hofmann, Katrin Hürzeler, Stefan Ineichen, Lorenz Keiser, Karl Lang, Vreni Merz, Jacques von Moos, Pierre von Moos, Regula Nuesch und George Peterelli, Heinrich Pestalozzi, Manuela Pfrunder, Mevina ­Puorger Pestalozzi und Bernhard Pestalozzi, Hansjörg Quaderer, Iris Maier Roell und Wolfgang Roell, Sonja Scherer, Ursula Schiess, Peter Sprenger, Bettina Stahel, Dominique und Martin Steiner, Regula Steiner und Oskar Weidmann, David Streiff, Doris und Klaus Tanner-Christen, Hanspeter Thür, ­Irene Vöge­li, Anna und Martin Vollenweider, Bernhard Wenger, Heidi Witzig, Paul Wolf.

Der Zwillingsband

Kindheit in der Schweiz

Fotografien

Ein Fotoband zur Schweizer Kindheit ab 1870. Klassiker der Fotogeschichte neben unbekannten Trouvaillen aus der Sammlung der Fotostiftung Schweiz: ein faszinierendes Panorama der Kindheit, das die üblichen Verklärungen weit hinter sich lässt.

  Kindheit in der Schweiz. Fotografien. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Peter Pfrunder, Fotostiftung Schweiz. Text Deutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch. 260 Seiten, 166 Fotografien Duplex und vierfarbig, gebunden.

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Umschlagbild von Hedy Bumbacher, Etzlital UR, 1945, © Fotostiftung Schweiz

Schrift: Merriweather; Courtesy of 2010-2013 Sorkin Type Co (www.sorkintype.com); OFL 1.1

Umschlaggestaltung von Trix Krebs

© 2015 by Limmat Verlag, Zürich

ISBN print 978-3-85791-781-3

ISBN epub 978-3-03855-036-5

ISBN mobi 978-3-03855-037-2

1940er-Jahre, Mels GR

Mädchen

Mit zwölf Jahren musste ich nach Mels an eine Sommerstelle. Ich konnte kein Wort Deutsch. Eine junge Frau aus unserem Dorf, die in Winterthur arbeitete, nahm mich auf die Bitte meiner Mutter hin mit. Ich machte mir keine Reisesorgen, schaute interessiert aus dem Eisenbahnfenster und verliess mich voll und ganz auf meine Reisegefährtin. In Chur stiegen wir um und fuhren weiter. Kurz vor Sargans wies sie mich an, mich zum Aussteigen bereit zu machen, und in Sargans geleitete sie mich aus dem Zug. Sie selber fuhr nach Zürich weiter.

Da stand ich nun, allein und verlassen, mitten in der Fremde und hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich zu gehen hatte. Eigentlich hätte mich ja jemand abholen sollen. Nur – die Gewissheit, dass da niemand auf mich wartete, wurde immer grösser. Schliesslich erbarmte sich ein Mädchen aus Wangs meiner. Wir machten uns auf den Weg nach Mels, zu Fuss natürlich. Dort angekommen, blieben wir vor einem grossen Haus stehen: «So, hier ist es!» Meine Begleiterin verabschiedete sich und ging. Ich nahm mein Herz in beide Hände und stieg zögernd eine lange Treppe hinauf, sah eine Glocke und läutete. Eine Frau kam heraus, staunte, schüttelte den Kopf – was sie redete, verstand ich nicht – und schickte mich auf die andere Seite des Hauses. Dort gab es keine Glocke. Auch das noch! Zaghaft rief ich: «Holla, holla.» – Nach geraumer Zeit kam jemand, und es bestätigte sich, ich war am Ziel.

Meine Aufgabe war, ein Kind zu hüten, den Peterli. Ich musste ihn versorgen und täglich spazieren führen. Ich lebte mich gut ein, es gefiel mir. Eines Tages fragte mich meine Meisterin, ob ich wisse, wo die Apotheke sei. «Ja, ja», behauptete ich und hatte einen Laden im inneren Auge, den ich auf meinen Spaziergängen mit Peterli schon ein paar Mal gesehen hatte, Optik hiess er. Die Frau gab mir einen Zettel, und ich marschierte zuversichtlich los. Als die lachenden Optikerinnen merkten, dass ich weder ortskundig noch deutschkundig war, begleitete mich eine der Brillenfrauen zur Apotheke.

