Über das Buch:
Piper McKenna ist überglücklich. Endlich ist ihr Bruder Reef, der Profi-Snowboarder, wieder in Yancey. Doch dann steht er blutüberströmt vor ihr – und das Blut ist nicht sein eigenes. Trotzdem zweifelt Piper nicht eine Sekunde an seiner Unschuld. Als er verhaftet wird, ist sie fest entschlossen, herauszufinden, wer wirklich hinter dem Mord an der Wettkampfkollegin ihres Bruders steckt.

Deputy Landon Grainger steht ihr dabei zur Seite. Er ist nicht ganz so überzeugt von Reefs Unschuld wie Piper. Trotzdem macht er sich gemeinsam mit ihr auf die Suche nach der Wahrheit – und setzt damit seine Karriere aufs Spiel. Doch was würde er nicht alles für Piper tun …

Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

Kapitel 8

Gage wartete, bis alle den Gerichtssaal verlassen hatten – alle außer ihm und Meredith.

Sie stand am Tisch der Anklage und stopfte Akten in ihre Tasche.

Er näherte sich ihr von hinten und erhaschte einen Hauch ihres Parfüms. Flieder. Der Duft brachte Erinnerungen an glücklichere Zeiten zurück – Sommer, in denen sie zusammen in der Hängematte neben dem großen Fliederbusch in ihrem Garten gelegen hatten. Und heute – wie hatte es nur so weit kommen können?

„Du willst das hier wirklich durchziehen?“, fragte er.

Sie erstarrte. „Wenn du mit ‚das hier‘ die Anklage in Reefs Fall meinst … dann ja, ich ziehe das hier wirklich durch.“

„Und du empfindest gar nichts dabei?“

„Im Gegenteil, ich empfinde sehr viel für das Opfer und seine Familie.“

Er trat näher und legte seine Hand auf den Tisch, wenige Zentimeter von ihrer Hand entfernt. Es war so lange her, dass er sie berührt hatte, so lange her, seit ihrer beider Leben so eng miteinander verwoben gewesen waren. „Und für meine Familie?“ Er sah sie an. „Für mich?“

Sie hielt seinem Blick stand, aber ihre Augen zeigten keinerlei Gefühle. „Mit diesem Kapitel meines Lebens habe ich abgeschlossen.“

„Einfach so?“ Er schluckte den Schmerz herunter. „Wir verlieren unseren Sohn und schon am nächsten Tag bist du fort. Du hast dir nicht einmal die Mühe gemacht, zu Tuckers Beerdigung zu kommen.“

„Es gibt keine Beerdigung für Frühgeburten.“

„Er war keine Frühgeburt; er war unser Kind, unser Sohn.“

„Im Gegensatz zu dir sehe ich keine Notwendigkeit, in der Vergangenheit zu leben.“

Er konnte kaum atmen, so sehr traf ihn der Schmerz, den ihre Begegnung wieder aufleben ließ. „Merry …“

„Ich habe keine Zeit für so etwas.“ Sie nahm ihre Aktentasche. „Wenn du mich entschuldigst.“ Sie schob sich an ihm vorbei und er tat nichts, um sie aufzuhalten. Er hatte es schon einmal versucht und es hatte nichts genutzt.

Er hörte, wie sich hinter ihm die Haupttür zum Saal bewegte, während Meredith durch den Seiteneingang verschwand. Hatte sich eines seiner Geschwister hereingeschlichen, um ihre Begegnung zu beobachten?

Er blieb am Tisch stehen und folgte der Holzmaserung des Tisches mit seinem langen, schmalen Finger bis zu der Stelle, an der sie in das Holz gekritzelt hatte. Sie hatte immer gekritzelt, wenn sie unruhig gewesen war.

War sie wegen des Falles nervös oder vielleicht, weil es etwas mit ihm zu tun hatte? Vielleicht war ihr Herz ja doch nicht aus Stein. Er schüttelte den Kopf. Wem machte er hier eigentlich etwas vor?

Vor dem Gerichtssaal traf er auf eine Gruppe Journalisten. Pech für Reef, dass die Presse gerade wegen des Sportwettkampfs die Stadt belagerte. Nun konnten sie über einen Mordfall berichten und leckten sich wahrscheinlich alle Finger danach.

„Miss McKenna“ – ein Journalist hielt Piper ein Mikrofon vor die Nase – „hatten Sie eine Ahnung, dass Ihr Bruder ein Mörder ist?“

„Mein Bruder ist nichts dergleichen.“

Gage trat vor, um einzuschreiten, aber Cole legte bereits einen schützenden Arm um Piper und sagte mit finsterer Miene: „Sie verschwinden jetzt besser.“

„Ist das eine Drohung? Zieht sich die mörderische Natur vielleicht durch die ganze McKenna-Sippe?“

„Das reicht.“ Landon trat zwischen die McKennas und den Reporterschwarm.

Plötzlich flackerten überall Blitze auf.

Meredith erschien am anderen Ende des Ganges und die Journalisten eilten sofort auf ihr neues Opfer zu.

„Woher kennen Sie die Staatsanwältin?“, ertönte eine mutige Stimme.

Offenbar stürzten sich nicht alle Journalisten nur auf Meredith.

Gage drehte sich um und sah ein elfenhaftes Wesen vor sich – kaum einen Meter sechzig groß, das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, das vollkommen geformte Gesicht von ein paar federleichten Haarsträhnen umrahmt. Zauberhaft. „Wie bitte?“

„Meredith Blake. Woher kennen Sie sie?“

Gage zog eine Grimasse. Er hatte sich getäuscht. Wohl doch keine Elfe, sondern eher eine Stechmücke.

„Die stellvertretende Staatsanwältin … Sie kennen sich ganz offensichtlich.“ Ungeduld klang in ihrem Tonfall durch.

Er blickte über den Gang zu Meredith hinüber, die sich den Fragen wie ein Profi stellte. Ihre Selbstsicherheit und ihr Ehrgeiz umgaben sie wie ein Strahlenkranz. „Ich kannte sie einmal, vor vielen Jahren.“ Zumindest hatte er das gedacht.

„Wann war das?“ Die Elfe hielt ihm ein Aufnahmegerät vors Gesicht.

