Die erfolgreiche Unternehmerin Yvonne Gärstrand, Chefin einer Firma für Zeitmanagement, hilft ihren Kunden dabei, das alltägliche Chaos besser zu organisieren. Ihr eigenes Privatleben dagegen ist schon so gut geordnet, daß sie nicht mehr weiß, wohin mit ihrer Zeit. Ein Zufall führt sie in einen ihr fremden Teil der Stadt, und sie entwickelt eine immer stärker werdende Faszination für das Leben hinter den Fassaden. Heimlich beobachtet sie die Menschen, reimt sich Lebensgeschichten zusammen. Nur die Bewohner eines bestimmten Hauses bleiben ihr ein Rätsel. Unter falschem Namen nimmt sie dort eine Stelle an. Als sie merkt, daß der Hausherr etwas zu verbergen hat, ist ihre Neugier um so mehr angefacht …

»Ein Roman, der unter die Haut geht.« Sibylle Haseke, WDR

»Spannung garantiert!« Der Standard

Marie Hermanson, 1956 geboren, lebt in Göteborg. Für ihren Roman Die Schmetterlingsfrau (1995) erhielt sie den renommierten schwedischen August-Preis. Mit ihrem Roman Muschelstrand (1998) gelang ihr der internationale Durchbruch. Im Insel Verlag zuletzt erschienen: Der unsichtbare Gast. Roman (2015), Das unbeschriebene Blatt. Roman (it 4390), Pilze für Madeleine (it 4327) und Himmelstal (it 4241).

MARIE HERMANSON

SAUBERE
VERHÄLTNISSE

Roman

Insel Verlag

Der Text des vorliegenden Bandes folgt dem

suhrkamp taschenbuch 3957:

Marie Hermanson, Saubere Verhältnisse.

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005.

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel

Hembiträdet bei Albert Bonniers Förlag, Schweden.

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4425.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005

© Marie Hermanson 2004

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Ryan McVay/Getty Images

eISBN 978-3-458-74235-7

www.insel-verlag.de

I

Der Vorort

1

Sie geht durch den Vorort. Die ruhigen, stillen Straßen entlang, vorbei an den gepflegten, lauschigen Gärten.

In den Häusern brennt Licht. Sie sieht in die ordentlichen Küchen, die komplette Sammlung einheitlicher Gewürzgläser steht in ausgerichteten Reihen über dem Herd. Fernseher mit Großbildschirmen, die die Farbe der Zimmer verändern. Gekrümmte Rücken vor den Computern.

Ein Mann steht am Herd und kratzt sich mit dem Stiel des Bratenwenders im Nacken.

Eine junge Mutter mit einem Säugling an der Schulter geht im Zimmer hin und her, über dem Gitterbett brennt eine kleine Nachtlampe.

Eine Frau steht an einem offenen Fenster. Sie raucht und weint.

»Weine nicht. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Weine nicht!«

Die Frau hört auf zu weinen und schaut sich um. Hört sie die flüsternde Stimme im Dunkeln? Weiß sie, daß sie nicht allein ist?

Da ist die Glückliche Familie in ihrem verfallenen Haus mit dem ungemähten Rasen, Kaninchenstall und Holzschuppen.

»Ihr seid geborgen«, flüstert sie. »Solange ich hier spazieren gehe, kann euch nichts Schlimmes passieren.«

Jetzt erlöschen die Fernsehschirme und Computer. Über der Tür der Einwandererfamilie flattert sanft die schwedische Flagge an einer Stange.

»Schlaft, alle miteinander«, flüstert sie. »Ihr Mütter und Väter und Kinder. Ihr Witwen und Witwer und Geschiedenen. Schlaft, ihr Vögel in den Baumkronen. Schlaft, ihr Volvo Kombis in euren Einfahrten. Ihr Hunde und Hamster und Kaninchen. Schlaft im schützenden Grün, schlaft unter großen, stillen Bäumen.«

Die Straßen sind öde und leer. Im Vorort geht man zeitig schlafen. Weil man früh aufstehen muß. Da draußen wartet die harte Arbeit mit Kürzungsprogrammen, Umorganisationen und Unsicherheit.

Jetzt fangen die Igel in den Hecken zu rumoren an. Jetzt flitzen die Hasen über die Rasen, und Katzen verschwinden wie graue Striche unter den geparkten Autos.

Jetzt leuchten nur noch die kleinen Nachtlampen und ab und zu ein Computerbildschirm bei jemand ganz Fleißigem. Einem, der sich Sorgen macht. Angst hat, es nicht zu schaffen.

»Geh schlafen«, flüstert sie. »Du brauchst keine Angst zu haben. Schlaf. Schlaft alle miteinander, ihr Lieben. Ihr werdet alle geliebt. Wenn ihr etwas anderes glaubt, dann ist das nicht wahr. Ihr werdet geliebt. Ich weiß nicht von wem, ich weiß nur, daß es so ist. Ihr werdet mit einer mächtigen Liebe geliebt. Habt ihr es gehört, meine Freunde. Ihr werdet alle zusammen unendlich geliebt.«

2

Zwei Jahre lang hatte Yvonne den Vorort verfolgt und in dieser Zeit hatte sie ihn ganz gut kennengelernt. Sie kannte die Familien, ihre Gewohnheiten, ihren Geschmack, ihren Tagesablauf.

