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Vorwort

Lieber Leser!

Es gibt gewisse Lösungen, für die noch keine zutreffende Bezeichnung existiert und die man vielleicht Patendlösungen nennen könnte. Dieses Wort ist kein Druckfehler, sondern der Versuch einer Zusammenziehung von zwei Begriffen: Jedermann weiß, was man als Patentlösung bezeichnet. Der Ausdruck Endlösung dagegen ist in seiner schaurigen Bedeutung nur uns älteren Europäern noch unmittelbar bekannt. Eine Patendlösung wäre demnach eine Kombination der beiden Begriffe, also eine Lösung, die so patent ist, dass sie nicht nur das Problem, sondern auch alles damit Zusammenhängende aus der Welt schafft – etwa im Sinne des alten Medizinerwitzes: Operation erfolgreich, Patient tot.

Nur der Ausdruck wäre also neu; die damit bezeichnete Hybris ist seit Urzeiten bekannt. Es sei mir gestattet, diesen Begriff anhand der Tragödie Macbeth herauszuarbeiten.

Verglichen mit der Tiefe und Rätselhaftigkeit vieler Personen in Shakespeares Werk scheint die Rolle der drei Hexen in Macbeth einigermaßen klar. Sie sind von ihrer Chefin, der finsteren Schicksalsgöttin Hekate, beauftragt, Macbeths Sturz dadurch herbeizuführen, dass sie ihm eine großartige Zukunft weissagen, die er deswegen umso williger glaubt, als sie seinem grenzenlosen Machthunger entspricht. Im Versuch, die Prophezeiung zu verwirklichen, geht er dann rettungslos zugrunde.

Warum Hekate so viel an Macbeths (und, wie wir sehen werden, unzähliger anderer Menschen) Sturz zu liegen scheint, lässt sich beim besten Willen nicht feststellen. Dass sie seinen Sturz wünscht und ihn schließlich auch erreicht, daran lässt Shakespeare keinen Zweifel. Wie sie eine solche Patendlösung inszeniert, darüber soll im Folgenden ausführlich referiert werden – und zwar nicht nur in Bezug auf Macbeth, sondern unter Heranziehung anderer, modernerer Fallbeschreibungen.

Falls Sie, verehrter Leser, das noch nicht wissen sollten: Die subversiven Tätigkeiten des Hekate-Teams beschränken sich keineswegs darauf, was Macbeth im 11. Jahrhundert widerfuhr; sie sind vielmehr zeitlos – allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass Hekate heute, zehn Jahrhunderte später, über wesentlich feinere Techniken verfügt. Das Grundprinzip lässt sich aber eben schon aus Macbeth ableiten.

Was nützt es Hekate, dass die Hexen Macbeth an den Punkt gebracht haben, da Umkehr bereits sinnlos wäre (»Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, / daß, wollt’ ich nun im Waten stillestehen, / Rückkehr so schwierig wär, als durch zu gehen«)? Es quält ihn nämlich in seinem »selbstgeschaffnen Graun« doch »die Furcht des Neulings, dem die Übung fehlt« [III/4]; er ist also ungenügend auf seinen Untergang vorbereitet und könnte womöglich ausscheren. Hekate fühlt sich von ihren Subalternen übergangen und ist daher gezwungen, selbst die Regie zu übernehmen:

»Ihr garst’gen Vetteln, hab’ ich denn nicht recht?

Da ihr euch, dreist und unverschämt, erfrecht,

Und treibt mit Macbeth euren Spuk,

In Rätselkram, in Mord und Trug?

Und ich, die Meistrin eurer Kraft,

Die jedes Unheil wirkt und schafft,

Mich bat man nicht um meine Gunst,

Zu Ehr’ und Vorteil unsrer Kunst?« [III/5]

Und auf welche Weise bringt Hekate es zustande, dass sich Macbeth nicht eines besseren besinnt, die schon verübten Greuel irgendwie gutzumachen versucht, und rettet, was noch zu retten ist? Sie feuert ihn nicht vielleicht an, das Schrecklichste doch zu wagen, seinem Glück zu vertrauen, und was sich an derlei lauwarmen Zureden noch denken ließe. Sie gibt ihren Hexen vielmehr den Auftrag, ihn in Sicherheit zu gaukeln:

»Dem Tod und Schicksal sprech’ er Hohn,

Nicht Gnad’ und Furcht soll ihn bedrohn;

Denn, wie ihr wißt, war Sicherheit

Des Menschen Erbfeind jederzeit.« [III/5]