Er schob das Gerät zur Seite. „Wer sind Sie?“

„Darcy St. James“, sagte sie stolz. „Ich bin Journalistin.“

„Bei welcher Zeitung?“, fragte er, merkwürdig neugierig, für welches blutsaugende Blatt sie wohl arbeitete.

Ski Times“, sagte sie mit etwas weniger Selbstbewusstsein.

War das ihr Ernst? „Ski Times?“ Beinahe hätte er laut gelacht. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die über diese Art von Veranstaltung berichten.“

„Ich versichere Ihnen, dass die Ski Times sich immer für Geschichten interessiert, die Sportler betreffen. Über den Prozess gegen Ihren Bruder wird die Zeitschrift sicher gerne berichten – und wenn nicht, gibt es eine Menge knallharter kritischer Magazine, die es tun.“

Das war es also … sie versuchte, sich einen Namen zu machen. „Ich habe Neuigkeiten für Sie, Schätzchen.“ Er beugte sich hinunter, um ihr direkt in die Augen zu sehen. „Meine Familie durch den Dreck zu ziehen, wird Ihnen nicht die knallharte Story verschaffen, hinter der Sie her sind. Also verziehen Sie sich.“

„Verziehen Sie sich?“ Sie schnaubte verächtlich. „Und was fällt Ihnen eigentlich ein, mich Schätzchen zu nennen?“ Bei jedem Wort, das sie sagte, rammte sie ihm ihren Zeigefinger in die Brust. Ihre zarte Hand hatte erstaunlich viel Kraft. „Wenn Sie meine Fragen nicht beantworten wollen, frage ich einfach Meredith. Ich bin sicher, sie wird mir gerne Auskunft geben.“

„Dann kennen Sie Meredith offensichtlich nicht“, sagte er trocken. Sie würde einer aufstrebenden Reporterin nicht einmal die Uhrzeit sagen. Das war das Problem mit ambitionierten Leuten – sie konnten nur die Leute über ihnen gebrauchen, nicht die, die auf der Karriereleiter weiter unten standen.

* * *

Darcy St. James ließ den ungehobelten McKenna-Bruder stehen und stapfte davon. Er sah toll aus, aber Charme hatte er keinen. Wieso regte er sich überhaupt so auf? Sie hatte eine berechtigte Frage gestellt, aber er hatte sie mit Verachtung behandelt. Seine abrupte Reaktion sagte ihr, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Zwischen ihm und der stellvertretenden Staatsanwältin gab es definitiv eine wie auch immer geartete Beziehung. Als er gesehen hatte, wie Meredith Blake das Gerichtsgebäude betrat, war er ganz blass geworden – eine Mischung aus Liebe und Schmerz in seinen grauen Augen.

Sie ärgerte sich, als sie durch den Eingangsbereich des Gebäudes lief und die Absätze ihrer Stiefel auf dem Steinfußboden klackerten. Wie konnte dieser Mann es wagen zu behaupten, sie würde seine Familie in den Dreck ziehen? Er hatte ihr ja nicht einmal die Gelegenheit gegeben, sich zu erklären! Wenn er nicht so abweisend und aggressiv gewesen wäre, hätte sie ihm sagen können, dass sie nur zu helfen versuchte.

Sie hatte Reef McKenna in der Vergangenheit schon oft interviewt, deshalb hatte die Nachricht von seiner Verhaftung nach dem Mord an Karli Davis sie auch schockiert. Auch wenn die Indizienbeweise überwältigend waren, würde sie nicht auf denselben Zug wie alle anderen aufspringen. Vor allem dann nicht, wenn dieser Zug in Richtung Wiederwahl des Sheriffs unterwegs war. Sie wollte tiefer graben, sich vergewissern, dass sie tatsächlich den richtigen Mann hinter Gitter gebracht hatten. Wenn nicht, war der wahre Mörder nämlich noch auf freiem Fuß. Und wenn doch, was war dann geschehen? Wie hatte Reef McKenna sich von dem charmanten, verspielten Sportler, den sie kannte, in einen Killer verwandelt?

Es gab so viele Fragen, die es zu beantworten galt. Es schien ihr nur richtig, mit den Menschen zu beginnen, die Reef am besten kannten, mit seinen Angehörigen. Vielleicht hätte sie anders vorgehen und nicht gleich mit ihrer neugierigen Frage über den Bruder und die Staatsanwältin anfangen sollen. Aber da gab es eindeutig eine Verbindung und dadurch war sie spontan auf diese Idee gekommen.

Sie betrachtete Meredith Blake im Blitzlichtgewitter – ihren makellosen Teint, der im Licht der Kameras strahlte, ihre straffen Schultern und die hohe Stirn. Welche Geschichte verband die beiden?

* * *

Landon führte die McKennas in den Pausenraum. „Hört zu, ich habe erreicht, dass ihr ihn gemeinsam besuchen dürft. Ihr könnt ihn hier sehen, aber Slidell besteht darauf, dass die ganze Zeit ein Hilfssheriff dabei ist.“

„Warum?“, fragte Piper. Während die anderen sich im Zimmer niederließen, blieb sie stehen und legte ihre Handtasche und ein Päckchen, das sie für Reef mitgebracht hatte, auf den Tisch neben den traurig aussehenden kleinen Weihnachtsbaum.

„Damit Reef keine Dummheiten macht.“

„Ich würde sagen, das hast du mit deiner kleinen Fluchtgefahr-Ansprache doch schon erfolgreich verhindert.“ Sie konnte immer noch nicht fassen, dass er das getan hatte. Er hatte Reef jede Chance genommen, zu Hause zu wohnen, bis das ganze Durcheinander aufgeklärt war. Wenn ihr Bruder Weihnachten an diesem kalten Ort verbringen musste … Wieder flammte die Wut in ihr auf und ihre Wangen wurden heiß, obwohl das Zimmer kühl war.

„Was willst du damit sagen?“ Landon setzte sich auf die Tischkante, so nahe bei ihr, dass er sie fast berührte.

Sie versuchte zu ignorieren, wie seine Gegenwart ihren Puls rasen ließ. Frust. Das ist alles nur Frust.

