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Montag

Montag

Glaubst du an wahre Liebe? Hast du schon mal geliebt? Bedingungslos, voller Hingabe und so richtig rosarot romantisch? Tja, ich habe das getan. Beides. Und was ist passiert? Der Junge, dem ich mein Herz geschenkt habe, hat es in den Dreck geschmissen und ist darauf herumgetrampelt, sodass es nie wieder ganz verheilen wird. Ich spüre die Wunden immer noch, nachts kurz vorm Einschlafen und nachmittags im Park, wenn ich verliebte Pärchen vor mir herlaufen sehe, vor allem aber hier und jetzt. Montagmorgen, erste Stunde, Mathematik. Mein absolutes Hassfach! Neben mir sitzt Mara, meine beste Freundin, und kritzelt gedankenverloren auf dem Rand ihres Collegeblocks herum. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf und linse nach schräg hinten, obwohl ich das eigentlich nicht sollte. Warum? Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: Leonard. Aber jeder nennt ihn »Leo«, was an sich supercool ist, hinzu kommt jedoch, dass er leider auch der Grund ist, warum man – sprich ich – sich auf keinen Fall zu ihm umdrehen sollte. Der Grund, warum mein Herz nicht mehr richtig schlägt und ich nicht mehr an die Liebe glaube.

Natürlich schaut er mich nicht an, und obwohl ich mich dafür hasse, wünsche ich mir so sehr, er würde es tun. Mich ein letztes Mal aus diesen unendlich warmen, goldbraunen Augen ansehen und sich dabei durch die dunkelblonden Haare fahren, wobei einige Strähnen in der Sonne beinahe kupferfarben hervorfunkeln würden, und dann denke ich an das kleine Grübchen, das er immer bekommt, wenn er lächelt.

Es wäre ja alles in Ordnung – na ja, nicht in Ordnung, aber immerhin erträglicher –, wenn er ein Exfreund wäre, wie er im Buche steht: ein oberflächliches, selbstgefälliges Arschloch, das nur mit den Mädchen spielt und dessen wahre Liebe einzig und allein seiner Playstation gilt. Aber so ist Leo nicht. Er ist lieb und nett, witzig und fürsorglich. Er gibt sich Mühe in der Schule, weil er später einmal Arzt werden will. Er passt nachmittags oft auf seine kleine Schwester Sophie auf und spielt in seiner Freizeit mit Freunden auf dem Bolzplatz in der Blumenstraße Fußball. Seine Lieblingsfarbe ist Dunkelblau – »wie meine Augen«, hat er mal gesagt. Ehrlichkeit ist ihm verdammt wichtig, und sein Lieblingsbuch ist »Frankenstein«. Ich kenne Tausende solcher Fakten, die ich jetzt herunterrattern könnte, aber was bringt mir das? Außer noch mehr Herzschmerz?

Jetzt, wo ich Leo so betrachte – den einladenden Schwung seiner vollen Lippen und die geraden, vor Konzentration zusammengezogenen Brauen –, ist es, als würde ich einen Fremden ansehen, dessen Gesicht mir aber auf sonderbare Weise vertrauter ist als mein eigenes.

Wir kennen uns schon seit der Grundschule. Ich erinnere mich noch genau an den kleinen Jungen, neben dem ich in der ersten Klasse gesessen habe, dessen Augen man kaum sehen konnte, weil sie immer hinter einem Vorhang aus zu langen fransigen Haaren versteckt waren, und dessen Schulranzen mit dem gelben Entenaufdruck viel zu groß war. Wir waren vom ersten Tag an beste Freunde. Zugegeben, insgeheim habe ich, schon lange bevor wir letztes Jahr zusammengekommen sind, für ihn und sein Grübchengrinsen geschwärmt, aber es gab auch keine Anzeichen dafür, dass es für ihn mehr war als reine Freundschaft. Ich glaube, beim Übertritt aufs Gymnasium habe ich zum ersten Mal wirklich gemerkt, dass ich gerne »mehr« hätte. Da kam Mara zu uns in die Klasse, und ich habe kurz befürchtet, dass Leo sich nicht nur »rein freundschaftlich« für sie interessieren könnte. Hat er aber nicht, zum Glück, denn wir drei waren fortan wie Pech und Schwefel. Wir haben die letzten Jahre fast jede freie Minute zusammen verbracht. In der Schule, nachmittags, abends und sogar wenn Leo ein Fußballspiel mit seinen Kumpels hatte, haben Mara und ich keine Gelegenheit ausgelassen, ihn und seine Mannschaft anzufeuern. Letztes Jahr lag am Valentinstag dann plötzlich eine Rose von ihm auf meinem Tisch in der Schule und zwei Wochen später seine Lippen auf meinen. Es war perfekt. Zu gut, um wirklich wahr zu sein.

Vorsichtig taste ich mit den Fingern nach meinen Lippen, denn selbst heute kann ich diesen ersten Kuss dort noch spüren. Leos weiche Lippen, die warme Geborgenheit und das pure Glück, das uns als goldener Faden für immer verband. Ich korrigiere: hätte verbinden sollen. So stelle ich mir das zumindest vor. Kitschig, was? So sehr, dass einem gleich irgendetwas Lebenswichtiges im Herz (Leo könnte jetzt sicher mit einem medizinischen Fachbegriff glänzen) mit rosa Zuckerwatte verstopft (wobei er vermutlich auch anmerken würde, dass das anatomisch gesehen unmöglich ist). Aber die Vorstellung ist auch irgendwie sehr romantisch, finde ich zumindest.

Leo, was hast du nur aus mir gemacht? Eins von diesen nervösen Mädchen, die verzweifelt einer verflossenen Beziehung nachtrauern! Bevor du kamst, habe ich mich über so etwas immer lustig gemacht!

Plötzlich hebt er den Blick und sieht mich an. Mehr oder weniger. Es ist dieses »beinahe Anschauen«, mit dem er mich seit der Trennung quält. Ganz so als wüsste er, dass genau an der Stelle, an der ich mich befinde, etwas sein müsste, das er aber beim besten Willen nicht erkennt. Immer wenn er mich so »beinahe anschaut«, merke ich nichts mehr von dem goldenen Band, dieser klebrigen Vorstellung, die mir so gefallen hat. Kein bisschen.

Scheißband.

Scheißliebe.

Scheißleo.

Als könnte er meine Gedanken hören, schaut Leo mich plötzlich doch an – also, richtig, nicht nur beinahe –, und ich werde augenblicklich so rot wie die überreifen Tomaten, die bei uns zu Hause im Sommer auf dem Balkon wachsen. Meine Ma sät sie jedes Jahr, pflegt sie voller Hingabe und vergisst dann, sie zu ernten, sodass sie den Herbst über fröhlich vor sich hin kompostieren.

