Zum Buch:

Feuerwerferrot – so heißt die Farbe ihres Lippenstifts. Das wirkt selbstbewusst, ist eine Kampfansage. Leider sind ihre roten Lippen gerade das Selbstbewussteste, was Lucy Hutton zu bieten hat. Denn obwohl sie ihren Traumjob in der Verlagsbranche gefunden hat, gilt es, ein schier unüberwindbares Hindernis auf der Karriereleiter zu überwinden: ihren wunderschönen, grenzenlos von sich überzeugten Kollegen Joshua. In seiner Gegenwart beginnt die sonst so zielsichere Lucy plötzlich zu stammeln, zu erröten und sich vollkommen lächerlich zu benehmen – denn sie hasst ihn ebenso sehr, wie sie sich heimlich nach ihm verzehrt …

„Thorne ist eine großartige Autorin, ein Talent, das man im Auge behalten sollte.“

Library Journal

Zur Autorin:

Sally Thorne lebt in Canberra, Australien, und beschäftigt sich den ganzen Tag damit, Anträge zu schreiben und Verträge aufzusetzen (gähn!). Deshalb verbringt sie den Feierabend am liebsten in farbenfrohen, selbst erschaffenen Welten. Sally glaubt, dass Liebesromanleser bei der Suche nach ihrem nächsten Lieblingsbuch vor allem Wert darauf legen, dass die Geschichte sie völlig in ihren Bann zieht – und solche Romane sind schwer zu finden. „Küss mich, Mistkerl!“ ist ihr Debüt.

Sally Thorne

Küss mich, Mistkerl!

Roman

Aus dem Englischen von

Anita Sprungk

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

The Hating Game

Copyright © 2016 by Sally Thorne

erschienen bei: William Morrow,

an Imprint of HarperCollinsPublishers

Published by arrangement with

Harper Collins Publishers, New York

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: shutterstock / Eugene Grabkin

ISBN eBook 978-3-95649-904-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Ich habe eine Theorie. Jemanden zu hassen fühlt sich erschreckend ähnlich an, wie jemanden zu lieben. Ich hatte sehr viel Zeit, Liebe und Hass miteinander zu vergleichen, und Folgendes ist dabei herausgekommen.

Liebe und Hass sind Bauchgefühle. Wenn man an den betreffenden Menschen denkt, krampft sich der Magen zusammen. Es kommt zu Herzklopfen, so ausgeprägt, dass man es beinahe von außen wahrnehmen kann, durch Haut und Kleidung hindurch. Der Appetit leidet, der Schlaf ist gestört. Jede Begegnung, jede Auseinandersetzung mit dieser Person setzt gefährliche Mengen Adrenalin frei, und man steht ständig in der Spannung zwischen Angriff und Flucht. Man verliert fast die Kontrolle über seinen Körper, verzehrt sich, und das macht Angst.

Liebe und Hass sind wie Bild und Spiegelbild desselben Spiels – und man hat keine andere Wahl: Man muss gewinnen. Warum? Weil das Herz und das Ego das brauchen. Vertrauen Sie mir. Ich kenne mich aus.

Es ist früh am Freitagnachmittag. Ein paar Stunden bin ich noch an meinen Schreibtisch gekettet. Ich wünschte, ich säße in Einzelhaft, aber leider habe ich einen Zellengenossen. Jedes Ticken seiner Uhr fühlt sich an wie ein weiterer Strich an der Zellenwand.

Wir spielen eines unserer kindischen Spiele, die ohne Worte auskommen. Wie alles, was wir tun, ist es schrecklich unreif.

Aber vielleicht sollte ich am Anfang beginnen: Ich heiße Lucy Hutton und bin Assistentin von Helene Pascal, Co-Geschäftsführerin von Bexley & Gamin.

Es war einmal, dass unser kleiner Verlag Gamin Publishing kurz vor dem Aus stand. Dank der wirtschaftlichen Lage hatten die Leute kein Geld mehr, ihre Hypotheken zu bezahlen. Infolgedessen wurden Bücher zur Luxusware. Überall in der Stadt starben die Buchläden, als wären sie Kerzen im Sturm. Wir machten uns auf die nahezu sichere Schließung gefasst.

Buchstäblich fünf Minuten vor zwölf kam es zu einem Deal mit einem anderen Verlag, der ebenfalls zu kämpfen hatte. Gamin Publishing wurde in eine Vernunftehe mit dem zerfallenden Reich des Bösen gezwungen, das als Bexley Books bekannt war und vom unerträglichen Mr. Bexley selbst geleitet wurde.

Da beide Firmen sich stur an den Glauben klammerten, die jeweils andere mit diesem Schritt zu retten, packten sie ihre Sachen zusammen und bezogen ihr gemeinsames neues Heim. Glücklich waren beide nicht darüber, nicht einmal ansatzweise. Die Bexleys trauerten dem Tischfußballspiel in ihrer alten Kantine nach. Sie konnten einfach nicht glauben, dass die versponnenen Gamins überhaupt so lange hatten überleben können. Schließlich mangelte es ihnen am Interesse an den simpelsten betriebswirtschaftlichen Grundlagen. Stattdessen beharrten sie träumerisch darauf, Literatur als Kunst zu betrachten. Die Bexleys waren davon überzeugt, dass Zahlen wichtiger waren als Worte. Bücher waren Einheiten. Verkauft wurden Einheiten. Anschließend durfte das Team sich beglückwünschen. Und genauso weitermachen.

Die Gamins erbebten vor Entsetzen, als sie mitansehen mussten, wie ihre wilden Stiefbrüder buchstäblich die Seiten aus ihren Brontës und Austens rissen. Wie hatte Bexley es nur geschafft, so viele geistesverwandte, ausgestopfte Hemden um sich zu versammeln, die in einer Buchhaltung oder einer Anwaltskanzlei deutlich besser aufgehoben gewesen wären? Die Gamins nahmen es übel, dass Bücher als Stückware betrachtet wurden. Bücher waren etwas Magisches, etwas, das Respekt erforderte, und würden es immer bleiben.

Ein Jahr nach dem Zusammenschluss kann man immer noch mit einem Blick erkennen, aus welchem der beiden Verlage ein Mitarbeiter ursprünglich stammt. Es ist ihnen rein äußerlich anzusehen. Die Bexleys sind harte Geometrie, die Gamins weiche Schreiberlinge. Bexleys bewegen sich in Haischulen, reden in Zahlen und halten ständig die Besprechungsräume besetzt, in denen sie ihre ominösen Planungstreffen abhalten. Wobei man vielleicht besser von Verschwörungstreffen reden sollte. Gamins kauern sich in ihren Arbeitsnischen zusammen wie sanfte Tauben in Uhrtürmen, grübeln über Manuskripten, stets auf der Suche nach der nächsten literarischen Sensation. In der Luft, die sie umgibt, hängt der Duft von Jasmintee und Papier. Ihr Pin-up-Boy ist Shakespeare.

