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Sigrid Hunold-Reime

Die Pension am Deich

Frauenroman

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Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von © tbel – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-3876-9

Zitat

»Alle müssen wir uns hüten, denen, die wir lieben, Mangel an Vertrauen vorzuwerfen, wenn sie uns nicht jederzeit in alle Ecken ihres Herzens einblicken lassen.«

Albert Schweitzer

Spruch

»Dat du mien Leevsten büst, dat du wohl weest …«

Kapitel 1

Horumersiel, Ende April 2010

Tomke

»Bist du dir sicher?«

Gisa hält zweifelnd eine Strähne der rotbraunen Haarmähne hoch.

»Ganz sicher«, antwortet Tomke entschieden.

»Aber gleich raspelkurz? Nicht, dass du es hinterher bereust.«

»Ich neige nicht zur Reue. Nun schnack nicht lange. Fang an. Ich habe heute noch was anderes vor.«

Die hübsche Blondine wirft ihrer Kundin einen prüfenden Blick durch ihren asymmetrisch geschnittenen Pony zu.

»Also, Tomke, wenn du’s nicht wärst«, jetzt muss sie kichern, »dann würde ich bei diesem Radikalschnitt auf Liebeskummer tippen.«

Sie reißt sich sichtlich zusammen, um nicht laut loszuprusten, und beginnt zu schneiden. Die ersten Strähnen werden leise knirschend Opfer ihrer Schere. Wie Federn segeln sie hinab auf den Fußboden. Tomke sieht ihnen ohne Trauer hinterher und denkt: Stell dir vor, liebe Gisa: Es ist Liebeskummer!

Nachmittags

»Und mit dir ist wirklich alles okay?«

Juliane ist im Türrahmen stehen geblieben und blickt skeptisch zu ihrer Mutter herunter. Die antwortet nicht und bearbeitet weiter auf allen Vieren kniend mit der Wurzelbürste den Teppichboden. Mit einer inbrünstigen Konzentration, als gelte es für sie, in der Disziplin einen Wettbewerb zu gewinnen.

»Mama! Hast du mich überhaupt gehört?”

Tomke hält in der kreisenden Bewegung inne und sieht zu ihrer Tochter hoch. »Ja, alles klar. Was soll denn sein?«

Juliane schüttelt verärgert den Kopf. Ja, alles klar, wiederholt sie in Gedanken. Natürlich. Deshalb hast du dir auch dein Haar auf Streichholzlänge schneiden lassen. Über solche Frisuren hast du bislang nur gelästert. Man müsse am Haarschnitt Frau und Mann unterscheiden können. Das war deine Einstellung, Tomke Heinrich. Seit ich denken kann, trägst du einen erste Sahne getönten und geföhnten Bobschnitt. Und nun diese grauen Stoppeln.

Die andere Merkwürdigkeit ist der schlabberige Trainingsanzug in undefinierbarer Farbe. Juliane hätte gewettet, dass ihre Mutter so ein Kleidungsstück überhaupt nicht im Schrank liegen hat. Geschweige denn, dass sie es jemals tragen würde. Nicht einmal beim Putzen. Ihre Mutter ist für ihren extravaganten Kleidungsstil bekannt. Äußerst farbenfroh, figurbetont und eigenwillig. Nicht gerade der gängigen Mode entsprechend. Und nun dieser Sinneswandel!

Von dem befremdenden Outfit ihrer Mutter abgesehen, irritiert auch ihr Verhalten. Wie eine Kehrtwende um einhundertachtzig Grad. Als hätte sie ihre sämtlichen Vorsätze über Bord geworfen. Angefangen mit der Frühstückspension. Die hat sie frisch renovieren lassen. In einer halsbrecherischen Geschwindigkeit. Wo auch immer sie auf die Schnelle die Handwerker aufgetrieben hat. Dabei hat sie noch vor kurzem herumposaunt: Nie wieder Pensionsbetrieb. Das Thema wäre für sie endgültig abgeschlossen.

