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Undinen - Reinhard Knodt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

(Print) ISBN: 978-3-941524-63-7

(E-Book) ISBN: 978-3-941524-51-4

1. Auflage 2015, PalmArtPress, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Reinhard Knodt

© PalmArtPress, Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin

www.palmartpress.com

Herausgeberin: Catharine J. Nicely

Umschlagabb.: Gabriela Dauerer: Mary in the Fields, Collage, 2007
Druckerei: Schaltungsdienst Lange,

Hergestellt in Deutschland

Reinhard Knodt

Undinen

Unmögliche Liebesgeschichten

Inhalt

Lieder der Könige

Der Vogel

I Do Love You So!

Die Tür

Fischen mit Hemingway

Undine des gemessenen Glücks

Unternehmerenergie

Yellow Rose

Hatas Hände

Supermarkt

Zärtliche Begegnung

Der Schmetterling

Sonderangebot

Necmiye

Der blonde Sopran

Der Kastrat

Lillis Mond

 

Nachbemerkung

Die Lieder der Könige

Auf der Busfahrt von Lakehurst nach New York schlief eine wildfremde junge Frau mit mir. Anders lässt es sich nicht ausdrücken. Sie kam in den Bus, setzte die Sonnenbrille ab, steckte sie in eine Handtasche, ließ sich nach einem prüfenden Blick neben mir nieder, zog die Beine an und lehnte sich an mich, als würde sie mich seit Jahren kennen.

Ihr Oberkörper lag angewinkelt neben mir, Kopf und Wange ruhten an meiner Schulter, die Knöchel ihrer Hand berührten leicht meinen Arm … Ich war zunächst verblüfft, als sie sich so zurechtlegte, rührte mich aber nicht, teils um nicht unhöflich zu sein, teils, weil ich es nicht sehr unangenehm fand. Langes Busfahren macht schläfrig, und so fuhren wir also dahin, ich zunächst noch mit den Gedanken an ein paar gerade absolvierte Recherchen, dann aber doch immer mehr mit dieser neben mir oder besser beinahe auf mir liegenden Frau beschäftigt, die eine Koreanerin sein mochte, oder nicht ganz, aber doch jedenfalls aus dieser Richtung, wie ich dachte; dann absinkend in den Vibrationen des Busses im Gefühl des Gefahren- und Getragenwerdens, das sich nach und nach auch in eine Art Nebeneinandergefühl wandelte, ein zwischen Wachen und Schlafen in Lichtreflexen hinter geschlossenen Lidern dahinpendelndes Bewusstsein der Gemeinsamkeit voll eigenartigster Inhalte, das sich im Laufe der Reise, vielleicht, wer weiß, immer mehr ähnelte und schließlich Eins wurde – zeitweise zumindest. Ich hatte jedenfalls zum Beispiel einige Minuten lang das Gefühl, in einer offenen Kutsche zu fahren, unter einem Blätterdach und Sonnenblitzen, eine Pagode zu sehen in einer asiatischen Stadt, in der ich noch nie im Leben gewesen sein konnte und einen Zigarettenverkäufer zu sehen vor einem Stand mit Papageien. Die Frau neben mir war aus Seoul, so stellte ich mir jetzt probehalber vor. Ich roch den Duft ihrer Haare. Dass sich unsere Körper zusammenschaukelnd aneinander rieben, erzeugte gewisse Vorstellungen, und schließlich bei mir das Bedürfnis, die Augen zu öffnen.

Ihr Kopf war klein und ich wunderte mich auch, wie er wiegend mir auf dem Oberarm lag und sich weder aufrichtete noch weiter nach unten glitt, was eigentlich hätte geschehen müssen, wenn sie einfach nur geschlafen hätte. Aber sie schlief nicht. Sie musste, so war mir bald klar, hinter ihren geschlossenen Augen merken, dass ich sie ansah, oder sie musste überhaupt im Taumel ihres eigenen Wachens und Schlafens darauf drängen, dass es so blieb – oder anders, dass es noch besser würde zwischen uns, brüderlich, geschwisterlich, liebevoll – ich zur Seite gelehnt und sie halb auf mir, ich auf sie blickend in den Lichtreflexen der Busfahrt und sie atmend an meiner Schulter und wir beide nun fahrend auf schaukelnden Polstern durch Eichenwälder zwischen Lakehurst und Freehold und Amboy, dem dunklen Lincoln-Tunnel vor Manhattan entgegen.