Schwungvoll drehe ich den Kopf und hefte meinen Blick auf die Tischplatte vor mir. Derjenige, der vor mir auf dem Platz saß, hat sich hier künstlerisch ausgetobt und mit Edding unter anderem ein Bild von unserer Mathelehrerin gezeichnet, wie sie ein männliches Geschlechtsteil im Mund hat. Wer auch immer das gezeichnet hat, hat Talent. Böse, böse – und wenn ich nicht so niedergeschlagen wäre, verdammt witzig.

Die verräterisch brennende Röte auf meinen Wangen will trotzdem einfach nicht weggehen, und erst jetzt bemerke ich, dass meine Finger noch immer meine Lippen berühren. Während ich sie vorsichtig sinken lasse, läuft Lena an dem Tisch vorbei, an dem Mara und ich sitzen, wirft einen Papierball in den Mülleimer und rempelt mich auf ihrem Rückweg unsanft mit der Hüfte an.

»Freak«, flüstert sie mir hämisch zu – und dahin ist sie, meine Hoffnung, dass niemand bemerkt hat, wie ich Leo angestarrt habe. Heute. Und gestern. Und die letzten beiden Wochen.

Natürlich muss Leo ja auch in meiner Klasse sein und eine Vorliebe dafür haben, schräg hinter mir zu sitzen – genau so, dass ich den Kopf nur leicht drehen und die Augen etwas verrenken muss, um ihn beobachten zu können. Ich kann nicht anders. Was soll ich denn tun? Er ist perfekt. Perfekt für mich. Er ist derjenige, den ich »meine große Liebe« nennen würde. Der Inbegriff dessen, was die alten Disneyfilme als solche beschreiben. Eine Berührung unserer Hände oder ein warmes Lächeln von ihm reicht aus, um mich voll und ganz mit dem Gefühl zu erfüllen, dass das zwischen uns etwas ganz Besonderes ist. Mehr als eine kurze Teenagerromanze, wie man sie in der Schulzeit unvermeidlich und nicht nur ein Mal erlebt. Mehr als etwas Flüchtiges, das zwar leicht ist, deshalb aber auch nicht wirklich unter die Haut geht. Nein, das zwischen Leo und mir war groß und einmalig. Er war nicht nur mein fester, sondern auch mein bester Freund und einer der wenigen Menschen, die mich so akzeptieren, wie ich bin, für die ich mich nicht verstellen muss, mit denen einfach alles ganz natürlich und unbeschwert ist.

Aber im Moment ist Leo vor allem eins: unerreichbar. Was habe ich denn auch gedacht? Dass wir irgendwann einmal – nachdem wir geheiratet haben, in einem hübschen Reihenhaus am Stadtrand leben und fünf Kinder haben – für immer glücklich bleiben? Er, der lebensrettende Arzt, und ich, seine fürsorgliche Frau, die Erdkunde und Politik an unserer alten Schule unterrichtet? Die Wahrheit? Die ist mehr als nur ein wenig ernüchternd, denn ja, genau das ist es, was ich gedacht habe.

»Anne?«

Mein Kopf schreckt hoch, und ich werde gewaltsam aus meinen naturtrüben Gedanken gerissen. Unsere Mathelehrerin Frau Dunkelmann steht vor mir und sieht mich finster an.

»Kannst du wiederholen, was Rebekka gerade gesagt hat?« Sie hält einen Zeigestock in der Hand, mit dem sie abwartend – und auch wenn ich es öffentlich nie zugeben würde: ein wenig einschüchternd – auf meinen Tisch schlägt. Poch, Poch, Poch. Genau im Takt meines ertappt klopfenden Herzens.

Nein, denke ich bissig. Nein, das kann ich nicht, und das werde ich wohl auch nie können, weil Mathe ja nur so ungefähr der größte Mist in der Menschheitsgeschichte ist, und am schlimmsten ist unser aktuelles Thema: Stochastik, auch Wahrscheinlichkeitsrechnung genannt, über das wir zu allem Überfluss am Donnerstag auch noch eine Klausur schreiben. Ju-chu. Und wissen Sie was, Frau Dunkelmann? Wo wir gerade so schön offen zueinander sind: Es ist die Hölle und eine vollkommen sinnlose Quälerei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir da jeder in diesem Raum hier recht geben wird, abgesehen vielleicht von Ihnen und Rebekka. Nicht nur, dass es seit ein paar Jahren so eine bahnbrechende Erfindung namens »Taschenrechner« gibt, mir stellt sich zudem die Frage, warum es, wenn Wahrscheinlichkeitsrechnung so toll ist, dann so etwas wie Glück und Zufall und Schicksal überhaupt gibt. Bei den wirklich wichtigen Dingen im Leben hilft einem Mathe nämlich auch nicht – und schon gar nicht Stochastik. Ich meine, wie hoch ist die mathematische Wahrscheinlichkeit, dass man mit Leo das große Los unter sieben Milliarden Menschen gezogen hat – und ihn dann grundlos verliert? Na, wie stehen da die Chancen, also rein rechnerisch? In Zahlen nicht darstellbar? Ha. Trotzdem ist es passiert, und ich muss jetzt rauskriegen, wie ich damit umgehen soll. Ich habe also definitiv etwas Besseres zu tun, als mich mit dieser blöden Aufgabe auseinanderzusetzen, die Rebekka wahrscheinlich ohnehin schon fehlerfrei gelöst hat!

Natürlich sage ich das nicht. Immerhin bin ich so ziemlich das Gegenteil von mutig und schlagfertig.

»Also, oh, äh … Na ja, also, das ist so: Wenn man die Aufgabe … so rechnet, dann … kommt man auf … das Ergebnis … irgendwie«, stammle ich zugegebenermaßen nur wenig geistreich. Reife Leistung, Anne. Damit hast du dir deine Fünf im Zeugnis so gut wie gesichert. Applaus, aber bitte keine Zugabe!

Frau Dunkelmann wirkt kurz irritiert. »Rebekka, kannst du bitte noch einmal wiederholen, was du eben gesagt hast?«, wendet sie sich schließlich an meine Mitschülerin. Dieses Mal mit einer deutlich freundlicheren Stimme.

Während Rebekka noch einmal wiederholt, was sie eben gesagt hat, nehme ich einen Kugelschreiber und male dem Kunstwerk auf meinem Tisch noch einen Schnauzer. Ich finde, er steht der Dunkelmann äußerst gut.

Herzen

»Schlechter Tag?«, fragt Mara mich in der Pause. Sie streicht sich eine blonde Locke aus der Stirn und setzt sich neben mich auf die Tischtennisplatte hinter dem Hauptgebäude. Unser Stammplatz, seit ich denken kann.