Das zweite Missgeschick passierte mir beim Milchholen. Ich nahm den Peterli mit, stellte ihn vor dem Laden ab und vergass ihn. Als ich heimkam, fragte die Meisterin: «Und wo hast du den Peterli?» – Nie mehr in meinem ganzen Leben habe ich je wieder einen Peterli vor einem Laden vergessen. Allen Schwierigkeiten zum Trotz schrieb ich heim: «Liebe Eltern, es geht mir gut. Heimweh habe ich, glaube ich, keins.»

1950er-Jahre, Klewenalp NW

Tony Ettlin, *1950

Oft plagte mich das Heimweh. Ich sehnte das Ende des Sommers herbei oder mindestens den nächsten Sonntag, wenn die Hoffnung bestand, dass meine Mutter oder vielleicht sogar mein Vater zu Besuch kommen würden. Da es in der Alphütte kein Telefon gab, wussten wir nie genau, ob am Sonntag Besuch zu erwarten war. Ich setzte mich am Sonntagvormittag auf die Bank beim Kreuz und spähte mit dem Feldstecher Richtung Rötenport. Dort führte der Weg von der Bergstation der Klewenalpbahn zu unserer Hütte über eine kleine Krete, und die Wanderer auf dem Weg wurden zum ersten Mal sichtbar. Ich hielt das Fernglas auf den Übergang fixiert und wartete sehnsüchtig darauf, dass die bekannte Gestalt meiner Mutter erscheinen würde. Sobald sich etwas auf dem Weg regte, schlug mein Herz höher, aber dann sank es wieder schwer vor Enttäuschung, wenn ich die Figuren als Älpler auf dem Heimweg von der Messe in der Bergkappelle oder als Sonntagswanderer erkannte.

Wenn Mutter oder Vater bis zum Mittag nicht auftauchten, würden sie heute nicht kommen. Das waren die traurigen Sonntage. Erschienen aber plötzlich die bekannten Gestalten in meinem Feld­stecher, konnte ich es kaum erwarten, bis sie die letzte Wegstrecke zurückgelegt hatten. Die Eltern winkten, als wüssten sie, dass ich auf dem Beobachtungsposten war. Ich winkte zurück, auch wenn sie mich wahrscheinlich nur als kleinen Punkt sehen konnten. Ich folgte ihnen mit dem Fernglas auf dem Weg hinunter zum Tannibiel, wo sie aus meinem Blickfeld verschwanden. Sie würden nun den letzten Aufstieg in Angriff nehmen und in einer Viertelstunde bei mir sein. Ich freute mich auf das Süsse im Rucksack und die Flasche Becken­rieder Orangenmost. Der Sonntagsbesuch meiner Eltern war ein willkommener Anlass, zu erzählen und zu zeigen, was ich die ganze Woche gemacht hatte. Ihre Bewunderung und ihr Lob entschädigten mich für die langen Tage und die wortkarge Einsamkeit mit Walti. Die Ankunft meiner Eltern erfüllte die Alphütte mit Leben. Ich war ihnen ein Stück weit entgegengelaufen und führte sie stolz auf «meine» Alphütte zu. In der Küche packten sie ihre Rucksäcke aus. Sie hatten frisches Brot und Lebensmittel mitgebracht. Sie wussten genau, was Walti und ich in unserem Haushalt brauchen konnten. Wenn etwas ausging oder fehlte, würden sie es in ein oder in zwei Wochen mitbringen. Brauchten wir in der Zwischenzeit dringend etwas, bedeutete das einen einstündigen Fussmarsch nach Klewenalp, wo es einen kleinen Laden mit dem Nötigsten gab. In seltenen Fällen musste Walti «zʼBode». Er fuhr mit der Klewenbahn nach Beckenried, kaufte alles ein, was er brauchte, und kehrte wieder auf die Alp zurück. Das geschah aber höchstens einmal im Sommer. Sonst blieb er die ganze Zeit auf der Alp und lebte von dem, was da war. Meine Augen glänzten, wenn mein Vater und meine Mutter die Rucksäcke auspackten. Was sie mitbrachten, versprach Abwechslung im Speisezettel und kleine Leckereien für zwischendurch. Vor allem aber stellten die feinen Nussgipfel, Birnweggen oder Schnecken die Verbindung zur Bäckerei und meinem Zuhause her.