„Bitte sag nicht, dass du die Hoffnung hattest, er würde fliehen, Piper.“

„Natürlich nicht, du Witzbold. Das würde Reef uns niemals antun.“ Sie wandte den Blick von Landon ab und studierte den Weihnachtsbaum. Seine hängenden Zweige ließen auf mangelnde Wasserversorgung schließen. Außerdem erhielt der Baum in dem fensterlosen Raum kein Tageslicht. Wenn ihm nicht bald jemand ein bisschen Zuneigung zeigte, würde er wie der Weihnachtsbaum von Charlie Brown aussehen, bevor die Woche um war.

„Piper, ich konnte nicht lügen.“

„Das verlange ich auch gar nicht. Ich kann nur einfach nicht glauben, dass du es tatsächlich für möglich hältst, dass er fliehen könnte …“

„Er hat es schon einmal getan.“

„Er hat Yancey verlassen, ja. Aber er ist nicht vor dem Gesetz geflohen. Das ist ein Unterschied.“

„Ich habe versucht, eure Familie zu schützen.“

„Uns zu schützen? Wie denn das?“, sagte Piper angriffslustig.

Ihr Bruder Cole lehnte sich auf seinem Stuhl zu ihr vor, bereit einzugreifen. „Piper, ich …“

Landon hob die Hand. „Ist schon in Ordnung, Cole. Ich komme schon damit klar. Wenn ihr für Reef gebürgt hättet und er wäre weggelaufen, hättet ihr alles verloren, Piper.“

„Ich sage dir doch, dass er uns das nicht antun würde. Er würde nicht abhauen und uns mit dem Schlamassel zurücklassen.“

„Bist du sicher?“

„Natürlich.“

„Du klingst sicher, aber du beißt die Zähne zusammen.“ Sein Finger berührte ganz leicht ihr Kinn und sie versuchte zu ignorieren, wie gut sich diese Berührung anfühlte.

„Na und?“

„Das machst du immer, wenn du hin- und hergerissen bist.“

„Glaubst du wirklich, dass du mich so gut kennst?“, sagte sie und versuchte, das Thema zu wechseln. Sie würde auch nicht eine Sekunde lang zugeben, dass sie gezögert hatte. Reef hatte in der Vergangenheit tatsächlich verantwortungslos gehandelt, aber nicht bei etwas so Wichtigem. Nicht, wenn es seine Familie alles kosten könnte.

„Das tue ich.“ Landon erhob sich und war ihr jetzt sehr nahe. „Ich kenne dich.“

Sie schluckte und überlegte, was sie erwidern konnte, aber die Tür ging auf und Thoreau führte Reef in Handschellen herein.

„Nimm ihm die Handschellen ab“, wies Landon Thoreau an.

„Aber Slidell hat angeordnet –“

„Du kannst ihm sagen, dass er mir die Schuld geben soll, falls etwas schiefgeht.“

Thoreau zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Ich bin draußen vor der Tür.“

Landon nickte.

Piper schlang die Arme um Reef. „Wir werden die Sache aufklären. Ich werde nicht zulassen, dass du für ein Verbrechen ins Gefängnis geworfen wirst, das du nicht begangen hast.“

Reef lächelte, aber es wirkte gequält, aufgesetzt. „Es sieht aber nicht gut aus.“

Sie legte die Hände auf seine Schultern und sah ihm in die Augen. „Wir holen dich hier raus. Du hast nichts Böses getan.“

„Die Richterin sieht das offenbar anders. Was ist, wenn die Beisitzer mir auch nicht glauben?“

„Das werden sie.“ Sie müssen einfach. „Was hat Harland gesagt?“

„Dass es nicht gut aussieht.“

„Aber er glaubt dir?“

Reef rieb seine Handgelenke. „Ich glaube schon. Wir hatten vor der Anklageerhebung nicht viel Zeit. Er sagte, dass ich euch sehen kann. Im Anschluss reden er und ich dann ausgiebig.“

Piper blickte zu Cole. „Ich will nicht, dass jemand meinen Bruder vertritt, der ihm einen Mord zutraut.“

„Du weiß doch gar nicht, was Harland denkt, Piper.“ Cole stand auf und berührte ihre Schultern. „Lass ihn und Reef sich unterhalten und dann rede ich anschließend mit ihm, damit wir genau wissen, wo er steht.“

Thoreau klopfte an die Glasscheibe. „Slidell hat von fünf Minuten gesprochen.“

„Mehr bekommen wir nicht?“, fragte Kayden.

„Ich werde versuchen, so viel rauszuholen, wie ich kann.“ Landon öffnete die Tür, um sich mit Thoreau zu beraten.

„Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht.“ Piper gab Reef das Päckchen. Das Päckchen, das Landon durchgesehen hatte. Er hatte behauptet, das sei so vorgeschrieben. Sie verstand zwar, dass er sich an die Regeln halten wollte, aber glaubte er im Ernst, sie würde ein Klappmesser darin verstecken? Wie absurd! Sie war keine Verbrecherin und ihr Bruder war auch kein Verbrecher.

Reef zog die rot-weiße, mit Schneeflocken verzierte Patchworkdecke heraus, die an Weihnachten immer auf dem Sofa lag. Wenn er Weihnachten schon nicht zu Hause verbringen konnte, würde sie ihm so viel wie möglich davon mitbringen.

Als Nächstes packte er eine Dose mit Plätzchen aus. Sie hatte ihm jedes Jahr zu Weihnachten welche geschickt, seit er Yancey verlassen hatte. Und sie hatte gebetet, er möge irgendwann nach Hause kommen. Und jetzt, wo er zurück war, verbrachte er Weihnachten hinter Gittern.

„Danke, Piper.“ Er öffnete die Dose. „Butter-Karamell-Cookies.“ Ein echtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Das sind immer noch meine Lieblingskekse.“

„Ich weiß.“ Sie fuhr mit der Hand sanft durch seine Haare. „So wie ich weiß, dass du unschuldig bist.“

Deputy Thoreau öffnete die Tür einen Spaltbreit. „Die Zeit ist um.“

Landon kam herein. „Tut mir leid, Leute.“

Reef stand auf und bemühte sich, tapfer zu wirken, aber Piper wusste, dass er Angst hatte. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Er wirkte wie der kleine Junge von damals, der immer Angst vor Donner gehabt hatte – bei jedem Gewitter hatte er sich im Wandschrank im Flur versteckt. Sie selbst war mit einer Taschenlampe, einer Handvoll Bücher und einer warmen Decke zu ihm hineingekrochen und dann hatten sie beide sich unter die Decke gekauert und beim Schein der Taschenlampe gelesen, bis das Unwetter vorübergezogen war.

