Cover

Über Christian Linker

© Barbara Dünkelmann

Christian Linker, geboren 1975, lebt mit seiner Familie in Leverkusen. Er studierte Theologie und machte Jugendpolitik, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine bei dtv erschienenen Romane wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. war ›RaumZeit‹ für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

 

Mehr Informationen finden sich unter www.christianlinker.de

Über das Buch

Nie hätte Jakob es für möglich gehalten, dass er einmal mit dem sogenannten IS sympathisieren würde. Doch als er sich in Samira verliebt, die einem Verein von Salafisten angehört, faszinieren ihn deren Gemeinschaft und ihr Gedankengut. Er bricht alle alten Kontakte ab und findet bei den Salafisten ein neues Zuhause. Doch dann fordert ihn Samiras Bruder auf, mit ihm für den Islamischen Staat in den Krieg zu ziehen …

Impressum

Die im vorliegenden Roman erzählte Geschichte ist fiktiv. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Ereignissen sind unbeabsichtigt

 

Zu diesem Band gibt es ein Unterrichtsmodell unter www.dtv.de/lehrer zum kostenlosen Download.

 

Ungekürzte Ausgabe

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2015 dtv Verlagsgesellschft GmbH & Co. KG, München

Umschlagbild und -gestaltung: Lisa Höfner

Lektorat: Beate Schäfer

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42928-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71723-6

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423429283

Wie Drohnengeschwader dröhnen mir die Gedanken im Kopf herum und jeder Satz knallt wie die Salve eines AK-47 durch mein Hirn.

Nee …

Bullshit.

Ich weiß doch gar nicht, wie ein AK-47 klingt oder ob eine Drohne überhaupt dröhnt, ich bin ja nicht dabei gewesen. Außerdem hatten wir uns doch geschworen, inschallah, auf solche Poser-Scheiße zu verzichten.

Ich versuche, mich auf die Wörter in dem Brief zu konzentrieren.

… dem Ermittlungsrichter dargelegt … dringender Tatverdacht insofern nicht hinreichend belegt … der Haftbefehl gegen Sie schon bald aufgehoben wird …

Schon klar, sie werden mich rauslassen. Trotzdem starre ich seit Stunden auf das Schreiben meines Anwalts. Oder seit Minuten. Hier drin gibt es kein Zeitgefühl. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem sie mich gehen lassen.

Noch mehr Angst habe ich vor dem allernächsten Augenblick. Denn irgendwann muss ich den Anwaltsbrief zur Seite legen und den anderen öffnen, der ebenfalls heute in meiner Zelle gelandet ist. Ich erkenne Samiras Schrift auf dem Umschlag. Und ich erkenne das Format dieses flachen Päckchens, dem er beiliegt. Ich weiß, was darin ist. Und was das bedeutet. Deshalb halte ich noch immer das Schreiben vom Anwalt in der Hand, als könnte ich damit irgendetwas tatsächlich festhalten. Die Zeit zum Beispiel. Als würde Adil dadurch ein Stückchen länger am Leben bleiben. Nur ein paar Minuten noch. Ist das nicht eine Ewigkeit? Ein paar Minuten länger nicht tot zu sein?

 

Bullshit. Einmal habe ich tatsächlich sein Leben in meinen Händen gehalten.

Ich atme durch. Lege den Anwaltsbrief zur Seite. Greife in die Hosentasche. Mein letzter Kaugummi. Ich nehme ihn aus dem Silberpapier, schiebe ihn in meinen Mund. Kaue vorsichtig, als könnte er zerplatzen. Öffne Samiras Brief.

Jakob, Liebster.

Ich habe ein Päckchen erhalten. Es ist für dich. Natürlich musste der Staatsanwalt vorher alles lesen, deshalb habe ich erst gezögert, es dir ins Gefängnis zu schicken. Aber was spielt das noch für eine Rolle?

Liebster – Adil ist tot.

Und sendet dir seinen Gruß. Ich auch.

In Liebe,

Samira

Ich lege Samiras Brief zur Seite, auf das Schreiben vom Anwalt, atme durch, schiebe den Kaugummi im Mund hin und her, reiße das Päckchen auf. Streiche mit den Fingern über den ledernen Einband des Notizbuches. Ich selbst habe es einst gekauft. Fast ein halbes Jahr ist das her. Es sollte für mich sein, aber dann brauchte ich es gar nicht, sondern schenkte es Adil. Die Widmung, die ich ihm damals auf die erste Seite schrieb, weiß ich noch auswendig:

Bismillahi rahmani rahim, alles Lob gebührt Allah.

Nur ER kennt den Weg, den du nun gehen wirst.

Falls es nicht der ist, den du erwartest, Akhi, dann vertraue auf IHN.

Ich mache Du’a für dich, Bruder.

Ich erinnere mich sogar an den Geruch, den unschuldigen Duft eines unbeschriebenen Buches aus leeren weißen Seiten, an das jungfräuliche Knistern der Blätter beim ersten Aufschlagen. Jetzt ist es speckig und stumpf, die Ecken sind geknickt, der Rücken abgewetzt. Es hat eine sehr lange Reise hinter sich.

Ich blättere das Buch auf, lasse die Seiten am Daumen entlanggleiten. Adil hat es zu einem Drittel gefüllt. Kurz habe ich den Impuls, gleich den letzten Eintrag zu lesen. Aber das traue ich mich nicht, ich schlage es vorne auf. Sehe meine Widmung wieder. Adil hat ein Smiley daruntergemalt. Ich muss lachen. Scheiße, Alter! Du hast mich so was von gelinkt!

Das Lachen scheppert gegen die Zellenwände. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Eine tropft auf das Papier. Ich schlage die Seite um und erkenne Adils Schrift.

Salam alaikum, Akhi. Du hast absolut recht. Nur ER kennt den Weg; es ist jedenfalls nicht der, den ihr euch vielleicht für mich überlegt habt, du und Samira. Ich weiß nicht, was ihr geplant habt, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich nicht dort ankomme, wohin ich muss, wenn ich dir vertraue.

Jetzt gerade sitze ich in einem Bus, der uns in eineinhalb Tagen über Bulgarien nach Istanbul bringen soll, während du darauf wartest, mich morgen früh zum Flughafen zu fahren. (Oder woandershin?) Es ist einer dieser stinknormalen Fernbusse und meine Mitreisenden sind überwiegend türkische Rentner sowie drei Studenten – halt Leute, die Zeit haben, aber keine Kohle fürs Flugzeug. Die Karte für den Bus habe ich mir gestern besorgt, gleich nachdem du gegangen warst.

Keine Sorge, ich fühle mich nicht von euch verraten. Bitte fühle auch du dich nicht von mir verraten. All unsere Pläne und Absichten sind doch nur Staub in Gottes Hand. Steht nicht alles, was geschehen wird, sowieso schon seit Tausenden von Jahren im Himmel aufgeschrieben?