Als ich nach einiger Zeit unseres zweideutigen Neben- und Ineinenaderliegens wieder einmal die Augen aufschlug, hatte sie sie auch aufgeschlagen und blickte mich an. Wir blickten uns also an und rührten uns nicht. Ich bemerkte nur, dass sie jetzt einen ihrer Schuhe ausgezogen und den Fuß ganz auf dem Sitz untergebracht hatte. Den Arm hielt sie angewinkelt, einige Haarsträhnen waren aus einem glitzernden Gummiband gerutscht, das sie bisher zusammengehalten hatte …

Zugestiegen war sie vor Freehold an einer Tankstelle mit Restaurant; allein, wie sie es vielleicht jeden Tag tat, oder jeden Sonntag um dieselbe Zeit. So stellte ich mir das jetzt wenigstens vor und malte mir aus, dass sie sich jedes Mal einen Reisenden aussuchte, sich sofort an ihn lehnte, sich entschieden an ihn schmiegte - und dass es ihr höchstwahrscheinlich fast immer gelang, gerade weil ihr Tun so unwahrscheinlich war. Ihre Augen sahen mich für einen Moment wie durch den Schleier des Schlafes hindurch und schlossen sich wieder nach langen Sekunden, in denen ich mir nicht klar darüber war, ob sie nun eben verstohlen gelächelt hatte oder ganz ruhig den Blick nur auf mir ruhen lassend mich musterte, um jetzt - im Inneren ihrer warm und dunkel geschlossenen Augen - über das Bild nachzusinnen, das sie empfangen hatte. Ihre Knie drückten ab und an merklich gegen meine, ihre Hand, unabsichtlich oder absichtlich, das war nicht festliegend, griff fast nach meinem Ellbogen - und ich ließ es zu. Ich hatte nicht eine Sekunde gezögert, war nicht distanzschaffend zur Seite gerückt, ganz am Anfang, was ja vielleicht alles verändert hätte. Sie hatte es jedenfalls wie durch einen ersten sekundenschnellen Zauber fertiggebracht, dass ich diese unwillkürliche kleine Bewegung nicht machte, indem sie sich, wie als ob es sich so gehörte, an mich gelehnt hatte; oder anders, ich war von dieser Bewegung, diesem Während-des-Hinsetztens-sich-bereits-an-mich-Lehnens angebannt gewesen und hatte keine Sekunde lang an eine Korrektur meiner Sitzhaltung gedacht; oder noch anders, diese Korrektur stand bis jetzt aus, denn eigentlich hätte ich sie ja immer noch durchführen können, mich einfach zur Seite bewegen, zwei Zentimeter, ein wenig aufrichten, doch das ging eben nicht, da ihr Gewicht schon eine Spur zu selbstverständlich auf mir lag - ich hatte mich sozusagen in den ersten Sekunden darauf eingelassen und war nun eben gefangen in der unglaublichsten Selbstverständlichkeit ihrer ersten Bewegung, die jetzt im Summen des Busses in Tasten und Schaukeln sich auflöste oder aufschaukelte, wie man will, jedenfalls gab es ständig eine Art wogende Verständigung und Verstärkung des einen oder anderen Druckes unserer Körper aneinander, und wir gerieten so tatsächlich durch sie, durch mich, wer weiß es genau, immer weiter in den Sog einer dunklen schützenden Welt der Berührung, der Mütterlichkeit, der Geschwisterlichkeit, der fürsorgenden Zärtlichkeit und des darunter schlummernden Reizes und des Lächelns, in den wir zugleich, wie in einen Halbschlaf, in eine Art sich bewegende körperliche Phantasie einmündeten und uns sozusagen - vermischten.