Oft hatte ihre Mutter sie am nächsten Morgen dort schlafend gefunden. Beim ersten Mal hätte sie beinahe einen Herzinfarkt bekommen, weil sie dachte, ihre Kinder wären fort. Doch später wusste sie genau, wo sie bei einem Sturm nachsehen musste. Piper wünschte sich sehnlichst, der jetzige Sturm würde auch vorüberziehen.

Sie drückte Reef fest, als Thoreau den Raum betrat, um ihn abzuführen. „Ich werde nicht aufhören zu kämpfen, bis ich dich hier herausgeholt habe, Reef. Darauf hast du mein Wort.“

Kapitel 9

Landon fand Cole und Bailey in seinem Büro vor, nachdem er Reef wieder in seine Zelle gebracht hatte. Bailey erhob sich, als er eintrat. „Ich warte draußen.“ Sie küsste Cole auf die Wange und umarmte Landon, bevor sie ging.

„Wie geht es Piper?“ Landon machte sich große Sorgen um sie.

„Sie ist viel stärker, als sie aussieht.“

Die Schuld eines Familienmitgliedes würde selbst den stärksten Glauben auf die Probe stellen – sein eigener aufkeimender Glaube jedenfalls war dadurch schon einmal mit einem Schlag zunichtegemacht worden.

„Aber …“ Cole seufzte.

„Aber?“ Landon lehnte sich vor.

„Es hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten.“ Cole schüttelte den Kopf. „Wir stehen alle unter Stress, und es ist so viel passiert …“

„Was ist los?“

Cole rieb seine Oberschenkel. „Piper glaubt, dass in der Nacht, als Reef verhaftet wurde, jemand ins Haus eingedrungen ist.“ Er berichtete die Einzelheiten. Die nicht verschlossene Hintertür, die offenen Schränke und der Husky im Tiefschlaf.

„Fehlt irgendetwas?“

„Nicht, dass wir wüssten.“

„Wie geht es Rori jetzt?“

„Gut. Hör zu, ich weiß, dass Piper eine lebhafte Fantasie hat, aber …“

„Ihr Instinkt ist normalerweise ziemlich gut.“ Er war sogar ausgesprochen beeindruckend, aber das würde Landon vor Piper nie zugeben. Damit würde er nur ihren Dickschädel bestärken. „Was ist mit deinem Instinkt? Glaubst du, dass jemand eingebrochen ist und den Hund betäubt hat?“

Cole seufzte. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich habe den Mädchen gesagt, dass sie besonders wachsam sein sollen, aber sonst wüsste ich nicht, was wir noch machen könnten.“

„Tut mir leid, Mann. Sag mir Bescheid, wenn ich irgendetwas tun kann.“

Cole nickte. „Harland kommt heute Abend zu uns. Ich fände es gut, wenn du dabei wärst.“

Würde sich das als zu großer Interessenkonflikt erweisen? Musste er sich zurückziehen, ausgerechnet wenn die McKennas ihn am meisten brauchten?

„Es ist in Ordnung, wenn du nicht …“

„Nein, ich wäre gerne dabei. Ich glaube nur, dass es unethisch ist, wenn ich bei eurem Gespräch anwesend bin.“

„Verstehe.“ Cole schob die Hände in die Hosentaschen. „Daran hatte ich nicht gedacht. Dann komm aber wenigstens anschließend zum Abendessen. Bailey macht ihr berühmtes Irish Stew.“

„Gerne.“ Er durfte nur nicht an etwas beteiligt sein, das den Fall irgendwie beeinflussen konnte, auch wenn es unbeabsichtigt war.

„Grainger“, brüllte Slidell.

Landon blickte auf. „Ich sollte wohl besser …“

„Wir sehen uns zum Essen.“

„Ja.“

Landon betrat Slidells Büro, die Muskeln angespannt. „Sie wollten mich sprechen?“

„Booth hat gerade angerufen. Die vorläufige Autopsie an Karli Davis ist beendet.“

* * *

Landon betrat den Obduktionssaal. Der Geruch des Todes lag in der stickigen Luft. Karli Davis lag auf dem kalten Edelstahltisch, ihre Brust mit einer Reihe von Zickzackstichen bedeckt, die ein sehr dunkles Y bildeten.

Landon schob sich ein Mentholbonbon in den Mund, bevor er näher trat. Dieser Trick hatte sich besser bewährt, als sich chinesisches Heilpflanzenöl unter die Nase zu reiben, wie einige andere Beamte es taten.

„Landon.“ Booth zog ein frisches Paar Handschuhe an. „Perfektes Timing.“

Genau das hatte er auch gerade gedacht. Er hatte einmal einer Autopsie von Anfang bis Ende beigewohnt, und es war eine Erfahrung, die er nicht unbedingt wiederholen musste. Es war ihm lieber, nur bei der ersten äußerlichen Untersuchung anwesend zu sein und sich dann nach Abschluss der Obduktion ins Bild setzen zu lassen.

„Todesursache“, sagte Booth ohne weitere Umschweife, „war das Durchtrennen der Halsschlagader.“ Booth zeigte auf den Schnitt in Karlis Hals. „Danach ist sie recht schnell gestorben.“

Landon deutete auf mehrere Einkerbungen unterhalb von Karlis Knie. „Und was ist mit denen hier?“

„Ich kann nicht mit Sicherheit feststellen, welche Verletzung zuerst erfolgte, die am Bein oder die am Hals.“

„Der Mörder hat sie also entweder gefoltert oder post mortem verstümmelt?“ Um des Opfers willen hoffte er, dass Letzteres der Fall war.

Booth nickte.