»Kannst du laut sagen«, seufze ich auf. »Erst schaut Leo mich wie immer nur so fast an, dann plötzlich doch ganz, und genau in dem Moment …«

»Anne, jetzt mal im Ernst!«, unterbricht mich meine beste Freundin überraschend streng. »Hör auf. Du musst Leo auch irgendwann mal loslassen.«

»Aber …« Ich bin kurz überrascht, sinke dann aber in mich zusammen. »Wie soll ich ihn denn deiner Meinung nach loslassen, wenn er mein Herz immer noch hat?« Okay, das klingt jetzt sehr sentimental, und normalerweise würde mir bei so viel Rührseligkeit glatt schlecht werden, aber wenn es doch stimmt!

»Das geht jetzt aber schon seit Wochen so.« Nun wird ihr Ton doch wieder etwas sanfter, und sie streicht mir mitfühlend über die Schulter. »Irgendwann musst du über ihn hinwegkommen. Ob du es willst oder nicht. Du musst jetzt stark sein.«

Seit dem Tag, an dem Leo Schluss gemacht hat, benutze ich nur noch wasserfeste Wimperntusche. Nicht grundlos, wie ich anmerken möchte.

»Exakt zwei Wochen ist es her, Mara, gerade mal vierzehn Tage!« Bei dem Gedanken daran ziehe ich missmutig die Nase kraus, denn es fühlt sich leider noch immer an, als wäre es gestern passiert. »Kannst du nicht verstehen, dass ich vielleicht auch einfach noch nicht darüber hinwegkommen will?«

»Anne …« Mara sieht mich mitfühlend an.

»Wenn er jetzt wenigstens irgendeinen Grund gehabt hätte, Schluss zu machen. Wenn einer von uns fremdgegangen wäre oder wir uns nur noch gestritten hätten. Wenn es einfach nur noch total schlecht gelaufen wäre. Irgend so etwas halt. Aber nein, vor zwei Minuten war noch alles gut, er hält meine Hand und murmelt in meine Haare, dass das Shampoo, das ich benutze, absolut fantastisch riecht, und in der nächsten Minute lässt er mich los, wendet sich ab und sagt, dass er mich einfach nicht mehr liebt und dass es aus ist.«

Das war in der Schule. Ich habe Rotz und Wasser geheult, und mein ganzes Gesicht war voll klebriger schwarzer Wimperntusche. An dem Tag hatte ich das Gefühl, nein, die absolute Gewissheit, Gesprächsthema Nummer eins des Gymnasiums am alten Hafen zu sein. Die anderen haben mich angesehen, als wäre das, was ihnen allen von Anfang an klar gewesen ist, endlich passiert. In ihren Augen spielen Leo und ich nämlich in zwei komplett verschiedenen Ligen. Er: klug, sportlich, witzig, unglaublich beliebt und unglaublich attraktiv. Ich: Anne, das heißt, nicht gerade sportlich, nicht gerade lustig, durchschnittlich hübsch und irgendwie immer ein Außenseiter.

»Ja, ich weiß. Das war hart, und danach sind wir ja auch sofort zusammen in den Drogeriemarkt, und ich habe dir den schönsten und teuersten wasserfesten Mascara gekauft, den sie hatten – von meinem Taschengeld. Aber für meine beste Freundin ist nichts zu teuer«, sagt Mara und lächelt mich an, vermutlich in der Hoffnung, mich aufzuheitern.

Kurz funktioniert es sogar, zumindest bis mein Blick auf die Stelle fällt, wo Leo mit mir Schluss gemacht hat. Schnell sehe ich weg, allerdings flüchtet mein Blick dann genau auf den Platz, an dem wir uns zum zweiten und zum fünften Mal geküsst haben. Autsch. So etwas passiert mir dauernd, denn leider liegt auf allem um mich herum irgendeine Erinnerung an Leo und mich. Es ist so unheimlich schwer, einen Gedanken zu fassen, in dem er nicht vorkommt. Darum glaube ich auch nicht, dass ich über ihn hinwegkomme. Nicht, solange ich hier an der Schule bin und er schräg hinter mir sitzt.

»Danke noch mal dafür, aber …« Ich sehe in Maras mitfühlende Augen und verstumme. Es ist nicht so, dass ich es mag, wenn sich der kleine Klumpen Muskelmasse in meiner Brust nahezu immer und überall so schmerzhaft zusammenzieht, ich weiß bloß nicht, was ich tun kann, damit es aufhört. Ein gebrochenes Herz kann man nicht einfach mit einem Pflaster und einer Familienpackung Eiscreme retten. Auch nicht mit zwei. Alles schon ausprobiert. Davon bekommt man nur Bauchschmerzen. Das Einzige, was zumindest ein bisschen hilft, ist, sich bei Mara ausgiebig auszuheulen, wobei ich das Gefühl habe, dass sie langsam wirklich genug davon hat, sich mein Gejammer anzuhören. Sie kann es nicht leiden, wenn ich Trübsal blase, und das kann ich absolut nachvollziehen. Mir geht es ja nicht anders, aber ich kann auch nicht einfach nicht darüber sprechen.

»Warum habe ich nicht bemerkt, dass die Liebe weg ist?« Ich beiße lustlos in mein Pausenbrot. »Und … warum liebe ich ihn noch immer?«

Traurig vor mich hin kauend beobachte ich meine beste Freundin dabei, wie sie einen ihrer fettarmen Naturjoghurts aufmacht, und ich weiß auch sofort, was als Nächstes kommt: Zuerst greift sie wie selbstverständlich in meiner Brotdose nach einer Apfelspalte, von der sie kleine Stücke abbeißt, nur um sie dann gleich wieder auszuspucken und in ihren Joghurt fallen zu lassen. Ekelig. Dann zückt sie einen weißen Einwegplastiklöffel, mit dem sie alles schön verrührt und verteilt. Am Ende steckt sie ihn sich mitsamt einer großen Portion Apfeljoghurt in den Mund, wobei sie kurz genießerisch die Augen schließt. Das ist so Maras Ritual. Sie ist Naturjoghurtjunkie – aber bitte nur fettarm, schließlich achtet sie geradezu penibel genau auf ihre Figur, und nur mit meinem Frühstück verfeinert.