Es war ein Vorort mit abwechslungsreicher Bebauung, der in Etappen, zu verschiedenen Zeiten, entstanden zu sein schien. Sie nahm an, daß die ersten Häuser zu Beginn des Jahrhunderts gebaut worden waren, als hier noch plattes Land war. Große, stabile Holzhäuser mit allerlei Nebengebäuden.

Weiter oben am Hang gab es ein paar sehr individuelle, lustige kleine Gebäude: die Häuser der Armen, von ihnen selbst gebaut, Brett für Brett, so wie eben das Geld reichte. Es hatte bestimmt noch mehr dieser Flickenteppichhäuser gegeben, aber sie nahm an, daß die meisten von ihren späteren Besitzern bis zur Unkenntlichkeit verändert worden waren.

Nach dieser ersten Kolonisierung scheint im Vorort nicht viel passiert zu sein. Yvonne stellte sich vor, daß die Kinder der Armen barfuß in den Felsen spielten und die Eltern auf einem kleinen Stück Land Kartoffeln anbauten und auf einer Weide eine Kuh graste.

Ansonsten schien der Vorort bis in die 60er Jahre des 20.Jahrhunderts ziemlich unberührt gewesen zu sein, bis dann die Ausbeutung richtig begann. Aus dieser Zeit gab es jede Menge Einfamilienhäuser aus gelbem, rotem oder weißem Klinker, umgeben von kleinen, pflegeleichten Gärten mit vielen Nadelgehölzen.

Die nächste Bebauungsphase ist wohl auf die 80er Jahre zu datieren. Zu jener Zeit war die Stadt so sehr gewachsen, daß der Vorort plötzlich nicht mehr weit außerhalb lag, sondern am Rande der Stadt, die Grundstückspreise waren in die Höhe geschossen.

Jetzt hatten die Reichen ihren Einzug in den Vorort gehalten. Da der größte Teil des Bodens bereits bebaut war, mußten ihre Häuser auf den abgeteilten Bauplätzen der ältesten Grundstücke errichtet werden. Mit ihren sauberen weißen Fassaden, runden Kajütenfenstern und großen Sonnendächern erinnerten sie an stolze Schiffe, die vorübergehend an einem Felshang vertäut worden waren. In den Einfahrten standen Wagen von Mercedes und BMW. (Ansonsten war Volvo das absolut häufigste Auto im Vorort: Volvo Kombi. Er stand in so vielen Einfahrten, daß es schon beinahe komisch wirkte.)

Nach der Errichtung der Protzhäuser der 80er Jahre war der Vorort eigentlich voll bebaut. In den letzten Jahren – das heißt zu der Zeit, in der Yvonne den Vorort studiert hatte – waren nur noch wenige Häuser hinzugekommen, und eines wurde gerade gebaut. In allen Fällen hatten die Hausbesitzer eines der verfallenden Häuser gekauft, es abgerissen und neu gebaut. Die knorrigen Apfelbäume hatten sie stehenlassen, und mit ihren Satteldächern aus roten Ziegeln, der senkrechten weißen und hellgelben Holzverkleidung und den kleinen dreieckigen oder halbrunden Giebelfenstern ähnelten diese ganz neuen Häuser den allerältesten zum Verwechseln.

Als ob der Kreis sich geschlossen hätte und der Vorort wieder von vorne anfangen würde.

3

Yvonne nannte es ihren Vorort, aber eigentlich war es nicht ihrer. Sie wohnte nicht hier, nicht einmal in der Nähe, sie kannte auch niemanden, der im Vorort wohnte.

Sie kam zum ersten Mal an einem Abend Ende Mai hierher, sie war bei einer Kundin gewesen, deren Schreibtisch sie aufgeräumt hatte, und war auf dem Weg nach Hause. Das war zu der Zeit, als sie so etwas noch selbst machte. Inzwischen machten das die Mädchen.

Sie war ein bißchen müde, aber ziemlich gut gelaunt. Sie war mit ihrem Einsatz bei der Kundin zufrieden. Sie hatten um zehn Uhr angefangen, mit einem chaotischen Durcheinander aus Protokollen, Post-it-Zetteln, Briefen, Prospekten, ungespülten Kaffeebechern, Visitenkarten, Computerausdrucken und Zeitungsausschnitten, und nach einer systematischen Durchsicht jedes einzelnen Zettels, nach der Methode ihrer Firma, standen sie um halb sechs vor einigen gefüllten Ordnern und Mappen und einem großen Müllsack. Yvonne schloß die Arbeit wie immer damit ab, daß sie den Schreibtisch mit einem Tuch abwischte, um das Gefühl von Sauberkeit zu verstärken. Die Kundin war so dankbar, daß sie fast weinte. Sie betrachtete die neuen, blendend weißen Ordner, die sie zusammen mit Yvonne ins Regal gestellt hatte, strich mit der Hand über die leere Schreibtischplatte und flüsterte:

»Wie sie aussieht. Was ist das wohl für ein Holz? Eiche?«

»Kaum. Wahrscheinlich irgendein Laminat«, sagte Yvonne und steckte den Lappen und die kleine Sprayflasche mit dem Putzmittel in ihre Aktentasche.

»Und zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn es wieder überhandnimmt. Aber wenn Sie meiner Methode folgen, verspreche ich, daß Sie mich nie wiedersehen.«

Kurz vor sechs saß Yvonne im Auto auf dem Weg nach Hause. Aus den Lautsprechern kamen »klassische Perlen«, und durch das offene Fenster strömte warme Luft herein. Der Motor schnurrte leise und sanft.