Wer weiß wie oft diese Frau diese Reise gemacht hat, dachte ich gelegentlich auftauchend aus meinem undeutlichen Taumel, aber dann verschwamm wieder alles, denn sie war ganz offenbar eine Meisterin der mikroskopisch feinen Bewegung. Dem Rhythmus des Busses folgend, aber nicht entsprechend, unmerklich synkopierend hier und da, stärker andrängend, Muskeln anspannend und sie wieder zurücknehmend, im Halbschlaf mir Phantasien und Fragen durch kleinste Bewegungen und Muskelspiele einflößend und im Hellwachen der Ahnungen Vorstellungen erzeugend von ihrem Körperbau, dem Duft ihrer Haare, ihren Fußknöcheln, den Hüften, den sich geschickt zwischen Absicht und unbeabsichtigter Nähe bewegenden Händen. Gezielt und ruhig arbeitete sie im Geheimen, bis ich mich fragte, wie ihre Schenkel aussehen mochten oder ihr Mund oder die Innenseiten Ihrer Arme, die Achselhöhlen unter dem Stoff …

Mehrfach suchte ich ihr ins Gesicht zu sehen bei der einen oder anderen Berührung. Mehrfach spürte sie es, da sie immer nach einigen Sekunden ihrerseits die Augen aufschlug und mich ansah oder vielmehr nicht ansah, da dieses direkte Ansehen eine zu deutliche, verräterische Bewegung ihrer Pupillen oder ein Lächeln erfordert hätte, womit ihr Blick also fast starr und prüfend war, wie eine Maske, hinter der sich die Augen öffneten, so dass ich fast das Gefühl einer verschleierten Frau hatte. Sie war also zwar nicht verschleiert – und ansonsten musste ich mich natürlich auch fragen, welcher Religion sie zum Beispiel angehören mochte – aber es war etwas wie ein Schleier über ihren Augen, ein Schleier wie er gelegentlich über den Augen eines indischen Freundes lag, mit olivfarbener Haut und diesen Augen eben, die so dunkel waren, dass sie wie der reine Ausdruck des Auges, nicht aber des Sehens, den anderen bannen. Dann und wann schlossen sich ihre Augen wieder und ich vermeinte zu verstehen, sie würden sich in einer Art verschmitzter Verstellung, wer weiß, auch unmerklich lächelnd schließen, wobei dieser Hauch eines Lächelns doch so schnell wieder verschwand, dass es nicht als pures Lächeln ausgelegt werden und mich aus dem Bann dieser eigenartigen Situation hätte reißen können. Denn es war ja immer noch alles im Raum der Interpretation, und das Wenigste war unmissverständlich, auch nicht ihr sich leicht im Schlaf, oder besser Halbschlaf öffnender Mund, mit dem sie jetzt von sich erzählte.

Sie erzählte von ihrer Kindheit in einem Land, in dem man offenbar im offenen Wagen an Pagoden vorbeifahren konnte im großstädtischen Sonnenblitzen, vorbei an Erdnussverkäufern und Vogelkäfigen, dem Haus, ach was hieß Haus, der Abteilung Beton in einem langgestreckten acht Stockwerke hohen Gebäude, das vielfach unterbrochen und unterhöhlt und von Geschäften durchdrungen, ein Labyrinth des Lebens, der Geräusche, der Gerüche, der Hoffnungen und Ängste darstellte, wie es in Seoul Hunderte gibt. Und sie erzählte von ihren Eltern im Gewimmel des Verkehrs, dem Vater, Zigarettenhändler in vierzehn Straßen des Bezirks und dem Onkel, der geschrieben hatte, sagen wir von Lakehurst, aus der Nähe Lakehursts, wo er ein Restaurant betrieb, ein gutes Restaurant, einen gepflegten Imbiss auf dem Land, wie es im Brief stand, und von ihren Hoffnungen eben dorthin zu kommen aus dem Betonschacht, ohne Fensterglas, in dem sie lebte wie in einer Höhle, in die das Neonlicht flackernd schlug und durch die der Curryduft einer Gaststätte zog und das Geschrei der Nachbarn... von ihrer Sehnsucht, die sie in dieses neue Zimmer getrieben hatte, in dieses Zimmer, in dem sie jetzt wohnte, über einer Tankstelle mit Mc Nuggets Imbissstation, in der sie ein kleines Zimmer mit Bett und Dusche hatte, in welches der Lastwagenverkehr schallte und in das sie sich hinauftastete nach zehn Stunden Arbeit und - wenn sie das Fenster öffnete - eine Neonreklame davor.