Im letzten Jahr war Tomke äußerst reiselustig und strahlender Laune. Juliane war sich sicher: Ihre Mutter hat sich verliebt. Das hätte sie ihr von Herzen gegönnt. Ihr Vater ist seit knapp drei Jahren tot und die ganz große Liebe war es zwischen ihren Eltern nicht. Ihre Mutter kam ihr wie befreit vor. Und nun dieser Umschwung. Aber es ist ja alles in bester Ordnung. Juliane atmet tief durch. Gut, da kann man nichts machen. Ihre Mutter neigt dazu, sich zurückzuziehen, wenn es ihr schlecht geht. Doch so viel Vertrauen sollte sie mittlerweile zu ihrer Tochter haben. Sie ist schließlich kein kleines Kind mehr, dem man mit Pastelltönen das Leben schöner malen muss. Sie ist dreißig, hat selbst eine Tochter und würde ihrer Mutter gerne zur Seite stehen.

»Na gut, wie du meinst. Dann ist eben alles in Ordnung.« Juliane kann sich einen schnippischen Unterton nicht verkneifen. Sie geht und lässt die Haustür hinter sich eine Spur zu hart ins Schloss fallen.

Tomke schaut ihr hinterher und seufzt. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Ihre Tochter ist beleidigt, weil sie sich nicht bei ihr ausweint. Ganz toll. Sie pfeffert die Bürste in die Ecke und steht mühsam auf. Die letzten zwei Wochen waren ein Härtetest. Ihr tut jeder Knochen einzeln weh.

Ungewollt schießen ihr Tränen in die Augen. Dabei ist sie absolut nicht der Typ, der dicht am Wasser gebaut hat. Aber dass Juliane nun auch noch Stress macht, ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Sie kramt ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzt sich kräftig.

Dann biegt sie ihren Rücken durch und pendelt vorsichtig mit den Hüften. Alles verspannt. Sie muss dringend eine Pause machen. Erst einmal durchatmen und einen Tee trinken.

Es sind ja nur noch ein paar Handgriffe, und die Frühstückspension ist wieder einzugsbereit. »Kunststück, wenn man nachts durcharbeitet«, brummt sie zynisch und geht am Flurspiegel vorbei, ohne sich eines Blickes zu würdigen. Dabei hat sie zurzeit ihr absolutes Traumgewicht. Es interessiert sie nicht.

Die Küche ist schmal geschnitten. Ein großes Fenster, darunter ein Tisch und zwei Stühle. Alles angenehm frei gehalten. Kein unnötiger Tand. Bis vor drei Jahren war hier jedes Regal, jede mögliche Fläche vollgestellt gewesen. Ihre gesamte Wohnung hatte an einen gutsortierten Geschenkartikelladen erinnert. Herzen, Schleifen, Vasen, Tonfiguren und Teddys. Teddys in allen erdenklichen Größen. Nachdem Gerold gestorben war, hatte sie angefangen, aufzuräumen und wegzuwerfen. Tomke kann sich nicht mehr vorstellen, wie sie die ganzen Nippes staubfrei gehalten hat.

Sie setzt Wasser für Tee auf. Am liebsten würde sie einen Grog trinken. Sie schüttelt streng den Kopf. Nee, das lass mal lieber sein, Tomke. Alkohol hatte sie die ersten Tage in sich hineingeschüttet, um dun zu bleiben. Gott sei Dank haben sich in der Zeit weder Juliane noch ihr Sohn Torben blicken lassen. Dann hatte ihr Magen verrückt gespielt. Tomke musste sich zusammenreißen und den Rum weglassen. Bevor sie in dem schwarzen Loch verschwand, das ihr schon bedrohlich entgegengrinste, hatte sie sich in Arbeit gerettet. Sie beschloss: Die Frühstückspension wird renoviert. Sie würde wieder Gäste aufnehmen. Leben ins Haus holen. Ganz davon abgesehen braucht sie das Geld. Mit ihrer Witwenrente kann sie keine großen Sprünge machen und eine Berufsausbildung hat sie nun einmal nicht. Sich irgendwo einen Aushilfsjob suchen, dafür ist sie verdorben. Sie war immer selbstständig.