Der Umzug in ein neues Gebäude war ein wenig traumatisch, vor allem für die Gamins. Man nehme einen Stadtplan. Ziehe eine gerade Linie zwischen den beiden alten Verlagsgebäuden, markiere die exakte Mitte mit einem roten Punkt, und das ist das Ergebnis. Das neue Bexley & Gamin hockt wie eine billige graue Betonkröte an einer Hauptverkehrsstraße, auf die man nachmittags kaum einbiegen kann, so verstopft ist sie von Autos. Morgens herrscht in diesem Gebäude eisige Kälte, nachmittags schwüle Hitze. Es gibt nur einen einzigen mildernden Umstand: ein paar Stellplätze in der Tiefgarage – die üblicherweise von den Frühaufstehern okkupiert werden, was so viel heißt wie: von den Bexleys.

Vor dem Umzug hatten Helene Pascal und Mr. Bexley sich das Gebäude gemeinsam angeschaut, und es war etwas ausgesprochen Seltenes geschehen. In einem Punkt waren beide einer Meinung gewesen: Die Chefetage war eine Zumutung. Nur ein Büro für die Geschäftsleitung? Eine völlige Umgestaltung war vonnöten.

Nach einer Stunde intensiver Beratung, in der solche Feindseligkeit herrschte, dass in den Augen der Innenarchitektin ungeweinte Tränen glitzerten, hatten Helene und Mr. Bexley sich gerade mal auf eines verständigen können: Schön und angemessen ließ sich mit dem Wörtchen glänzend am besten beschreiben. Das war allerdings auch das allerletzte Mal, dass die beiden sich einig waren. Die Umgestaltung entsprach definitiv ihrer Vorgabe. Heute ist die Chefetage im zehnten Stock ein Würfel aus Glas, Chrom und schwarzglänzenden Fliesen. Wenn man seine Augenbrauen zupfen möchte, kann man jede beliebige Oberfläche als Spiegel benutzen – Wände, Fußböden, Decke. Selbst die Schreibtische bestehen aus gewaltigen Glasplatten.

Im Augenblick konzentriere ich mich auf das gewaltige Spiegelbild mir gegenüber. Ich hebe meine Hand und betrachte meine Fingernägel. Mein Spiegelbild folgt dieser Bewegung. Ich streiche mir durchs Haar und rücke meinen Kragen zurecht. Ich bin in Trance gewesen, habe fast vergessen, dass ich immer noch dieses Spiel mit Joshua spiele.

Den Zellengenossen habe ich, weil jeder machtbesessene General einen Stellvertreter braucht, der ihm die Schmutzarbeit abnimmt. Sich einen Assistenten zu teilen war von vornherein nie infrage gekommen, denn dann hätte einer der beiden Geschäftsleiter ein Zugeständnis machen müssen. Also wurden wir beide vor die zwei neuen Chefbürotüren gesetzt und mussten sehen, wie wir zurechtkommen.

Mir war, als wäre ich in die Arena des Kolosseums geschubst worden, nur um festzustellen, dass ich dort nicht allein war.

Wieder hebe ich meine rechte Hand. Mein Spiegelbild tut es mir reibungslos nach. Ich stütze das Kinn in die Hand und stoße einen tiefen Seufzer aus. Dieser hallt nach und kommt als Echo zurück. Ich ziehe die linke Augenbraue hoch, weil ich weiß, dass er das nicht kann, und wie erwartet, runzelt er sinnlos die Stirn. Ich habe das Spiel gewonnen. Die daraus resultierende Erregung zeigt sich nicht in meiner Miene. Ich bleibe so gelassen und ausdruckslos wie eine Puppe. Jetzt sitzen wir hier, jeder das Kinn in die Hand gestützt, und starren einander in die Augen.

Nie bin ich hier allein. Mir gegenüber sitzt der Chefassistent von Mr. Bexley. Sein Handlanger und Diener. Und damit wären wir bei der allerwichtigsten Information angelangt: Ich hasse Joshua Templeman.

Im Augenblick ahmt er jede meiner Bewegungen nach. Wir spielen spiegeln. Dem zufälligen Beobachter fiele das nicht einmal gleich auf. Er geht so subtil vor wie ein Schatten. Aber ich sehe es natürlich. Jede meiner Bewegungen wird auf seiner Seite des Büros mit nur ganz leichter Verzögerung nachgeahmt. Ich hebe mein Kinn aus meiner Handfläche und drehe mich meinem Schreibtisch zu. Er tut dasselbe. Achtundzwanzig Jahre alt bin ich, und mir ist, als wäre ich durch die Risse von Himmel und Hölle direkt ins Fegefeuer gefallen. Ein Kindergartenraum. Ein Irrenhaus.

Ich gebe mein Passwort ein: IHATEJOSHUA4EV@. Auch meine vorigen Passwörter waren allesamt Variationen desselben Themas, nämlich wie sehr ich Joshua hasse. Für immer und ewig. Sein Passwort lautet mit Sicherheit IHateLucinda4Eva. Mein Telefon klingelt. Es ist Julie Atkins aus der Abteilung Copyright und Abdruckrechte, der zweite Dorn in meinem Auge. Am liebsten hätte ich den Telefonstecker aus der Dose gerissen und das gesamte Ding in einen Verbrennungsofen geworfen.

„Hallo, wie geht es dir?“ Am Telefon lege ich immer ein bisschen extra Wärme in meine Stimme. Am anderen Ende des Raumes verdreht Joshua die Augen, während er beginnt, seine Tastatur zu malträtieren.

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Lucy.“ Beinahe könnte ich ihre nächsten Worte vorwegnehmen, noch bevor sie sie ausspricht.

„Ich brauche einen Aufschub für den Monatsbericht. Ich glaube, ich bekomme eine Migräne. Ich kann keine Minute länger auf den Bildschirm schauen.“

„Natürlich, das verstehe ich. Wann kannst du den Bericht fertig haben?“

„Du bist einfach die Beste. Am Montagnachmittag hättest du ihn in den Händen. Ich kann erst spät anfangen.“

Wenn ich jetzt zustimme, muss ich Montagabend lange bleiben, um den Bericht für die Sitzung der Geschäftsleitung am Dienstag um neun Uhr früh zu schreiben. Die Woche stinkt mir jetzt schon, noch bevor sie begonnen hat.

„Na schön.“ Mein Magen verkrampft sich. „So früh du kannst, bitte.“

„Oh, und Brian wird heute auch nicht fertig mit seiner Aufstellung. Du bist so nett. Ich weiß es wirklich zu schätzen, wie freundlich du bist. Wir sagen hier alle, dass man sich am besten an dich wendet, wenn man mit der Geschäftsleitung zu tun hat. Einige bei euch dort oben sind der reinste Albtraum.“ Ihre zuckersüßen Worte helfen, den Ärger ein wenig zu lindern.

„Kein Thema. Wir sprechen uns Montag.“ Ich lege auf und muss nicht einmal zu Joshua hinüberschauen. Auch so weiß ich, dass er den Kopf schüttelt.

Nach ein paar Minuten riskiere ich einen Blick zu ihm, und er starrt mich an. Stellen Sie sich vor, Sie haben noch zwei Minuten bis zum wichtigsten Vorstellungsgespräch Ihres Lebens, und Sie schauen an sich herab auf ihr weißes Hemd. Der pfauenblaue Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer Jacke hat einen großen Tintenfleck hinterlassen. Ein heftiger Fluch geht ihnen durch den Kopf, ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt, und ihren Magen durchfährt ein Stich wilder Panik. Sie fühlen sich wie ein Idiot, alles ist ruiniert. Genau das sehe ich in Joshuas Augen, wenn er mich ansieht.

