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Brigitte Blobel

Der geträumte Mann

Roman

hockebooks

In ihren Träumen lief Gesine durch eine Stadt, deren Gassen, Alleen und Plätze ihr so vertraut waren, als habe sie immer hier gelebt. Ihr ganzes Leben spielte sich in dieser Stadt ab, sie trank den Kaffee morgens in dem Café am Kopfsteinpflasterplatz, über den die Händler ihre Gemüsekarren rollten. Gegenüber die Kirche mit den zwei gotisch spitzen Türmen, die Mauern, weiß gestrichen, warfen das Licht der aufgehenden Sonne so verstärkt zurück, dass es in den Augen brannte. Später wanderte sie durch die Gassen, immer beschäftigt, sie verabschiedete Freunde am Bahnhof, sah sich auch manchmal selbst mit einem kleinen Reisekoffer auf Gleis 5 ankommen, eine Litfaßsäule auf dem Bahnsteig zeigte immer das neue Kinoprogramm mit Plakaten für einen Horrorfilm. Monster sprangen den Betrachter an, gierig, mit weit aufgerissenen Augen und klaffenden Mäulern. Gesines Albträume spielten alle in dieser Stadt, in dem Park mit den sterbenden Bäumen, wo auf kahlen Ästen Krähen saßen, die plötzlich im Sturzflug herunterstießen und in ihren Kopf hackten, in dem Park mit den Bänken, auf denen merkwürdige Gestalten unter ausgebreiteten Zeitungen schliefen, manchmal, wenn Gesine leise an einer dieser Bänke vorbeiging, traf ihr Blick plötzlich die Augen eines Mannes. Er erhob sich ohne ein Wort, ließ die Zeitungen auf den Boden fallen und folgte ihr in seinen halbhohen Schuhen, die nicht zugebunden waren und deren Schnürsenkel hinterherschleiften, er folgte ihr in kurzem Abstand, und wenn sie ihre Schritte beschleunigte, dann wurde auch er schneller, wenn sie links in eine Gasse einbog, tat er dasselbe. Schweißgebadet hastete sie bergan, ihrer Wohnung entgegen, die in einem der grauen Blocks lag, und als sie in der Siedlung ankam, hatte sie vergessen, welches ihr Haus war, welches ihr Eingang. Außer sich vor Angst stürzte sie auf eine Haustür zu, rüttelte an der Klinke, aber die Tür gab nicht nach, der Schlüssel passte nicht, und hinter ihr hörte sie den keuchenden Atem des Mannes.

Dann drehte sie sich um und fragte: »Was wollen Sie eigentlich von mir?« Sie schrie diese Frage heraus, mit einer schrillen, sich überschlagenden, ihr fremden Stimme, die ihr wehtat, aber trotzdem spürte sie Erleichterung, dass sie noch schreien konnte in diesem Augenblick der Panik. Aber der unheimliche Fremde antwortete nicht. Er verzog sein schwammiges Gesicht zu einem widerlichen Grinsen, und Gesine stellte schaudernd fest, dass in seinem Mund nur noch gelbe Zahnstümpfe waren, dann streckte der Mann beide Arme nach ihr aus, so siegessicher, so eindeutig in seinen Absichten … An diesem Punkt der Geschichte wachte Gesine immer auf. Sie tastete dann nach der Nachttischlampe, erhob sich, um im Bad ein Glas Wasser zu trinken, tappte barfuß über den Flur, schaute aus dem Fenster hinüber in das andere Haus, wo die schattenhaften Umrisse einer Person sie jedes Mal wieder zu Tode erschreckten, bis sie sich erinnerte, dass dies das Haus der Nachbarn war, dass dies das Zimmer war, in dem ein Kind seinen Todesschlaf schlief.

Aber manchmal hatte Gesine in ihrer Traumstadt auch andere, schönere Träume. Dann sah sie sich an einem Brunnen, in dessen Mitte bronzene Flötenspielerfiguren waren, und sie wurde von einem freundlichen Mann begleitet, der sie anlächelte, der seinen Arm um sie legte und der plötzlich einen alten Silberpfennig in den Brunnen warf, einen Pfennig für ihr Glück.