Tomke schaut aus dem Fenster. Juliane fährt den Wagen temperamentvoll aus der Einfahrt auf die Deichstraße. Sie sieht nicht mehr zur Seite. Tomke lächelt unfroh. Nee, mein Mädchen. Es ist absolut nicht alles in Ordnung. Aber was hätte sie ihrer Tochter erzählen sollen? Etwa: In ein paar Tagen beginnt der Wonnemonat Mai, und am zweiten wollte ich heiraten! Ganz romantisch im Pilsumer Leuchtturm. Es sollte eine Überraschung werden. Eine richtig große Feier. Ihr hättet mich schon verstanden, auch wenn euer Vater noch nicht so lange unter der Erde liegt. Da bin ich sicher.

Sie gießt das kochende Wasser in die Kanne und stellt sie auf das Stövchen.

Es ist gut, dass sie es geheim gehalten hat. Es ist gut. Es ist gut, wiederholt Tomke den Satz wie ein Mantra. Nur Teresa aus Hannover hat sie ins Vertrauen gezogen. Aber die wohnt weit genug weg und wird sie nicht mit unnötigen Fragen quälen. Auch nicht mit Vorwürfen. Sonst weiß niemand von Paul. Tomke schluckt hart gegen die neu aufkommenden Tränen an. Ja, das ist gut so. Niemand weiß von ihm, niemand fragt nach ihm. Als hätte es ihn nie gegeben.

Aber es gab ihn. Zehn Jahre lang. Sie war zehn Jahre lang mit einem verheirateten Mann zusammen. Hätte sie das ihrer Tochter erzählen können? Nee, bestimmt nicht. Tomke kann sich gut vorstellen, was dann käme: Verheiratet? Aber Mama! Wie konntest du so naiv sein? Oder vielleicht: Wie konntest du so etwas seiner Frau antun? Und zehn Jahre? Du bist doch erst seit drei Jahren Witwe! Was ist mit Papa? Richtig gerechnet, liebe Tochter, müsste sie dann antworten. Paul und ich haben uns schon zu Gerolds Zeiten regelmäßig getroffen. Dein Vater war nämlich – wie soll ich mich da ausdrücken? Nun, ich will nicht um den heißen Brei herumreden: Er war impotent. Und er wollte über das Thema nicht sprechen. Auch nichts dagegen unternehmen. Wie ich damit klarkomme, hat ihn nicht interessiert. Irgendwann fiel mir eine Zeitungsanzeige in die Hände. Ein Mann suchte eine Frau, um Sex mit ihr zu haben. Nur Sex. Keinen bezahlten. Auf der Basis gegenseitigen Genusses ohne Verpflichtung. Ich weiß noch, wie ich die Zeitung mit der Annonce empört in den Papierkorb geschmissen habe. Nachmittags habe ich ihn wieder herausgesucht und die Nummer angerufen. So habe ich Paul kennengelernt. Er hatte ein Apartment in Wilhelmshaven. Dort haben wir uns einmal in der Woche getroffen. Wir wollten unser Privatleben draußen lassen. Jede Verantwortung. Das hat ein paar Jahre lang funktioniert. Erstaunlich gut. Aber wir sind uns immer näher gekommen. Vielleicht näher, als es in einer Ehe mit Routinegesprächen über den nächsten Tapetenwechsel oder die Zensuren der Kinder möglich gewesen wäre.

Dann ist Gerold gestorben, und ich dachte, dass ich mich von Paul auch trennen müsste. Unsere spezielle Beziehung basierte auf dem gegenseitigen Akzeptieren unserer Ehen und duldete keinerlei Grenzüberschreitungen. Unsere Gefühle hielten sich nur in Waage, solange jeder von uns verheiratet war, so habe ich gedacht. Ich wollte Schluss machen. Teresa war damals hier in der Pension der einzige Gast, und wir haben eine Nacht lang miteinander geredet. Sie war der erste Mensch, dem ich alles erzählt habe. Die ganze Wahrheit über meine Ehe. Tut mir leid, Juliane, mit dir kann ich das nicht. Fang jetzt keine Diskussion über mangelndes Vertrauen an. Es geht nicht. Du bist meine Tochter. Du hast selbst eine. Ihr würdest du auch nicht deine Beziehungsprobleme auftischen, oder?