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass er hässlich ist. Eigentlich sollte er ein kleiner fetter Troll sein mit Gaumenspalte und wässrigen Augen. Ein hinkender Buckliger. Mit Warzen und Pickeln, gelben Zähnen und nach Zwiebeln stinkendem Schweiß. Aber das ist er nicht. Ganz im Gegenteil. Womit wieder einmal mehr bewiesen wäre, dass es keine Gerechtigkeit in dieser Welt gibt.

Mein Posteingang meldet sich mit einem Ping. Ich reiße meinen Blick abrupt von Joshuas Nicht-Hässlichkeit los und stelle fest, dass Helene eine Anfrage geschickt hat: Sie braucht eine Prognose für die Budgetplanung. Also öffne ich den Bericht vom letzten Monat als Vorlage und fange an.

Ich bezweifle, dass die Aussichten für diesen Monat so viel besser sein werden. Immer noch befindet sich das Verlagswesen auf Talfahrt. Schon etliche Male war in diesen Räumen von Restrukturierung die Rede, und ich weiß, wohin das führt. Jedes Mal, wenn ich aus dem Fahrstuhl steige und Joshua sehe, frage ich mich: Warum suche ich mir nicht einfach einen neuen Job?

Verlagshäuser haben mich fasziniert, seitdem ich im Alter von elf Jahren auf einem Schulausflug ein Schlüsselerlebnis hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits eine leidenschaftliche Leseratte. Mein ganzes Leben drehte sich um den wöchentlichen Besuch in der Stadtbücherei. Dort lieh ich mir die höchstmögliche Anzahl von Büchern auf einmal aus und konnte sämtliche Bibliothekare schon an dem Geräusch erkennen, das ihre Schuhe in den Gängen zwischen den Bücherregalen verursachten. Bis zu jenem Schulausflug hatte ich nur ein Ziel, nämlich selbst einmal Bibliothekarin zu werden. Ich hatte sogar meine eigene Büchersammlung katalogisiert und war ein richtiger kleiner Büchernarr.

Vor unserem Ausflug in jenes Verlagshaus hatte ich nie viel darüber nachgedacht, wie ein Buch überhaupt zustande kam. Ich erlebte eine Offenbarung. Man konnte dafür bezahlt werden, nach Autoren zu suchen, Bücher zu lesen und sie schließlich sogar zu erschaffen? Brandneue Einbände, perfekte Seiten ohne Eselsohren und Bleistiftanmerkungen? Es haute mich regelrecht um. Ich liebte neue Bücher. Die lieh ich mir am allerliebsten aus. Also sagte ich meinen Eltern, als ich nach Hause kam: „Ich werde in einem Verlag arbeiten, wenn ich erwachsen bin.“

Es ist toll, dass ich mir meinen Kindheitstraum erfülle, aber wenn ich ehrlich bin, ist im Moment der Hauptgrund dafür, dass ich mir keinen neuen Job suche, ein ganz anderer: Ich kann nicht zulassen, dass Joshua als Sieger aus dieser Sache hervorgeht.

Während ich arbeite, kann ich nur sein maschinengewehrartiges Hämmern auf der Tatstatur hören und das schwache Pfeifen der Klimaanlage. Ab und zu greift er nach seinem Taschenrechner und tippt darauf herum. Ich möchte wetten, dass Mr. Bexley auch Joshua den Auftrag erteilt hat, eine Prognosegrundlage für die Budgetplanung zu liefern. Dann können die beiden Geschäftsleiter sich in die Schlacht stürzen, bewaffnet mit Zahlen, die vielleicht nicht übereinstimmen. Der ideale Brennstoff für ihren lodernden Hass aufeinander.

„Entschuldige, Joshua.“

Eine ganze Minute lang tut er so, als hätte er nichts gehört. Sein Gehämmer auf der Tastatur wird noch schneller. Beethoven am Klavier wäre jetzt nichts gegen ihn.

„Ja, was gibt es, Lucinda?“

Nicht einmal meine Eltern nennen mich Lucinda. Ich beiße die Zähne zusammen, entspanne aber gleich wieder schuldbewusst meine Kiefermuskulatur. Mein Zahnarzt hat mich angefleht, mir diese Marotte abzugewöhnen.

„Arbeitest du an den Prognosezahlen fürs nächste Vierteljahr?“

Er nimmt beide Hände von den Tasten und blickt mich an.

„Nein.“

Ich lasse die Hälfte der Luft aus meiner Lunge entweichen und wende mich wieder meinem Schreibtisch zu.

„Das habe ich vor zwei Stunden erledigt.“ Er beginnt wieder zu tippen. Ich schaue auf die geöffnete Tabelle auf meinem Monitor und zähle schweigend bis zehn.

Wir arbeiten beide schnell und stehen im Ruf, Angefangenes auch zu Ende zu bringen – Sie wissen schon, die Sorte von Arbeitern, die all die hässlichen viel zu mühsamen Aufgaben erledigen, um die alle anderen einen Bogen machen.

Ich setze mich gern mit Leuten zusammen und bespreche die Dinge von Angesicht zu Angesicht. Joshua erledigt alles per E-Mail. Seine Abschlussformel lautet immer: FG, J. Würde es ihn umbringen, wenn er tippen würde: Freundliche Grüße, Joshua? Wahrscheinlich ist ihm das zu langwierig. Und ebenso wahrscheinlich weiß er aus dem Effeff, wie viele Minuten Arbeitszeit er B & G damit jedes Jahr spart.

Wir sind einander ebenbürtig, liegen aber völlig über Kreuz miteinander. Ich gebe mein Bestes, firmenzugehörig auszusehen, aber alles, was ich habe und bin, passt so gerade eben nicht zu B & G. Ich bin durch und durch ein Gamin. Mein Lippenstift ist zu rot, mein Haar zu widerspenstig. Meine Schuhe klackern zu laut auf dem gefliesten Boden. Ich kann mich anscheinend nicht dazu durchringen, meine Kreditkarte dafür zu benutzen, mir einen schwarzen Hosenanzug zu kaufen. Bei Gamin hatte ich nie einen tragen müssen, und jetzt weigere ich mich starrköpfig, mich den Bexleys anzupassen. Meine Garderobe besteht aus Stricksachen und Retrostil, ein Stil, der gut zu einer coolen Bibliothekarin passt, hoffe ich.

Nach fünfundvierzig Minuten habe ich meine Aufgabe erledigt. Ich arbeite gegen die Uhr, obwohl Zahlen mir nicht sonderlich liegen, aber ich schätze, Joshua hätte vermutlich eine Stunde gebraucht. Selbst im Kopf konkurriere ich mit ihm.

„Danke, Lucy!“, ertönt Helenes Stimme schwach hinter ihrer glänzenden Bürotür, nachdem ich ihr das Dokument zugeschickt habe.

Ein Blick in meinen Posteingang bestätigt mir, dass ich mit allem auf dem neuesten Stand bin. Ein Blick auf die Uhr: Viertel nach drei. Als Nächstes das Spiegelbild auf der glänzenden Wandfliese neben meinem Computermonitor: Ist mein Lippenstift noch in Ordnung? Ich schaue zu Joshua hinüber, der mich verächtlich-finster anstarrt. Also starre ich zurück, und wir spielen jetzt Anstarren.