Landon schüttelte den Kopf. Dass Reef in einem Wutanfall jemanden tötete, war eine Sache, aber Folter oder postmortale Verstümmelung? Konnte Reef wirklich so krank im Kopf sein? Hatten sie am Ende doch den falschen Mann verhaftet?

„Es sieht aus, als wäre der Täter gestört worden, bevor er das, was er tun wollte, vollenden konnte.“ Booth zeigte auf das Ende eines mehrere Zentimeter langen Schnittes am Bein. „Scheint so, als hätte er das Messer schnell weggezogen.“

Wahrscheinlich, als Ashley und Tug erschienen waren. „Was glauben Sie, was er vorhatte?“

„Vielleicht hat er das Töten genossen, aber es ging für seinen Geschmack zu schnell, also hat er weitergeschnitten. Oder“ – Booth atmete aus – „er könnte irgendein Zeichen oder Symbol in ihr Bein geritzt haben.“

Beides wäre ein Zeichen dafür, dass der Killer Macht über sein Opfer demonstrieren musste.

Landon beugte sich über die Leiche, um die Verletzung genauer zu betrachten. „Sieht aus, als gäbe es ein paar Narben in diesem Bereich.“

„Ja. Ich vermute, von einer jüngeren Verletzung oder Operation.“

„Was heißt jünger?“

„Maximal ein Jahr alt, wahrscheinlich weniger.“

„Was ist mit dem Alkohol im Blut?“ Ash, Tug und Reef hatten alle gesagt, dass Karli getrunken hatte. Der Alkohol in ihrem Körper konnte ihre Reaktionen verlangsamt und sie bei ihrem Kampf gegen den Mörder behindert haben.

„Der Teststreifen hat gezeigt, dass sie Alkohol im Blut hatte. Um zu wissen, wie viel es war, müssen wir die genauen Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung abwarten.“

„Gute Arbeit, Booth. Wie immer.“

Der schlaksige Mann aus Louisiana lächelte. „Ich hoffe nur, dass ich damit die eindeutigen Beweise liefern kann, die Sie brauchen, um den Killer wegzusperren.“

Landon wusste es zu schätzen, dass Booth nicht automatisch Reef mit dem Killer gleichsetzte – nicht, bis alle Beweise vorlagen. Die meisten Bewohner der Stadt jedenfalls würden im Zweifel nicht für den Angeklagten entscheiden.

„Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie etwas haben.“ Landon interessierte sich besonders für die Ergebnisse der Spurensicherung aus dem Umkleideraum. Wenn sie beweisen konnten, dass noch ein anderer Mann in der Damenumkleide gewesen war, hatten sie vielleicht, ganz vielleicht, eine neue Richtung, in der sie ermitteln konnten.

„Das mache ich, aber Sie wissen ja, dass die im Labor unterbesetzt sind. Das könnte Wochen dauern und dann hätten wir noch Glück!“

Glück war das Letzte, was Landon darin erkennen konnte.

Kapitel 10

Nachdem sie Reef besucht hatten, machte Gage sich auf den Weg zur Kaffeebar „Polar Espresso“. Der satte, aromatische Duft bot seiner aufgewühlten Seele nur wenig Trost. Aber je mehr er sich an seine Routine hielt, desto besser, so glaubte er, würde er mit der Situation fertigwerden.

Er stellte sich an der Kasse an und überlegte, was er trinken sollte. Der süße Duft von mit Karamell überzogenen Brötchen lag in der Luft. Die Hitze, die aus der Küche drang, bildete einen deutlichen Kontrast zu der frischen Winterluft, die jedes Mal hereinwehte, wenn sich die Tür des Cafés öffnete. Er drehte sich um und warf einen Blick auf die Schlange hinter sich. Dann erstarrte er. Darcy St. James.

„Sie schon wieder“, stöhnte er.

Sie verdrehte die Augen. „Dasselbe wollte ich auch gerade sagen.“

„Na klar.“

„Was denn? Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, ich wäre Ihnen hierher gefolgt, oder?“

„Natürlich nicht. Das wäre doch unter der Würde einer Reporterin.“

„Was kann ich für dich tun, Gage?“, fragte Mack, der hinter dem Tresen stand.

„Einen großen ‚Moose Madness‘ mit einem doppelten Schuss Espresso, und dazu eins von Pams süßen Brötchen.“ Er konnte förmlich schon spüren, wie der warme Teig mit dem klebrigen Karamell-überzug auf seiner Zunge zerging.

„Alles klar.“

Er bezahlte und wartete ungeduldig, während Mack seine Bestellung weitergab. Je weniger Zeit er in der Nähe von Darcy St. James verbrachte, desto besser.

Ihre Finger bewegten sich flink über die Tastatur ihres Blackberrys, wahrscheinlich beim Verfassen einer SMS an ihren Boss, in dem sie ihm von ihrer geplanten Story berichtete.

Frauen wie sie provozierten ihn und er konnte sich nicht beherrschen. „Ich habe gesehen, dass Sie die Nerven verloren haben“, sagte er mit einem selbstgefälligen Grinsen.

Sie blickte zu ihm auf. „Entschuldigung?“

„Sie haben Meredith nicht interviewt.“ Er beugte sich vor und ignorierte den berauschenden Duft ihres Parfüms, während er seine Stimme um eine Oktave senkte. „Waren Sie zu sehr eingeschüchtert?“

„Kaum.“ Darcy erstarrte.

„Nur damit wir uns richtig verstehen: Sie werden aus meiner Familie keinen Zeitungsartikel machen.“ Es war am besten, wenn er ihr das gleich in ihren hübschen Schädel eintrichterte, bevor sie den nächsten Schritt unternahm.

„Ich versuche doch nur –“

„Sich auf eine Familie in Schwierigkeiten zu stürzen?“, beendete er ihren Satz, bevor sie ihm eine weitere Lüge auftischen konnte.

Sie holte tief Luft und schien dadurch ein Stück zu wachsen. „Sie sollen wissen, dass ich –“

„Ein ‚Moose Madness‘, groß, mit süßem Brötchen“, rief Mack.

Gage hob einen Finger und sah Darcy an. „Behalten Sie für sich, was Sie gerade sagen wollten.“ Er drehte sich um, nahm seine Bestellung entgegen und dankte Mack.