Teresa fand meine Mittwochstreffen mit Paul faszinierend. Sie sagte, das hat so viele Jahre gehalten. Das kannst du nicht einfach so beenden. Das klingt wie Liebe.

Tomke schenkt sich die erste Tasse mit starkem, dunklem Tee ein. Sie trinkt ihn gern schwarz, ohne Kandis und Sahne.

Ich habe auf Teresa gehört und mit Paul gesprochen. Er reagierte anders als erwartet. Er hatte überhaupt keine Angst vor der veränderten Situation. Er wollte sich weiterhin mit mir treffen. Nicht nur einmal in der Woche, auch spontaner. Auch mal über Nacht. Das war das Schönste. Neben ihm aufzuwachen und mit ihm den Morgen zu erleben. Das hätte ich nie tun dürfen. Irgendwann fielen die Worte: für immer zusammen sein und ein gemeinsamer Neuanfang. Ich erinnere mich nicht, wer von uns beiden das laut ausgesprochen hat. Ich habe daran geglaubt. An eine gemeinsame Zukunft. Es gab auch keinen Grund, zu zweifeln. Dachte ich. Dabei habe ich geträumt. So sehr, dass ich die Realität einfach nicht mehr sehen konnte, nicht mehr sehen wollte. Ich habe die Zeichen stur übersehen. Paul hat zum Beispiel weiterhin die Feiertage und Sonntage bei seiner Frau verbracht. Auch seinen Urlaub. Wie konnte ich mir das nur schönreden? Ich habe so getan, als würde es die Andere gar nicht geben. Ich, die vernünftige Tomke! Warum bin ich nicht stutzig geworden, als er kurzfristig die Reise in die Krummhörn abgesagt hat? Wir wollten gemeinsam den Pilsumer Turm besichtigen. Wir wollten dort heiraten. Wir? Wahrscheinlich nur ich! Wie konnte ich eine Hochzeit mit einem noch verheirateten Mann planen? Wenn ich mir das bewusst mache, fühlt sich alles fremd und kitschig an. Ich kann mein eigenes Verhalten nicht mehr verstehen. Wie soll ich es dann dir erklären, Juliane. Unmöglich.

Vor drei Wochen hat Paul vor mir gestanden. Er sah blass aus. Ich wollte nicht, dass er anfängt zu reden. Ich habe versucht, ihm den Mund zuzuhalten. Denn als ich ihn sah, wusste ich, was er sagen wird. Paul wirkte so beängstigend entschlossen.

»Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen«, fing er an. »Zwischen uns sollte es anders sein. Das haben wir uns vorgenommen, nicht wahr?«

Ich konnte nur stumm nicken.

»Aber jetzt ist es nur noch ein einziges Lügennest. Ich wollte dich nie belügen. Das musst du mir glauben. Als die erste Lüge ausgesprochen war, hat sie immer neue hinter sich hergezogen. Du hast dich auf unsere gemeinsame Zukunft gefreut. Das wollte ich nicht zerstören. Du warst so glücklich. Das hat mich auch glücklich gemacht und gleichzeitig traurig. Ich habe mir vor jedem Treffen vorgenommen, mit dir zu sprechen, mit dir reinen Tisch zu machen. Ich habe es immer wieder verschoben. Ich kann meine Frau nicht verlassen. Verstehst du, Tomke. Ich kann meine Frau nicht allein lassen. Sie würde ohne mich nicht zurechtkommen. Sie ist so hilflos. Sie wäre verloren. Deshalb könnte ich nie wirklich glücklich mit dir werden. Ich würde mich immer verantwortlich und schuldig fühlen. Aber ich möchte dich nicht verlieren. Können wir nicht weiter wie …«

Da habe ich angefangen zu schreien: »Nein! Nein! Nein!« und ihn rausgeschmissen.