»Mhh«, macht Mara und braucht verdächtig lange, bis sie ihren Joghurt runtergeschluckt hat. »Sieh es doch einfach mal positiv: Er war wenigstens ehrlich, oder? Das ist doch das Wichtigste.«

»Ja …« Ich lasse mein Brot zurück in die Dose sinken. »Aber mir wäre eine andere Wahrheit lieber.«

»Lass ihn los, vergiss ihn und such dir jemand Neuen«, versucht Mara mich aufzumuntern. »Lenk dich ab und hör auf, immer nur an Leo zu denken.«

»Wenn das bloß so einfach wäre«, seufze ich. »Aber Ablenkung klingt wirklich ganz gut. Was hältst du davon, wenn wir heute ein bisschen in der Stadt bummeln und danach Schlittschuh laufen oder ins Kino gehen? Ich verspreche dir auch, dass ich dich nicht wieder zwinge, mit mir in einen Horrorstreifen zu gehen. Unsere Mädels-Tage kommen in letzter Zeit ziemlich kurz.«

»Ja, aber …« Mara senkt den Blick und beißt sich auf die Lippe. »Ich kann heute nicht. Ich hab später noch einen Termin beim Zahnarzt. Tut mir leid.«

»Beim Schüchternen?«, frage ich belustigt, denn Mara hegt seit ein paar Jahren den Verdacht, dass ihr Zahnarzt, den sie »sehr attraktiv« findet, einfach nur schüchtern ist, da er nie auf ihre Flirtversuche eingeht. Ich hingegen glaube ja, ein gewisser Zahnarzt ist einfach a) nicht an Patienten und b) nicht an Minderjährigen interessiert. Das würde ich Mara aber nie sagen.

»Ja, genau der!« Ihr Blick hellt sich auf, und sie beginnt, eine ihrer Locken zwischen den Fingern zu drehen. »Aber was hältst du von morgen? Meinetwegen können wir dann auch diesen Film gucken, mit dem du mir seit Tagen in den Ohren liegst. Wie heißt der noch mal? Irgendwas mit Blut und … Du weißt schon.«

»Blut und Blutiger. Bist du dir sicher? Der ist ganz schön …«

»Wir können auch einfach einen gemütlichen Kaffee trinken gehen. Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir jemanden für dich finden, der dich Leo vergessen lässt, ohnehin erheblich höher als in einem dunklen Kinosaal!«

»Abgemacht, dann gehen wir morgen einen Kaffee trinken – aber nur zur Ablenkung und nicht, um irgendwelche Typen anzugucken«, sage ich, hake mich bei Mara unter, weil es zum Ende der Pause geklingelt hat. »Ich kann mich einfach nicht gut konzentrieren, wenn du neben mir das ganze Kino zusammenschreist.«

Leo ist in einen hinteren Winkel meines Gehirns verbannt und schmollt, aber ganz aufhören, an ihn zu denken, kann ich trotzdem nicht.

Dienstag

Dienstag

Vor mir steht ein leerer Stuhl.

Seit mittlerweile 40 Minuten.

Dabei ist Mara eigentlich immer pünktlich. Ob sie mich vergessen hat? Nein, so etwas sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Vielleicht ist ihr ja was passiert?

Weil ich gerade nichts anderes zu tun habe und so wenigstens die Möglichkeit besteht, in Ansätzen beschäftigt zu wirken, krame ich in meiner Handtasche nach meinem Handy und lese mir noch einmal unseren (sehr einseitigen) Chatverlauf durch.

Hey Mara :) Wo bist du?

Im Ernst: Wo bist du? Weil: Ich bin hier, aber du nicht.

Mara, langsam ist das nicht mehr witzig. Du schaust doch sonst auch immer auf dein Handy.

Hallo, hier ist Anne. Deine beste Freundin. Die du gerade versetzt. Meld dich mal oder so.

MARA?

MARA!!!

Ja, ich bin ein bisschen enttäuscht. Ein bisschen sehr doll sogar. Ich hoffe, es gibt eine vernünftige Erklärung dafür. Immerhin vergisst man seine beste Freundin doch nicht einfach so. Oder? Was Mara wohl gerade Spannendes macht, von dem sie so abgelenkt ist, dass sie nicht mal auf ihr Handy sieht?

Aber genau in dem Moment, als ich mich frage, ob ich inzwischen eigentlich jedem egal bin, bewegt sich endlich der Stuhl vor mir, und ich packe mein Handy schnell wieder weg, ohne den Kopf zu heben. Mara soll nicht sehen, wie sehr mich der Gedanke eben mitgenommen hat.

»Schön, dass du auch mal kommst! Weißt du, wie lange ich auf dich gewartet habe? Nein, natürlich nicht. Ich sag’s dir: 40 Minuten!«, setze ich zu einer Schimpftirade an, während ich am umständlichen Verschluss meiner Tasche herumnestle. »Was hast du denn überhaupt so lange gemacht?«

»Ich war bis eben damit beschäftigt, vom Himmel zu fallen, und bevor du fragst: Nein, es hat nicht wehgetan.« Die Stimme, die mir antwortet, ist verdächtig tief und eindeutig nicht die von Mara. Ich schaue schnell auf und blicke in hellblaue Augen – wie gefrorenes Wasser, überraschend kalt, abschätzend. »Und weißt du was? Die meisten warten ihr ganzes Leben auf mich. Du hingegen gehörst zu den wenigen Auserwählten, die ich tatsächlich mit meiner Anwesenheit beglücke. Du darfst dich also geehrt fühlen.«

Hallo? Abgeschmackter geht es wohl auch nicht mehr?! Trotzdem … bringe ich keinen Laut über die Lippen. Diese Augen, die meinen Blick wie magisch gefangen halten, passen so gar nicht zu dem wahrscheinlich dümmsten Anmachspruch, den ich jemals gehört habe. Womit ich nicht behaupten will, dass ich schon besonders viele gehört hätte, also direkt an mich gerichtet. Bisher war mir das auch ganz recht, vor allem wegen Leo.

Da erst wird mir bewusst, in was für einer Situation ich mich gerade befinde: Ich bin Single und werde von einem Fremden angesprochen, okay, plump angemacht. Von einem Fremden. In meinem Alter. Hatte ich erwähnt, dass er gut aussieht? Also, so richtig gut? Wenn man uns miteinander vergleicht, gehe ich klar als Verliererin – und mit einer Extraportion Komplexen – aus der Situation heraus. Denn im Gegensatz zu meiner ungeachtet der Jahreszeit immer gleich bleichen Haut liegt auf seiner ein gesunder Bronzeschimmer. Er wirkt, als würde er täglich von der im Winter nur spärlich vorhandenen Sonne geküsst. Meine kinnlangen Haare sind zu rot, um blond zu sein, aber auch zu blond, um rot zu sein, insgesamt also irgendwie merkwürdig. Seine sind kurz und so dunkel, dass sie fast schon schwarz aussehen – und sie sind auf eine absolut unwiderstehliche Art und Weise durcheinander. Im Vergleich zu seinen Lippen, die zwar eher schmal, aber dabei so kunstvoll geschwungen sind, als hätte ein berühmter Künstler selbst zum Pinselstrich angesetzt, wirken meine eigenen einfach nur breit und irgendwie plump, außerdem sind sie dank der eisigen Temperaturen draußen immer ein bisschen aufgesprungen. Wo in seinen eisklaren Augen unheimlich viel Tiefe liegt, lässt sich in meinem Dunkelblau nur mit viel Mühe ein bisschen Traurigkeit hervorkratzen. Außerdem sehe ich vermutlich gerade sehr streng aus, mit meinen neuerdings dichten, dicken Augenbrauen, die Mara und ich letzte Woche dunkelbraun gefärbt haben. Nur so viel: Das Ergebnis ist der blanke Horror und sorgt dafür, dass jede Mimik an mir überzeichnet wirkt, wie bei einem Comic oder einer Karikatur.