Plötzlich bemerkte sie etwas Ungewöhnliches. War die Luft vor ihr nicht irgendwie dick und dunstig? Brauchte sie eine Brille? Oder machte jemand in der Gegend ein Feuer? Es erinnerte nämlich an Rauch, was da ihr Auto verfolgte und ihr nun auch die Sicht vernebelte. Es roch nach Rauch und – mein Gott, es war Rauch. Dicker, schwarzer, stinkender Rauch, der sich zu einer Wolke verdichtete. Sie warf einen Blick auf das Armaturenbrett und sah, daß die Warnlampe für überhitzten Motor leuchtete.

Yvonne fuhr an den Rand, machte den Warnblinker an und stieg schnell aus. Bevor sie noch richtig nachdenken konnte, hielt neben ihr ein Mercedes, und der Fahrer erbot sich, sie zu einer Werkstatt in der Nähe zu schleppen. Verwirrt und dankbar nahm sie das Angebot an, und kurze Zeit später war sie bei einer Tankstelle mit einer kleinen Werkstatt im Hof.

Der Mann, der sie abgeschleppt hatte, mußte eilig weiter, aber bevor dieser Ritter der Landstraße verschwand, konnte sie ihm noch die kleine Broschüre über ihr Unternehmen »Mehr Zeit« und seine Methoden zustecken. Er warf einen Blick auf den Umschlag und steckte ihn ohne ein Wort in die Tasche. (Das war noch zu einer Zeit, als sie noch nicht mit ihrem minimalistischen Profil arbeitete, sondern mit dem schrecklichen ersten Logo, einer Uhr, die in den Schlitz eines Sparschweins rutschte.) Dem Wagen und der Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich um einen Karrieremann. Vielleicht ein potentieller Kunde? Aber sehr gestreßt schien er nicht zu sein, er hatte sich schließlich die Zeit genommen, anzuhalten und ihr zu helfen.

»Der Kühlerschlauch hat sich gelöst«, sagte der dunkeläugige, hübsche Automechaniker und beugte sich über den Motor. Er besaß Wimpern, die jede Frau neidisch gemacht hätten. Sie streichelten seine Haut wie dichte Pinsel, als er in den Rauch blinzelte.

»Kann man das schnell reparieren?« fragte Yvonne hoffnungsvoll.

»Ein, zwei Stunden dauert es schon«, antwortete er.

Sie warf einen Blick auf ihre kleine Schmuckuhr aus Titan, die sie letzte Weihnachten von ihrem Mann bekommen hatte – das Geschenk war wie geschaffen für ein Weihnachtsgedicht, man hätte auf den Namen ihres Unternehmens anspielen können, aber Jörgen hatte sich natürlich mit einem kurzen Kommentar begnügt.

Es war Viertel nach sechs. Yvonne war für solche Uhrzeiten dankbar. Die Uhr hatte ein längliches viereckiges Zifferblatt, keinerlei Zahlen oder Markierungen, die Zeiger waren kurz und spitz wie Rosendornen, der große nur unbedeutend länger als der kleine. Sie hatte ein halbes Jahr gebraucht, bis sie die Uhr ablesen konnte, und ganz sicher war sie nur bei der vollen, halben und viertel Stunde.

Die Tatsache, daß es Viertel nach sechs war, war eigentlich kein Grund zur Dankbarkeit, denn es bedeutete, daß es nach Geschäftsschluß war und sie das Auto bis zum nächsten Tag in der Werkstatt lassen mußte. Sie holte ihr Handy aus der Aktentasche, um ein Taxi zu rufen, und wollte gerade den Automechaniker fragen, welche Adresse sie angeben sollte. Der Mann, der sie abgeschleppt hatte, war kreuz und quer durch kleinere Straßen gefahren, und sie wußte überhaupt nicht mehr, wo sie war.

»Es kann auch schneller gehen. Sie können da drüben warten. Der Kaffee ist auf der Wärmeplatte«, fügte der Mechaniker hinzu.

»Sie machen es also gleich? Sofort?« fragte sie erstaunt.

Er nickte, und Yvonne dankte Gott für die fleißigen Einwanderer, die sich nicht um normale Arbeitszeiten scherten.

Sie fuhr das Auto in die Werkstatt und ging dann eine kleine Treppe hinunter in einen Personalraum im Keller, wo sie die Wartezeit verbringen sollte.

Der Kaffee stand tatsächlich noch auf der Wärmeplatte, und da hatte er vermutlich seit dem Morgen gestanden, dem Geschmack nach zu urteilen. Yvonne warf einen Blick auf die plastikbezogenen Stühle, sie wollte nicht, daß alte Ölflecke ihr nougatfarbenes Kostüm verdarben. Dann setzte sie sich und nippte an dem bitteren Getränk im Pappbecher, schaute sich im Raum um: verblichene Plakate mit Formel-1-Wagen, nicht ausgeleerte Aschenbecher und ein Kalender, auf dem das Mai-Model rittlings auf einem Lastwagenreifen saß. Der Gedanke, ein, zwei Stunden hier zu verbringen, war nicht sehr verlockend.