Sie bediene wochentags, so erzählte mir ihr offener Mund, um dann nach New York zu fahren, Sonntags, heute eben - zu einer älteren Freundin namens Schuong, einer jungen Literaturprofessorin mit der Vorliebe für Frauen und zärtliche Tänze in bestimmten Kneipen des Upper Village. Ich sage Shuong, weil ich eine Koreanerin namens Shuong kenne, im New Yorker Village, die an einer der vielen kleinen New Yorker Universitäten für koreanische Liebeslyrik des Mittelalters zuständig ist und gerade ein Buch über die Königsgesänge des 12. Jahrhunderts verfasst hat und die vielleicht, nun ja, auch hier neben mir liegen könnte im Bus, so schwesterlich, wie mir eben aus vielen Treffen bekannt, von denen nicht einmal ich selber weiß, und wüsste ich, es mir verbieten würde, mich je zu erinnern. – Natürlich gehört das nicht hierher, oder doch, denn auch Shuong hatte mich mehrfach angesehen wie diese Frau auf dem Nebensitz jetzt, oder besser an meiner Seite. Bei Shuong war es allerdings im Stiegenhaus zu einem Gästezimmer der Universität und dann noch einmal im mexikanischen Restaurant. Und ich hatte mich auch bei Shuong sofort so eigenartig schwebend zwischen Anziehung und Abweisung gefunden, so als wäre der Blick und der Schleier darüber, die Anziehung und die Abstoßung dasselbe, eine Art bittender Bann, dem nicht beizukommen war zwischen Gebäck, das man in scharfe Soßen eintauchen musste und ihren nächtlichen Fragen nach meinen New Yorker Unternehmungen.

„… Interviews! Auf den Spuren der deutschen Einwanderer!“ – erläuterte ich und sie philosophierte spöttisch darüber, dass diese offenbar immer dieselben seien, nach McDonalds riechen würden, in nächtlichen Stunden in Einzimmerapartments endeten, in die das Licht der Stadt und der Verkehr schlagen würde. „Meine Eingewanderte hatte einen Beauty-Shop“, erwiderte ich „und trug 64 Jahre lang ein Blatt mit sich herum, den Brief des Vaters, in dem vom vielen Falten ein viereckiges Schnipsel im oberen Teil sich gelöst und ein Loch hinterlassen hatte.“

Durch dieses Loch, so erfand ich nun weiter, blickte sie gelegentlich im kleinen Büro ihres Beauty-Shops in der 94. Straße und sann darüber nach, wie ihr Vater in einem jetzt polnischen Städtchen sitzend in seiner ehemaligen Schmiede über seine nach Amerika ausgewanderte junge Tochter geweint haben mochte. Wie gesagt, ein Schmied in einem Ort, der jetzt längst einen anderen Namen trug, kurz nach dem Krieg, weinend über den Verlust seiner Familie, der Tochter schreibend in Amerika. „Sie war Hausmädchen bei einer jüdischen Familie“, ergänzte ich und wollte erzählen vom Schicksal deutscher Hausmädchen in New Yorker jüdischen Familien zu Kriegsbeginn und dem Beauty-Shop meiner alten New-Yorker Tante. „Und das Eigenartige“, fuhr nun Shuong fort, ohne sich wegen meiner Geschichte überhaupt zu unterbrechen - „sie haben alle das Gefühl, eigentlich immer schon hierher gehört zu haben, in die Staaten, in den Westen und seien nur durch ihr bisheriges Schicksal zufällig abgehalten gewesen, verurteilt in der sonstigen Welt zu leben oder gehalten durch Not. Wer Not leidet, wandert nicht aus. Nur wer entsetzliche Not leidet, wandert aus, denn jeder fürchtet sich vor dem Gefühl, in langen Reihen irgendwo tagelang anzustehen, oder diesen Zementsack im Magen zu haben im fremden Land an fremden Sonntagnachmittagen irgendwo in der sonstigen Welt …“