„Bis morgen.“ Mack lächelte.

Ohne Darcy auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er an ihr vorbei und in Richtung Tür.

„Was kann ich für Sie tun?“, ertönte Macks Stimme hinter ihm.

Darcy erwiderte etwas und dann hörte Gage das markante Klackern ihrer hohen Absätze auf dem Hartholzboden hinter sich.

„Wir waren noch nicht fertig“, sagte sie, bevor er fliehen konnte.

„Nein?“, fragte er, während er das heiße Gebäck aus seiner Tüte gleiten ließ und einen schnellen Bissen davon nahm. Das warme Karamell überzog seine Zunge.

„Nein! Ich stürze mich keineswegs auf Ihre Familie. Ich versuche nur, zu helfen.“

„Ach…“ Er leckte sich etwas vom Karamellüberzug von den klebrigen Fingern. „Erzählen Sie mir doch keine Märchen!“ Er schlüpfte zur Tür hinaus, als ein Pärchen eintrat. Die kalte Winterluft kühlte sein erhitztes Gesicht.

Er trat an den Bordstein und wartete, während der Schneepflug vorbeifuhr. Darcy stellte sich vor ihn hin und versperrte ihm den Weg. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“

Er verzog das Gesicht. Wusste die Frau nicht, wann sie aufhören musste?

Sie“, sagte sie mit Nachdruck, „wissen gar nichts über mich. Und wenn Sie mal eine Sekunde lang aufhören würden, sich wie ein Flegel zu benehmen, und mich erklären ließen –“

„Das ist nicht nötig. Glauben Sie mir, ich weiß alles, was ich über Frauen wie Sie wissen muss.“ Er trank einen Schluck von seinem Kaffee, dessen Hitze die Wut spiegelte, die durch seine Adern strömte. Diese Frau hatte vielleicht Nerven!

„Frauen wie ich?“

„Genau.“ Er stapfte über die Straße.

„Dann klären Sie mich doch bitte mal auf“, sagte sie, während sie versuchte, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. „Was für eine Frau bin ich denn, bitte schön?“

Er blieb auf der anderen Straßenseite stehen und musterte sie.

Sie sah ihn trotzig an – Schultern gestrafft, den Kopf schief gelegt –, aber ihre Wangen röteten sich eindeutig unter seinem kritischen Blick.

Er holte tief Luft und beugte sich vor. „Sie sind die Art Frau, die eine Familie nicht in Ruhe lässt, während einer von ihnen unter Mordverdacht steht.“ Seine Stimme wurde tiefer, während seine Wut zunahm. „Die Art Frau, die sich nur dafür interessiert, im Leben weiterzukommen. Und die Art Frau, der es egal ist, wen sie dabei verletzt.“

„Junge …“ Darcy stieß einen Pfiff aus und schüttelte den Kopf. „Ihnen muss aber eine Frau gewaltig quergekommen sein.“

Er presste die Lippen aufeinander.

„Moment mal.“ Ihre Augen weiteten sich. „Meredith Blake?“

Wie hatte die Frau nur so schnell diese Verbindung hergestellt? Gages Gesichtsmuskeln zuckten. Aber es spielte eigentlich auch keine Rolle. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis diese lästige kleine Mücke die ganze schmerzliche Angelegenheit ans Tageslicht zerren würde. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stapfte davon.

* * *

Darcy ging zum Café zurück und merkte erst jetzt so richtig, dass Pfennigabsätze und eisglatter Boden keine besonders gute Kombination waren. Das hätte Gage McKenna bestimmt gefallen, wenn sie auf ihrem Allerwertesten gelandet wäre, während sie ihm nachlief. Seine Verachtung für sie war offensichtlich, aber sein Schmerz war es auch. Sie hatte einen Nerv getroffen, einen schmerzenden, frei liegenden Nerv. Meredith Blake hatte ihm offensichtlich das Herz gebrochen und jetzt warf er alle Karrierefrauen in einen Topf.

Aber auch wenn Darcy ehrgeizig war, ging es ihr nicht um eine Sensationsgeschichte oder einen Karrieresprung, wie dieser Mann so standhaft behauptete – sie jagte hinter der Wahrheit her. Sie hatte dem Sensationsjournalismus in den vergangenen beiden Jahren den Rücken gekehrt, um über den Sport zu berichten, den sie liebte, und über die Sportler, mit denen sie aufgewachsen war. Nun hatte eine Geschichte endlich ihr Herz berührt und sie mit der Hoffnung erfüllt, dass sie etwas Gutes bewirken konnte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass hinter diesem Fall und hinter dem Leben des Opfers mehr steckte, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Wenn Gage McKenna seine Vorurteile nicht beiseiteschieben konnte, um ihre Hilfe anzunehmen, dann würde sie einen anderen Weg finden, die Informationen zu bekommen, die sie brauchte. Ungehobelter Klotz.

Kapitel 11

Piper schritt auf der Veranda vor dem Haus auf und ab, während sie darauf wartete, dass Reefs Verteidiger eintraf. Die Luft roch nach Schnee und die dunklen Wolken, die sich über ihr zusammenzogen, bestätigten, dass noch ein Unwetter im Anmarsch war.

Warum geschieht das alles, Herr? Reef hätte diese arme Frau nicht ermorden können. Er hat sich so weit von dir entfernt und ich bete, dass diese Prüfung ihn wieder näher zu dir bringt. Du weißt doch, dass er kein Mörder ist. Unter all dem Leichtsinn und der Rebellion liegt ein sanftes Herz, das niemandem etwas zuleide tun könnte. Bitte lass Landon das erkennen. Hilf ihm, sein Bedürfnis nach Tatsachen und Abläufen zu überwinden und zur Abwechslung mal mit dem Herzen zu sehen. Ich bete, dass der tatsächliche Killer gefunden wird und …

Die Haustür ging auf und Bailey trat in einem dunkelgrünen Kaschmirpullover auf die Veranda hinaus. Sie war innerlich wie äußerlich ein wundervoller Mensch. Es war nur allzu verständlich, dass Cole sie so sehr liebte. Das war ganz offensichtlich – man sah es an dem Blick, mit dem er Bailey betrachtete. Piper wünschte, jemand würde auch sie so ansehen. Denny Foster war zwar sehr nett, aber was sie verband, war eher, dass sie sich miteinander wohlfühlten. Aber sie wollte sich nicht nur mit jemandem wohlfühlen – sie wollte eine so kraftvolle, leidenschaftliche Liebe erleben, wie sie ihr Bruder und Bailey teilten.