Sie ging wieder in die Werkstatt hinauf und dann hinaus auf die Straße. In den angrenzenden Häusern schienen früher einmal Läden gewesen zu sein, was jetzt dort stattfand, war nicht recht zu erkennen. Weiter vorne sah sie einen Fußballplatz und daneben einige einstöckige Gebäude, die eine Schule sein mochten. Sie schlug diese Richtung ein, dort schien es am grünsten und hübschesten zu sein, und als sie dort war, stellte sie fest, daß sie am Rande eines kleinen Vororts mit Einfamilienhäusern war, aber sie wußte nicht, in welchem Stadtteil sie sich befand.

Sie ging eine Straße entlang und betrat so zum ersten Mal die Welt, die sie später bis ins kleinste Detail kennenlernen sollte. Aber bei diesem ersten Mal war es nur ein unbekannter Vorort, ein Seitengleis, auf dem sie ein, zwei Stunden zubringen würde, weil sie darauf warten mußte, daß ihr Auto wieder fahrtüchtig war und sie auf das Hauptgleis zurückbringen würde.

Von diesem ersten Mal waren ihr vor allem das Grün, die Stille und der Gesang der Amseln in Erinnerung geblieben. Sie ging, nein sie wanderte, schlenderte in einem angenehmen, meditativen Tempo, das sie sonst erst nach ein paar Wochen Urlaub schaffte, und schaute sich um wie eine Touristin: offen, neugierig, aufnehmend.

Die Obstbäume und Forsythien blühten. Die Birken zeigten gerade das erste Grün, es war vielleicht nur wenige Stunden alt, im Wäldchen am Rande des Vororts schwebte das leuchtende Grün wie ein halb durchsichtiges, grünes Gas über den Baumkronen. Die Menschen arbeiteten in ihren Gärten. Es roch nach Erde. Bälle wurden gekickt, Fahrräder rollten die Straße entlang, die Kinder riefen in der blauen Dämmerung.

Ein Igel trottete auf seinen kurzen Beinchen über die Straße. Er sah ausgesprochen beschäftigt und sehr zielbewußt aus. Merkwürdigerweise lief er direkt auf Yvonne zu, und sie blieb ganz still stehen, um ihn nicht zu erschrecken. Als er nur einen halben Meter von den schmalen Zehenspitzen ihrer Cerutti-Schuhe entfernt war, blieb er stehen, schnüffelte verwirrt und schien zu zögern. In der Stille konnte sie seine schnellen Atemzüge hören, was sie vor Ehrfurcht erschauern ließ. Einen Moment lang glaubte sie sogar, das Herz des kleinen Tieres schlagen zu hören, aber dann sah sie ein, daß es Einbildung war und sie ihren eigenen Puls hörte, kurz und pochend wie das Herz eines Igels.

Dann traf der Igel plötzlich eine Entscheidung, änderte seinen Kurs und trottete in eine andere Richtung auf eine Hecke zu, wo er seinen kleinen, rundlichen Körper durch das Zweigwerk drückte. Yvonne blieb lange stehen und hörte, wie er in der Hecke raschelte und schnaubte.

Aus einer Garageneinfahrt kam eine Katze, strich ihr an den Beinen entlang und ließ sich willig streicheln.

Zwei dreizehn-, vierzehnjährige Mädchen saßen auf einer Mauer. Sie trugen zu dünne Kleidung für den kühlen Frühlingsabend, die eine strich sich mit den Händen über die nackten Arme. Aber sie redeten über etwas Wichtiges und wollten nicht ins Haus gehen.

Sie hörte Stimmen aus einem offenen Fenster, irgendwo wurde ein Auto angelassen und fuhr los, und als sie sich dem Wald näherte: ein Chor von Vögeln, die ganz trunken schienen, verrückt vom Frühling.

Yvonne schaute auf ihre Armbanduhr – sie zeigte jetzt eine komplizierte Zeit an, ohne Viertel –, und wieder einmal dachte sie, daß Jörgen beim Auswählen dieser Uhr tiefsinniger war, als er selbst wußte: Er hatte ihr nicht nur »mehr Zeit« geschenkt, wie er es mit einer scherzhaften Anspielung ausdrückte, sondern er hatte ihr auch zu verstehen gegeben, wie kompliziert und schwer zu fangen die Zeit war; überhaupt nicht so trügerisch selbstverständlich, wie einfachere Zifferblätter einen glauben machen konnten. Aber sie hatte das Gefühl, es sei an der Zeit, zur Tankstelle zurückzugehen, und als sie dort ankam, war das Auto fertig, und sie konnte nach Hause fahren.

Dann ging das Leben wie gewohnt weiter mit Arbeit und Ehe und Muttersein, ihr Unternehmen entwickelte sich und wuchs, sie wurde immer besser und effektiver und sparte immer mehr Zeit, sowohl für ihre Kunden als auch für sich selbst.

Aber dieser Abend in dem fremden Vorort war etwas Besonderes gewesen. Wenn sie in einer Besprechung saß, konnten ihr plötzlich die hohen Hecken einfallen, das Geräusch der Bälle auf dem Asphalt, die schnellen Atemzüge des Igels und die blühenden Obstbäume.

Und sie dachte, daß sie das wieder erleben könnte. Sie brauchte nur wieder dorthin zu fahren, das Auto bei der Tankstelle zu parken und zwischen den Häusern umherzugehen. Würde es wieder so sein? Vermutlich nicht. Solche Augenblicke ließen sich nicht wiederholen.

4

Wir haben alle eine besondere Begabung. Musikalität, Ballgefühl, ein Händchen für Pferde, einen guten Riecher für Geschäfte.