 

Es war eine schöne Idee von dir, mir dieses Buch zu schenken. Ich habe dir versprochen, nicht rumzuposen. Ich will ehrlich aufschreiben, was ich erlebe. Wenn du es irgendwann, auf welchem Wege auch immer, zurückbekommst und wieder in deinen Händen hältst, dann werde ich, inschallah, im Paradies sein.

»Inschallah«, flüstere ich und lasse das Buch sinken.

Verrat … Was für ein archaisches Wort. Ich wische die Tränen fort und mein Blick wandert zu Samiras Brief. Wir haben uns alle verraten. Uns alle gegenseitig. Und jeder von uns sich selbst. Ich sehe Samiras unglaubliche Augen vor mir. Mit ihnen hat vor nicht mal einem Jahr alles angefangen.

21. Oktober

Die Augen waren von einem verstörenden Blau. Man sah nur die und sonst nichts von ihr, denn ein samtschwarzer Schleier verhüllte den Kopf, verbarg das Gesicht und fiel auf die Schultern herab. Sie trug einen taillierten grünen Ledermantel und verwaschene Jeans, die Füße steckten in knallroten Docs. Sie war pure Provokation. Auch die Art, wie sie ging. Jeder beschleunigt in dieser Unterführung seine Schritte, um mit angehaltenem Atem durch die im künstlichen Licht dampfenden Pisseschwaden zur anderen Seite des Bahndamms zu tauchen. Sie nicht. Sie schritt auf seltsam würdevolle Art an mir vorüber. Ganz kurz begegneten sich unsere Blicke, schon waren wir aneinander vorübergegangen, und ich hätte mich nicht getraut, mich umzudrehen und ihr nachzusehen, wenn nicht die beiden Typen aufgetaucht wären.

»Der Winter kommt«, sagte der eine mit dem Bürstenschnitt eine Spur zu laut.

»Yep«, schnalzte sein Buddy aus der Kapuze seiner Hollister-Jacke, »da läuft schon ein Pinguin frei rum.«

Ihre Blicke fixierten die Frau wie in einem Schraubstock. Sie kamen genau auf mich zu, aber für sie war ich Luft oder ein Teil der ranzigen Fliesenwand. Ich ging langsamer. Sie marschierten in langen Schritten vorüber, um die Verschleierte einzuholen. Ich blieb also stehen und drehte mich um. Niemand war hier außer uns vieren. Der winzige Kiosk am anderen Ende des Tunnels hatte längst geschlossen. Angsträume nennt man solche Orte, hab ich mal gelesen, vor allem an einem späten Herbstabend, aber die Frau hatte keine Angst. Oder sie zeigte sie nicht. Ich jedenfalls hatte welche, denn ganz unvermittelt war mir klar geworden, dass es auf mich ankam. Meine Hand fuhr in die Hosentasche, fühlte das Handy.

»Ob man unter so ’ner Kutte einen Sprengstoffgürtel verstecken kann?«, höhnte der Bürstenschnitt.

Schon hatten sie sie von rechts und links überholt, bauten sich vor ihr auf.

»Mal sehen«, feixte der mit der Kapuzenjacke, doch dann schien er für einen Moment irritiert. Er hatte nicht mit diesen Augen gerechnet. »Bist du etwa ’ne Deutsche?«

Sie war stehen geblieben. Ich ließ das Handy los.

»Sag was«, knurrte der Bürstenschnitt. »Bist du eine kleine Türkenhure, die sich von ihrem Moslemstecher ein Kind nach dem andern machen lässt? Hä? Viele kleine Kämpfer für den Heiligen Krieg?«

Sie stand kerzengerade da, sagte nichts, wich nicht aus. Ich setzte mich in Bewegung. Es waren bullige Kerle. Vielleicht Hools oder nur zwei dumme Atzen mit Langeweile, egal – sie würden mir alle Knochen brechen. Es sei denn, mir fiele was ein. Ich ging mit großen Schritten auf sie zu.

»Hey, hallo. Gut, dass ich euch treffe.« Sie glotzten blöde. Ich umrundete sie ebenfalls und sie mussten sich zu mir herumdrehen. »Ich hab da eine Frage und ihr könnt mir bestimmt helfen.«

»Was soll das?«, schnaubte Bürste. »Verkack dich, du Spacko.« An seiner rasierten Schläfe trat eine Ader hervor. Kumpel Kapuze trug ein Drachentattoo links am Hals. Vielleicht würde ich sie später mal beschreiben müssen. Zwischen den beiden Visagen, eine knappe Armlänge hinter ihnen, leuchteten diese Augen. Leuchteten für sich allein, verrieten keine Reaktion.

»Vielleicht kennt ihr euch damit aus«, begann ich und musste mich räuspern. Mein Mund war plötzlich staubtrocken. »Also – was findet ihr besser: Manndeckung oder Zonenverteidigung?«

»Bist du ein Idiot oder was?«, blaffte Kapuze.

Ja, wahrscheinlich schon, dachte ich, aber wirklich idiotisch war die Verschleierte, wenn sie jetzt nicht endlich von hier verschwand.

»Es ist doch so«, fuhr ich fort. »Zone ist viel effektiver, aber wenn du einen Moment nicht aufpasst, kommt der Gegner ganz easy zum Layup.«

Die beiden tauschten einen Blick und Bürste meinte: »Diese Schwuchtel hier will uns verscheißern.« Und zu mir: »Alter, was laberst du?«

»Basketball«, antwortete ich. »Ich rede von Basketball. Ich bin noch ziemlich neu in Bonn und – sagt mal, das ist hier doch ’ne Basketballstadt, oder nicht?« Warum lief sie nicht weg? »Da kann ich doch mal ein paar Leute nach Tipps fragen. Wann würdet ihr zum Beispiel einen Gegner lieber doppeln?«

»Wir können gleich mal deine Fresse doppeln, wenn du unbedingt willst«, feixte Kapuze.

Bürste musste lachen und ich auch, verrückterweise, ich bekam einen richtigen Lachflash aus lauter Angst und Übermut, lachte wiehernd über diese völlig absurde Situation, in der man echt nicht sagen konnte, ob mein Plan aufging oder ob ich im nächsten Augenblick mit Kieferbruch in einer Pfütze läge. Ich lachte in ihre fassungslosen Fratzen, bis mir fast die Tränen kamen, und konnte erst aufhören, als sich am anderen Ende der Unterführung Lärm erhob. Es waren aufgekratzte Frauenstimmen, schon tauchten sie auf – ein Damenkränzchen, vielleicht zehn oder zwölf Frauen um die fünfzig, die sich die Kragen ihrer Pelzimitate vors Gesicht hielten und dabei fröhlich weitergiggelten.