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass all unsere Spiele nur ein Ziel haben, nämlich den anderen zum Lächeln oder zum Weinen zu bringen. So ungefähr jedenfalls. Ich werde wissen, wenn ich gewinne.

Bei meiner ersten Begegnung mit Joshua habe ich einen Fehler gemacht und ihn angelächelt. Mein bestes, sonnigstes Lächeln, alle Zähne zeigend, die Augen funkelnd in meinem dummen Optimismus, dass diese Firmenzusammenlegung nicht das Schlimmste war, was mir jemals passiert war. Er musterte mich vom Scheitel bis zu den Sohlen meiner Schuhe. Da ich nur einen Meter fünfzig groß bin, brauchte er dafür nicht lange. Dann wandte er sich ab und blickte aus dem Fenster. Er erwiderte mein Lächeln nicht, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er seither eben dieses Lächeln in seiner Brusttasche mit sich herumträgt. Eins zu null für ihn. Nach unserem miserablen Start dauerte es nur wenige Wochen, bis wir unserer gegenseitigen Feindseligkeit erlegen waren, und schließlich kam der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Ich gähne hinter vorgehaltener Hand und werfe einen Blick auf Joshuas Brusttasche, die sich an seinen linken Brustmuskel schmiegt. Jeden Tag trägt er das gleiche Hemd, jeden Tag in einer anderen Farbe. Weiß, wollweiß, creme, blassgelb, senfgelb, babyblau, eierschalenblau, taubengrau, dunkelblau und schwarz, und zwar immer in derselben Reihenfolge.

Zufällig gefällt mir das eierschalenblaue Hemd am besten, das senfgelbe, das er im Augenblick trägt, am wenigsten. An ihm sehen alle Hemden gut aus, alle Farben stehen ihm. Wenn ich Senfgelb tragen würde, sähe ich aus wie eine Leiche, aber er sitzt da und sieht darin frisch und gesund aus wie immer.

„Senfgelb heute“, sage ich laut. Warum stochere ich im Wespennest herum? „Ich kann es kaum erwarten, dass es Montag wird. Babyblau.“

Der Blick, mit dem er mich bedenkt, wirkt ebenso selbstgefällig wie verärgert. „Du bemerkst eine Menge an mir, Shortcake. Aber ich darf dich doch daran erinnern, dass Bemerkungen zur äußeren Erscheinung gegen die PA-Richtlinien verstoßen.“

Ah, jetzt spielen wir die Personalabteilungs-Karte. Das haben wir schon ewig nicht mehr getan. „Hör auf, mich Shortcake zu nennen, oder ich beschwere mich bei der PA.“

Wir notieren uns beide alles, was den anderen betrifft. Das heißt, ich kann nur vermuten, dass er das tut, denn er scheint sich an all meine Verfehlungen zu erinnern. Meine Aufzeichnungen liegen in einem passwortgeschützten Dokument auf meiner persönlichen Festplatte, und darin steht der ganze Mist, der jemals zwischen Joshua Templeman und mir gelaufen ist. Jeder von uns hat sich im letzten Jahr vier Mal bei der Personalabteilung über den anderen beschwert.

Er hat eine mündliche und schriftliche Verwarnung erhalten wegen des Spitznamens, mit dem er mich belegt hat. Ich habe zwei Verwarnungen bekommen; eine für eine Beleidigung und eine für einen kindischen Streich, der aus dem Ruder gelaufen ist. Ich bin nicht stolz darauf.

Offenbar fällt ihm keine schlagfertige Erwiderung ein, und wir fahren fort, einander anzustarren.

Ich freue mich darauf, dass Joshuas Hemden dunkler werden. Heute trägt er Dunkelblau, morgen wird es Schwarz sein. Eine satte Trauerfarbe passend zum Zahltag.

Und passend zu meinen Finanzen. Ich bin kurz davor, mich auf die fünfundzwanzig Minuten Fußweg von B & G zu Jerry („der Mechaniker“) zu machen, um meinen Wagen abzuholen und meine Kreditkarte bis ans Limit zu belasten. Morgen ist Zahltag, dann kann ich das Kreditkartenkonto ausgleichen. Übers Wochenende wird mein Auto noch mehr dunkles öliges Zeugs absondern, was mir besonders auffallen wird, wenn Joshuas Hemd so weiß ist wie die Flanke eines Einhorns. Ich rufe Jerry an. Bringe das Auto zurück in die Werkstatt und lebe von einem Minimalbudget. Die Hemden werden dunkler. Ich muss etwas unternehmen wegen des Wagens.

Im Moment lehnt Joshua in der Tür zu Mr. Bexleys Büro. Sein Körper füllt fast die ganze Türöffnung aus. Das kann ich sehen, weil ich sein Spiegelbild auf der Wand neben meinem Monitor beobachte. Ich höre ein rauchiges leises Lachen, ganz anders als das Gewieher von Mr. Bexley. Mit den Handflächen fahre ich mir über die Unterarme, um die feinen Härchen zu glätten, die sich aufgestellt haben. Nein, ich wende nicht den Kopf, um besser sehen zu können, denn er würde mich dabei ertappen. Das tut er immer. Und dann runzelt er missbilligend die Stirn.

Die Uhr quält sich langsam auf fünf zu, und ich kann Gewitterwolken durch die staubigen Fenster sehen. Helene ist schon vor einer Stunde gegangen – einer der Vorteile, die sie als Co-Geschäftsführerin hat: Arbeitszeiten wie ein Schulkind und die Möglichkeit, alles an mich zu delegieren. Mr. Bexley verbringt mehr Zeit an seinem Schreibtisch, weil sein Stuhl viel zu bequem ist und er dazu neigt einzunicken, wenn die Nachmittagssonne in sein Büro scheint.

Ich will damit nicht den Eindruck erwecken, Joshua und ich würden die Chefetage allein managen, aber manchmal fühlt es sich, offen gesagt, tatsächlich so an. Die Finanz- und Verkaufsabteilungen berichten direkt an Joshua, und er filtert die enormen Datenmengen, erstellt daraus einen mundgerechten Bericht und verfüttert ihn in gut verdaulichen Häppchen an einen überforderten, rotgesichtigen Mr. Bexley.

An mich gehen die Meldungen von Redaktion, Lektorat und Marketing, und jeden Monat dampfe ich ihre monatlichen Berichte ein und mache daraus eine Zusammenfassung für Helene … und ich schätze, auch ich füttere sie so damit, dass sie sich nicht daran verschluckt. Ich versehe den Bericht mit Spiralbindung, sodass sie ihn auf dem Stepper lesen kann, und benutze ihre Lieblingsschriftart. Jeder Tag hier ist eine Herausforderung, ein Privileg, ein Opfer und eine Enttäuschung. Aber wenn ich über jeden einzelnen kleinen Schritt nachdenke, der mich letztlich hierhergeführt hat, seit ich mir mit gerade mal elf Jahren mein Ziel gesetzt hatte, dann gelingt es mir, mich wieder zu erden. Ich erinnere mich. Und ich ertrage Joshua noch ein wenig länger.