Yvonnes Begabung war Effektivität: Dinge mit sowenig Anstrengung wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich zu erledigen.

Sie machte nichts Besonderes, aber was sie machte, machte sie schnell, geschickt und ohne größere Anstrengung: ein Bett beziehen, eine Essenseinladung organisieren, eine Tagesordnung für eine Besprechung aufstellen. Sie schob die unangenehmen Dinge nicht auf, blieb nicht an Details hängen, sie bürdete sich nicht mehr auf, als sie schaffen würde, ließ sich nicht von destruktiver Selbstkritik bremsen. Sie tat einfach, was getan werden mußte, nicht mehr und nicht weniger, und das war – merkwürdigerweise – ziemlich ungewöhnlich, hatte sie festgestellt. Daß es schnell und leicht ging, lag daran, daß sie ihren Körper, ihren Intellekt, ihre Energie und ihre Zeit ausgesprochen ökonomisch einsetzte.

Es war eine angeborene Begabung, aber wie alle Talente mußte sie trainiert werden. Zunächst trainierte sie, weil sie es mußte, um zu überleben. Dann, um zu sehen, wie gut sie werden konnte. Und schließlich, um sich selbst zu studieren, eine Methode zu erfinden und sie anderen beizubringen.

Yvonne hatte eine Consultingfirma, die Weiterbildung für Firmen und öffentliche Institutionen organisierte. Sie bot maßgeschneiderte Fortbildungstage und Kurse an, der Kunde konnte sich ganz nach Wunsch ein Buffet von ausgesprochen Nützlichem bis zu leichter Unterhaltung zusammenstellen lassen. Sie arbeitete mit vielen Seminarleitern und Experten auf allen möglichen Gebieten zusammen – die ganze Spannbreite von Fremdsprachen, Unternehmensethik über buddhistische Konfliktlösung und Chi Gong bis hin zu entspannender Aquarellmalerei. Und manchmal – in letzter Zeit sehr gefragt – auch rein geistliche Themen. Die Schwedische Kirche gehörte zu ihren Partnern.

Am Anfang nannten sie das Unternehmen »Mehr Zeit«, und sie präsentierten ihre Methode als Möglichkeit, die Zeit effektiver einzusetzen. Später änderten sie den Namen, nachdem sie sich ausführlich mit diversen Experten beraten hatten, in »Deine Zeit«. »Dein« sei persönlicher, eher qualitativ und weniger quantitativ und vulgär als »Mehr«.

»Niemand will heute mehr haben, mehr ist 20. Jahrhundert, mehr ist stillos«, hatte der junge Trendexperte naserümpfend gesagt. »Heute ist das Kleine, Spezifische, Exklusive angesagt. Nur für dich. Handwerk, Sorgfalt, Qualität. Lieber nur einen selbstgebackenen Kuchen als zehn aus der Fabrik. Lieber ein Paar maßgeschneiderte Unterhosen als einen Anzug aus der Massenproduktion.«

Sie änderten also den Namen und das Konzept. Ausgehend von der unleugbaren Tatsache, daß man tatsächlich die Zeit hat, die man hat, betrachteten sie diese Zeit aus einer neuen Perspektive und betonten, daß es »Deine eigene Zeit« heißen mußte: die Gottesgabe, Dein Verweilen auf der Erde, Dein Augenblick in der Unendlichkeit. Und deshalb sollst Du und sonst niemand entscheiden, was damit zu geschehen hat. Das Sparschwein mit der Uhr wurde ersetzt durch einen glitzernden Tautropfen, die Kursinhalte wurden weicher, philosophischer.

Die erste Frage, die Yvonne immer ihren Kunden stellte, lautete: »Was möchtest du mit deiner Zeit machen?« Und sie stellte sich die Frage auch oft selbst, wenn sie sich nach der Morgenmeditation langsam dehnte und vom Kissen auf den ergonomischen Schreibtischstuhl wechselte. Was wollte sie mit diesem Tag machen?

Normalerweise hatte sie natürlich einige Termine – nicht allzu viele – aber sie hatte immer ein paar freie Stunden. Oft erledigte sie dann etwas – einen Vortrag vorbereiten, ein paar Telefongespräche führen, einige E-Mails schreiben, aber manchmal entschied sie sich auch fürs Sportstudio oder las ein Buch. »Das Wichtigste ist, zu spüren, daß man selbst entscheidet«, sagte sie immer zu ihren Kursteilnehmern und Zuhörern.

Seit diesem Tag im Mai gab es eine weitere Alternative, wenn sie ihre Entscheidungen traf, aber lange hatte sie sich dagegen entschieden, weil es ihr verrückt oder unsinnig vorkam. In einem fremden Vorort umherzuschlendern, warum sollte sie ihre Zeit darauf verwenden?

Andererseits – warum nicht?

Und dann fuhr sie wieder hin. Es war inzwischen Herbst geworden.

Sie parkte in einer Straße am Rande des Vororts, dicht neben einer Hecke. Sie ging etwa eine Stunde spazieren. Sie umrundete die Häuserblocks in einer labyrinthartigen Schleife und bemühte sich, nicht zwei Mal die gleiche Straße zu gehen. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wollte nicht, daß die Leute sich fragten, warum sie auf und ab ging, obwohl sie doch kein Ziel und keinen Grund zu haben schien.