Tomke fährt sich mit der Hand durchs Haar. Sie zuckt vor dem ungewohnt borstigen Gefühl zurück, als hätte sie einer Fremden über den Kopf gestrichen. Hilflos, denkt sie wütend. Wenn sie das schon hört. Sie fühlt sich gerade mehr als hilflos. Sie hat absolut keine Ahnung wie sie ohne ihn weiterleben soll. Aber Paul hat es sehr wohl geschafft, sie zu verlassen. Verantwortung! Was für ein feiges Gefasel! Er hat ihr gegenüber auch eine. Zehn Jahre sind kein Pappenstiel. Traurig! Paul hat es genossen, eine verliebte, glückliche Frau neben sich zu haben, die sich auf die gemeinsame Zukunft freut. Das wollte er nicht hergeben. Er wusste, Tomke wollte keinen unverbindlichen Sex mehr. Sie war frei. Sie hat Gefühle investiert und sie hat keinen Hehl daraus gemacht. Paul war derjenige, der angefangen hat zu lügen. Mit seinem zustimmenden Schweigen. So ist aus ihrer fairen Beziehung eine ganz gewöhnliche Ehebruchkiste geworden.

Heute Morgen hat sie einen Strich unter die Ära Paul gezogen. Sie hat sich ihr schönes Haar abschneiden lassen. Der kurze Putz steht ihr nicht. Das weiß sie. Genau aus dem Grund wollte sie ihn haben.

Tomke sieht zum Deich hoch. Badegäste spazieren munter darauf entlang. Nach dem langen, harten Winter sind sie dankbar für zehn Grad plus und trocken von oben. Es soll sogar fast auf zwanzig klettern. Richtig warm. Ein bisschen Frühling. Aber pünktlich zum ersten Mai haben sie wieder nasses und kaltes Wetter angesagt. Von mir aus, denkt Tomke.

Sie hat für ihre Hausgäste einen Aufenthaltsraum eingerichtet. Gerade bei Schietwetter wichtig. Außerdem hat sie jetzt genug Platz, um das Frühstück als Büffet anzubieten. Dann können sich ihre Gäste selbst bedienen. Das ist einfach der Trend. Noch lieber hätte sie in der ersten Etage Apartments einbauen lassen. Aber dafür fehlt ihr das nötige Kleingeld.

Tomke lehnt sich auf die Fensterbank. Sie wird das schon schaffen. Und sie wird sich nicht so schnell wieder abhängig machen. Was heißt, nicht so schnell? Nie wieder!

Ein Mann geht an ihrem Haus vorbei. Er fällt ihr auf, weil sonst alle auf dem Deich langgehen, um den weiten Blick übers Meer zu genießen. Seiner sucht nicht den Himmel. Er schaut nach unten. Wahrscheinlich ein Mann mit Hund.

Kapitel 2

Hameln Ende April 2010

Anne

Anne lässt die Finger über der Tastatur ruhen und sieht aus dem Fenster. Gelbe Schlieren auf den Scheiben erschweren die Sicht. Blütenstaub, denkt sie und zieht grimmig ihre dunklen Augenbrauen zusammen. Auf der anderen Straßenseite stehen prächtige Birken. Ihre Kronen biegen sich gerade unter einem Windstoß. Jede Bewegung lässt Millionen Pollen frei. Diese fiesen, winzigkleinen Angreifer, die Anne zwingen, in der Wohnung hocken zu bleiben. Sie würde sowieso hier sitzen. Es ist ihre beste Schreibzeit. Aber im April ist ihrer Entscheidung jede Freiwilligkeit genommen. Dann ist es Hausarrest. Verschärfter. Sogar die Fenster müssen geschlossen bleiben. Dabei sehnt Anne sich nach Sonne, frischer Luft und einer weit geöffneten Balkontür. Der fühlbaren Verbindung zur Außenwelt, wenn sie hier auf ihrem Platz sitzt und schreibt. Das kann sie laut Pollenvorhersage vorerst streichen. Die letzten Tage des Aprils sollen noch einmal richtig schön werden, verkünden die Sprecher im Radio mit wachsender Begeisterung. Anne hat sich oft genug über die Pollenflugvorhersage hinweg gesetzt und gehofft, die Allergie würde sie vergessen, wenn sie nur nicht mehr an sie denkt. Einfach wie gewohnt weitergelebt und die blühende Invasion ignoriert. Fehlanzeige. Die Abfolge ist jedes Jahr die gleiche. Erst jucken die Augen, dann läuft die Nase. So massiv, dass ihr manchmal die Taschentücher nicht reichen und sie ein Handtuch braucht. Der Höhepunkt des Pollenangriffes ist die Eroberung ihrer Bronchien. Ihr Brustkorb wird immer enger, und jeder Atemzug verschlimmert die Umklammerung. Ein Asthmaanfall. Sie hat längst wirksame Medikamente dagegen zu Hause liegen. Aber die Bedrohung schwebt wie ein Damoklesschwert über Anne und bestimmt in diesem Monat ihr Handeln.