Bürste schnallte als Erster, dass die Sache hier gelaufen war. »Toll, Mann«, knurrte er und sein bulliger Körper erschlaffte. Er machte kehrt, schob die Hände in die Hosentaschen und Kapuze folgte ihm. Gemächlich trollten sich die beiden. Die Verschleierte aber tat, ohne mich noch einmal anzusehen, zwei Schritte zur Seite. Elegant glitt sie in den Strom der sektseligen Kegelschwestern oder was immer für ein Klübchen da gerade auf dem Heimweg war, und ließ sich davontragen. Ich blieb zurück und stand plötzlich ganz allein in der Unterführung, wie aus einem seltsamen Tagtraum gerissen. Gern wäre ich noch stehen geblieben und hätte dem Traum ein wenig nachgespürt. Aber dann fiel mir ein, dass die beiden Hools noch einmal auftauchen konnten. Ich setzte mich in Bewegung, ging in den Nieselregen hinaus und blieb erst an einer etwas belebteren Ecke stehen. Menschen betraten oder verließen Kneipen, Taxis parkten am Straßenrand, hier konnte mir nichts passieren. Ohne auf die Nässe zu achten, lehnte ich mich erschöpft gegen einen Stromkasten und steckte mir einen Kaugummi in den Mund. Was für eine tollkühne Aktion. Mann! Ich war ein verdammter Held! Unwillkürlich sah ich mich um. Niemand verlangte ein Autogramm. Ich kaute, atmete tief ein und aus und fühlte frische Kraft im ganzen Körper. Es funktionierte tatsächlich. Paradoxe Intervention hatte das der Trainer genannt, der vor ein paar Jahren bei uns in der Schule so ein Deeskalationstraining geleitet hatte. Ich war im Rollenspiel seine Versuchsperson gewesen, hatte das witzig gefunden, aber nie im Leben damit gerechnet, dass es mir mal eines Tages wirklich was nützen würde. Schade, dass mich niemand dabei gefilmt hat, dachte ich. Und sie? Kein Wort des Dankes. Ich hätte wenigstens gern gewusst, wie ihre Stimme klang. Wie alt mochte sie sein? Die Augen hatten sehr jung ausgesehen, aber was sagte das schon. Sie würde mich nicht loslassen, das wusste ich. Nicht, bevor ich herausgefunden hatte, wer sie war. Auch wenn das unmöglich schien. Ich biss mir beim Kauen auf die Lippe. Das tat weh. Ärgerlich spuckte ich den Kaugummi zu dem faulenden Laub in den Rinnstein und machte mich auf den Heimweg.

 

Zu Hause empfingen mich der Duft von gebratenem Kürbis und das vorwurfsvolle Gesicht von Liz.

»Endlich«, brummte sie.

Auf dem großen Küchentisch unserer WG war für zwei Leute gedeckt. In einer Vase standen frische Herbstblumen in satten Farben.

»Wollten wir so was nicht lassen?«, fragte ich sie.

»Was – so was?«

»Na, mit dem Essen aufeinander zu warten. Die Wäsche vom andern mitzuwaschen. Solche Sachen.«

»Ich find’s eben schön, mit dir zu essen«, erwiderte sie. »Und es ist ja wohl nichts Unnormales dabei, wenn zwei WG-Bewohner zusammen zu Abend essen.«

»Nee«, gab ich zu und setzte mich. »Es sieht außerdem köstlich aus.«

Und so schmeckte es auch. Liz war eine vorzügliche Köchin. Aber eben keine normale Mitbewohnerin, sondern meine Freundin. Meine große Liebe. Jedenfalls bis wir zusammengekommen waren. Auf der Klassenfahrt in der Zehnten hatten wir mal geknutscht und waren dann zwei Jahre lang umeinander herumgekreist wie zwei gravitativ aneinander gebundene Sterne. Mal hatte ich kurzzeitig eine Freundin, mal fing sie was mit einem Typen an, alles nichts Ernstes, als würden wir in Wahrheit aufeinander warten. Beim Abiball standen wir uns plötzlich gegenüber. Eigentlich, um Abschied zu nehmen. Denn ich wollte für ein halbes Jahr nach Nigeria, als Freiwilliger für eine Hilfsorganisation. Aus unserem Abschiedskuss wurde eine wilde Liebesnacht und plötzlich waren wir doch noch ein Paar geworden. Ich dachte nicht viel darüber nach, denn drei Wochen später sollte mein Flieger gehen. Doch dann brach Ebola in Westafrika aus und die Hilfsorganisation sagte meinen Einsatz ab. Plötzlich brauchte ich so was wie einen Studienplatz. Ich hätte natürlich auch hier in Deutschland irgendwo einen Freiwilligendienst machen können, aber das wäre nicht dasselbe gewesen. Liz wollte nach Bonn, um Deutsch und Bio auf Lehramt zu studieren. Sie hatte sich natürlich längst um ein Zimmer gekümmert. Und als in ihrer WG kurzfristig was frei wurde, schlug sie mir vor, dass wir doch eine Weile zusammenwohnen könnten. Also zumindest Tür an Tür. Vorübergehend. Und so zog ich, anstatt nach Afrika zu gehen und die Welt zu retten oder wenigstens in eine aufregende Stadt, wo ich mich ins Partyleben hätte stürzen können, zu meiner Freundin nach Bonn und schrieb mich für VWL ein. Es war die einfachste Lösung gewesen. Wie eigentlich immer in meinem bisherigen Leben. Noch nie hatte ich irgendein Ding, irgendeine eigene Idee konsequent durchgezogen. Bis auf das Erlebnis in der Unterführung vorhin. Komisch, dass ich Liz nichts davon erzählte. Es fühlte sich so an, als sei das bloß eine Sache zwischen mir und diesem verschleierten Mädchen.

»Woran denkst du?«, fragte Liz.

»Stochastik«, sagte ich. »Dieses Tutorium bringt mich an den Rand des Wahnsinns.«

Sie lächelte und legte ihre Hand auf meine. »Am Anfang hat doch keiner den Durchblick«, sagte sie. »Im zweiten Semester wird es besser.«

Ja, sicher, dachte ich. Und bis dahin hab ich auch ein anderes Zimmer in einer anderen WG. Ich verstand selbst nicht genau, woher diese unterschwellige Unzufriedenheit kam. Es war doch alles perfekt: Ich hatte ein schönes Zimmer, einen guten Studienplatz und eine kluge, verständnisvolle Freundin mit einem unglaublich tollen Hintern. Ich lächelte zurück.