»Na, hast du mich genug bewundert?«, fragt er trocken und reißt mich damit aus meinen Gedanken. »Ich bin Marc.«

Seine Stimme sorgt dafür, dass meine Arme augenblicklich komplett mit Gänsehaut überzogen werden, und als seine Worte es durch meine paralysierten Hirnwindungen hindurch doch noch bis in mein Bewusstsein geschafft haben, treiben sie mir augenblicklich die Schamesröte ins Gesicht. Selbstverständlich wegen des Fremdschämens. Was denkt der sich?

»Und du bist …?« Wow, seine Augen glitzern wie Eis an einem wolkenlosen Tag. »… stumm?« Seine Mundwinkel sind kaum merklich angehoben. »… taub?« Auf der einen Seite etwas mehr als auf der anderen, sodass auf seinen Lippen ein verführerisch schiefes und leicht belustigtes Lächeln liegt, das die Konturen seines kantigen Gesichts weicher wirken lässt. »… einfach sprachlos angesichts meiner Herrlichkeit?« Die selbstsichere Art, mit der Marc es trägt, lässt nur zu leicht erahnen, dass er ganz genau weiß, wie gut es ihm steht.

Halt, hat er mich gerade etwas gefragt?

»Angesichts deiner was?« O welch glorreicher Moment.

»Herrlichkeit.« Er lehnt sich etwas nach vorne. »Gehst du immer alleine Kaffee trinken?«

Er will sich also allen Ernstes mit mir unterhalten? Das ist äußerst … verdächtig, denn sind wir doch mal realistisch: Er sieht zu gut für mich aus. Zu gut, um sich hier zu mir zu setzen, und zu gut, um auf diese vollkommen merkwürdige Art und Weise mit mir zu flirten. Entweder habe ich gerade eine Halluzination oder aber irgendetwas läuft hier gehörig schief – was leider weitaus wahrscheinlicher ist. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass hier irgendwo eine Falle lauert, ein Haken versteckt ist. Irgendetwas stimmt hier jedenfalls nicht. So etwas passiert nicht in meinem Leben. Ich bin der Typ Mädchen, der im Café von seiner besten Freundin versetzt wird, und nicht der, der dort aufregende Bekanntschaften macht. Es setzen sich nicht einfach Jungs zu mir und sprechen mich an – schon gar nicht solche wie Marc.

Und dann fällt der Groschen. Natürlich. Ein Wunder, dass es so lange gedauert hat, aber so bin ich. Anne, der Blitzmerker. Ich gucke mir die anderen Gäste genauer an, lasse den Blick umherschweifen, bis er an einer Gruppe Jungs hängen bleibt, die ungefähr in unserem Alter sein müssten. Sie sitzen nicht weit entfernt und sehen aus, als würden sie sich unterhalten. Ich habe aber das Gefühl, dass sie mehr mit dem Geschehen an meinem Tisch beschäftigt sind als mit ihrem etwas zu angeregten Gespräch über was auch immer. Einer von ihnen betrachtet missmutig die Geldscheine, die vor ihm auf dem Tisch liegen, ein anderer schaut immer mal wieder von seinem Smartphone auf. Als unsere Blicke sich treffen, sieht er schnell weg und tut fortan so, als würde er am Bildschirm kleben. Sie reden miteinander, aber ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagen. Dennoch beschleicht mich das leise Gefühl, dass es um mich geht – und um Marc.

»Du sprichst nicht so gerne, oder?«

Stimmt, Marc. Ich wende mich ihm schnell zu. »Was?«

»Du. Nicht. Sprechen.« Er sieht mich jetzt offen belustigt an.

»Doch, doch.« Ich kann nur nicht genau festmachen, ob es die plötzliche Nervosität der Jungs am anderen Tisch ist, die verrät, dass hier etwas gehörig schiefläuft, oder Marc selbst, der, als er jetzt bemerkt, dass ich immer wieder seine – wie ich annehme – Freunde mustere, schnell versucht, meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, indem er noch näher an mich heranrückt. Aus dem untrüglichen Gefühl wird Gewissheit: Das hier ist alles nur ein blödes Spiel für sie! Ich wette, Marc und diese Jungs wollen sich einen Spaß daraus machen, mich hier bloßzustellen, um sich danach groß zu fühlen. Das scheint mir die einzig logische Erklärung. Wie … gemein und kindisch. Aber nicht mit mir!

Also gut, lieber Marc, wenn du schon mal hier bist und spielen willst, dann mach dich jetzt mal auf etwas gefasst. Wir werden ja sehen, was du davon hast – und wie lange dieses selbstgefällige Grinsen noch auf deinen Lippen liegt. In meinen Ohren trillert ein imaginärer Anpfiff, und ich hole tief Luft.

»Also, eigentlich hab ich auf meine Freundin Mara gewartet.« Wow, wenn ihn das jetzt nicht umhaut, dann weiß ich auch nicht weiter. Ein besserer Start ist kaum vorstellbar. Das meine ich ironisch.

Gibt es irgendwie Coolnesskurse? Keine Ahnung, so was wie »Hübsch, beliebt und wortgewandt in einer Woche«? Oder besser: »in drei Sekunden«? Sollte es echt mal geben, das ist doch ’ne Marktlücke mit riesigem Bedarf. Zumindest von meiner Seite aus.

»Tja …« Marc winkt die Bedienung zu uns rüber und bestellt zwei Cola. »Ich schätze, deine Freundin hat dich versetzt.«

»Nein, echt? Meinst du? Da wär ich nach einer Stunde Warten nie drauf gekommen!«, erwidere ich. Bin ich zwar echt nicht, aber das muss er ja nicht wissen.

»Eben waren’s noch 40 Minuten. Mathe ist nicht dein Lieblingsfach, oder?«

Treffer versenkt. Es steht 1:0 für den Jungen mit den Eisaugen, die mich nun schon wieder belustigt anfunkeln, als wäre er auf meine Reaktion gespannt. Und ich? Ich hasse ihn. Der Gedanke kommt so plötzlich und heftig, dass ich mich vor mir selbst erschrecke. Aber es stimmt: Ich hasse ihn wirklich. Ihn und das Gefühl, dass ich versetzt wurde und jetzt hier am Tisch irgendwie fehl am Platz bin, dass ich für ihn nichts weiter als ein kleines Spiel bin, von dem er sich so sicher ist, dass er es gewinnt. Das kann ich nicht zulassen. Schluss mit lustig.