Zu meinen Besprechungen mit den Abteilungsleitern bringe ich selbst gebackenen Kuchen mit, und sie beten mich alle an. Man sagt, ich sei „mein Gewicht in Gold wert“. Joshua dagegen bringt nur schlechte Nachrichten in seine Abteilungsleiterbesprechungen mit, und sein Gewicht wird mit anderen Substanzen aufgewogen.

Mr. Bexley stapft jetzt an meinem Schreibtisch vorbei, die Aktentasche unterm Arm. Wahrscheinlich kauft er bei Humpty Dumpty Big & Small Menswear ein. Wo sonst sollte er so kurze, weite Anzüge auftreiben? Er bekommt eine Glatze, hat Leberflecken und ist stinkreich. Sein Großvater hat Bexley Books gegründet, und er weist Helene mit Vorliebe darauf hin, dass sie nur als Angestellte bei Gamin angefangen hat. Er ist nach Aussage von Helene und nach meiner eigenen Einschätzung ein alter degenerierter Erbe. Ich zwinge mich, zu ihm hoch zu lächeln. Mit Vornamen heißt er Richard, und damit hat er seinen Spitznamen weg: Fat Little Dick – fetter kleiner Schwanz.

„Guten Abend, Mr. Bexley.“

„Guten Abend, Lucy.“ Er bleibt an meinem Tisch stehen und schaut an meiner roten Seidenbluse herab.

„Ich hoffe, Joshua hat Ihnen das Exemplar von Der dunkle Spiegel ausgehändigt, das ich für Sie besorgt habe? Das erste Exemplar der Erstausgabe“, sage ich.

Fat Little Dick hat ein riesiges Bücherregal, vollgestellt mit jedem je bei B & G herausgebrachten Buch. Jedes dieser Bücher ist das erste aus der Binderei. Begonnen hatte diese Tradition sein Großvater. Er prahlt gern vor Besuchern damit, aber ich habe mir das Regal einmal angeschaut. Nicht eins der Bücher ist jemals aufgeschlagen worden.

„Du hast es geholt, hmm?“ Mr. Bexley dreht sich zu Joshua um. „Das hast du gar nicht erwähnt, Doktor Josh.“

Fat Little Dick nennt ihn vermutlich Doktor Josh, weil er so klinisch gefühlskalt ist. Ich habe mal jemanden sagen hören, als es besonders schlimm um Bexley Books stand, habe Joshua die chirurgische Entfernung eines Drittels der Belegschaft empfohlen und durchgezogen. Ich frage mich, ob er nachts gut schlafen kann.

„Solange du das Buch bekommst, ist das doch egal“, gibt Joshua aalglatt zurück, und seinem Boss fällt wieder ein, dass er der Boss ist.

„Ja, ja“, grummelt er und fixiert erneut meine Bluse. „Gute Arbeit, ihr beiden.“

Er verschwindet im Fahrstuhl, und ich sehe an mir hinunter. Alle Knöpfe der Bluse sind geschlossen. Wonach schaut er denn nur? Ich werfe einen Blick nach oben auf die glänzenden Kacheln an der Decke. Aha, von oben sieht man ganz schwach das winzige Dreieck meines Dekolletés.

„Wenn du sie noch höher zuknöpfst, sieht man dein Gesicht nicht mehr“, sagt Joshua zu seinem Computermonitor, während er sich ausloggt.

„Vielleicht könntest du deinem Boss sagen, er solle gelegentlich auch mal in mein Gesicht schauen.“ Ich logge mich ebenfalls aus.

„Wahrscheinlich versucht er, deine Platine zu erkennen. Oder er fragt sich, mit welchem Treibstoff du betrieben wirst.“

Ich ziehe meine Jacke an. „Einfach mit meinem Hass auf dich.“ Um seine Lippen zuckt es kurz, und beinahe hätte ich ihn da gehabt, wo ich ihn haben wollte. Ich sehe, wie er eine gleichgültige Miene aufsetzt. „Wenn dich das stört, solltest du mit ihm reden. Steh für dich selbst ein. Also, bemalst du dir heute Abend die Fingernägel, verzweifelt und allein?“

Hatte er nur gut geraten? „Ja. Masturbierst du und weinst heute Abend in dein Kissen, Doktor Josh?“

Er blickt auf den obersten Knopf meiner Bluse. „Ja. Und nenn mich nicht so.“

Ich unterdrücke das Lachen, das in mir aufsteigt. Wir rempeln einander unfreundlich an, als wir den Fahrstuhl besteigen. Er drückt auf B, ich auf G.

„Per Anhalter nach Hause?“

„Der Wagen ist in der Werkstatt.“ Ich hole meine flachen Ballerinas ‘raus, schlüpfe hinein und stecke die Pumps in meine Tasche. Jetzt bin ich noch kleiner. In der matten Spiegelung auf der Fahrstuhltür kann ich sehen, dass ich ihm kaum bis auf halbe Höhe seines Oberarms reiche. Ich sehe aus wie ein Chihuahua neben einer Dänischen Dogge.

Die Fahrstuhltür öffnet sich ins Foyer des Gebäudes. Die Welt außerhalb von B & G liegt in blauem Dunst; eisig kalt, voller Vergewaltiger, Mörder und leichtem Nieselregen. Eine Zeitungsseite wird vom Wind vorbeigeweht – wie passend.

Er hält die Fahrstuhltür mit seiner riesigen Hand offen und beugt sich vor, um einen Blick auf das Wetter zu werfen. Dann richtet er seine dunkelblauen Augen auf meine, und seine Stirn legt sich in Falten. In meinem Kopf bildet sich die vertraute Blase. Ich wünschte, er wäre mein Freund. Ich steche mit einer Nadel hinein – peng.

„Ich fahre dich hin“, bringt er mühsam hervor.

„Huch, auf keinen Fall“, antworte ich über meine Schulter hinweg und laufe los.

2. KAPITEL

Mittwoch, Tag des cremefarbenen Hemdes. Joshua ist essen gegangen, etwas später als sonst. Er hat in letzter Zeit mir gegenüber wieder mehr Bemerkungen fallen lassen, die sich auf Dinge beziehen, die ich mag und tue. Seine Beobachtungen waren so zutreffend, dass ich mir ziemlich sicher bin: Er muss meine Sachen durchstöbert haben. Wissen ist Macht.

Als Erstes untersuche ich mit den Augen eines Forensikers meinen Schreibtisch. Sowohl Helene als auch Mr. Bexley halten gar nichts von Computerkalendern. Also müssen wir abgestimmte Terminplaner führen, als wären wir Referendare zur Zeit von Dickens. In meinem stehen nur Helenes Termine. Ich achte penibelst darauf, den Computer immer zu sperren, wenn ich nicht am Schreibtisch bin, sogar wenn ich nur zum Drucker gehe. Mein ungesperrter Computer in Joshuas Reichweite? Dann könnte ich ihm auch gleich die Codes für den Nukleareinsatz geben.

Damals, bei Gamin Publishing, war mein Schreibtisch ein Fort, gebaut aus Büchern. Meine Stifte bewahrte ich in den Ritzen zwischen den Buchrücken auf. Als ich im neuen Büro meine Sachen auspackte, sah ich, wie steril Joshua seinen Schreibtisch hielt, und kam mir unglaublich kindisch vor. Also nahm ich meinen Wort des Tages-Kalender und meine Schlümpfe wieder mit nach Hause.