Später vögelten wir. Wir schliefen fast jede Nacht gemeinsam in einem Bett; mal in ihrem, mal in meinem. Das war in den knapp vier Wochen, seit wir nun so lebten, schon so selbstverständlich geworden, dass wir natürlich nicht mehr so viel Sex hatten wie am Anfang unserer Beziehung. Vermutlich war das normal. Liz aber spürte jedes Mal, wenn mich irgendetwas nachdenklich machte, und an solchen Abenden war sie besonders aktiv. Vielleicht mochte sie einfach nicht, wenn ich zu viel nachdachte.

2. Tag

 

Es ist kurz nach drei in der Nacht. Unser Bus hält in Sofia, Bulgarien. Wir tanken noch einmal zweihundert Liter Diesel, bevor es auf die letzte Etappe nach Istanbul geht. Die meisten meiner Mitreisenden schlafen, nur ein paar sind ausgestiegen und aufs Klo gegangen. Der Einzige, der gebetet hat, bin ich. Die anderen, obwohl alles Muslime, haben mich fast misstrauisch beäugt. Dabei habe ich mich eigentlich ganz gut »getarnt« – na ja, also den Bart kurz rasiert und westliche Klamotten angezogen. Aber ich kann schlecht auf das Gebet verzichten; schlimm genug, dass das schon reicht, um komisch angeguckt zu werden. Inschallah wird Allah (swt) es mir anrechnen.

Neben mir schnarcht Emine, eine dicke türkische Mama der alten Schule. Während der ganzen Fahrt hat sie mich mit Köstlichkeiten aus ihren Tupperdosen durchgefüttert. Sie hat meine Geschichte sofort geschluckt. Wie sollte man auch dem netten jungen Mann mit dem akkurat gestutzten Bart und dem adretten Poloshirt nicht glauben? Nur die Grenzer waren misstrauisch. Vor allem die serbischen. Sie waren zu zweit und standen vorn beim Fahrer. Schauten die Pässe durch. Einen nach dem anderen, ganz geschäftsmäßig und routiniert, bis sie meinen in die Finger nahmen. Ich konnte natürlich nicht sehen, dass es meiner war, aber mir fiel auf, dass sie plötzlich innehielten. Ihre Blicke wanderten über unsere Köpfe und blieben an meinem Gesicht hängen. Sie schauten noch mal auf den Perso und noch mal, dann wieder zu mir, dann holte einer einen Notizblock raus und schrieb was auf. Ich guckte so cool und gelangweilt wie möglich, aber es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich weitermachten. Erst als sie fertig waren und dem Fahrer den Stapel mit unseren Pässen zurückgaben, bemerkte ich, dass meine Hände innen feucht und eiskalt waren. Die beiden Beamten stiegen aus und unser Bus fuhr an. Von draußen warfen mir die Grenzer noch einen misstrauischen Blick zu. Vielleicht ahnten sie was, hatten aber keinen Anhaltspunkt. Jedenfalls atmete ich auf. Alhamdulillah, alles funktioniert.

Bloß … so nette Menschen wie diese Mama Emine so komplett anzulügen, das kostet mich schon etwas Überwindung. Na ja. Wir wissen, dass Allah (swt) das Lügen gegenüber dem Feind erlaubt hat. Und es dient letztlich alles unserem Kampf.

24. Oktober

Diesmal hatte der Kiosk noch geöffnet, denn es war eine Stunde früher als bei meiner seltsamen Nicht-Begegnung drei Tage zuvor. Die geteilten Scheiben des ohnehin winzigen Fensters waren mit Werbung für Zeitschriften und Energydrinks vollgeklebt und ließen nur ein kleines Loch offen, hinter dem eine hutzelige Alte hockte, als hätte ein böser Zauberer sie dort vor hundert Jahren eingemauert und dazu verdammt, bis ans Ende ihrer Tage Kippen und Käsebrötchen herauszureichen. Doch um diese Zeit war der Strom der Pendler, Einkäufer und Studenten längst verebbt und ihr schien nach einem Schwätzchen zu sein.

»Warum kaufen Sie jetzt noch eine Tageszeitung?«, wollte sie von mir wissen. »Der Tag ist doch gelaufen. Was da heute Morgen drinstand, ist schon lange überholt. Nehmen Sie lieber die ZEIT

»Warum? Weil die für eine ganze Woche hält?«

»Ja. Und weil die größer ist. Man kann sich noch besser dahinter verstecken.«

Ich musste lachen. »Sehe ich aus, als müsste ich mich hinter irgendwas verstecken?«

»Hör mal, Herzchen«, sagte sie in ihrem rheinischen Singsang und senkte die Stimme. »Du hast hier gestern Abend schon rumgelungert und vorgestern auch. Geht mich ja nix an, auf wen du da wartest. Aber mit der ZEIT fällst du weniger auf.«

Kurz war ich baff und fühlte mich ertappt. Dann senkte ich auch die Stimme und sagte: »Sie haben ein gutes Auge für die Leute, die hier so vorbeikommen, richtig?«

»Nicht mehr so wie früher.« Jetzt beugte sie sich vor und flüsterte: »Als wir noch Hauptstadt waren, da war hier alles voller Spione. Russen, Amis, Stasi … Haben alle ihre Zeitungen bei mir gekauft.«

»Und haben dann Löcher hineingebohrt, damit sie unauffällig durchgucken konnten?«

»Du glaubst wohl, ich rede Unsinn, Herzchen. Hältst du mich für senil?«

»Aber nein.« Ich beugte mich ebenfalls vor. »Haben Sie hier schon mal eine junge Frau mit einem schwarzen Schleier gesehen? In Jeans? Grüner Mantel und rote Schuhe? Sehr blaue Augen?«

»Schleier?« Sie runzelte die eh schon runzlige Stirn. »Muss die sich auch vor was verstecken? Ist sie dir abgehauen, Herzchen?«

»Nein. Das heißt – doch, ja, irgendwie schon. Also?«

»Frauen mit Schleier, Tausende. Aber keine mit Jeans und roten Schuhen. Daran würd ich mich erinnern.« Sie lehnte sich zurück. »Was ist jetzt mit der Zeitung, Herzchen?«

»Ach – geben Sie mir lieber ’n Päckchen Kaugummi.«

 

Natürlich tauchte sie nicht auf. Und wenn doch, hätte ich sie vielleicht gar nicht erkannt. Weil sie andere Schuhe trug oder einen anderen Schleier oder auch gar keinen, denn vielleicht war sie ja gar keine gläubige Muslima, sondern wollte an dem Abend bloß zu einer abgefahrenen Kostümparty oder hatte eine Wette verloren oder machte irgendeine Kunstperformance. Würde ich die Augen auch so wiedererkennen? Spielte es eine Rolle, dass sie blau waren? Zuletzt war viel über Leute – auch Frauen – in meinem Alter geschrieben und geredet worden, die zum Islam konvertierten. Darauf hatte doch wohl auch der Kapuzenjackentyp mit dem Drachentattoo angespielt. Ihm und seinem Kumpel konnte ich an dieser Unterführung übrigens genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wiederbegegnen wie ihr. Es hatte ohnehin keinen Zweck.