„Ich dachte, du könntest vielleicht etwas Warmes zu trinken gebrauchen.“ Sie reichte Piper den Becher.

Der Duft von Muskatnuss und Zimt zog durch die kalte Dezemberluft.

„Apfelpunsch?“

Bailey nickte. „So wie du ihn magst – mit extra viel Zimt und einem Löffel Karamell.“

„Danke.“ Piper legte die Hände um den großen Becher in Form eines Elchkopfes und die Hitze des Getränks wärmte ihre Finger.

Sorgfältig darauf bedacht, das riesige Elchgeweih an der richtigen Stelle zu platzieren, führte sie den Becher an ihren Mund. Es war zwar nicht so einfach, aus diesem Becher zu trinken, aber er zeigte ihr Lieblingstier und brachte sie zum Lachen. Er war natürlich ein Geschenk von Reef gewesen. Auch wenn er in den vergangenen sieben Jahren nicht hier gewesen war, hatte er immer an sie gedacht. Er hatte kleine Päckchen geschickt, die ihr jedes Mal ein Lächeln entlockten und gelegentlich auch ein herzhaftes Lachen. Es gab nur zwei Männer in ihrem Leben, die solche starken Gefühle in ihr weckten – Reef und Landon.

Einer war hinter Gittern und der andere …

„Piper?“ Bailey rieb ihren Arm. „Alles in Ordnung?“

„Ja, alles bestens.“

Piper versuchte zu lächeln, aber es schmerzte. Bitte lass unsere Familie nicht unter dieser Sache zerbrechen.

„Du solltest reinkommen. Die Temperatur sinkt.“ Bailey zeigte auf das Thermometer an der Wand. Das Quecksilber zeigte minus fünfzehn Grad an.

„Ich komme gleich rein. Ich brauche nur etwas frische Luft.“

Bailey nickte und schlüpfte wieder ins Haus.

Piper trank noch einen Schluck Punsch und ließ die Wärme ihre Kehle hinuntergleiten. Sie hoffte sehr, dass Harland Reeves endlich kam. Sie wollte eine Minute allein mit dem Mann sprechen, um zu sehen, ob er wirklich an die Unschuld ihres Bruders glaubte. Wenn dies nicht der Fall wäre, war es gleichgültig, wie gut er als Anwalt war, denn dann würde er ihren Bruder nicht vertreten.

Harlands Mietwagen bog um die Ecke und die Reifen knirschten auf dem festgefahrenen Schnee.

Sie trat von der Veranda und ging auf Harland zu, während er aus dem Auto stieg. „Wie ist es mit Reef gelaufen?“

„Wir haben uns gut unterhalten.“

„Und …?“

Die Haustür öffnete sich und Cole streckte den Kopf heraus. „Piper! Lass den armen Mann doch erst mal reinkommen, bevor du ihn mit Fragen löcherst.“

Seufzend folgte sie Harland den Weg zur Haustür entlang. Nun hatte sie ihre Chance, unter vier Augen mit ihm zu sprechen, verpasst.

Harland blieb stehen, um seine Stiefel an dem Fußabtreter zu säubern, bevor er das Haus betrat.

„Danke, dass Sie gekommen sind.“ Cole reichte dem Mann die Hand. „Wir warten alle im Wohnzimmer auf Sie.“

Fast alle. Es war die erste Familienzusammenkunft seit Jahren, bei der Landon nicht anwesend war. Auch wenn sie verstand, warum er nicht dabei sein konnte, war es ein merkwürdiges Gefühl, dass er nicht hier war. Aber in letzter Zeit fühlte sich alles zwischen ihnen irgendwie merkwürdig an.

Der Duft von Tannengrün zog durch den Flur, als sie sich dem Wohnzimmer näherten. Die frische Fichte, die sie am letzten Wochenende geschlagen hatten, war jetzt mit Popcorngirlanden und ihrem traditionellen Familienschmuck behängt.

Gage hatte Feuer im Kamin gemacht und alle erhoben sich, um Harland zu begrüßen.

Cole trat neben Bailey und legte einen Arm um ihre Taille. Sie lächelte ihn an, als sie neben Kayden auf dem Sofa Platz nahmen.

Gage blieb am Kamin stehen und Jake stand wie immer etwas außerhalb des Kreises. Er drückte sich in der Nähe des Baumes herum, den er schmücken geholfen hatte. Piper hatte Jake nach mehreren erfolglosen Einladungen endlich dazu gebracht, mit ihnen zu feiern. Wann würde Jake erkennen, dass er nicht nur ein Angestellter von Last Frontier Adventures war, sondern inzwischen zur Familie gehörte?

Sie setzte sich neben Harland auf das kleinere der beiden Sofas. „Sie haben mit Reef gesprochen?“

„Ja, ich komme gerade von –“

„Und?“

„Lass den Mann ausreden, Piper“, tadelte Kayden sie.

„Ist schon gut.“ Harland lächelte. „Ich verstehe, dass dies für alle Beteiligten eine schwierige Zeit ist. Reef und ich haben uns lange und gut unterhalten.“

„Und?“

„Und wir haben eine Menge Arbeit.“ Er zog einen Notizblock und einen Stift aus seiner Aktentasche.

„Ich glaube, meine Schwester ist so ungeduldig, weil sie wissen will“, sagte Kayden, bevor Piper den Anwalt erneut unterbrechen konnte, „ob Sie glauben, dass unser Bruder unschuldig ist.“

„Ja“, sagte Harland mit Nachdruck. „Ich glaube, dass Reef unschuldig ist!“

„Wirklich?“ Piper atmete hörbar aus und merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte.