Sie traf diesen Mann wieder in einem alten, von Efeu bewachsenen Haus, er hockte im Schneidersitz auf einer Bastmatte, wenn sie kam, lächelte er und strich ihr die Haare aus dem Gesicht zurück. Dann bedeutete er ihr, sich neben ihm niederzulassen, und sie legte sich so, dass ihr Kopf in seinem Schoß war. Der Mann sprach in einer fremden singenden Sprache, die sie aber trotzdem verstand, mit dem Herzen verstand. Er erzählte die Geschichte der ewigen Liebe und des ewigen Glücks. Er nahm ihre Hände und legte seine Handflächen gegen ihre Handflächen, dann beugte er sich vor und küsste ihre Brüste. Sie war plötzlich nackt und von einer derartigen Schönheit, dass es sie stolz machte und stark. Sie erhob sich, zog den Mann zu sich empor, und zusammen gingen sie über die Bastteppiche, vorbei an Zimmern ohne Türen, über Gänge, auf denen weiß gekleidete Mädchen im Lotussitz saßen, bis zu dem hinteren Raum, der kein Fenster hatte und keine Tür, aber der mit Hunderten von brennenden Kerzen in ein gelbwarmes Licht getaucht war. Am Ende des Raumes befand sich ein Tisch, über den eine weiße Spitzendecke gebreitet war. Darauf lag ein dickes rotes, in Leder gebundenes Buch, und als sie beide ihre Hände auf dieses Buch legten, da begannen plötzlich tausend Engel zu singen, und da wusste Gesine, dass sie getraut worden war für das ewige Glück.

Botho war nicht an den großen Katastrophen interessiert, ihn interessierte das kleine Drama, wie er es nannte, das Kammerspiel. Seine Bühne waren die Seiten mit den Heiratsanzeigen in der Zeitung, er fühlte sich wie der große Spielleiter, er dosierte die dramatischen Höhepunkte, wechselte sie ab mit längeren erzählenden Passagen, retardierenden Momenten in Form von Gedichten, und im richtigen Augenblick dem Aufschrei einer Frau, die an ihrer Sehnsucht, an der ewig unerfüllten Sehnsucht zerbrach.

Es wurde immer Wert darauf gelegt, dass auf »seinen Seiten«, wie er sie im Stillen nannte, das Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Schauspielern bewahrt blieb, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage sich immer die Waage hielt, sodass, wie Botho fand, jedem Leser doch eigentlich auffallen müsste, welch eine Manipulation dahintersteckte. Führte man die beiden Parteien einfach zusammen, so wäre das Problem doch gelöst. Denn hier passte jeder Mann zu jeder Frau, sie hatten alle ähnliche Ideale, Wünsche und Träume. Und alle waren bereit, ihr Bestes zu geben, ihre Zeit, ihre Zärtlichkeit, ihre Liebe, ja ihr ganzes Leben – hier stimmte alles, man brauchte sich nur zu bedienen.

Botho war als einziger Junge zwischen fünf Schwestern aufgewachsen.

Der Vater spielte in seinen Kindheitserinnerungen keine wesentliche Rolle. In Bothos Erinnerungen war der Vater ein Mann, der sich abends mürrisch zum Essen einfand, der schweigend, schmallippig und übel gelaunt am Tisch saß, seinen Magentee trank und die Pfeife zu stopfen begann, noch ehe die Mutter ihr erstes Schnittlauchbrot gegessen hatte. Später zog er sich sofort in sein Arbeitszimmer zurück, um sich um seine Mineralien-Sammlung zu kümmern, der er mehr Aufmerksamkeit schenkte als seiner Frau.

So war er schon immer, hatte seine Mutter manchmal geseufzt, die Steine haben für ihn mehr Leben als die Menschen.