»Nein, aber die letzten paar Sekunden haben sich angefühlt wie Stunden. Da kann man schon mal ein bisschen durcheinanderkommen«, schnauze ich ihn an und verschränke meine Arme vor der Brust. »Und dein Lieblingsfach ist also Korinthenkackerei?«

Das wischt ihm sein blödes, großspuriges Grinsen dann doch zumindest für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Gesicht – und es steht 1:1. Go, Anne, go!

»Beeindruckend!« Er fängt sich überraschend schnell wieder. »Stimmt. Woher weißt du das?«

»Keine Ahnung.« Ich lehne mich leicht nach vorne und sehe ihn angriffslustig an. »Reine Intuition?«

»Ah, Intuition. Da bin ich auch ganz gut. Soll ich dir zum Beispiel – also, rein intuitiv – einen Tipp geben, warum deine Freundin dich versetzt hat?«

»Natürlich«, antworte ich gähnend. »Ich platze vor Spannung«

»Du bist ziemlich ätzend.« Das Lächeln, das er mir jetzt schenkt, passt nicht wirklich zu dem, was er gerade gesagt hat. »Und deine Augenbrauen sehen echt merkwürdig aus.« Ja, ja: 2:1.

»Das hat nichts mit Intuition zu tun, das ist einfach nur unverschämt, und darf ich dir auch einen Tipp geben?« Ich warte seine Antwort gar nicht erst ab. »Das eben war die übelste Anmache, die ich jemals gehört habe. Der Spruch war so dumm, dass es wehgetan hat.«

Er lacht kurz auf. »Na ja, zum Trost gebe ich dir immerhin eine Cola aus.«

»Was für ein Glück aber auch«, brumme ich mit einer vor Sarkasmus geradezu triefenden Stimme. »Mein Tag ist gleich um ein Vielfaches strahlender.«

»Ja, das höre ich öfter.« Er beugt sich noch ein kleines Stückchen näher zu mir, und wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man auf die absurde Idee kommen, dass er mich küssen will. »Ich schätze, das bringt meine Anwesenheit einfach so mit sich.«

So ein … Er hat etwas unglaublich Provozierendes an sich und noch dazu viel mehr Selbstbewusstsein, als gut für einen einzigen Menschen sein kann. Er ist ein Albtraum. Mit seiner Art gelingt es ihm, mich instant zur Weißglut zu treiben, und das, obwohl ich normalerweise kein Mensch bin, der sich schnell aus der Ruhe bringen lässt. Ich fahre nun mal nicht gern aus meiner Haut, dazu fühle ich mich viel zu wohl darin.

Die Bedienung kommt mit unseren Getränken, und die Zeit, in der sie die Untersetzer auf dem Tisch verteilt, die beiden Gläser darauf abstellt und fragt, ob wir noch etwas anderes wollen – Marc verneint –, ist mir eine willkommene Pause, um meine Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt zu fokussieren und mir zurechtzulegen, was ich als Nächstes sage, denn im Gegensatz zu ihm bin ich leider nicht mit einem lockeren Spruch auf den Lippen zur Welt gekommen. Trotzdem habe ich vor, dieses Spiel hier zu gewinnen.

»Bist du wirklich sicher, dass du dich beim Vom-Himmel-Fallen vorhin nicht verletzt hast?« Ich greife nach meinem Glas und trinke einen großen Schluck, erlaube mir sogar, eine Sekunde lang genießerisch die Augen zu schließen, als die verführerische Kälte gepaart mit dem süßen Colageschmack meine Kehle hinabgleitet. »Klingt nämlich ein bisschen so, als hättest du dir den Kopf angestoßen … ziemlich fest sogar.«

Das wäre dann der Ausgleichstreffer zum 2:2. Na, Marc, beginnt dein selbstherrliches Grinsen langsam zu bröckeln?

Tatsächlich ist sein Gesichtsausdruck eine Sekunde lang unbezahlbar. Einen kurzen Moment lang hat er die Kontrolle über seine Züge verloren, sodass ich die Überraschung, die darin aufblitzt, genau sehen kann. Leider verschwindet die ebenso schnell, wie sie gekommen ist, und als ich einen erneuten Blick in seine strahlend blauen Augen riskiere, sehe ich, wie das Eis darin wieder amüsiert glitzert. Mist.

»Dafür, dass du so lange gebraucht hast, um dir den Spruch zu überlegen, ist er ziemlich mager«, ertappt er mich. »Außerdem hättest du mich fragen müssen, ob ich auf den Kopf gefallen bin, nicht ob ich mir den Kopf angestoßen habe.«

Auch wenn es mir ziemlich gegen den Strich geht, das zuzugeben, ist seine Bemerkung eindeutig der Treffer zum verbalen 3:2. Ich würde es gern leugnen, aber damit geht Marc wieder in Führung, und es macht ganz den Eindruck, als hätte er an der ganzen Sache hier ernsthaft Spaß, denn schon wieder erhellt ein strahlendes Lächeln sein Gesicht.

Ich weiß nicht, ob es an seinem Konter liegt oder an diesem Lächeln, aber ich spüre plötzlich, dass ich schon wieder knallrot werde. Diesmal kann ich es aber leider nicht mehr aufs Fremdschämen schieben. Außerdem kommt mir der Raum auf einmal unheimlich warm und stickig vor. Ich greife schnell nach meinem Glas und trinke noch mal einen großen Schluck.

Missmutig ziehe ich die Nase kraus, und gerade als ich mich so weit gesammelt habe, dass ich bereit bin, ihn daran zu erinnern, was wirklich mager ist – nämlich der blöde Anmachspruch, wegen dem ich ihn jetzt an der Backe habe –, breitet er lässig die Arme aus und verschränkt seine Finger dann genüsslich hinter dem Kopf.

»Und um trotzdem auf deine Frage zurückzukommen: Keine Sorge, ich bin wohlauf und unverletzt.« Ah, die Geste soll seinen Worten wohl mehr Nachdruck verleihen – oder er will mir einfach nur zeigen, dass sich unter seinem schwarzen Longsleeve ein ziemlich durchtrainierter Oberkörper abzeichnet. Beides ist ihm zuzutrauen, aber keines davon wirkt.

Ich kann ein ungläubiges Schnauben nicht unterdrücken. »Ein Glück, dass du so ein übergroßes, aufgeblasenes Ego hast. Das hat dich beim Aufprall sicher gut aufgefangen.«

Ist das ein Treffer? Marc scheint es zwar vollkommen kaltzulassen, ich bin dennoch gewillt, es als solchen gelten zu lassen. 3:3. Ausgleich. In Gedanken klopfe ich mir angesichts dieses Hauchs von neu entdeckter Schlagfertigkeit stolz auf die Schulter.