„Wenn meine Mandanten mir sagen, dass sie unschuldig sind, dann nehme ich sie beim Wort, aber –“

„Mr Reeves“ – Piper sah ihm in die Augen – „die Person, die meinen Bruder vertritt, muss wissen, dass er unschuldig ist.“

„Das verstehe ich. Wenn ich Ihrem Bruder nicht glauben würde, hätte ich den Fall schon abgegeben.“

„Gut.“ Wenigstens das war positiv.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Kayden.

„Ich werde mit Deputy Grainger sprechen und mir den Polizeibericht ansehen“, sagte Harland. „Wir müssen genau wissen, welche Beweise die Polizei gegen Ihren Bruder zu haben glaubt.“

Bailey entschuldigte sich leise und verließ das Zimmer.

„Gibt es etwas, das wir tun können?“, fragte Piper.

„Normalerweise habe ich Mitarbeiter, die mir zuarbeiten, aber angesichts der Tatsache, dass meine Kanzlei weit entfernt ist und wir dort gerade in Arbeit ersticken …“

Er rutschte auf dem Sofa ein Stück vor. „Um ganz offen zu sein: Ich bin nur hier, weil ich Landon einen Gefallen tun wollte. Unsere Kanzlei ist im Moment völlig ausgelastet, aber als ich hörte, dass Sie gute Freunde sind, konnte ich nicht Nein sagen. Und jetzt, wo ich davon überzeugt bin, dass Reef unschuldig ist, kann ich ihm nicht guten Gewissens den Rücken kehren. Aber da ich der Einzige bin, der mit dem Fall zu tun hat, kann ich nur begrenzt Zeit mit den Ermittlungen verbringen. Bei dieser Art von Fall halte ich es für entscheidend, so viel wie möglich über das Opfer in Erfahrung zu bringen. Mit wem hatte sie zu tun, welche anderen potenziellen Verdächtigen gibt es, wie –“

„Das kann ich für Sie in Erfahrung bringen.“ Piper wusste nun, wie sie konkret helfen konnte.

„Ich wollte eigentlich vorschlagen“, sagte Harland, während Bailey mit einem Becher Apfelpunsch zurückkehrte, „dass wir jemanden finden, der Zeit und die Mittel hat, um Nachforschungen anzustellen.“

Piper sah ihn skeptisch an. „Warum können wir das nicht selbst machen?“

„Erstens sprechen die meisten Leute nicht gerne mit Angehörigen des Hauptverdächtigen. Zweitens braucht man jemanden, der weiß, wie man es richtig anstellt.“

„Zum Beispiel einen Privatdetektiv?“, fragte Cole.

„Oder einen Reporter“, sagte Jake, als Harland von Bailey einen Becher Apfelpunsch bekam.

„Danke, meine Liebe.“ Harland trank einen Schluck, bevor er antwortete. „Genau.“

Kayden zog die Stirn kraus. „Wie kann ein Reporter denn helfen? Sollten wir die Presse nicht lieber meiden?“

Gage seufzte. „Wie die Pest.“

„Reporter werden dafür bezahlt, dass sie Informationen beschaffen“, sagte Harland.

„Das werden Privatdetektive auch“, entgegnete Gage.

„Ja, aber Journalisten werden von ihren Chefs bezahlt. Bei einem Detektiv müssen Sie selbst das Geld aufbringen. Und die Leute reden eher mit einem Journalisten. Dann haben sie das Gefühl, dass sie sensationelle Neuigkeiten verraten. Ein Privatdetektiv dagegen wirkt oft …“

„Einschüchternd“, beendete Jake den Satz.

„Genau.“ Harland nickte.

Die Falte auf Kaydens Stirn wurde tiefer, während sie ihren strengen Blick auf Jake richtete. „Woher weißt du eigentlich so viel über Reporter?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich mache nur Vorschläge.“ Wann würde Kayden endlich damit aufhören, den armen Mann ins Kreuzverhör zu nehmen? Die Tatsache, dass er mit nur einer einzigen Reisetasche in Yancey erschienen war und sie nichts über seine Vorgeschichte wussten, machte ihn noch lange nicht zu einem Verbrecher. Es bedeutete lediglich, dass er eine Familie brauchte, die ihn aufnahm. Es war offensichtlich, dass er innerlich verletzt war. Wodurch, wusste Piper nicht, aber sie hoffte, dass ihre Familie zu seiner Heilung beitragen konnte.

„Hervorragende Vorschläge“, sagte Harland. „Sie haben die Wahl. Es gibt ein, zwei Detektive, die ich empfehlen kann. Der eine, der mir am geeignetsten erscheint, ist derzeit außer Landes; der andere arbeitet für uns an einem Fall in Fairbanks. Vielleicht kann ich ihn überreden, für ein, zwei Tage herzukommen, aber er wird nicht billig sein, und –“

„Das Leben unseres Bruders steht auf dem Spiel“, unterbrach ihn Kayden. „Wir investieren das Geld gerne.“

„Ich nehme Kontakt mit dem Detektiv auf und sehe, ob und wann er Zeit hat. Aber ich kann nicht garantieren, dass es klappt. Ehrlich gesagt fände ich es besser, jemanden zu haben, der sich ausschließlich dieser Sache widmen kann.“

„Also doch einen Reporter?“, sagte Gage seufzend.

„Das ist mein Rat. Reporter haben Zugang zu vielen Quellen, an die Privatpersonen nicht herankommen. Außerdem reden die Leute freimütiger mit ihnen, wie ich schon sagte.“

„Warum sollte ein Journalist uns helfen?“, fragte Kayden.

„Journalisten sind immer auf eine große Geschichte aus, auf die Gelegenheit, einen bisher unbeachteten Blickwinkel aufzuspüren.“

Gage schnaubte verächtlich. „Das kann man wohl sagen.“

Cole sah seinen Bruder an. „Kennst du jemanden?“

Gage stöhnte. „Ich fürchte, ja.“

Es gefiel Piper nicht. Überhaupt nicht. Ein Reporter hatte vielleicht Quellen, die sie nicht hatte, aber niemand kannte ihren Bruder so gut wie sie. Wenn Harland und ihre Geschwister einen Journalisten anheuern wollten, sollten sie das ruhig tun. Doch sie würde selbst ebenfalls Nachforschungen anstellen. Nur so konnte sie sicher sein, dass die Sache gründlich erledigt wurde.