Sie schaut wieder auf den kleinen Bildschirm und probiert, sich zu konzentrieren. Ihre junge Heldin weilt gerade am Meer. Eine lauschige Sommernacht, nur ein sanfter Wind aus Westen. Neben ihr steht der Mann, den sie seit Wochen zu treffen versucht. Endlich ist es soweit. Der Showdown des Rendezvous läuft. Normalerweise fühlt Anne beim Schreiben ein Kribbeln, als stünde sie selbst kurz vor der ersten Berührung, dem ersten Kuss. Das intensive Riechen und Aufnehmen des anderen. Das scheinbare Einfrieren der Zeit. Diesen Augenblick lässt sie ihre Leserinnen – Anne ist klar, dass ihre Hauptklientel Frauen sind – so lange wie möglich auskosten. Doch heute spürt sie trotz geschlossener Fenster und arbeitender Pollenfilter nur ein Kribbeln in der Nase. Sie bemüht sich, ruhig dagegen anzuatmen, aber die befürchtete Niesattacke lässt sich nicht aufhalten. Anne hält schützend das erste Taschentuch zwischen Nase und Laptop und wird von einem Hatschi zum nächsten geschüttelt. Nach der Offensive hat sie einen Berg nasser Tücher vor sich liegen und fühlt sich schlagkaputt. Sie hasst diese blöde Übersensibilität.

Die Wohnungstür klappt. Anne schaut auf die Uhr. Schon nach eins und sie hat noch keinen brauchbaren Absatz geschrieben.

«Hi, Mum, wir hatten früher Schluss«, begrüßt Lisette sie gutgelaunt. Wie gewohnt visiert ihre Tochter als Erstes den Kühlschrank an, um den Inhalt zu überprüfen. Wie immer so lange, als wären die vorrätigen Lebensmittel für sie völlige Neuerscheinungen.

»Jetzt hat’s dich aber wieder erwischt«, stellt sie mit einem abschätzenden Blick auf ihre tränende Mutter fest. Die nickt leidend und schnäuzt sich demonstrativ die Nase.

»Na ja, du würdest ja sowieso nur vorm Rechner sitzen«, tröstet Lisette sie leger. Dabei lehnt sie sich für einen Augenblick an die Küchenanrichte. Die Kühlschranktür lässt sie geöffnet. Anne bemüht sich, es zu übersehen. Sie hat keine Kraft für einen Vortrag über Energieverschwendung.

»Ja, ich sitze vor dem Rechner«, antwortet sie stattdessen. »Das ist absolut korrekt ausgedrückt. Mit der Betonung auf davor. Ich bekomme nämlich nichts geschrieben. Mein Kopf scheint nur aus Schleim zu bestehen. Dabei soll mir eine romantische Liebesszene gelingen. In einem Monat ist Abgabetermin und es fehlen noch 100.000 Zeichen. Ich hasse den Frühling und ich hasse Liebesromane!«

Ihre Tochter wirft lachend ihre langen, braunen Locken nach hinten. Ein Erbe ihrer Mutter. Beide haben die gleiche Haarpracht.

»Bleib locker, Mum. Du bekommst die Story schon hin. Du liebst deine Schnulzen. Dafür brauchst du ja nicht viel Hirn. Probier es mal mit Heilfasten. Das hat Maries Mum auch geholfen. Ihre Allergie ist seitdem wie weggezaubert.«

Lisette wendet sich wieder dem gekühlten Angebot zu, schnappt sich einen Joghurt und klappt endlich die Kühlschranktür schwungvoll zu. Bevor Anne eine passende Antwort auf die Lebensweisheiten ihrer Tochter einfällt, ist sie in ihrem Zimmer verschwunden.