»Ach, weißt du, ich kann mich wirklich nicht beschweren.« Er ist die Ruhe selbst, als er mit den Schultern zuckt und nach seinem Glas greift. »Es heißt zwar immer, dass es nicht auf die Größe ankommt, aber das ist Blödsinn. Glaub mir.«

»Ernsthaft?«, stöhne ich genervt und balle meine Hände zu Fäusten – was ich damit vorhabe, kann ich nicht genau sagen, denn auch wenn sie im Moment nur zu gern Bekanntschaft mit Marcs Nasenbein machen würden, traue ich mir so einen Ausbruch nicht wirklich zu. »Du denkst auch, du bist der größte Hecht im Teich, oder? Findest dich bestimmt richtig toll, was?«

Da verschluckt er sich plötzlich, prustet und lacht los. Einfach so. Als sein Blick dann zufällig auf meine Hände fällt, wird sein Lachen noch schallender. Unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht sogar ansteckend gefunden – heiser, herzhaft, irgendwie sexy –, so aber sorgt es bloß dafür, dass der satte tiefe Rot-Ton, den mein Gesicht zweifelsohne längst angenommen hat, noch eine Nuance kräftiger wird.

»Nein, ich denke nicht, dass ich richtig toll bin«, erklärt er schließlich mit leicht schief gelegtem Kopf, als hätte ich etwas Essenzielles nicht mitbekommen. »Ich bin richtig toll.«

Tja. Was soll man dazu noch sagen? Ich blinzle ein paarmal und weiß nicht recht, ob das jetzt ein Treffer oder ein Eigentor war. Deshalb schüttle ich nur ungläubig den Kopf über so viel Arroganz, höre aber sofort wieder auf, als ich bemerke, wie seine Mundwinkel anfangen, verräterisch zu zucken. Nicht wirklich, oder? Er kann doch nicht schon wieder einfach über mich lachen, wenn ich direkt vor ihm sitze! Womit habe ich diese Situation eigentlich verdient? Muss Mara mich ausgerechnet an dem Tag vergessen, an dem dieser Idiot vorhat, in mein Leben zu trampeln?

Mein Handy liegt immer noch vor mir auf dem Tisch. Ich drehe es vorsichtig um und schaue, ob meine beste Freundin mittlerweile irgendein Lebenszeichen von sich gegeben hat.

Hat sie nicht.

Na, dann weiß ich, ehrlich gesagt, langsam auch nicht mehr, was ich hier noch will. Sie kommt nicht mehr. Wozu also noch warten und mich von diesem Idioten blöd anmachen lassen? Eben. Höchste Zeit zu gehen.

Ich schnappe mein Glas, kippe mir den Inhalt schnell die Kehle hinunter und wünsche mir aus tiefstem Herzen, dass Mara sich einfach mit der Uhrzeit vertan hat und gleich hinter mir auftaucht, dass sie Marc drohend ansieht und ihm klarmacht, wie unerwünscht er ist.

Als ich mein Glas wieder abstelle, ist es fast leer, und meine Augen tränen von der vielen Kohlensäure – nicht davon, dass meine beste Freundin weit und breit nirgends zu sehen ist, wie ich betonen möchte.

»Passiert dir das öfter?« Mein unfreiwilliger Gesprächspartner nickt zu meinem Handy.

»Was?«, frage ich, während ich meine auf dem Stuhl neben mir zusammengeknüllte Jacke an mich nehme.

»Na, versetzt werden.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Keine Ahnung, du wirkst einfach wie jemand, dem das häufig passiert«, erklärt er, und ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke. Was auch immer das hier soll – sei es ein Spiel, ein Streich oder eine Wette –, mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass es nur den Zweck hat, mich zu demütigen. Wenn ich es mir genau überlege, sieht er außerdem wie jemand aus, der in der Regel immer die andere Rolle spielt: desjenigen, der nicht auftaucht oder grundlos mit einem Schluss macht. Mir tun alle Mädchen furchtbar leid, die jemals wegen ihm mit einer Packung Taschentücher bewaffnet alte Liebesfilme geguckt und Eis direkt aus der Verpackung gelöffelt haben. Denn: Marc war es definitiv nicht wert.

»Es reicht!«, zische ich und massiere mir die Schläfen. Auf einmal habe ich genug von dem Spiel. »Du reichst! Ich habe genug von dir und deinen blöden Spielchen! Du hast gewonnen: Ich gehe.«

Als ich schwungvoll aufstehe, schabt der Stuhl überraschend laut über den Boden, und zu allem Überfluss schaffe ich es, mit meiner Hand vor lauter Schreck Marcs Glas vom Tisch zu fegen, sodass es – Macht der Schwerkraft – lautstark auf die Fliesen des Cafés trifft und mit einem alarmierenden Klirren in gefühlte tausend Scherben zerschellt. Na super. Eigentlich sollen sie ja Glück bringen, ich jedoch bekomme bloß eine kleine Schar an Zuschauern, die mir schlagartig ihre Köpfe zuwenden. Peinlicher geht es auch nicht mehr.

Schnell ziehe ich meine Jacke an, und Marc reicht mir – natürlich ohne aufzustehen – meine Tasche, während ich darauf achte, ihn nicht zu berühren, als ich sie entgegennehme.

»Wie heißt du überhaupt?«, fragt er.

Jetzt, wo ich gerade dabei bin zu gehen und nachdem er sich wie das größte Arschloch auf Erden verhalten hat, ausgerechnet jetzt will er wissen, wie ich heiße? Ich versuche, ihn mit dem giftigsten Blick, den ich zustande bringe, zu erdolchen.

»Da wir uns nie wieder begegnen werden«, sage ich so bissig wie möglich und hoffe von ganzem Herzen, dass das, was ich sage, stimmt, »geht dich das wirklich überhaupt nichts an. Und danke für die Cola.«

Den letzten Satz wollte ich eigentlich nicht aussprechen, Himmel, nicht mal denken wollte ich ihn, aber er ist mir einfach so über die Lippen gestolpert. Im Gegensatz zu Marc besitze ich nämlich so etwas wie Höflichkeit.

Ich werfe mir meine Tasche schwungvoll über die Schulter und gehe mit großen Schritten, die hoffentlich selbstsicherer wirken, als ich mich fühle, aus dem Café. Hinter mir höre ich einige Leute lachen, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, so viel Abstand wie möglich zwischen Marc und mich zu bringen, als dass ich wirklich auf sie achten könnte.

Mann, Lena hat recht. Ich bin echt ein Freak.

Herzen

Es ist Abend, draußen ist die Welt in dumpfschwarze Dunkelheit getaucht, durchzogen von feinem Nachtblau und dem gelegentlichen Schein einer Laterne. Ich hocke seit einer halben Stunde grübelnd und im Schneidersitz auf meinem Bett, meine Justin-Bieber-Bettwäsche – ein Geschenk! – bauscht sich um meine Füße, und in meinen Händen halte ich einen kleinen, sorgsam gefalteten Zettel.