Auf diese Sicherheit, so orakeln ihm die Hexen, könne er sich voll verlassen, es sei denn, zwei Ereignisse träten ein: Erstens,

»Sei blutig, kühn und fest; lach aller Toren,

Dir schadet keiner, den ein Weib geboren:

Kein solcher kränkt Macbeth«;

und zweitens:

»Macbeth wird nie besiegt, bis einst hinan

Der große Birnamswald zum Dunsinan

Feindlich emporsteigt.« [IV/1]*

Da ihm beides unmöglich scheint, fühlt er sich nun sicher und zu den entscheidenden Untaten bereit. Sein Malheur ist nur, dass er, in Geburtshilfe offenbar nicht bewandert, von dem durch Kaiserschnitt zur Welt gekommenen Macduff getötet wird, während das feindliche Heer, mit Laub getarnt, einem Walde gleich auf seine Burg Dunsinan vorrückt.

Macbeth ist natürlich nur ein – wenn auch vielleicht der bekannteste – Fall aus Hekates Praxis. Ihre Tätigkeit reicht aber weit in die dionysische Epoche der Antike zurück, und umgekehrt sind mir eine Reihe weiterer und wesentlich neuerer Fälle bekannt geworden, in denen Hekate ähnliche Patendlösungen anwandte oder anzuwenden im Begriffe ist, um Unheil über die Welt zu bringen. Genaues und sich auf viele Jahre erstreckendes Studium dieser Fälle ermöglicht es mir nun, einige konkrete Hinweise auf ihre spezifischen Taktiken zu geben. Zweierlei versteht sich in diesem Zusammenhange wohl von selbst: Erstens verbietet mir das Berufsgeheimnis die Nennung meiner Informationsquellen, und auch alle Namen und Ortsangaben wurden von mir daher ausnahmslos abgeändert. Zweitens tritt Hekate heute nicht mehr als dreiarmige, von heulenden Hunden umgebene Herrin von Spuk- und Zaubererscheinungen auf. Sie lebt vielmehr in einer luxuriösen Villa am Mittelmeer, der von außen genauso wenig Unheilvolles anzusehen ist wie ihren Methoden, die sich scheinbar harmlose, allgemeine Errungenschaften des modernen Alltags zunutze machen.

Ich möchte dieses Buch mit der Beschreibung eines Falles beginnen und dann, am Ende, wieder auf ihn zurückkommen. Den treffendsten Decknamen, Jedermann, hat Hugo von Hofmannsthal leider schon für sich beansprucht, und um nicht zum Plagiator zu werden, will ich mich auf ihn einfach als »unseren Mann« beziehen.

Sicherheit – des Menschen Erbfeind jederzeit

Es war einmal ein Mann, der lebte glücklich und zufrieden, bis er sich eines Tages, vielleicht aus zweckloser Neugierde, vielleicht aus purem Leichtsinn, die Frage stellte, ob das Leben seine eigenen Regeln hat. Was er damit meinte, war nicht die offensichtliche Tatsache, dass es auf der ganzen Welt Gesetzbücher gibt, dass Rülpsen nach einer Mahlzeit in manchen Gegenden für ungezogen, in anderen als Kompliment an die Hausfrau gilt, oder dass man keine obszönen Graffiti an Wände kritzeln soll, wenn man nicht rechtschreiben kann. Nein, nicht darum ging’s ihm; diese von Menschen für Menschen gemachten Regeln interessierten ihn nicht. Was er plötzlich wissen wollte, war die Antwort auf die Frage, ob das Leben, unabhängig von uns Menschen, seine ganz eigene Regelhaftigkeit hat.

Wäre er bloß nie auf diese unselige Frage gestoßen – denn mit ihr war es um sein Glück und seine Zufriedenheit geschehen. Es ging ihm ganz ähnlich wie dem bekannten Tausendfüßler, den die Küchenschabe unschuldig fragte, wie er es fertigbringe, seine vielen Beine mit solcher Eleganz und fließenden Harmonie zu bewegen. Der Tausendfüßler dachte nach – und konnte von diesem Augenblick an nicht mehr gehen.

Weniger banal ausgedrückt ging es unserem Mann wie dem heiligen Petrus, der aus dem Boot sprang und auf den auf dem Wasser wandelnden Christus zueilte – bis ihm plötzlich die Unmöglichkeit dieses wundersamen Erlebnisses auffiel, worauf er prompt ins Wasser einsank und fast ertrank. (Fischer und Matrosen sind bekanntlich oft Nichtschwimmer.)

