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Für Stefan, Pascale und Marie

Ein grässlicher Tag

Der Tag, an dem die ganze Sache begann, war einer dieser blöden Tage, an denen einfach alles schiefgeht.

Als Tom morgens in seine Hose steigen wollte, hatte seine liebe Schwester Knoten in die Beine gemacht. Nachdem er verschlafen ins Badezimmer getorkelt war, schmierte er sich Mamas Gesichtscreme auf die Zahnbürste. Und in der Küche knallte er mit dem Kopf gegen die offene Schranktür. Eigentlich reichte das schon wieder für den ganzen Tag. Und dabei hatte Tom noch nicht mal gefrühstückt.

Aber er hatte oft solche Tage. Solche Stolper-Stoß-nichts-klappt-Tage. Wenigstens die anderen hatten dann immer was zu lachen.

„Guten Morgen“, sagte Mama.

„Was soll an dem Morgen gut sein?“, brummte Tom zurück.

Lola lehnte sich grinsend zurück und beobachtete ihn. Lola war Toms große Schwester – fast sechs Jahre älter als er und ihm hoffnungslos überlegen.

„Passt auf“, sagte sie. „Gleich passiert ihm irgendein Unglück. Heute ist wieder einer seiner Tage.“

Tom warf ihr einen finsteren Blick zu – und goss sich den Kakao über den Pullover. Schallendes Schwesterngelächter.

„Oh Tom!“, seufzte Mama. „Komm, zieh dich um.“

„Tompatsch!“, rief seine Schwester ihm hinterher.

Ja, so ein Tag war das.

In der Schule ging es weiter. Tom sorgte dafür, dass alle einen zum Schreien komischen Schultag hatten. Alle, außer ihm. Auf dem Heimweg trat er in einen Hundehaufen, lief gedankenversunken in einen Zeitungsständer – und beschloss, sich zu Hause auf der Stelle ins Bett zu legen. An solchen Tagen war das der einzig sichere Ort auf der Welt.

Aber gerade als er stumm und leise in seinem Zimmer verschwinden wollte, passierte es.

„Tom“, sagte Mama, „hol mal schnell zwei Flaschen Orangensaft aus dem Keller.“

Aus dem Keller.

Mama wusste genau, dass er entsetzliche Angst da unten hatte. Allein der Gedanke an die Spinnen jagte ihm schon eine Gänsehaut über den Rücken – ganz zu schweigen von dem, was da in der Dunkelheit sonst noch auf ihn lauerte.

„Muss das sein?“, fragte er.

„Komm mir bloß nicht wieder mit deinen Gespenstergeschichten!“, sagte Mama ärgerlich. „Los, ab mit dir!“

Gnadenlos. Dabei war er noch keine zehn Jahre alt. Seufzend öffnete Tom die Wohnungstür.

In dem großen Haus, in dem Tom wohnte, hatte jede Wohnung einen eigenen Keller. Aber Tom war der festen Überzeugung, dass ihr Keller der dunkelste, unheimlichste, spinnenverseuchteste war. Und er wusste auch, warum.

Der Hausmeister, Egon Riesenpampel, war ein Kinderhasser. Und weil Tom und Lola die einzigen Kinder im Haus waren, hatte ihre Familie auch den allerschrecklichsten Keller bekommen. Ganz klar!

Als Tom vor der staubigen Tür stand, kniff er die Lippen zusammen und rückte entschlossen seine Brille zurecht. Der enge, kalte Flur, von dem die Kellertüren abgingen, war nur spärlich beleuchtet, und Tom hatte wie immer Schwierigkeiten, den verdammten Schlüssel ins Schloss zu kriegen. Die Tür quietschte scheußlich, als Tom sie aufstieß.

Modrig riechende Schwärze gähnte ihm entgegen.

Tapfer machte er einen Schritt vorwärts und tastete nach dem Lichtschalter. Wo, zum Teufel, war das verflixte Ding? Es war so ein altmodischer Drehschalter, an dem man sich die Finger verbog. Na endlich. Da war er. Tom drehte ihn herum. Eine jämmerliche kleine Glühbirne flammte auf und – paff! – zerplatzte in tausend Splitter.

Erschrocken stolperte Tom zurück – und stieß mit dem Ellbogen gegen die Kellertür. Rums!, fiel sie ins Schloss. Tom stand mutterseelenallein im pechschwarzen Keller.