”Ich fühle mich nicht verurteilt in der „sonstigen Welt“ zu leben“, erwiderte ich und wollte ihr von schneedurchwehten Dörfern erzählen und von einem Fluss in meiner Heimat und von Menschen, deren Gesichtszüge und Augen völlig sehnsuchtsfrei waren, weil sie nie weg waren, Orte nach denen ich mich nicht sehnte, wie nach einem dunklen Verhängnis der Herkunft. Es gibt ein Glück in der Fremde, sagte ich. Aber Shuong hörte mir gar nicht zu. Sie stippte diese Chips in die mexikanische Soße und war vor zehn Jahren nach New York gekommen, war inzwischen verheiratet - und hatte eine eigene Wohnung, die sie zwei Tage in der Woche aufsuchte um dort zu schreiben. Liebesgeschichten. – „In einem kleinen Apartment in einer der Metropolen der Welt, die Geschichten zu schreiben die man lebt, das ist doch der Traum aller Schriftsteller der Welt“, sagte sie. Deswegen habe sie es ausprobiert und ansonsten bekäme sie jeden Sonntag Besuch vom Land, eine kleine Freundin, wie sie sagte und mich schwärmend anblickte in diesem Moment, oder auch mehrdeutig. Ich wusste jedenfalls nicht wie ich ihre Worte deuten hätte sollen, damals.

Diese Frau neben mir ist der Besuch vom Land für Shuong, dachte ich also jetzt im Bus und gewissermaßen an dieser Frau liegend und dass sie vielleicht einen kleinen Büstenhalter trug, der im Schaukeln des Halbschlafs unendlich nah und doch unberührbar zugleich war, denn es wäre ja immerhin möglich gewesen, dass sie die Augen nur im Schlaf gelegentlich öffnete, nichts sehend, ein Phänomen, von dem mir jemand erzählt hatte, und dass sie also gar nicht wusste, was sie mit ihrer linken Hand eben jetzt tat und entsetzt aufgesprungen wäre, hätte sie jemand bei klarem Bewusstsein mit dieser Tatsache und dem Ziel ihrer Bewegung konfrontiert, die zwar eine Tatsache war, aber doch nicht so, wie Tatsachen in dieser Welt des Ineinanderfließens und sich beiläufigen Kümmerns und der sich ineinander flechtenden Hände, Träume und Hoffnungen sein hätten müssen. Nein, hier sah kein Wachender zu, wie sie immer wieder dazu aufforderte, doch ihren Bewegungen zu antworten, den Bewegungen des Busses folgend natürlich, aber eben auch geschickt und interpretationsbedürftig darüber hinausgehend, wie mir deutlich war und wie ihr dies auch meine Hand an ihrer Hüfte zwischen dem Stoff eines entdeckten sehr glatten seidenen Hemdes und der weichen Haut mitgeteilt hatte. Sind wir inzwischen nicht doch unmissverständlich auf einem gemeinsamen Weg zu einem gemeinsamen Ziel, während der Bus an Richmond vorbei auf Jersey-City zufährt, oder könnte all dies zufällig so liegen und sich bewegen, noch, aber doch auch eigentlich schon nicht mehr? – Nein, das ist … – doch, das ist gemeint, weiß ich jetzt, meine ich jetzt zu wissen; und die Polster des Busses verstärken jede Bewegung und Vorstellung und der Lincoln Tunnel ist nicht mehr weit und sie ist eine Meisterin der abgestuften Bewegung und sie macht diese raffinierte Reise jede Woche, je nachdem, ob sie Shuongs Besuch vom Land ist oder nicht, denke ich jetzt – und bei der Zahlstation, über die der Bus nur kurz anhaltend zum Tunnel einfährt – grüßend der Fahrer – sieht sie mich wieder an mit halb geöffneten Augen und halboffenem Mund, in dessen Zahnreihen ich nun auch ihre rosa Zungenspitze entdecke. Wie triumphierend!, denke ich kurz, bevor ich einige Atemstöße lang spüre, dass sich ihre Hand verkrampft, was aber ja vielleicht auch eine Sekunde der Unsicherheit und des Erschreckens und das kurze Aufseufzen einer jetzt aus dem Reiseschlaf Erwachenden sein kann. Jedenfalls verflüchtigte sich alles sofort ins Dehnen und Strecken, als wir nach dem Tunnel ins Helle stoßen. Sie richtet sich auf, streift die Haare zurück, sieht mich an, beiläufig fast, sucht nach dem Gummiband, das die Haare zusammengehalten hatte, erhebt sich, nimmt die Handtasche, fischt nach ihrem Schuh, setzt die Sonnenbrille wieder auf und lächelt nickend, ganz unmerklich, so als würde sie, sich verabschiedend, in einen Raum hinein grüßen, in dem sie schon nicht mehr ist.