Anne lässt ihr Taschentuch sinken. Vielen Dank auch, denkt sie ärgerlich. Nicht das Hirn gebrauchen! Was denn sonst? Sie kann nicht aus einem reichhaltigen Liebesrepertoire schöpfen. Dafür ist sie schon zu lange alleinlebend. Und alleinerziehend, ergänzt sie. Ihre Geschichten sind fiktiv. Frei erfunden, unterstreicht Anne trotzig und verdrängt, dass sie selbst eine dieser, ach, so realitätsfernen Liebesgeschichten erlebt hat. Allerdings ohne das Happy End, das sie ihren Protagonistinnen stets vergönnt. Anne weigert sich auch, ihre Sehnsucht einzugestehen. Sehnsucht, ihre eigene, ganz große Lovestory noch einmal zu erleben. Dieser Herzenswunsch ist ihre eigentliche Triebfeder, um solche Romane zu schreiben.

Nach dem Germanistikstudium vor siebzehn Jahren hat Anne nicht ihr Referendariat als Deutschlehrerin angetreten. Nein, sie ist Hals über Kopf einem charmanten Niederländer auf sein Hausboot nach Amsterdam gefolgt. Da war sie sechsundzwanzig. Nach drei Jahren ist sie mit der damals einjährigen Lisette nach Deutschland zurückgekehrt.

»Du liebst doch deine Schnulzen«, äfft sie ihre Tochter nach und steht auf, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Worüber regt sie sich auf? Lisette nimmt sie als Schriftstellerin nicht ernst. Das ist nichts Neues. Lisette findet es sogar peinlich, dass ihre Mutter Liebesromane schreibt. Peinlich. Was Lisette peinlich findet, finanziert schlicht und einfach ihren Lebensunterhalt.

Das einzig Tröstliche ist nach Meinung ihrer Tochter, dass sie unter einem Pseudonym schreibt: Linda Loretta.

»Wenn du wenigstens ansatzweise Gesellschaftskritik mit einbringen würdest, einen gewissen Realismus«, hört Anne sie im Geiste referieren. »Deine Frauen haben immer genug Knete und absolut keine Probleme, außer ihren Mister Right zu finden.«

Realismus. Als würde ihre fünfzehnjährige Tochter den kennen. Sie kennt nur die abgehobenen Literaturbesprechungen ihres Deutschlehrers. Den sie ganz nebenbei gnadenlos anhimmelt.

Eine erneute Niesattacke lenkt Anne von ihren immer wütenderen Gedankengängen ab. Sie flüchtet ins Badezimmer und schaufelt sich mit beiden Händen Wasser in das glühende Gesicht. Das kühlende Nass tut gut. Danach vergräbt sie es in einem Frotteehandtuch. Am liebsten, bis der Pollenflug vorbei ist.

Als sie das Tuch zögernd herunterlässt, begegnet sie sich im Spiegel. Kein aufbauender Anblick. Ihre Nase ist rot und doppelt so groß wie gewöhnlich. Ihre schönen braunen Augen sind unter den geschwollenen Lidfalten fast verschwunden. Anne sieht aus, als hätte sie jemand gewürgt, und mindestens zehn Jahre älter, als sie ist. Genauso fühlt sie sich. Da können auch die langen, prachtvollen Locken nichts mehr herausreißen.