Unser Mann war ein sauberer Denker – das war Teil seines Problems. Deshalb sagte er sich, dass die Frage nach der Ordnung der Welt gleichzeitig die Frage nach ihrer (und seiner) Sicherheit war und dass die Antwort entweder ja oder nein zu sein hatte. War sie nein – doch hier stockte er bereits. Eine regellose Welt, ein Leben ohne Ordnung? Wie hatte er bisher gelebt, wonach seine Entscheidungen getroffen? Dann war ja die ruhige Sicherheit seines bisherigen Lebens und seiner Handlungen absurd und wirklichkeitsfremd gewesen. Nun also hatte er sozusagen vom Baume der Erkenntnis gegessen, aber nur seine Unkenntnis erkannt. Und statt in die Wasser des Sees Genezareth stürzte er solcherart in jenes Kellerloch, von dem aus bereits Dostojewskis Antiheld seine Tiraden gegen die lichte Oberwelt hielt:

»Meine Herren, ich schwöre Ihnen, daß allzuviel erkennen Krankheit ist, eine richtige, echte Krankheit. […] Denn die direkte, gesetzmäßige, unmittelbare Frucht der Erkenntnis ist Trägheit, das heißt das bewußte Hände-im-Schoß-Stillsitzen.«

Nein, ein solcher Kellermensch wollte er nicht sein. Pessimisten würden vielleicht behaupten, dass er noch keiner war. Denn noch wollte er den Dingen auf den Grund gehen. Da er Nein als Antwort auf seine Frage nicht annehmen konnte, ging er also daran, nach Beweisen für Ja zu suchen. Und um ganz sicher zu sein, wollte er dieses Ja aus berufenstem Munde erhalten, nämlich von einem Vertreter der Königin der Wissenschaften.

Also ging er zum Mathematiker. Wäre er bloß nicht hingegangen! Das lange Gespräch kann hier nicht wiedergegeben werden; allein schon deswegen, weil der Mathematiker, wie die meisten Vertreter jener kristallklaren Wissenschaft, in einfachsten, selbstverständlichsten Begriffen zu reden glaubte, ohne zu verstehen, dass der Mann ihn nicht verstand. Mehrmals unterbrach der Mann den Gelehrten höflich: Es sei ihm nicht so sehr daran gelegen, dass es nachweisbar unendlich viele Primzahlen gäbe, als vielmehr daran, ob die Mathematik klare, eindeutige Regeln für richtige Entscheidungen in Lebensfragen biete oder verlässliche Gesetze zur Voraussage zukünftiger Ereignisse. Und nun glaubte der Fachmann endlich verstanden zu haben, worauf der andere hinauswollte. Aber selbstverständlich, auf diese Fragen gäbe ein Teilgebiet der Mathematik klare Antworten; nämlich die Wahrscheinlichkeitslehre und die sich auf ihr gründende Statistik. So könne man zum Beispiel aufgrund jahrzehntelanger Untersuchungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Benützung von Verkehrsflugzeugen für 99,92 Prozent der Passagiere vollkommen sicher sei, 0,08 Prozent aber bei Abstürzen ums Leben kämen. Als unser Mann nun bloß noch wissen wollte, welchem Prozentsatz er persönlich angehöre, riss dem Mathematiker die Geduld, und er warf ihn hinaus.

Es hat wenig Zweck, den langen, kostspieligen Leidensweg zu beschreiben, den er nun antrat und dessen Stationen ihn zu Philosophie, Logik, Soziologie, Theologie, einigen Kulten und anderen zweitrangigen Welterklärungen führten. Das Resultat war im Wesentlichen dasselbe wie im Gespräch mit dem Mathematiker: Jedesmal schien es, als habe der betreffende Wissenszweig die wirkliche Lösung; jedesmal aber kam plötzlich ein Pferdefuß zum Vorschein oder eine Komplikation, die die fast erreichte Gewissheit wieder in weite Ferne rückte – zum Beispiel ans Ende der Zeit, an die Erreichung eines bestimmten außergewöhnlichen Geisteszustands oder an Voraussetzungen, die leider nur dann Gültigkeit hatten, wenn sie auch tatsächlich eintraten.

Die einzige handfeste Auswirkung dieser Suche nach Gewissheit war eine, die dem Mann selbst weniger auffiel als seinen Mitmenschen. Hatte er sich früher – wie gesagt     eine