Es bleibt wirklich alles unsicher, auch ihre Zungenbewegung hinter den geschlossenen Lippen, mit der sie vielleicht ein breites, erlösendes Lächeln verbirgt, das sie nun ja auch zeigen könnte, während sie mich doch bloß zwei Sekunden länger ansieht als normal. Aber, was ist normal? Was ist sicher? Ich bin mir nicht sicher, was das eben war. Sicher ist nur der Bus der Adirondak-Lines, die Selbstverständlichkeit des Fahrers, mit der er sich zwei Stunden auf sein Ziel zu bewegte und jetzt die eiserne Rampe der Station hinauffährt zum Gate 28, während ich mir hinter meiner Reisegefährtin stehend das Hemd in den Hosenbund stecke.

Als ich im Dunkel des Lincoln Tunnels hätte schwören können, sie und mich, deutlich und sehr gemeinsam zu spüren, war es nämlich doch gleichzeitig auch, als hätte ich für wenige Sekunden das Bewusstsein verloren, oder – jetzt schwankt die Erinnerung daran – als wäre ich völlig eingeschlafen gewesen. Mir schien oder scheint also, als wäre der Punkt unserer höchsten gemeinsamen Verwunderung gleichzeitig der Moment völliger Reglosigkeit oder vielleicht auch gemeinsamer Auflösung gewesen. Sicher war, wie gesagt, nichts. Nur die Türme Manhattans sah ich mit Sicherheit, als wir heraus kamen und an Shuong erinnerte ich mich natürlich, die in einer sonnigen Bar irgendwo im Village über unsere Unfähigkeit geredet hatte, die östliche Liebeslyrik des Mittelalters zu verstehen. „Gedichte als die eigentlichen Wohnplätze der Menschen”, hatte sie gesagt: „… stell’ dir vor, eine Welt der Burgen, der Bilder und der halbwachen Träume als die einzige Wirklichkeit. Die Welt als Traumhaus, die Wahrheiten ineinander verfließend, die Pflichten, die elenden Kämpfe des Alltags, die sinnlosen Gespräche und die warmen Mauern der Stadt und die Hotels und der Regen und das Sonnenblitzen zwischen den Zweigen der Platanen. Und all dies nur wie ein feines, fernes Anbranden. Und schwebend darüber die Lieder der Könige …“

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Der Vogel

Hand in Hand, Hand im Haar, das rote Band im Haar. Es konnte nur ein Märchen sein. Angst vor dem Schock am anderen Morgen oder vielleicht schon vor dem Haus, wenn sie sagen würde, sie wolle im Taxi bleiben. Genauso ihre Angst. Angst im Hinaufgehen, Angst im Übermut, in der Eile, im Küssen, im Wegsehen, im Ansehen. Die Suche nach dem Einwand, die Suche schon jetzt nach dem möglichen Zeitpunkt, an dem sie sich beide einen kleinen Berg Wirklichkeit vor die Füße werfen würden. Wieder der Sieg der Wirklichkeit. Ende des Tanzes. Es konnte nur ein Märchen sein.