Es ist zwar nicht verboten, ohne Grund ein Wohngebiet zu besuchen. Aber es ist sehr ungewöhnlich. Nur die Bewohner, ihre Gäste und hin und wieder mal ein Handwerker kommen hierher und suchen schnell das Haus auf, zu dem sie unterwegs sind. Yvonnes planloses Umherspazieren paßte zu einem Sonntagsspaziergang in der Natur oder zum samstäglichen Einkaufsbummel in der Innenstadt, aber hier im Vorort kam es einem unpassend vor, beinahe verboten.

Das Gefühl, ein Eindringling zu sein, war dieses Mal noch stärker, weil es dunkel war und in den Häusern Licht brannte und man hineinschauen und Bruchstücke des alltäglichen Lebens beobachten konnte: eine Familie am Abendbrottisch, eine konzentrierte Gestalt vor einem Computerbildschirm, eine Frau, die etwas aus einem Schrank holte.

Sie blieb natürlich nicht wie ein Voyeur stehen. Sie strich langsam vorbei und nahm mit dem Blick soviel wie möglich auf. Für die Menschen drinnen war sie einfach jemand, der vorbeiging. Ein Fremder, der einen Nachbarn besuchte. Oder jemand, der weiter weg im Vorort wohnte und den man deshalb noch nie gesehen hatte. Vielleicht jemand, der neu zugezogen war.

Wenn sie ihr überhaupt einen Gedanken widmeten. Sie war eine Statistin, die dafür sorgte, daß die Straßen nicht ganz menschenleer waren. Eine einfache Rolle. Sie brauchte nicht gut auszusehen oder angezogen zu sein, brauchte nichts Gescheites zu sagen oder auf bestimmte Weise aufzutreten. Niemand in den Häusern erwartete etwas von ihr. Sie ging einfach da draußen in der herbstlichen Dunkelheit spazieren, war da, wenn sie einen Blick aus dem Fenster warfen, und nahm einen Teil des Blickfeldes ein, einen Teil, den sie ebenso unbewußt registrierten wie eine vorbeistreichende Katze oder einen Schwarm Spatzen.

Sie ging eine Stunde spazieren, und der einzige Mensch, den sie traf, war ein älterer Mann mit einem Rauhhaardackel. Er nickte ihr höflich zu, und sie nickte zurück.

Sie erzählte nichts von ihrem Besuch im Vorort, als sie nach Hause kam. Jörgen, ihr Mann, würde es doch nicht verstehen und Simon, ihr Sohn, auch nicht. Sie hätte ihnen nicht erklären können, warum sie in einem fremden Vorort weit weg von zu Hause fast eine Stunde lang fröstelnd spazierengegangen war. Sie konnte es sich ja selbst nicht erklären.

Sie sagte also nichts. Sie fuhr weiter hin und wieder abends nach der Arbeit dorthin. Manchmal machte sie früher Schluß und fuhr am hellichten Tag hinaus. Aber sie hatte immer noch niemandem etwas davon erzählt. Der Vorort war ihr Geheimnis.

5

Yvonne war gegen neun im Büro von »Deine Zeit«. Nach einem Gespräch mit Cilla über ihren Anfängerkurs mit einer Gruppe von Langzeitarbeitslosen ging sie in ihr Zimmer, schaute ihre E-Mails durch und sortierte die Spams des Tages aus:

Sieben Nachrichten, mit denen ihr die Lieferung von Psychopharmaka rezeptfrei binnen 24 Stunden angeboten wurde. Eine, die ihr größere und aufregendere Brüste mit Hilfe eines Hormonpräparats versprach, und eine weitere, in der man sie mit ebensolchen Lippen zu locken versuchte. Drei mit Schlankheitsmitteln. In fünf Nachrichten wurde ihr Viagra angeboten. Neun versprachen ihr Penisvergrößerungen (sie hatten in letzter Zeit die Viagra-Angebote weit überholt). Eine Firma wollte sie dazu bringen, in eine bisher geheime Erfindung zu investieren. Und dann noch zwei Mitteilungen mit dem Absender Spam Control und Stop all Spam, wo man sich erbot, sie vor derlei Mitteilungen zu verschonen.

Danach erledigte Yvonne die normale Post, blätterte rasch ihre Tagesmappe durch und räumte nach ihrer eigenen Methode den Schreibtisch auf – das war ihr inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen.

Zehn nach elf vertauschte sie den Bürostuhl gegen das Meditationskissen auf dem Boden. Sie setzte sich in den Halblotussitz, und ehe sie die Augen schloß, ließ sie den Blick rasch über den Ort gleiten, an dem sie sich befand:

Ein Zimmer in einem Altbau mitten in der Innenstadt. In den Bücherregalen weiße Ordner mit dem diskreten Tautropfen von »Deine Zeit« unten auf dem Rücken. Ein Kachelofen (zugemauert, aber schön). Ein marokkanischer Wandbehang in roten und ockergelben Farbtönen auf der ansonsten leeren, weißen Wand. Auf dem Schreibtisch ein Flachbildschirm und eine geschwungene Tastatur, ein unlinierter Spiralblock, ein Filzschreiber mit feiner Spitze und ein Telefon, dessen Design an etwas Organisches, Elastisches denken ließ, das zufällig aus der klaren Fläche wuchs, wie eine Wasserlilie aus einem See.

Ihre Augenlider schlossen dies alles aus, sie konzentrierte sich auf ihre Atmung.

Viertel vor zwölf war sie unten auf der Straße.