»Herzchen«, rief mir die Kioskverkäuferin nach, als ich mich zum Gehen wandte. »Hast du’s mal mit dem Internet versucht? Ihr seid doch alle in diesem Feetzbuck.«

»Das ist ja das Problem«, murmelte ich. »Schönen Abend noch.«

Mein Handy brummte. Hey, Jungs, schrieb Bartek, wer von euch ist denn dieses WE mal wieder in DO?

Ich wollte zurückschreiben. Doch dann setzte ich mich auf eine Bank und holte einen Kaugummi aus dem Päckchen, bevor ich auf die Wahltaste drückte.

»Jacko, alte Säge!«, rief Bartek. »Alter, du fehlst mir.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Du mir auch und überhaupt die ganze Horde.«

»Ja, Mann. Dortmund ist nicht mehr dasselbe, seit ihr alle weg seid.« Unsere alte Clique hatte sich nach dem Abi über die halbe Welt zerstreut. Nur Bartek, schon immer der Bodenständigste von uns, war geblieben und machte eine Banklehre. »Wie läuft’s?«, wollte er wissen. »Was macht die Uni? Wie geht’s Liz?«

»Alles top«, antwortete ich. »Nur leider werd ich’s dieses Wochenende wieder nicht nach Hause schaffen. Ziemlich viel Stress gerade.«

»Hey, du bist Student. Ich dachte, da schaukelt man sich den ganzen Tag die Eier.«

»Früher vielleicht«, brummte ich. »Bevor sie diesen Punkte-Scheiß eingeführt haben. Aber – wo wir gerade sprechen. Mir ging da neulich eine Frage durch den Kopf. Du hattest doch mal was mit Betül, richtig?«

»Ähm – worauf willst du hinaus?«

»Das ist ’ne lange Geschichte.« Ich warf mir den Kaugummi in den Mund und kaute ein paarmal, bevor ich weitersprach. »Die war doch so ein bisschen religiös, hatte manchmal ein Kopftuch an und manchmal nicht, hab ich das richtig in Erinnerung?«

»Warum willst du das wissen?«

»Wie gesagt – eine lange Geschichte.«

»Schon klar, du hast ’ne Frau kennengelernt. Mann, mach dich nicht unglücklich!«

»Nein, hab ich nicht. Also nicht … so.« Warum musste ich auch so blöd sein? Bartek war schon immer scharf auf Liz gewesen und sprang natürlich sofort drauf an. »Vergiss es. War bloß so ein Gedanke, nicht weiter wichtig. Also, pass auf – nächstes Wochenende komm ich bestimmt rauf, okay? Ich meld mich vorher.«

»Na gut, Jacko, ich nehm dich beim Wort. Dann hau rein, Alter. Und – sei immer nett zu Liz, sonst kriegst du’s mit mir zu tun.«

»Ohne jeden Zweifel«, lachte ich. »Bis bald.«

 

Ich ging heim. Nach Hause. Also nicht das Zuhause in Dortmund, wo mein Vater lebte und wo mein Zimmer noch komplett eingerichtet war, als wäre ich nur kurz in Ferien gefahren, und wo Bartek ein paar Straßen weiter wohnte und darauf wartete, dass ich vorbeikam, um eine Runde zu zocken oder hinten im Hof ein One-on-one auszutragen. Mein neues Zuhause war jetzt diese WG, aber auch nicht so richtig, denn da wohnte ich ja wie gesagt bloß vorübergehend. Ich war weggegangen, ohne irgendwo anzukommen. Vielleicht gehörte sich das so, wenn man achtzehn war und gerade von der Schule kam, aber ich fand es trotzdem unbefriedigend. Ich ging also zu Liz und tat, was ich Bartek versprochen hatte – ich war nett zu ihr. Fragte sie, wie ihr Tag gewesen war, obwohl es mich nicht richtig interessierte, und bewunderte ihr neues Kleid, in dem sie für meinen Geschmack ein bisschen zu bieder aussah.

»Das zieh ich Samstagabend an«, erklärte sie. »Auf Viviens Party. Hast du dir inzwischen überlegt, ob du mitkommen willst?«

»Wer war noch mal Vivien?«, fragte ich zurück.

»Aus meinem Mediävistik-Seminar. Das sind alles echt interessante Leute. Du kannst sie ruhig mal kennenlernen.«

»Ich hab schon Mühe, die Leute aus meinem eigenen Semester kennenzulernen«, winkte ich ab. »Außerdem muss ich am Samstag arbeiten. Vielleicht komm ich später nach.«

»Tust du eh nicht«, brummte sie. »Wieso willst du ausgerechnet am Wochenende arbeiten?«

»Weil ich da Zeit hab.«

26. Oktober

Es war nämlich so, dass ich nicht nur eine tolle Freundin, ein tolles Zimmer und einen tollen Studienplatz hatte, sondern auch einen tollen Job, für den ich mir meistens die Zeit selber einteilen konnte. Zum Beispiel, wenn ich Texte redigierte. Die Texte handelten überwiegend von irgendwelchen sozialen Dingen, denn mein Arbeitgeber war eine PR-Agentur für NGOs: Umweltverbände, Menschenrechtsvereine, Eine-Welt-Initiativen. Einmal pro Woche ging ich hin und erledigte Büroarbeiten, pflegte Adressbestände, plante Mailings und durfte manchmal eine Pressemitteilung entwerfen oder Blogbeiträge für Kampagnen. Wir betreuten auch Mitgliedermagazine diverser Vereine, und deren Beiträge zu redigieren gehörte zu den härtesten Aufgaben im Job, die ich lieber in meinem Zimmer am Laptop erledigte, mit einer kühlen Flasche Bier.

Ich schlug mich also den Samstagabend über mit den Kunden herum und ließ auf dem Laptop parallel das Aktuelle Sportstudio im Livestream mitlaufen. Für die Borussia sah es echt nicht gut aus in dieser Saison – und auch nicht für den unglaublich langatmigen Bericht über eine Tagung zum Thema Inklusion, den ich auf ein Viertel kürzen musste, weil ihn sonst wirklich niemand verstanden hätte, was beim Thema Inklusion ja besonders blöd wäre. Danach gab ich es auf, checkte via WhatsApp die derzeitigen Aktivitäten meiner Kommilitonen, also zumindest derjenigen, die ich auch tatsächlich kannte. Die meisten zogen gerade durch irgendwelche Kneipen. Das wollte ich auch und ging hinaus in die Nacht. Natürlich passierte ich gleich zweimal die Unterführung.