Darauf steht eine Nummer.

Nicht meine.

Und ein Name.

Nicht meiner.

Marc.

Er muss den Zettel in meine Handtasche getan haben, als er sie mir bei meinem glorreichen Abgang gereicht hat. Idiot. Wenn ich ihm jetzt schreibe, haben er und seine Freunde sicherlich ordentlich was zu lachen. Um was sie wohl gewettet haben? Um einen Kuss? Marc ist mir immerhin ziemlich auf die Pelle gerückt. Der Einsatz war wahrscheinlich das Geld auf dem Tisch, und es war nicht wenig. Ich habe mehrere Zehneuroscheine gesehen. Ging es vielleicht um mehr als einen Kuss? Keine Ahnung. Ist ja auch egal, denn dazu wird es niemals kommen. Was auch immer es ist. Diese Wette und Marcs unmögliches Verhalten haben mich allerdings auf eine ziemlich verwegene Idee gebracht hat, über die ich mir seit einer halben Stunde den Kopf zerbreche. Aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Sie ist einfach genial.

Entschlossen tippe ich Marcs Nummer ein, denn ich habe jetzt meine eigene Wette am Laufen – und von Telefongesprächen kann man keine Screenshots machen, die man nachher auf irgendeinem der sozialen Netzwerke postet, auf denen ich nicht bin. Dieser Gedanke sorgt dafür, dass meine Hände nicht mehr ganz so sehr zittern, während ich die letzten drei Ziffern eintippe, die auf dem Zettel stehen.

Nach dem dritten Klingeln geht er ran. »Hallo?«

Und wie auf Kommando bin ich sofort wieder wütend. »Hallo? So meldest du dich? Hast du deinen Namen vergessen? Habe ich überhaupt die richtige Nummer gewählt? Ich wollte eigentlich mit … Nick sprechen. Nick, bist du das?«

»Ha-ha, sehr witzig. Du bist das Mädchen aus dem Café, richtig?« Ich kann das selbstzufriedene Grinsen, das sich jetzt auf seine Lippen gelegt hat, genau hören. »Außerdem: Warum sollte ich dir meinen Namen sagen, wenn du mir deinen nicht verrätst?«

Richtig, und das hatte ich bis vor dreißig Minuten eigentlich auch nicht vor, aber der Plan hat sich geändert.

»Anne«, sage ich deshalb so zuckersüß, wie es nur geht. »Ich heiße Anne.«

Er schweigt, wartet offenbar, dass ich noch etwas sage. Einen Moment bringt mich das aus dem Konzept, denn die Stille zwischen uns kommt mir auf einmal furchtbar laut vor.

»Anne und weiter?«, meint er nach einer Weile, offenbar genervt, dass er mir alle Informationen aus der Nase ziehen muss.

Ich verdrehe die Augen und zwinge mich, wie eine möglichst kalorienreiche Jumbopackung Vanilleeiscreme zu klingen. »Fischer. Und du?«

Wieder eine Pause.

»Rothe.« Er sagt das so, als ob mir dazu jetzt etwas einfallen müsste, als ob mir sein Name geläufig sein sollte. Also, wenn dieser Typ eines hat, dann ist das Selbstbewusstsein – und zwar viel zu viel. Aber zurück zum Plan.

»Ich habe deinen Zettel mit der Telefonnummer gefunden, und es ist so, dass du mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehst, seit wir uns getroffen haben«, flöte ich ins Telefon, und ich bin froh, dass Marc übers Handy nur meine Stimme hört, denn ansonsten würde ihm mein säuerlicher Gesichtsausdruck auf keinen Fall entgehen. Es kostet mich echt Überwindung, aber er wirkt auf mich nun mal wie jemand, der auf so etwas steht. Auch wenn ich eigentlich davon überzeugt bin, dass man Kerlen wie ihm – beziehungsweise seinem Riesen-Ego – nicht auch noch Futter geben sollte, aber der Zweck heiligt die Mittel.

Am anderen Ende der Leitung verschluckt sich Marc gerade. Habe ich zu dick aufgetragen? Wahrscheinlich. Andererseits entspricht es der Wahrheit: Er ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, allerdings auf eine ganz andere Art und Weise, als mein Tonfall es gerade vermuten lässt.

»Ähm, ja. Das höre ich öfter«, meint er plötzlich ziemlich gelangweilt. »Erzähl mir was Neues.«

»Hey, du hast mir deine Nummer in die Handtasche gesteckt, nicht umgekehrt!«, fahre ich ihn jetzt doch an. Stopp! Tief ein- und ausatmen, Anne. Ganz ruhig. Er kann ja bestimmt auch nichts dafür, dass er so ein Kotzbrocken ist. Okay, doch, kann er eigentlich schon. Das Schlimmste ist aber, dass er vermutlich sogar recht hat. Mich beschleicht das Gefühl, dass die Frauenwelt gewillt ist, ihm wegen seiner schönen blauen Augen so einiges zu verzeihen.

Da höre ich ihn am anderen Ende ein wenig lachen. »Punkt für dich.«

Huch? Das kam überraschend, dafür aber nicht weniger willkommen.

»Okay, also, Marc«, rudere ich zurück, während ich meine gepunkteten Socken betrachte und ein wenig mit den Zehen wackle. »Was hast du morgen so vor?«

»Morgen? Ich gehe nachmittags ein bisschen bolzen. Wir spielen gegen die Jungs vom Gymnasium am alten Hafen, und danach feiern wir unseren Sieg«, erzählt Marc, und ich weiß irgendwie, dass er dabei überheblich grinst. Aber, Moment, die Jungs vom alten Hafen? Das sind Leo und die anderen! Das … wäre zu perfekt, um wahr zu sein!

»In der Blumenstraße?«, frage ich, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kenne. Leo und die Jungs spielen immer auf dem Bolzplatz. Ich habe unzählige Nachmittage dort verbracht. Tja, wird Zeit, dort wieder aufzutauchen und Leo zu zeigen, dass auch andere Jungs mich gut finden.

»Äh, ja«, antwortet Marc verwundert und – was wohl damit zusammenhängt – überraschend wortkarg.

»Super! Dann bin ich da und überzeuge mich selbst davon, ob ihr wirklich so gut seid, wie du sagst! Und danach gehen wir ins Kino und feiern euren Sieg oder – was ich wahrscheinlicher finde – eure Niederlage.« Ja, den letzten Seitenhieb konnte ich mir einfach nicht verkneifen.

»Okay«, sagt er immer noch überrumpelt.

Auf meinen Lippen liegt ein diabolisches Lächeln. Es ist, als hätte das Schicksal selbst mir Marc – das vermutlich größte Arschloch auf Erden