Vor der Fusionierung hatte ich eine beste Freundin am Arbeitsplatz. Val Stone und ich hockten gemeinsam auf den abgewetzten Ledersofas im Pausenraum und spielten unser Lieblingsspiel, die systematische Verunstaltung von Fotos von schönen Menschen in Zeitschriften. Ich verpasste Naomi Campbell einen Schnurrbart. Als Nächstes schwärzte Val einen Zahn zur Zahnlücke. Und schon bald war das Foto so voller Narben, Augenklappen, blutunterlaufenen Augen und Teufelshörnern, dass es komplett ruiniert war, uns langweilte und wir uns das nächste vornahmen.

Val gehörte zu den Angestellten, die entlassen wurden. Sie war wütend, weil ich sie nicht gewarnt hatte. Nicht, dass ich sie hätte warnen dürfen, wenn ich Bescheid gewusst hätte – was nicht der Fall war –, aber sie glaubte mir nicht. Ich drehe mich langsam, und mein Spiegelbild dreht sich auf zwanzig verschiedenen Oberflächen mit, in jeder Größe, von Musikbox bis silberne Leinwand. Mein kirschroter Rock schwingt weit aus, und ich drehe mich noch einmal, einfach so, um den Kummer abzuschütteln, der mich immer überfällt, wenn ich an Val denke.

Jedenfalls ergibt die Kontrolle meines Schreibtischs, dass ich einen roten, einen schwarzen und einen blauen Stift habe. Rosa Haftnotizen. Einen Lippenstift. Eine Schachtel Papiertaschentücher, um den Lippenstift abzutupfen und Tränen der Enttäuschung zu trocknen. Meinen Terminplaner. Sonst nichts.

Ich bewege mich leise über die Marmor-Autobahn und dringe in Joshuas Territorium ein, setze mich auf seinen Stuhl und betrachte alles aus seinem Blickwinkel. Sein Stuhl ist so hoch eingestellt, dass meine Zehen den Boden nicht erreichen. Ich rutsche etwas tiefer in den ledernen Sitz. Das fühlt sich absolut obszön an. Mit einem Auge den Fahrstuhl im Blick behaltend, suche ich mit dem anderen seinen Tisch nach Hinweisen ab.

Sein Schreibtisch ist die männliche Version meines eigenen. Blaue Haftnotizen. Ein gespitzter Bleistift zwischen seinen drei Stiften. Statt Lippenstift eine Dose Pfefferminzpastillen. Ich male mir aus, wie ich im Abführmittelregal der Apotheke nach etwas sehr ähnlich Aussehendem suche, und kichere in mich hinein. Ich rüttle an seiner Schreibtischschublade. Abgeschlossen. Sein Computer ist gesperrt. Fort Knox. Gut gespielt, Templeman. Ein paar erfolglose Versuche, sein Passwort zu erraten, ergeben, dass er mich vielleicht doch nicht 4 eva hasst.

Kein gerahmtes Foto von einer Partnerin oder sonst einem geliebten Menschen auf seinem Tisch, kein fröhlich grinsender Hund, kein Erinnerungsbild von einem tropischen Strand. Ich bezweifle, dass es jemanden gibt, den er hoch genug schätzt, um ein Foto von ihm aufzustellen. Während einer seiner glühenden Vorträge zur Verkaufsförderung, meinte Fat Little Dick einmal sarkastisch: Es wird Zeit, dass du mal flachgelegt wirst, Doktor Josh.

Joshua gab zurück, Sie haben recht, Chef. Ich habe gesehen, was eine schlimme Dürre einem Menschen antun kann. Und dabei sah er mich an. Ich weiß das genaue Datum, denn ich habe es in meinen PA-Aufzeichnungen vermerkt.

Irgendetwas kitzelt mich in der Nase. Joshuas Eau de Cologne? Die Pheromone, die er ausschwitzt? Krass. Ich schlage seinen Terminplaner auf, und mir fällt etwas ins Auge: ein schwacher, mit Bleistift geschriebener Code auf den Spalten für jeden Tag. Ich komme mir wie James Bond vor, als ich mein Smartphone zücke und ein einzelnes Foto schieße.

Dann höre ich den Fahrstuhl kommen und springe auf. Ich sprinte auf die andere Seite seines Schreibtisches und kann gerade noch seinen Terminplaner zuschlagen, bevor die Fahrstuhltür sich öffnet und er zum Vorschein kommt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sein Stuhl sich noch ein wenig dreht. Erwischt.

„Was tust du da?“

Mein Smartphone steckt im Bund meiner Unterwäsche. Memo an mich: Handy desinfizieren.

„Nichts.“ Ein Zittern liegt in meiner Stimme und überführt mich augenblicklich der Lüge. „Ich wollte nur mal nachschauen, ob es nach Regen für heute Nachmittag aussieht. Dabei bin ich gegen deinen Stuhl gestoßen. Tut mir leid.“

Er nähert sich wie ein schwebender Dracula. Der Droheffekt wird ruiniert von der Plastiktüte eines Sportartikelgeschäftes, die knisternd an sein Bein schlägt. Darin ist ein Schuhkarton, jedenfalls lässt die Form darauf schließen.

Man stelle sich nur den armen Verkäufer vor, der Joshua dabei helfen musste, die richtigen Schuhe zu finden. Ich brauche Schuhe, in denen ich die Ziele über den Haufen rennen kann, die zu töten ich in meiner Freizeit bezahlt werde. Ich verlange das Beste für mein Geld. Ich habe Schuhgröße elf.

Er mustert seinen Schreibtisch, die unverfängliche Aufforderung zum Einloggen auf seinem Computerbildschirm, den geschlossenen Terminplaner. Ich atme zischend aus. Joshua lässt seine Tasche zu Boden fallen und tritt so nah an mich heran, dass seine Lederschuhe die Spitzen meiner kleinen Pumps berühren.

„Warum sagst du mir nicht einfach, was du wirklich an meinem Tisch zu suchen hattest?“

So nah waren wir einander noch nie, wenn wir Starren gespielt haben. Mit meinen ein Meter fünfzig bin ich ein Winzling. Dieses Kreuz trage ich schon mein Leben lang und spreche nur äußerst ungern über meine fehlende Körpergröße. Joshua ist mindestens ein Meter neunzig groß. Ein Meter zweiundneunzig. Ein Meter fünfundneunzig. Wenn nicht noch größer. Ein wahrer Riese. Und aus schwerem Material gebaut.

Mutig halte ich seinem Blick stand. In diesem Büro kann ich stehen, wo ich will. Scheiß auf ihn! Wie ein Tier, das sich bedroht fühlt und sich größer zu machen versucht, stemme ich die Hände in die Hüften.

Wie schon erwähnt, ist er nicht hässlich, aber ich weiß einfach nicht, wie ich ihn korrekt beschreiben soll. Ich erinnere mich, dass ich vor einiger Zeit zu Hause zu Abend gegessen habe, und in den Fernsehnachrichten wurde erwähnt, ein alter Superman-Comic sei für eine Rekordsumme versteigert worden. Auf dem Bildschirm blätterte eine weiß behandschuhte Hand die Seiten um, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die altmodischen Zeichnungen von Clark Kent erinnerten mich an Joshua.