In einer Kneipe stieß ich auf ein paar Leute, mit denen ich schon mal unterwegs gewesen war und die ich nett fand. Zusammen zogen wir noch in einen Club und in noch einen, wir tanzten viel und saßen zwischendurch an der Theke, tranken Wodka und ich fühlte mich plötzlich in der Stimmung, irgendjemandem mein Herz auszuschütten. Doch mein Herz war gar nicht voll genug, um überhaupt irgendwas auszuschütten. Es war eher viel zu leer, dachte ich plötzlich, während ich mir eine Handvoll Erdnüsse in den Mund schob. Über ein leeres Herz kann man eigentlich gar nicht reden.

Immer noch 2. Tag

 

Endlich in Istanbul. Niemand hat mich am Busbahnhof abgeholt. Wir haben das vorher so ausgemacht, dass die Brüder möglichst wenig in Erscheinung treten. Ich nahm ein Taxi zu der Adresse, die Max mir geschickt hatte. (Ich werde manche Namen von Leuten und Orten ändern, denn schließlich kann alles Mögliche passieren und wer weiß, wem dieses Buch in die Hände fällt. Sollten es jemals irgendwelche syrischen, türkischen oder deutschen Behörden in die Finger kriegen, will ich nicht, dass es den Brüdern oder unserer Sache schadet. Ich bin sicher, du erkennst, wen ich meine.)

 

Die Fahrt mit dem Taxi dauerte endlos in diesen verstopften Straßen. Ich hätte niemals gedacht, was für eine gottlose Stadt Istanbul ist. Genauso gut hätte ich durch Köln oder Berlin fahren können – überall dieselben bauchfreien Tussen und an jeder Ecke ein McDonald’s, nur ab und zu sehe ich eine verschleierte Frau oder einen Mann in Dschellaba; es sieht alles aus wie bei uns. Wenn wir mit Syrien und Iraq fertig sind, müssen wir uns dringend die Türkei vorknöpfen.

 

Max ist bei einem Bruder namens Abdul untergekommen. Bei ihm verbringen wir die Nacht. Auch Mert ist hier. Er hält den Kontakt zu den Brüdern an der Grenze. Die haben schon einige von uns rübergeschafft. Zweimal hat es allerdings nicht geklappt. Du hattest mich doch einmal nach Hakan (echter Name) gefragt. Damals wusste ich nichts über sein Schicksal, aber von Abdul hab ich jetzt erfahren, dass ihn die Bullen geschnappt und eingebuchtet haben. Sie wollten ihn zurück nach Deutschland schicken, aber die Deutschen wollten ihn gar nicht wiederhaben. Jetzt versauert er irgendwo in einem türkischen Knast. Mert sagt, die Brüder dort sind vorsichtiger geworden, sie kennen sich aus, und inschallah schaffen wir es. Abdul hat ein Auto für uns klargemacht. Morgen brechen wir auf.

Ich habe keine Angst, Akhi, vor nichts. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft, das geht weit über Freundschaft hinaus. Nur du fehlst. Ich mache Du’a für dich, Bruder.

28. Oktober

Die Agentur war, wenn man von mir absah, ein Ein-Mann-Unternehmen. Martin Golski, ein ergrauter Alt-Achtundsechziger (wie er sich selbst nannte), bezahlte mich ziemlich gut für einen unerfahrenen Studienanfänger. Er stammte wie ich aus dem Ruhrpott und meinte, wir Arbeiterkinder müssten doch zusammenhalten. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob ich aus einer Arbeiterfamilie kam. Mein Vater hatte so viele verschiedene Berufe gehabt und war zwischendurch so oft arbeitslos gewesen, dass ich es gar nicht hätte sagen können. Vielleicht meinte er das.

Ich hätte aus dem Text echt das Beste rausgeholt, lobte mich Golski, als ich Montagnachmittag in sein Büro kam. Ich setzte mich ihm gegenüber an seinen wuchtigen Schreibtisch, der zugleich der einzige Tisch in dem kleinen Büro war, und er lächelte mich aus seinem Rauschebart an. Ob er vielleicht eine Idee haben mochte, wie man eine völlig unbekannte Person aufstöbert, die man nur einen Augenblick lang gesehen hat? Trotz seines recht vorgerückten Alters kannte er sich exzellent mit Social Media aus und wusste tausend Tricks, damit eine Information die richtigen Leute erreicht. Vielleicht ging so was ja auch umgekehrt.

»Wollten Sie noch was sagen, Jakob?«

»Nee.« Ich schüttelte den Kopf. »War in Gedanken. Was liegt heute an?«

»Einiges.« Er klickte in seinem Rechner herum, dann kramte er in seiner Dokumentenmappe, suchte irgendwas, fand stattdessen eine Zeitung. »Sehen Sie mal«, sagte er beiläufig und schob sie mir herüber. »Von denen können wir uns noch eine Scheibe abschneiden in Sachen Social Media Marketing.«

Ich drehte das Blatt zu mir herum, warf einen Blick darauf und erstarrte. Sie war es. Ich erkannte ihre Augen sofort, obwohl man sie nur im Hintergrund sah. Den Vordergrund des Fotos beherrschte ein untersetzter junger Mann mit einem imposanten roten Kinnbart. Dann erst las ich die Headline: Bonner Salafisten-Verein geht in die Offensive.

»Die machen das ziemlich clever«, sagte Golski. »Facebook, Twitter, Instagram, YouTube-Channels, alles. Und ins Print schaffen sie es auch immer wieder, so wie hier jetzt. Nun ja. Ist halt auch sehr bildstark.«

»Allerdings«, murmelte ich und versenkte mich in die Augen, nach denen ich seit fast einer Woche gesucht hatte. Salafisten. Ich wusste nichts darüber, außer dass es sich um eine radikale Sekte oder etwas in der Art handelte. Sprengstoffgürtel, hatte der Typ mit dem Bürstenschnitt gerufen. Ein Stapel weiterer Zeitungen schlug vor mir auf und das Bild versank darunter so unvermittelt, wie es aufgetaucht war.

»Wir hatten einige Treffer letzte Woche«, sagte Golski. »Machen Sie uns einen schönen Pressespiegel.«

»Geht klar«, sagte ich, angelte mir Schere und Klebstift und schlug die oberste Zeitung auf.