Da waren sie also unter sich, Mutter, vier Schwestern und er, Botho. Botho zählte nicht als Mann in der Runde, man nahm weder auf seine Gefühle noch auf seine anderen, eben männlichen Bedürfnisse Rücksicht. Die Mädchen sprachen in seinem Beisein über ihre ersten Monatsblutungen und das Problem, die benutzten Binden in Klopapier zu wickeln, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Er wuchs auf in einer Welt blutiger Binden, wie es ihm später schien, die neben dem Klo lagen und irgendwann während des Tages weggeräumt wurden. Später dann überall Lippenstifte, Puderdöschen, gewaschene und getragene Nylonstrümpfe, auch Strumpfhosen, die ihn besonders anwiderten, ohne dass er sagen könnte, woran es lag.

Die Mädchen hatten so eine flatterhafte, fast unsichtbare Art, sich auszubreiten, ihre Kleidungsstücke, ihre Wäsche, ihre Poesiealben, ihre Liebesbriefe und Lockenwickler gleichmäßig auf alle Zimmer zu verteilen, dass es ihm manchmal schien, als müsse er über Berge von »Mädchen-Sachen« hinwegsteigen, um endlich das kleine dunkle Zimmer zu erreichen, das man ihm zugestanden hatte.

Botho sah die ersten Verehrer, die schüchternen Schulkameraden, die dann später kecke Liebhaber wurden, ein- und ausgehen, er sah die Veränderungen, die in seinen Schwestern vorgingen, wie sie plötzlich damenhaft wurden in der Gegenwart fremder Männer, und er sah sie gleichzeitig, unbeobachtet, wie sie wieder in ihre alten Träume und Schwärmereien verfielen, schnulzige Liebesromane lasen und der alten abgewetzten Stoffkatze salzige Tränenküsse gaben.

Botho begriff vielleicht eher als irgendein anderer Junge, dass eine Frau nie die Frau war, die sie nach außen hin zu sein schien. Dass in jeder Frau ein Märchengespinst schlummerte, eine Mischung aus Dornröschen und Prinzessin auf der Erbse, dass man dieses versteckte Wesen einer Frau nur wach küssen konnte, wenn man den beschwerlichen, dornenreichen Weg bis zu ihrer Seele vorgedrungen war. Aber die Jungen, die kamen, um Bothos Schwestern in die Disco oder ins Kino zu führen, waren nicht die Prinzen auf den silbernen Rössern, die das Geheimnis hinter Spinnennetzen und jahrtausendealtem Efeu suchen wollten. Die Jungen, die Bothos Schwestern vor der Haustür unter der Rotbuche abknutschten, waren nicht die schönen Ritter und Jäger, die mit ihrer Hundemeute, in wehende Capes gehüllt, auf das Geheimnis zusprengten. Die Jungen, die Botho dann irgendwann einmal unter der Decke, zusammen mit der Schwester, erwischte, wo sie verlegen, mit rotfleckigen Gesichtern, ihn anblinzelten, waren nicht von der Art, dass sie die Spinnweben zerreißen könnten, vordringen bis dorthin, wo die Seele so voller Sehnsucht nach Zärtlichkeit auf sie wartete.

Vielleicht, dachte Botho manchmal, wenn er den Briefumschlag mit dem Verrechnungsscheck von der Redaktion öffnete, vielleicht verdanke ich diese Geldquelle meinen Schwestern. Meiner Kindheit eben. Vielleicht weiß ich wirklich ein bisschen mehr über die Seele einer Frau als die meisten anderen Männer. Deshalb hatte ihn auch Gesines Brief so eigenartig berührt, der zweite noch mehr als der erste, es war ihm, als höre er beim Lesen der Zeilen ihre kleine, etwas dünne Stimme, die der Stimme seiner Schwester glich, vielleicht war auch die Farbe ihrer glanzlosen Haare identisch mit den Haaren seiner Schwester, die Art, wie sie lachte, und weil in diesem Lachen so deutlich der Schrei nach Hilfe hörbar wurde. Ob nicht ein anderer Mensch auch begriff, welches kleine Drama sich da wieder einmal abspielte. Um solche Seelendramen zu sehen, dachte Botho manchmal bitter, zahlen die Leute viel Geld, kaufen Theaterkarten, Kinokarten, um solche Seelendramen sehen zu können. Er schrieb:

»Verehrte Freundin,

so darf ich Sie doch nennen? Danke für Ihren Brief, danke vor allen Dingen für die Offenheit, die Sie mir gegenüber zeigen, für das wunderschöne Vertrauen. Sie können nicht ahnen, wie tief es mich berührt, einen Brief wie den Ihren zu bekommen. Es ist, als gingen längst verschlossene Türen wieder auf, als stiege etwas weiß und rein aus dem Unrat falscher Gefühle, aus Täuschung und Verlogenheit empor.

Sich vorzustellen, dass gerade Sie auf meine Anzeige geantwortet haben! Ausgerechnet Sie, ein Mensch mit so tiefen Gefühlen, ein Mensch mit so viel Seele, wie ich es mir nicht zu erträumen gewagt habe! Ich habe Ihren Brief nicht zehnmal, ich glaube, ich habe ihn immer wieder gelesen, und ich muss Ihnen ein Geheimnis verraten. Ihr Brief hat eine Musik, eine poetische Musik, ja wirklich, ich höre, wenn ich Ihren Brief lese, ein leises wehmütiges Solo, wie auf einem Horn geblasen, weit entfernte Töne wehen zu mir herüber, es ist ein Zauber, ja wirklich, es ist ein Zauber in dem, was Sie schreiben. Nun will ich Ihnen etwas von mir berichten. Ich arbeite, wie Sie wissen, als Dozent an einer Universität. Ich habe einen sehr trockenen Beruf, mathematisch, wissenschaftlich, das ist etwas, was ich meinen Eltern nie verzeihen werde, dass sie mir nicht erlaubt haben, meinen Neigungen zu folgen. Hätte ich das gedurft, so wäre ich, ohne zu zögern, Förster geworden, oder ich hätte mich als Eisenbahnwärter gemeldet an einer Bahnschranke mitten in einem Forst, in einem einsamen, unwegsamen Gelände, wo täglich nur zwei Züge verkehren, einer, der morgens von Norden nach Süden fährt, und einer, der abends von dort zurückkommt. Ab und an wäre ein Traktor vorbeigekommen. Die Forstgehilfen, die Holzstämme zur Hauptstraße befördern, hätten vielleicht bei mir gehalten, um einen heißen Tee mit mir zu trinken, aber sonst wäre ich allein gewesen. In den langen, dunklen Wintermonaten hätte ich mein Bahnwärterhäuschen ganz und gar mit Büchern vollgestellt, alle Wände voller Bücher. Ich hätte mich in diesen langen, kalten Wintern quer durch die Weltliteratur gelesen, Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, ich habe eine Schwäche für die russische Literatur, für die russische Seele, ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber da ist so viel Herz in diesen Menschen, so viel Weite, so viele Tränen. Dann die Lateinamerikaner, Borges, Marquez, die Franzosen, ja, und immer so weiter. Dazwischen wäre ich aufgestanden, hätte mir auf meinem Ofen eine Suppe aufgewärmt, hätte von dem großen dunklen Laib Brot eine Scheibe abgeschnitten und sie mit dem Schmalz bestrichen, das eine Bäuerin aus dem Nachbardorf alle Woche vorbeibringt …

Können Sie sich das vorstellen, liebste Freundin?

Aber dann die Sommer mit dem erdigen Geruch, mit dem flimmernden Licht, das durch die dichten Baumkronen bricht, mit den ersten Blumen, den Farben. Auch die Sommer, liebste Freundin, die man auf der Bank vor dem Bahnwärterhäuschen verbringt, eine hölzerne Bank an der hölzernen Wand, von der Sonne mit wohltuender Wärme aufgeladen, dort drüben blühen die ersten Walderdbeeren, kleine unschuldige weiße Blüten zwischen dem dunklen Blattwerk, der Huflattich und das Wiesenschaumkraut, die Distel und die Eberesche werden das kleine Beet neben meinem Häuschen zieren, ein Ziergarten voller herrlichster Unkräuter, die zu Unrecht verfemt und bekämpft werden. Bei mir hat jede Pflanze und jede Kreatur ihren Platz. Ich schaue den Mäusen zu, die Futter für die Kleinen herbeischaffen, und spreche mit der Amsel, die so eifrig an ihrem Kinderzimmer baut.