Einmal hatte Yvonne scherzhaft zu einer Kursteilnehmerin gesagt: »Am Ende seid ihr so effektiv, daß ihr nur eine Stunde am Tag im Büro sein müßt.« Sie hatten gelacht. Aber nun stand sie hier. Sie konnte es inzwischen viel zu gut. Cilla und Lotta machten das meiste allein, und sie machten es ausgezeichnet. Yvonne ließ sich nur informieren. Und das Geld strömte aufs Konto.

Sie war es gewöhnt gewesen, hart zu arbeiten. Sie hatte es gemacht, um es später ein bißchen ruhiger angehen zu können. Das konnte sie jetzt, und die Ruhe langweilte sie. Vielleicht sollte sie etwas Neues machen. Noch mal ganz unten anfangen. Aber so etwas macht eigentlich nur einmal im Leben Spaß.

Yvonne aß in dem kleinen Sushi-Restaurant an der Ecke zu Mittag und überlegte, ins Sportstudio zu fahren. Sie hatte ihre Trainingssachen im Auto. Aber sie überlegte es nicht ernsthaft, denn innerlich hatte sie sich schon entschieden. Sie wollte nur so tun, als hätte sie Wahlmöglichkeiten. Daß sie noch nicht abhängig war.

Sie fuhr in den Vorort, was sie inzwischen mehrmals pro Woche tat.

Es war September, ein ruhiger, grauer Tag, die Luft war sehr feucht, aber es war noch sommerlich warm.

Yvonne parkte, wo sie immer parkte, und machte in raschem Tempo ihre Runde, die immer gleich aussah:

Zuerst den Weißdornweg vier Blocks geradeaus. Der Weißdornweg war die Hauptstraße des Vororts. Hier lagen einige der ältesten Häuser, umgeben von großen Gärten.

Dann bog sie in den Phloxweg ein, dem sie ein paar Blocks leicht ansteigend folgte.

In einem der Häuser wohnte früher eine sehr strebsame Familie. Die junge Frau saß oft abends am Küchentisch und studierte, die Wäsche hing um sie herum auf den Stuhlrükken. Manchmal hatte sie auch den Kinderwagen in der Küche und schaukelte ihn rhythmisch beim Lesen. Der Mann kam spät nach Hause und saß dann den ganzen Abend am Computer. Ihre Mühen lohnten sich ganz offensichtlich. Der schlichte alte Toyota in der Einfahrt wurde durch einen silberfarbenen Volvo 760 ersetzt, und eines Tages waren sie weg. Es war ein ziemlich kleines Haus, vielleicht waren sie in ein größeres gezogen.

Jetzt wohnte hier eine Familie aus der Türkei oder dem Iran oder so. In ihrem Wohnzimmer glänzte und glitzerte alles, wie im Palast eines Maharadscha. Die Küchengardinen waren aus fliederfarbenem Tüll, und die Unterseiten der Hängeschränke waren mit Seidenkrepp verziert. Auf einem riesigen Sofa in Grün und Gold saßen oft Männer mit Schnauzbärten und gestickten Kaftanen. Sie gestikulierten heftig unter einem Kronleuchter mit rosa Prismen (Yvonne stellte sich vor, daß sie Umstürze in der Heimat planten).

Ins Haus nebenan waren Landsleute dieser Familie eingezogen, aber da hatte Yvonne keinen so guten Einblick. Sie hatten ein Loch in die Hecke geschnitten und besuchten sich gegenseitig. Beide Familien hatten die schwedische Flagge an einer Stange an der Hauswand gehißt.

Nach dem Phloxweg kam sie zum Akeleiweg. Hier gab es ein langweiliges kleines Haus aus den vierziger Jahren, das kein Interesse in ihr weckte. Aber wenn man hier um halb acht abends vorbeikam, passierte etwas Lustiges. Und merkwürdigerweise passierte es immer genau zu dieser Zeit, sommers wie winters, bei Regen, Sonne oder Schnee.

Folgendes passierte: Auf einem Anbau gab es eine Dachterrasse. Um Punkt halb acht wurde die Terrassentür aufgeschlagen, die dramatischen Fanfaren der Erkennungsmelodie der Nachrichten dröhnten in voller Lautstärke aus dem Zimmer, ein älterer Mann in einem offenen Bademantel und Hausschuhen trat in die Tür. Mit resolutem Schritt ging er zum Geländer, sein schlaffes, adriges Organ baumelte unter dem graubuschigen Bauch hin und her. Er zündete eine Zigarette an, nahm drei schnelle, gierige Züge und warf die Kippe mit einer Miene des äußersten Ekels übers Balkongeländer, machte dann kehrt und ging ruhig und würdig ins Haus zurück. Yvonne erinnerte dies an mittelalterliche mechanische Uhren, bei denen zu einer bestimmten Uhrzeit eine Heiligenfigur erschien.

Weiter vorne im Akeleiweg wohnte eine unkonventionelle Familie mit Kindern, die Yvonne »Die Glückliche Familie« getauft hatte. Sie hatten einen großen Garten mit Kaninchenställen, alten Fahrrädern, einem Schuppen, der in ein Spielhaus verwandelt worden war, einem Baumhaus und einem alten Saab, an dem der Mann immer wieder herumreparierte, den er jedoch nie fahrtüchtig bekam. Das Haus hatte eine Fassade aus kaputten Eternitplatten, sie mähten nie das Gras und putzten nie die Fenster. Im Sommer versammelten sie ihre Freunde zu großen Gartenfesten, ohne den ansonsten obligatorischen Grill. Der Mann hatte einen wilden, roten Bart und trug Flanellhemden, die Frau war nie geschminkt und hatte einen bis auf den Rücken reichenden Zopf. Sie hatten etwas Hippieartiges, aber gleichzeitig sehr Bodenständiges. Yvonne schwankte zwischen einer christlichen Sekte und Ökofreaks.