Golski hatte jeden Artikel, der im Zusammenhang mit irgendeinem unserer Kunden erschienen war, mit Bleistift angekreuzt. Mein Job war es, die Texte auszuschneiden, aufzukleben und abzuheften. Am Anfang hatte ich vorgeschlagen, die Zeitungen einfach zu scannen und den Pressespiegel digital abzulegen. Da dachte ich noch, er sei altmodisch und ich könnte ihm was Neues beibringen. Aber es lag nicht an der Technik, sondern an seinen eisernen Prinzipien. Scannen verstoße nämlich gegen das Urheberrecht, meinte er. Ich fragte, ob er Angst hätte, jemand könne seinen Rechner hacken. Darum gehe es nicht. Sondern eben ums Prinzip. Seltsamerweise beneidete ich ihn um seine Prinzipien. Also darum, dass er überhaupt welche hatte, egal wie verschroben. Ich schlug die erste Zeitung auf und begann mit dem Ausschneiden, während er irgendwas am Computer schrieb. Mit jeder Zeitung, die ich beiseitelegte, wurde der Stapel kleiner. Kam das Bild näher. Irgendwann gab sein Rechner ein Pling von sich. Er schloss das Programm und stand auf.

»Termin«, sagte er. »Ein Briefing mit Sellring und seinen Leuten von der Flüchtlingsinitiative. Komplexes Thema, es wird länger dauern.« Er reichte mir einen Zettel. »Wenn Sie diese drei Dinge noch erledigen könnten? Warten Sie nicht auf mich, ziehen Sie einfach die Tür zu, wenn Sie fertig sind. Bei irgendwelchen Fragen rufen Sie an, ja? Ansonsten mailen wir Ende der Woche noch mal.«

Er holte seinen Mantel, winkte und war raus. Die Tür klappte zu und in der Stille knisterten die Zeitungsseiten überlaut. Ganz vorsichtig, als handle es sich um einen Sprengsatz, zog ich die unterste Zeitung wieder hervor. Sie war es ohne Zweifel, obwohl sie auf dem Bild einen anderen Schleier trug, der diesmal das Gesicht frei ließ. Sie hatte dichte dunkle Augenbrauen, volle Lippen und ein kräftiges Kinn. Verrückterweise hatte ich sie mir genauso vorgestellt oder bildete mir das in diesem Moment zumindest ein. Ich schätzte sie auf höchstens neunzehn oder zwanzig Jahre. Die Bildunterzeile ignorierte sie leider völlig und urteilte stattdessen: Der Einpeitscher: Prediger Abu Tarek alias Micha Baumann (27). Der Artikel selbst spekulierte über die Machenschaften eines Vereins mit dem selbstgewissen Namen Der Einzig Wahre Weg e.V., der seit fast zwei Jahren in Bonn ansässig sei. Der Student Hakan K. und der Auszubildende Benjamin-Dschamal R. hätten zuletzt diesem Verein angehört, bevor sie Deutschland über Nacht mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. In Sicherheitskreisen gehe man davon aus, dass die beiden jungen Männer sich in Syrien oder im Nordirak dem sogenannten Islamischen Staat hatten anschließen wollen. Viele kleine Kämpfer für den Heiligen Krieg.

Der rotbärtige Prediger grinste kumpelhaft in die Kamera, während im Hintergrund zehn, zwölf weitere Gesichter zu sehen waren. Männer und Frauen säuberlich getrennt, Erstere mit fusseligen Bärten, Letztere mehr oder weniger verhüllt, alle ziemlich jung; kaum jemand sah älter als fünfundzwanzig aus.

Ich zog das Handy aus der Hosentasche.

Der Einzig Wahre Weg war tatsächlich bei Facebook. Ich folgte dem Link zu einer Website. Von allein öffnete sich ein Video mit leierndem arabischem Gesang. Ich schob das Bild weiter bis zum Kontaktbutton. Ein Impressum gab es nicht, dafür eine Handynummer von Abu Tarek, eine Art Hotline für alle Brüder, die irgendwelche Probleme oder Sorgen oder einfach Fragen zum Glauben hätten. Und darunter traf ich ganz unvermittelt wieder auf ihre Augen. Vergrößerte das Bild. Obwohl sie auf diesem Foto wieder einen Schleier vor dem Gesicht trug, erkannte ich sie eindeutig. Sie hatte einen Namen. Und ebenfalls eine Handynummer. Unsere Schwestern sowie alle Frauen, die sich für den Islam interessieren, so stand es da, können sich jederzeit an Samira wenden.

Ich holte meinen Laptop aus der Fahrradtasche, loggte mich in Golskis WLAN ein und rief abermals die Website auf. Wieder öffnete sich ein Video, ein anderes diesmal.

»Bismillahi rahmani rahim.« Ein Vortrag von diesem Abu Tarek. »Ich will dir heute mal erklären, wie wertvoll du eigentlich bist.« Ich warf noch einen Blick auf den Zeitungsbericht. Micha Baumann gelte als Shootingstar der Konvertitenszene, hieß es da. Der von ihm gegründete Salafistenverein DEWW werde vom Verfassungsschutz beobachtet. »Dein Leben ist zu kurz für die Jagd nach flüchtigem Glück«, behauptete der Prediger. »ER hat euch Gehör und Augenlicht und Herzen gegeben, sagt Allah – subhanahu wa-ta’ala – im heiligen Qur’an. Guck dich doch mal um! Die Gesellschaft besteht aus lauter Abhängigkeiten: Die Menschen sind kaufsüchtig, süchtig nach Alkohol und Nikotin, nach Arbeit und Sex, nach Vergnügungen aller Art, weil sie Angst vor der Stille haben; denn dann könnte es geschehen, dass sie aus Versehen über ihr Leben nachdenken.«

In einem zweiten Tab öffnete ich Wikipedia und fand einen kurzen Eintrag über Micha Baumann, geboren in Duisburg, abgebrochenes Ingenieurstudium, Konversion zum Islam, zwei Jahre Studien in Ägypten. Ich sah, dass die Bearbeiten-Funktion des Artikels gesperrt war, und klickte auf die Diskussionsseite, die bei solchen Themen meistens mehr Aufschluss gibt als der eigentliche Text. Dort stritt man um die Verwendung des Begriffes Hassprediger und darum, ob nachzuweisen sei, dass Micha Baumann junge Leute als Kämpfer für den bewaffneten Dschihad rekrutiere.