Können Sie sich das vorstellen, liebste Freundin? Könnten Sie sich vorstellen, das Leben dieses Einsiedlers zu teilen, das Essen aus dem alten verbeulten Topf mit ihm zu teilen, Beeren und Pilze mit ihm zu sammeln und abends nicht das Flimmern des Fernsehschirmes, nicht die laute Musik der Diskotheken zu hören, sondern das Zirpen der Grillen und den leisen Ruf einer Eule drüben aus dem Wald.

Ich sehe, ich kann zu Ihnen nicht von dem Leben sprechen, das ich führe, weil es nicht mein Leben ist. Nur mein Körper funktioniert in diesem Leben, aber mein Herz ist ausgewandert, hat sich außerhalb eingenistet, ich weiß nicht genau, wo, ich weiß auch keinen anderen Weg, es zurückzuholen, als durch dieses Wunder, das sich da auftut, das vielleicht Gestalt annimmt und für das es ein jahrtausendealtes Wort gibt, das heißt Liebe.

Ihr Tristan.«

STILL LIEGT DIE JUNGE SCHLANKE LÖWIN AUF IHREM FELSEN UND HÄLT AUSSCHAU! DER TAG WAR HART! JETZT GENIESST SIE DEN FRIEDEN! NOCH IMMER GLÄNZT IHR FELL! IHRE AUGEN BLITZEN! IN DER LEISE BEGINNENDEN NACHT HAT SIE EIN GERÄUSCH GEHÖRT – IST ES DER JÄGER, DER IHRE FÄHRTE VERFOLGT?

LANGSAM BEWEGT SIE SICH DER HÖHLE ZU, WO IHR LETZTES JUNGTIER SOEBEN ZUR SELBSTSTÄNDIGEN JAGD AUFBRICHT. SIE WIRD ALLEIN SEIN UND WARTEN, OB SICH EIN MUTIGER IN IHRE HÖHLE WAGT, UM IHR LIEBEVOLL DAS FELL ZU KRAULEN! SIE WIRD ES IHM MIT SANFTEM SCHNURREN LOHNEN UND IHN IN ZUKUNFT AUF SEINEM WEG GLÜCKLICH MACHEN UND HELFEND BEGLEITEN.

Bea lächelte, als sie die Anzeige las. Löwin war sie auch, im Sternzeichen des Löwen geboren. Aber noch nie war ihr die Idee gekommen, sich wie eine Löwin zu fühlen, ebenso wenig wie sie sich unter ihrem Exmann, der ein Skorpion gewesen war, dieses giftige Panzertier mit Zange und Schere vorgestellt hatte. Aber eigentlich war der Vergleich gar nicht so schlecht. Sie wartete in ihrer Höhle auch immer darauf, dass einer den Mut fasste und zu ihr kam, um ihr liebevoll das Fell zu kraulen. Und sie würde ihn auch mit einem sanften Schnurren belohnen. Vielleicht lag es an dem Nieselregen, der nun schon wieder die Seewiesen in einen Sumpf verwandelte und eine feuchte Kälte in die Häuser trieb, dass Bea immer mehr das Bedürfnis hatte, sich in ihrer Höhle zu verkriechen.

Sie schaute auf die Uhr: Noch zwei Stunden bis Ladenschluss. Sie überlegte, womit sie sich am Abend eine Freude machen könnte. Ob sie schnell einmal zum Feinkostladen laufen sollte, um sich ein Scheibchen Räucherlachs zu holen, dazu einen Toast, etwas Meerrettich, eine Flasche eiskalten Chablis? Dann würde sie das neue Hauskleid aus grünem Veloursfrottee anziehen, dicke Wollsocken über die Füße streifen, die immer kalt waren, oder einfach schlecht durchblutet, würde sich auf ihrem Sofa zusammenkuscheln, die Gardinen zuziehen und nicht an das denken, was außerhalb ihrer Höhle geschah; dazu dann die Brandenburgischen Konzerte hören.