Genau wie Clark Kent versteckt Joshua seine Körpergröße und seine Kraft unter Kleidung, die genau zu diesem Zweck entworfen wurde und ihm hilft, in der Menge nicht aufzufallen. Niemand beim Daily Planet weiß irgendetwas über Clark. Unter seinen Businesshemden könnte auch Joshua entweder recht durchschnittlich oder muskulös wie Superman sein. Er bleibt ein Rätsel.

Er hat weder die Stirnlocke noch die streberhafte schwarz gerahmte Brille, aber die kräftige maskuline Kieferpartie und den hübschen Schmollmund. Eigentlich war ich mir immer sicher, dass seine Haare schwarz sind, aber jetzt aus unmittelbarer Nähe erkenne ich: Sie sind dunkelbraun. Er kämmt sie nicht so sorgfältig wie Clark, aber er hat definitiv die tintenblauen Augen und den Laserblick, dazu vermutlich auch noch ein paar andere von Clarks Superkräften.

Clark Kent jedoch ist ein sehr netter Kerl: ziemlich linkisch und mitfühlend. Joshua ist praktisch das Gegenteil des sanftmütigen Reporters. Er ist eine sarkastische, zynische Ausgabe von Clark Kent, der jeden in der Redaktion terrorisiert und die arme kleine Lois Lane so fertigmacht, dass sie nachts in ihr Kissen weint.

Ich mag große Männer nicht. Sie sind Pferden zu ähnlich. Wenn man ihnen unter die Füße gerät, trampeln sie auf einem herum. Im Moment mustert er meine äußere Erscheinung aus genau so schmalen Augen, wie ich ihn mustere. Ich frage mich, wie sein Kopf von oben aussehen mag. Ganz bestimmt schläft er nur mit Amazonen. Unsere starren Blicke prallen aufeinander. Vielleicht war ich zu hart, als ich seine Augenfarbe mit einem Tintenklecks verglichen habe. An ihn sind diese Augen einfach verschwendet.

Um dem Erstickungstod zu entgehen, atme ich zögernd ein. Kiefernduft dringt in meine Nase. Er riecht nach frisch gespitztem Bleistift. Nach einem Weihnachtsbaum in einem kalten, dunklen Zimmer. Obwohl sich meine Nackenmuskulatur zu verkrampfen droht, gestatte ich mir nicht, meinen Blick zu senken. Dann geriete vermutlich sein Mund in mein Blickfeld, und davon kriege ich wahrlich genug zu sehen, wenn er mir quer durchs Büro Beleidigungen an den Kopf wirft. Warum soll ich ihn mir aus der Nähe ansehen wollen? Niemals.

Der Fahrstuhl meldet sich mit einem leisen Klingeln, welch ein Segen. Ein tritt Andy, der Kurier.

Andy sieht aus wie ein Nebendarsteller im Film, der im Abspann als „Kurier“ bezeichnet wird. Ledrig, Mitte vierzig, in fluoreszierendes Gelb gekleidet. Seine Sonnenbrille hat er sich wie eine Tiara auf den Kopf geschoben. Und wie fast alle Kuriere versüßt er sich seinen Arbeitstag, indem er mit jeder Frau unter sechzig flirtet, der er begegnet.

„Entzückende Lucy!“ Das ruft er mir so laut entgegen, dass ich höre, wie Fat Little Dick hinter seiner Tür mit einem feuchten Schnauben aus seinem Büroschlaf erwacht.

„Andy!“, gebe ich zurück und rutsche rückwärts aus der Gefahrenzone. Ich könnte ihn knuddeln dafür, dass er etwas unterbrochen hat, das sich wie ein ganz neuartiges seltsames Spiel angefühlt hat. Er hält ein kleines Päckchen in der Hand, nicht größer als ein Zauberwürfel. Das muss meine 1984er Schlumpfine im Baseballdress sein. Sehr selten, sehr wertvoll. Auf diese Figur war ich schon ewig scharf, und ihren Versandweg habe ich per Sendungsverfolgungsnummer genauestens überwacht.

„Ich weiß, dass ich dich aus dem Foyer anrufen soll, wenn ich einen Schlumpf für dich habe, aber du bist nicht drangegangen.“

Mein Schreibtischtelefon ist umgeleitet auf mein privates Handy, und das befindet sich im Moment in der Nähe meines Hüftknochens unter dem Bund meines Höschens. Das war also das seltsame summende Vibrieren, das ich gerade empfunden hatte. Puuh. Ich dachte schon, ich müsste zum Psychiater.

„Was meint er damit: Schlümpfe?“ Joshua verengt seine Augen, als wären wir vollkommen übergeschnappt.

„Ich bin sicher, du hast viel zu tun, Andy. Ich will dich nicht aufhalten.“ Damit greife ich nach dem Päckchen, aber es ist zu spät.

„Das ist ihre große Leidenschaft. Sie lebt für Schlümpfe. Diese kleinen blauen Kerlchen. Mit den weißen Mützen.“ Andy deutet mit den Fingern etwa zweieinhalb Zentimeter Größe an.

„Ich weiß, was Schlümpfe sind.“ Joshua ist verärgert.

„Und ich lebe nicht für sie.“ Meine Stimme verrät mich als Lügnerin. Joshuas plötzlicher Husten klingt verdächtig nach einem Lachen.

„Schlümpfe, hmm? Das steckt also in diesen kleinen Päckchen. Ich dachte schon, dass du vielleicht deine winzigen Kleidungsstücke online kaufst. Hältst du es für angemessen, dir private Dinge an den Arbeitsplatz schicken zu lassen, Lucinda?“

„Sie hat eine ganze Vitrine voller Schlümpfe. Sie hat sogar einen … Was war das noch gleich, Lucy? Ein Thomas-Edison-Schlumpf? Das ist ein ganz seltener, Josh. Ihre Eltern haben ihn ihr zum Highschool-Abschluss geschenkt“, fährt Andy unbekümmert fort, mich zu demütigen.

„Still jetzt, Andy! Wie geht es dir? Wie war dein Tag?“ Ich quittiere mit schweißnasser Hand den Empfang auf seinem elektronischen Signaturgerät. Er und sein großes Mundwerk.

„Deine Eltern haben dir zum Schulabschluss einen Schlumpf gekauft?“ Joshua lümmelt sich in seinen Sessel und mustert mich mit zynischem Interesse. Hoffentlich ist das Leder nicht noch warm von meinem Körper.

„Ja, ja, ich bin sicher, du hast ein Auto oder so was bekommen.“ Die Sache ist mir hochnotpeinlich.

„Mir geht’s gut“, meint Andy, nimmt sein kleines Gerät wieder entgegen, drückt etliche Knöpfe und steckt es zurück in die Tasche. Jetzt, da der geschäftliche Teil unserer Begegnung abgeschlossen ist, verzieht er den Mund zu einem verführerischen Grinsen.

„Jetzt sogar noch besser, wie immer, wenn wir uns sehen. Ich sag Ihnen eins, Josh, mein Freund. Wenn ich dieser umwerfenden kleinen Kreatur gegenübersäße, würde ich meine Arbeit nie fertig kriegen.“

Er hakt seine Daumen in seine Taschen und lächelt mich an. Da ich seine Gefühle nicht verletzen möchte, verdrehe ich nur fröhlich die Augen.