»Vor allem anderen aber«, fuhr der Gemeinte fort, »sind die Menschen süchtig nach schneller, unverbindlicher Befriedigung. Die Kuffar sprechen von ihren Süchten und nennen es Freiheit. Sie unterwerfen sich RTL und der BILD-Zeitung und nennen es Demokratie.« Mit seinem kahlen Schädel und dem roten Zottelbart wirkte er nicht so, wie ich mir einen Hassprediger vorstellte. Trüge er nicht dieses lange weiße Gewand, sondern, sagen wir mal, eine schwarz-gelbe BVB-Kutte, hätte er locker als einer meiner alten Homies durchgehen können. Er sah mir direkt in die Augen. Also in die Kamera, aber es wirkte sehr eindringlich, als er seine Zuschauer jetzt beschwor: »Überall brüllt dich die Werbung an, tausend lachende Gesichter versprechen dir das Glück. Aber diese Leute werden am Ende nicht mit dir im Grab liegen. Am Ende wirst du allein in deinem Grab liegen! Doch bis dahin hast du alles in deiner Hand. Ob du dich weiter von innen und außen zudröhnst. Oder ob du aufwachst und den wahren Weg findest.« Er zwinkerte. »So, da kannste getz mal drüber nachdenken, inschallah.«

Das Telefon klingelte und ich zuckte zusammen, als hätte mich jemand bei etwas ertappt. Bevor ich mich entschließen konnte, das Gespräch für Golski anzunehmen, sprang die Mailbox an, und plötzlich herrschte wieder Ruhe. Auch Abu Tarek hatte wohl seine Predigt beendet, stattdessen ging nach einer Sekunde vollkommener Stille wieder der leiernde Gesang los. Die einsame Stimme aus den fernen Tiefen einer sehr fremden Seele stieg von meinem Laptop auf und verlor sich unter der hohen Altbaudecke. Ich schaltete den Ton aus. Dann scrollte ich auf der Website rasch nach unten und musterte noch einmal Samiras Augen, bevor ich die Telefonnummer in mein Handy tippte und speicherte. Anschließend klappte ich meinen Rechner zu, griff wieder zur Schere und widmete mich meiner Arbeit.

 

Als ich heimkam, war Liz nicht da. Montags ging sie zum Turnen. Oder zur Chorprobe, ich konnte es mir nicht richtig merken. Sie hatte sofort begonnen, sich in der Stadt ein neues Umfeld aufzubauen, wie man das nennt, um ihre Hobbys zu pflegen, und nervte mich manchmal damit, dass ich mir doch auch einen neuen Basketballverein in Bonn suchen könnte. Aber darauf hatte ich überhaupt keinen Bock. Wenn ich einfach dasselbe weitermachen wollte wie zu Hause, hätte ich doch nicht weggehen brauchen. Aber andererseits war ich eben auch nicht richtig weggegangen, bloß um die Ecke, gerade mal eine Stunde mit dem Zug. Ich streckte mich auf meinem Bett aus. Du wirst allein in deinem Grab liegen. Für den Moment gefiel es mir, allein zu sein. Ich holte den Rechner hervor und surfte bäuchlings auf dem Bett liegend durch Videos von Abu Tarek und andere Clips aus der Szene. Es gab Tausende davon, man könnte Wochen damit zubringen, sich bloß einen Bruchteil anzusehen. Ich schaute mir an, was für Typen diese Sachen likten. Ich klickte auf ihre Profile und betrachtete ihre Freunde. Irgendwann stieß ich auf Leute, die tatsächlich im Krieg waren, im Dschihad! Zumindest behaupteten sie das. Warfen sich mit ihren Maschinengewehren in Pose, hantierten auf unscharfen Handyfotos mit Sachen herum, die man bei der schlechten Bildauflösung für abgeschlagene Köpfe westlicher Journalisten halten konnte oder auch für Wassermelonen. Teilten Gedichte übers Töten, trauerten um gefallene Kumpels und zeigten zwischendurch auch mal Katzenfotos; Kommentar: Maschallah, Akhi, echt voll süß! Die Welt war dank Social Media vielleicht nicht unbedingt wahnsinniger als früher, aber vermutlich konnte man es einfach besser sehen, dachte ich.

Ob die NSA und die anderen Geheimdienste all diese Websites und Blogs, Facebook-Profile und YouTube-Channels überwachten? Ob sie wohl schon registriert hatten, dass Jakob Kuhn aus Dortmund in seiner Bonner Studentenbude saß und sich das Zeug reinzog? Hatte längst ein Saugnapf ihrer Tentakelarme an meiner IP-Adresse angedockt? Ein kleiner Gruselschauer lief über meinen Rücken und fühlte sich gut an. Das war eine Vorstellung wie aus einem Kinofilm oder einem Videogame. Gegen ein bisschen Action in meinem Leben hätte ich gar nichts einzuwenden gehabt. Aber das, was man so oft las und hörte, nämlich dass sich islamistische Terroristen im Internet selbst radikalisiert hätten, das kam mir lächerlich vor. Diese Prediger hatten ja gar nicht mal unrecht, wenn sie der sogenannten westlichen Welt vorwarfen, oberflächlich und konsumgeil zu sein, wenn sie die weltweite Armut anprangerten, die Umweltzerstörung, die Tatenlosigkeit der Regierungen angesichts des Elends der Millionen von Flüchtlingen. Doch dass die Antwort auf all das in einem kryptischen, tausendvierhundert Jahre alten Buch nachzulesen sein soll, war für meinen Geschmack ein bisschen zu kurz gedacht. Natürlich sah ich ein, dass unsere Welt völlig übersexualisiert war, aber zur Lösung konnte ganz sicher nicht gehören, alle Frauen in schwarze Schleier zu stecken und zu Hause einzuschließen. Kein denkender Mensch konnte auf so was kommen. Wieder schaute ich mir Samiras Foto an. Sie wirkte nicht, als trüge sie ihre Kluft aus irgendeinem Zwang heraus. Oder als hockte sie bloß zu Hause rum.

»Geht raus auf die Straßen, Geschwister«, forderte Abu Tarek in meinem Laptop. »Ruf die Menschen auf den Weg deines Herrn, sagt Allah – subhanahu wa-ta’ala.«

Ich schaute auf Samiras Nummer in meinem Telefonverzeichnis wie auf einen unzugänglichen Zahlencode. Dabei musste ich nichts weiter tun als das kleine grüne Symbol berühren. Die Zeitung hatte geschrieben, dass der Verein überwacht werde. Und sie, Samira, schien keine unwichtige Rolle in dem Laden zu spielen, wenn sie schon als Kontaktperson fungierte. Wurde ihr Telefon abgehört? Würden sie alles mithören, falls ich Samira tatsächlich anrief? Da war wieder dieser Schauer. Ich klappte den Rechner zu, stand vom Bett auf und tippte das Icon mit dem kleinen Hörer an.

Sie meldete sich beinahe sofort: »As salamu alaikum, hier ist Samira. Was kann ich für dich tun, Ukhti?«

»Ukhti?«, wiederholte ich perplex. »Wer ist Ukhti?«

Kurze Pause. Dann sagte sie: »Ukhti heißt Schwester. Aber du bist keine, wie ich höre.«

»Ähm … nein. Ich heiße Jakob. Wir sind uns neulich mal – na ja, nicht richtig begegnet. Ich bin der Typ, der …«

»Ja, ich erkenne deine Stimme.« Es klang, als lächle sie. »Es war sehr couragiert, dass du versucht hast, mir die beiden Kerle vom Leib zu halten. Ich danke dir dafür.«

Versucht? Was heißt denn hier: versucht?