Bea ging in den kleinen Abstellraum hinter dem Ladentisch, zog ihren Trenchcoat über und nahm den Schirm aus dem Ständer. Sie drehte das kleine Pappschild, das an der Glastür hing, um, sodass die Aufschrift Komme gleich wieder nach draußen zeigte. Als sie eben die Buchhandlung verlassen wollte, klingelte das Telefon.

Bea seufzte, lief zum Ladentisch zurück und nahm den Hörer ab.

»Oh, guten Tag, Bea. Sie haben ja so eine dynamische Stimme, ich bin ganz erschrocken …«

Als Bea die Stimme erkannte, lächelte sie. Sie zog den Stuhl heran, knöpfte den Regenmantel auf und sagte: »Der Herr Doktor! Das ist aber eine seltene Ehre!«

»Ich freue mich, dass Sie meinen Anruf für eine Ehre halten. Aber wahrscheinlich ist das entweder ironisch gemeint oder soll eine Schmeichelei bedeuten, die Sie immer für potenzielle Kunden auf Lager haben. Ich muss Sie warnen: Ich will keinen Bildband über den Expressionismus für 198 Mark kaufen.«

»Und auch keinen über antike Spieluhren?«, fragte Bea amüsiert. »Da enttäuschen Sie mich aber, lieber Doktor. Der Band kostet nämlich 248 Mark, und ich suche seit vier Wochen einen Käufer dafür. Kennen Sie jemanden in Anklung, der antike Spieluhren sammelt?«

»Ich kenne viele Leute in Anklung, die einen Spleen haben, liebe Bea. Aber warum es nun gerade antike Spieluhren sein müssen … sagen Sie, störe ich Sie vielleicht gerade? Haben Sie den Laden voller Schulkinder, die ihr erstes Lesebuch kaufen müssen oder so etwas?«

»Überhaupt nicht. Ich bin ganz allein. Allerdings wollte ich gerade einmal für zehn Minuten meinen Laden schließen, um einzukaufen.«

»Oh, und da hat das böse Telefon Sie wieder in den Laden zurückgerissen. Was wollten Sie denn kaufen?«

Bea lachte amüsiert. »Müssen Sie das wirklich wissen?«

»Nun, wenn Sie ein Geheimnis daraus machen wollen …«

»Unsinn. Ich hatte mir nur gerade überlegt, dass ich meinen einsamen Abend mit ein bisschen Räucherlachs verschönern könnte.«

»Einsamer Abend! Das ist das Stichwort, auf das ich gewartet habe! Bea, was halten Sie davon, wenn ich Sie heute Abend zum Abendessen einlade?«

»Wie? Sie wollen mich einladen? Also … ja … das ist wirklich …«

»… eine große Ehre, ich weiß, ich weiß. Aber ein großer Koch möchte seine Kreationen nicht nur immer allein genießen. Er braucht ein Publikum. Ein sachverständiges Publikum.«

»Also, ich bin nicht sicher, ob mein Sachverstand ausreichend ist, Ihre Kochkünste zu würdigen.«

»Dann braucht er eben ein unkritisch genießendes Publikum. Wenn ich es recht bedenke, wäre das noch viel besser. Also, ich habe heute Abend auch an Fisch gedacht. Was halten Sie von Renkenfilet auf Sauerampfer in einem leichten Hummersößchen? Und vorher ein bisschen Stopfleber, leicht in Butter angebraten, mit Mangobällchen und Eichblattsalat?«

»Ich bin beeindruckt, lieber Doktor. Können Sie so etwas wirklich kochen?«

»Wenn ich ehrlich sein muss, sowohl die Stopfleber als auch die Renkenfilets werden gebraten und nicht gekocht.«