Manchmal phantasierte sie, wie es wäre, das Leben mit der Zopffrau zu tauschen. Das ganze Konzept zu übernehmen, das Haus, die Kinder, die Kaninchen, den bärtigen Mann. Nicht für immer, aber für ein paar Wochen.

Dann kam das lila Haus. Da wohnte nicht, wie man vermuten könnte, eine Hippiewohngemeinschaft oder ein exzentrischer Künstler, sondern ein Paar jenseits der fünfzig, sehr ordentlich in gedeckten Farben gekleidet. Yvonne sah sie manchmal, wenn sie ihren Zwergspaniel Gassi führten. Sie gingen nie weiter als bis zur nächsten Laterne, und immer mußte er sich die schwarze Plastiktüte über die Hand ziehen und sich bücken, während die Frau sich diskret abwandte. Manchmal schüttelte sie eine lachsrosa Tagesdecke über dem Balkongeländer aus. An einem Sommerabend, als das Schlafzimmerfenster offenstand, hatte Yvonne die Frau brüllen gehört: »Ich trinke soviel wie ich will, du impotentes Aas!«

Vom Akeleiweg bog sie meistens in den Orchideenweg ab. Das war eine Sackgasse. Sie ging bis zum letzten Haus, Nummer neun, dessen Grundstück an den Wald angrenzte. Sie wußte nicht, wer da wohnte, sie hatte noch nie jemanden gesehen, weder in noch vor dem Haus, aber sie blieb immer ein Weilchen stehen und betrachtete das Haus, bevor sie umkehrte und wieder zum Akeleiweg hinunterging.

Durch die netten, gewundenen Sträßchen Minzpfad und Hortensiengasse ging sie zur Petuninengasse. In diesem Teil des Vororts war das Gelände steil und die Grundstücke ein wenig wild und planlos.

Yvonne hatte diese Straßen mit ihren plötzlichen Kurven und steilen Treppen von Anfang an gemocht, und manchmal phantasierte sie, daß sie und Jörgen sich hier ein Haus kaufen würden. Das lustige Haus zum Beispiel, das die neuen Besitzer im letzten Jahr zu einem richtigen Märchenschloß haben umbauen lassen: Wo jetzt ein goldener Halbmond auf einer Stange von einem sechseckigen Turm glänzte und ein Stern den pavillonartigen Anbau krönte. Da könnten sie wohnen.

Doch wenn sie ehrlich war, konnte sie sich nicht vorstellen, daß Jörgen da wohnte. Und auch Simon nicht. Nicht einmal sie, die Yvonne, die sie jetzt war, würde da wohnen. Das heißt, sie könnte da wohnen, wäre dann allerdings eine andere Yvonne. Sie wußte selbst nicht, was sie meinte.

Die Yvonne, die sie war, fühlte sich in einem Einfamilienhaus nicht wohl. Jörgen und sie hatten sogar schon einmal ein Haus gehabt. Sie hatten es gekauft, als sie mit Simon schwanger war. Es gehörte zu ihrer Vorstellung, wie eine Familie mit Kind zu leben hatte.

Das Haus lag in einem attraktiven Vorort in der Nähe des Meers, aber sie stellten bald fest, daß dieses Leben nichts für sie war. Jörgen war nicht der Typ Mann, der am Wochenende den Blaumann anzog und das Werkzeug hervorholte, und sie gehörte nicht zu den Frauen, die im Garten herumpusselten, sobald sie eine freie Minute hatten. Das Haus brachte nur zusätzliche Arbeit neben dem Beruf und dem Baby, das sie kurz darauf bekamen. Sie vermißten die Stadt und das spontane Glas Bier in der Eckkneipe oder die Kinobesuche. Nach eineinhalb Jahren verkauften sie das Haus und zogen in die moderne Vierzimmerwohnung im Zentrum, wo sie jetzt wohnten.

Nach dem Petunienweg kam sie in den etwas tristen Eibenweg mit identischen Häusern aus Kalksandstein aus den sechziger Jahren.

Es gab eigentlich nur ein Haus, das es wert war, beachtet zu werden. Das Haus war fast das ganze Jahr unbewohnt. Was nicht hieß, daß es verwahrlost war. Im Gegenteil, es war das ordentlichste Haus des ganzen Vororts, der Garten war ausgesprochen gepflegt. Jeden Abend gingen im Haus die Lampen an. Es war keine typische Einbruchssicherungsbeleuchtung mit einer Lampe auf dem Fensterbrett. Das Haus erstrahlte in vollem Glanz mit Deckenlampen, Kronleuchtern, Schreibtischlampen, Kellerbeleuchtung und den Leuchtröhren über der Arbeitsplatte in der Küche, als ob die ganze Familie allen möglichen Beschäftigungen nachging. Und diese fieberhafte Aktivität brach immer punkt acht Uhr aus. Yvonne stellte sich vor, wie die einzelnen Familienmitglieder in den dunklen Zimmern kauerten und mit dem Finger am Schalter auf den magischen Moment warteten.