Heilfasten, denkt sie bitter. Wie sie diese Ratschläge leid ist. Sie braucht in dieser Hinsicht keine. Anne hat bereits alle erdenklichen ausprobiert. Die Allergie ist geblieben. Entschlossen öffnet sie das Badezimmerfenster einen Spalt. Scheißegal. Ihr geht es so oder so schlecht. Gierig atmet sie den frischen Luftzug ein. Elstern fliegen laut streitend am Fenster vorbei. Anne mag ihr zänkisches Gehabe nicht. Es scheint jedes Jahr mehr von ihnen zu geben. Irgendwann gibt es nur noch Elstern. Die Klanghölzer ihres Nachbarn werden vom Wind bewegt. Anne mag ihre Melodie. Sie klingt fernöstlich und erinnert an buddhistische Mönche. Bei der Vorstellung muss sie in sich hineingrinsen. Gelassenheit passt so gar nicht zu ihren Nachbarn. Sie sind beide ungeheuer fleißig. Emsige Bienen, immer beschäftigt. Ohne den Honig jemals zu genießen. Sollen sie, denkt Anne. Solange sie sich nicht über ihre Ökowiese aufregen. Das tun sie nicht. Sie kämpfen stillschweigend gegen die herüberfliegenden Samen an und stechen Gänseblümchen und Löwenzahn aus. Sie vertikutieren ihren Rasen fast bis zur Grasnarbe, um Wiesenklee und Hahnenfuß auszumerzen. Zweimal haben sie sogar schon den Garten komplett umgegraben und neu ausgesät. Ohne Erfolg. Ihr erhoffter englischer Rasen wird regelmäßig wieder bunt besamt und zur Wiese degradiert.

Die Überlegungen haben Anne abgelenkt und stimmen sie sanfter. Sie geht zurück, schenkt sich noch ein Glas Wasser ein und setzt sich wieder vor den kleinen Rechner. Sie liebt es, in der Küche zu arbeiten.

Bevor sie sich wieder zu Mareile und Leonard in die lauschige Sommernacht an den Strand gesellt, schaut sie routinemäßig in den Posteingang. Werbung. Sie will sie schon löschen, als sie die Überschrift liest: »Taschentücher versandkostenfrei!«

Unwillkürlich starrt Anne aus dem Fenster. Woher wissen die von ihrem erhöhten Taschentuchverbrauch? Sie sieht noch einmal auf den Bildschirm und liest: Taschenbücher versandkostenfrei! Sie muss über ihre Halluzination laut lachen.

»Na, deine Laune ist ja wieder gestiegen«, kommt der prompte Kommentar. Lisette ist unbemerkt in die Küche gekommen. Dieses Mal, um sich ein Brot zu schmieren und dick mit Käse zu überbacken.

»Ja«, erwidert Anne trocken. »Ich habe gerade meinen Roman zu Ende geschrieben.«

»Super!«, lobt Lisette, während sie sich den Gouda großzügig zurechtschneidet. Ja, das wäre in der Tat super, denkt Anne. 100.000 Zeichen in einer halben Stunde. Warum rede ich überhaupt noch über meine Arbeit?

Lisette befördert ihre präparierte Schnitte in die Mikrowelle und setzt sich für einen Augenblick mit an den Küchentisch.

»Marie ist eine Woche ganz allein. Ihre Eltern sind kurzfristig verreist. Und du weißt ja, Marie hat Schiss nachts im leeren Haus. Ich habe ihr versprochen, dass ich in der Zeit bei ihr schlafe. Das ist doch okay, oder?«

Anne nickt resigniert. Soll sie für eine Woche zu ihrer Freundin ziehen. Sie kann Lisette nicht festhalten und ihr vorjammern, dass sie auch nicht gern allein ist. Schon gar nicht im April.

Die Locken ihrer Tochter umarmen für einen Augenblick ihre, dann schnappt sie sich ihr überbackenes Brot und wirbelt zurück in ihr Zimmer.

Anne stellt sich ein Schälchen mit Schokostückchen neben den Laptop. Vielleicht bringt sie ein wenig Nascherei bei der Liebesszene weiter. Genussvoll lässt sie ein Stückchen Schokolade im Mund zergehen. Aber statt auf ihren Text schaut sie wieder aus dem Fenster. Der Wind hat zugenommen. Zarte Wolkenschleier werden rasend schnell weitergeschoben. Dahinter liegen Schäfchenwolken. Unzählig viele. Zwei Himmel hintereinander, denkt Anne fasziniert und gibt Impressionen an der Nordsee in die Suchmaschine ein. Die könnten sie in die richtige Stimmung bringen. Sie schiebt sich das nächste Stückchen Schokolade in den Mund. Wangerland. Tomkes Frühstückspension. Gemütlich und zentral am Meer gelegen. Ich hole meine Gäste gern vom Bahnhof ab.