„Ganz ruhig!“, dachte er. „Ruhig bleiben, alter Junge. Es ist nur die blöde Glühbirne zerplatzt.“

Aber seit wann zerplatzen Glühbirnen einfach?

Tom spürte, wie sein Mund trocken wie Schmirgelpapier wurde. Er wollte einen Schritt zurück machen. Aber seine Schuhe klebten an irgendwas fest. Er hörte seinen eigenen Atem. Und dann ein leises Rascheln. So als striche etwas über die alten Zeitungen, die Mama irgendwo in der Dunkelheit gestapelt hatte.

„Hilfe!“, flüsterte Tom. „Oh Mann, Hilfe!“

„Aaaaaahoooo!“, stöhnte es ihm aus der Finsternis entgegen. Kalter, modrig stinkender Atem strich ihm übers Gesicht. Und eisige Finger packten seinen Hals.

„Weeeg!“, schrie Tom und schlug wie ein Wilder um sich. „Weg, du widerliches Ding!“

Die Eisfinger ließen seinen Hals los und zogen an seinen Ohren. Irgendwas schimmerte weißlich in der Dunkelheit. Irgendwas mit giftgrünen Augen, flatterndem Haar und höhnischem Grinsen.

„Ein Gespenst!“, dachte Tom fassungslos. „Ein richtiges Gespenst!“

„Ooouuuuaaaah!“, jaulte das entsetzliche Ding.

Mit einem verzweifelten Ruck zog Tom die Füße aus den festgeklebten Schuhen. Er taumelte zur Tür und tastete zitternd nach dem Riegel. Das grausige Etwas zerrte an seinen Haaren und an seiner Jacke und heulte ihm die Ohren voll. Mit letzter Kraft riss Tom die Tür auf, das Gespenst wich mit erbostem Kreischen zurück – und Tom stolperte halb tot vor Schreck auf den Flur hinaus.

Spott und Hohn

Mit einem Schlag war es still. Totenstill.

Nur die Tür knarrte in ihren Angeln. Tom gab ihr einen Stoß, und sie fiel ins Schloss. Mit schlotternden Knien rannte er zur Treppe. Nur weg! Weg!

So schnell hatte er die drei Stockwerke noch nie geschafft, obwohl er sich dauernd umschaute. Keuchend erreichte er die Wohnungstür und hämmerte dagegen. Empört schielte Frau Pingel von oben übers Treppengeländer auf ihn herab. Mit ihrem kleinen, spitznasigen Kopf erinnerte sie an eine Krähe.

„Wie siehst du denn wieder aus, Tom?“, fragte sie missbilligend.

Tom rückte seine Brille gerade, strich sich über das zerrupfte Haar und schenkte ihr ein verlegenes Lächeln.

Dann hämmerte er noch mal gegen die Tür.

„Was ist denn in dich gefahren?“, fragte Mama ärgerlich und zog ihn zu Frau Pingels großer Enttäuschung in die Wohnung. Erschöpft lehnte Tom sich gegen die Wand.

„Ich hab’s ja gesagt!“, stieß er hervor. „Ich hab’s immer gesagt, und keiner hat’s geglaubt!“ Er konnte gerade noch ein Schluchzen runterschlucken.

„Was hast du immer gesagt?“, fragte Mama. „Und wo hast du deine Schuhe gelassen?“

Lolas Zimmertür ging auf. „Oje, wie sieht der denn wieder aus?“, fragte sie und kicherte.

„Da unten ist ein Gespenst!“, flüsterte Tom. „Es … es hat mich gewürgt und …“

Der Rest ging in Lolas brüllendem Gelächter unter. „Ein Gespenst! Mann, Tompatsch, du bist einsame Spitze!“

Typisch. Da war er knapp dem Tod entronnen, und was bekam er von der eigenen Familie zu hören? Nichts als Spott und Hohn.

„Lass ihn in Ruhe, Lola!“, sagte Mama und musterte Tom mit diesem prüfenden Blick, den er so hasste. „Also, was ist los?“

Tom sah auf seine Socken. „Da unten ist ein Gespenst!“

„Lola“, sagte Mama, „geh bitte mit Tom noch mal runter und zeig ihm, dass da unten nichts als Saftflaschen und alte Zeitungen sind. Und bring seine Schuhe mit!“

Entsetzt sah Tom sie an. „Ich geh nicht noch mal da runter! Ich bin doch nicht verrückt!“

Aber Mama öffnete nur die Tür.