„Es ist ein ständiger Kampf“, meint Joshua sarkastisch. „Seien Sie froh, dass Sie gehen können.“

„Sie müssen ein Herz aus Stein haben.“

„Das hat er ganz sicher. Wenn ich ihn bewusstlos schlage und in eine Kiste verfrachte, kannst du ihn dann irgendwohin ganz weit weg liefern lassen?“ Ich stütze mich auf meinem Schreibtisch ab und betrachte das winzige Päckchen vor mir.

„Das Porto für internationale Sendungen ist gestiegen“, warnt Andy. Joshua schüttelt gelangweilt den Kopf und loggt sich in seinen Computer ein.

„Ich habe ein paar Ersparnisse. Joshua würde bestimmt gern einen Abenteuerurlaub in Simbabwe antreten.“

„Du hast eine fiese Ader, Junge, Junge!“ In Andys Tasche piept es, er fängt an, darin herumzuwühlen, und geht zum Fahrstuhl.

„Nun, entzückende Lucy, es war mir ein Vergnügen, wie immer. Wir sehen uns zweifellos bald wieder – nach deiner nächsten Online-Auktion.“

„Bye.“ Als er in den Fahrstuhl steigt, wende ich mich wieder meinem Schreibtisch zu. Meine Miene wird automatisch ausdruckslos.

„Wie rührend.“

Ich ahme den Summer von Jeopardy! nach. „Wer ist Joshua Templeman?“

„Lucinda flirtet mit Kurieren. Rührend.“

Joshua hämmert auf seiner Tastatur herum. Er ist beeindruckend schnell dabei. Ich gehe an seinem Tisch vorbei und werde mit entnervtem mehrmaligem Betätigen der Löschtaste belohnt.

„Ich bin nett zu ihm.“

„Du? Nett?“

Es überrascht mich, wie sehr mich diese Erwiderung verletzt. „Ich bin sehr nett. Da kannst du fragen, wen du willst.“

„Okay. Josh, ist sie sehr nett?“, fragt er sich selbst laut. „Hmm, lass mich überlegen.“

Er greift nach seiner Dose mit Pfefferminzpastillen, öffnet den Deckel, schaut prüfend hinein, schließt die Dose wieder und sieht mich an. Ich öffne den Mund und strecke ihm die Zunge aus wie ein geistesverwirrter Patient bei der Medikamentenausgabe.

„Sie hat ein paar wenige nette Eigenschaften, schätze ich.“ Ich hebe warnend einen Finger und artikuliere überdeutlich: „PA.“

Er strafft die Schultern, aber es zuckt um seine Mundwinkel. Ich wünschte, ich könnte mit meinen Daumen nachhelfen und seinen Mund zu einem breiten gestörten Lächeln verziehen. Und während die Polizei mich in Handschellen aus dem Büro zerrt, würde ich wie eine Irre kreischen: Lächle, verdammt noch mal!

Ich brauche meine Revanche, denn so, wie es jetzt ist, ist es nicht fair. Einmal habe ich ihn angelächelt, und er hat mich unzählige Male andere anlächeln sehen, aber er hat noch nie gelächelt, zumindest nicht in meinem Beisein. Er hat immer einen leeren, gelangweilten, mürrischen, misstrauischen, wachsamen oder gereizten Gesichtsausdruck. Manchmal allerdings – wenn wir uns gestritten haben – zeigt er etwas anderes, einen Ausdruck, den ich als seinen Serienmörder-Blick bezeichne.

Ich gehe an meinen Schreibtisch zurück und spüre, wie er den Kopf dreht, um mir mit den Augen zu folgen.

„Nicht, dass es mich interessiert, was du denkst, aber ich bin hier sehr beliebt. Jeder findet meinen Buchclub toll, der deiner sehr deutlich geäußerten Meinung nach alles andere als sinnvoll ist, in Wahrheit aber gemeinschaftsfördernd wirken wird und angesichts dessen, in welcher Art Unternehmen wir arbeiten, eine wichtige Sache ist.“

„Du bist ein Industriekapitän.“

„Ich leite die Spenden für die Bibliothek weiter. Ich plane die Weihnachtsfeier. Ich kümmere mich um die Praktikanten“, zähle ich an meinen Fingern ab.

„Du tust nicht viel, um mich davon zu überzeugen, dass es dir egal ist, wie ich über dich denke.“ Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, die langen Finger locker auf seinem flachen Bauch verschränkt. Der Knopf neben seinem Daumen ist halb aufgegangen. Offenbar hat sich ein Hinweis darauf in meine Miene geschlichen, denn er schaut an sich hinunter und schließt den Knopf wieder.

„Es ist mir egal, was du denkst, aber von normalen Menschen möchte ich gemocht werden.“

„Du bist geradezu süchtig danach, von den Leuten angehimmelt zu werden.“ Die Weise, in der er das sagt, lässt leichte Übelkeit in mir aufsteigen.

„Nun, entschuldige bitte, dass ich tue, was ich kann, um einen guten Ruf zu wahren. Dass ich versuche, positiv zu sein. Du bist süchtig danach, von den Leuten gehasst zu werden. Wir geben also ein tolles Pärchen ab.“

Ich setze mich und klicke etwa zehnmal so heftig auf die Maustaste wie sonst. Seine Worte haben mich hart getroffen. Joshua ist wie ein Spiegel, der mir meine schlechten Seiten vorhält. Mir ist, als säße ich wieder in der Schule, der winzige Kümmerling Lucy, der seine erbärmliche Niedlichkeit ausnutzt, um sich von den Großen nicht unterkriegen zu lassen. Schon immer war ich das gehätschelte Schoßtier, der Glücksbringer, die Kleine, die man auf die Schaukel setzte oder in einem Bollerwagen durch die Gegend zog. Auf dem Arm getragen, verwöhnt. Vielleicht bin ich wirklich ein wenig mitleiderregend.

„Du solltest irgendwann mal versuchen, dir eine Scheißegal-Attitüde zuzulegen. Das wirkt befreiend, sage ich dir.“ Ein seltsamer Schatten huscht über sein Gesicht. Ein Blinzeln, und schon ist die irritierende Regung verschwunden.

„Ich habe dich nicht um deinen Rat gebeten, Joshua. Es macht mich wahnsinnig wütend, dass ich mich immer wieder von dir auf dein Niveau herabziehen lasse.“

„Und welches Niveau stellst du dir dabei vor?“ Seine Stimme klingt samtweich, und er beißt sich auf die Unterlippe. „Das horizontale?“

Im Geiste drücke ich Enter in meinem PA-Log und beginne einen neuen Eintrag.

„Du bist widerlich. Fahr zur Hölle.“ Allmählich habe ich mir eine Belohnung verdient: einen lauten Schrei in der leeren Tiefgarage.

„Na also, geht doch. Es macht dir nichts aus, mir zu sagen, ich solle zur Hölle fahren. Das ist kein schlechter Anfang. Passt ganz gut zu dir. Und jetzt versuch dasselbe mit anderen Leuten. Du merkst ja nicht mal, wie sehr alle auf dir herumtrampeln. Wie kannst du da erwarten, ernst genommen zu werden? Hör endlich auf, immer wieder denselben Leuten Fristverlängerungen zu gewähren, und das Monat für Monat.“

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Julie.“

„Nicht jeden Monat.“ Ich hasse ihn dafür, dass er recht hat.

ich