Grinsend fasste Lola nach seiner Hand und zerrte ihn hinter sich her. „Komm schon“, sagte sie. „Ich will dein Gespenst sehen!“

Tom wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war, und folgte ihr.

„Es bringt uns um“, sagte er. „Du wirst sehen. Es bringt uns um!“

„Klar“, sagte Lola und kicherte.

Wütend kniff Tom die Lippen zusammen und ließ sich die Treppe runterschleifen.

Dann standen sie wieder vor der Kellertür.

„Hehe, Gespenst!“, rief Lola und stieß die Tür auf. „Jetzt geht’s dir an den Kragen.“

Stockdunkel und still lag der Keller vor ihnen. Mit angehaltenem Atem lugte Tom hinter Lolas Rücken hervor. Aber nichts rührte sich. Absolut nichts. Kein „Uauuh“, keine Eisfinger.

Pfeifend machte Lola ein paar Schritte in die Dunkelheit hinein. „Was ist denn mit dem verflixten Licht los?“, brummte sie.

„Die Glühbirne ist zerplatzt“, hauchte Tom. Er stand immer noch im Flur. Lola rumorte in der Dunkelheit herum.

„Igitt, was ist das denn?“, hörte Tom sie schimpfen. „Hier klebt ja alles. Was wolltest du eigentlich hier unten?“

„Zwei Flaschen O-Saft holen“, murmelte Tom und machte vorsichtig einen Schritt auf die Tür zu. Aber von dem weißen Etwas mit den giftgrünen Augen und dem grässlichen Grinsen war nichts zu entdecken.

Mann, war das wieder eine Blamage!

„Da!“, sagte Lola und drückte ihm seine Schuhe in die Hand. Die Sohlen waren mit einem silbrig schimmernden, klebrigen Zeug bedeckt.

„Gespensterschleim!“, flüsterte Tom.

„Quatsch“, sagte Lola. „Wahrscheinlich treibt sich hier ’ne Riesenschnecke rum.“ Kichernd verschwand sie noch mal in der Dunkelheit. „Wo steht denn der Saft?“, fragte sie.

Tom antwortete nicht. Er starrte auf die weiße Hand, die aus der Finsternis auftauchte und ihm zuwinkte.

„Da!“, schrie er. „Lola, Vorsicht!“

Krach! Klirr!, kam es aus Lolas Richtung. „Mann, bist du verrückt?“, schimpfte es aus der Dunkelheit, und im nächsten Moment stand Lola wutschnaubend mit einem abgebrochenen Flaschenhals vor ihm. „Das erklärst du aber Mama. Mindestens drei Flaschen sind kaputt.“

„Aber es ist wieder da!“, rief Tom verzweifelt. „Da, da …!“ Die Hand war verschwunden.

„Du spinnst!“, sagte Lola und knallte ärgerlich die Kellertür zu. „Du spinnst total. Aber das eine sag ich dir: Ich mach den Dreck nicht weg. Das machst du. Vielleicht hilft dein Gespenst dir ja dabei.“

„Es ist da!“, brüllte Tom. „Ich hab’s gesehen, du blöde Kuh!“

„Klar, klar!“, sagte Lola und ging auf die Treppe zu. „Du hast auch schon mal ein UFO gesehen und dann war es nichts als ein stinknormales Flugzeug. Ha!“

„Da war ich noch klein!“, brüllte Tom und stolperte bebend vor Wut hinter ihr her.

„Du bist immer noch klein“, sagte Lola und nahm mit ihren langen dünnen Beinen immer zwei Stufen gleichzeitig. „Und außerdem bist du verrückt.“

Mama machte den Dreck weg. Wegen der Scherben. „Du schneidest dich sonst noch“, sagte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und seufzte.

Papa sagte: „Der Junge hat zu viel Fantasie.“

Und Lola erzählte allen Leuten, dass ihr Bruder nun endgültig übergeschnappt sei.

Aber Tom wusste, was er gesehen hatte. Er weigerte sich standhaft, auch nur in die Nähe des Kellers zu gehen, und wartete auf den Sonntag. Denn Sonntag kam Oma zum Essen. Sie hörte ihm zu, ohne ständig die Stirn zu runzeln wie seine Eltern.