»Sie sind ein Wortverdreher! Sie wissen genau, was ich sagen wollte!«

»Nun gut. Ich gestehe: Ich glaube, ich kann es wirklich kochen. Natürlich kann man nie vorhersagen, ob es auch genau so wird, wie man es sich erträumt. Aber Ihre Gegenwart wird mich sicherlich stimulieren. Bei den Vorbereitungen hilft es mir schon, dass ich mich auf Sie freuen kann. Also, wenn das kein Kompliment war.«

»In der Tat. Ich bin ganz perplex. Was ist mit Ihnen los, Doktor? Diese plötzliche Einladung … oder bin ich vielleicht nur Lückenbüßer? Hatten Sie all die köstlichen Dinge eigentlich für einen ganz anderen Gast eingekauft, der im letzten Augenblick absagen musste?«

»Unsinn«, knurrte Cäsar Bansun. »Ich habe Sie gemeint. Nur Sie.«

»Aber das ist ein ziemliches Risiko, so spät anzurufen. Wäre ja auch möglich, dass ich keine Zeit hätte. Karten fürs Konzert, oder Besuch von der Familie …«

»Damit muss man rechnen. Das ist das Leben. Es hängt alles von so vielen Zufällen ab, finden Sie nicht auch?«

Bea nickte. Sie bedankte sich für die Einladung, verabredete einen Zeitpunkt und dachte, während sie den Trenchcoat wieder auszog, dass das Leben allerdings von unglaublichen Zufällen abhängt. Eine Minute später hätte Cäsar Bansun sie nicht mehr angetroffen, und wer weiß, ob er es noch einmal versucht hätte …

»Die Löwin«, dachte sie, als sie die Zeitung zusammenfaltete, »verkriecht sich heute Abend nicht in ihrer Höhle. Die Löwin geht aus. Auf Raubzug. Auf Suche nach leichter Beute. Oder auch einer schwierigen, das wird sich noch zeigen. Und vielleicht gibt es sogar was zu schnurren.«

»Wenn es heute ein schöner Tag gewesen wäre, mit Sonnenschein und Schäfchenwolken so wie am letzten Montag, dann hätte ich etwas Italienisches gekocht«, sagte Cäsar Bansun, während er eine Flasche Pouilly Fuissé entkorkte. Er drehte den Korken zwischen Zeigefinger und Daumen, hielt ihn an die Nase und schnupperte. Zufrieden nickend legte er den Korken auf den Tisch.

»Und was hat das mit dem Wetter zu tun?«, fragte Bea verblüfft.

»Ja, das haben Sie doch gesagt: Wenn das Wetter schön ist, dann haben Sie immer Appetit auf etwas Italienisches, haben Sie mir gesagt.«

»Und das haben Sie behalten!«, sagte Bea staunend. Das war etwas, was sie diesem alten Bären nicht zugetraut hatte.

Cäsar schenkte zuerst einen Fingerhut voll Wein in sein Glas. »Sie erlauben?«, fragte er förmlich.

Bea stellte fest, dass Cäsar ein paar sehr schöne alte Dinge besaß unter all dem Junggesellenplunder, der in der Wohnung herumlag. Die Gläser zum Beispiel waren herrlich. Alte Burgundergläser mit einer Tulpe aus hauchdünnem Glas, der Stiel rot und leicht geschwungen, wie ein Blütenstiel.

Cäsar Bansun kostete den Wein, wie man es von einem Gourmet erwartet. Es hatte Bea immer amüsiert, wenn Leute sich so übertrieben genießerisch verhielten. Es wirkte auf sie immer als übersteigerte Demonstration von besonderer Kultur oder allerfeinster Kinderstube. Wie alles zu sehr Betonte hatte sie auch diese Art, einen Wein zu kosten, bei Männern immer irritiert. Heiner, ihr Fast-Ehemann aus der Hamburger Zeit, war auch so ein Weinkenner gewesen. Er hatte ihr lange Vorträge gehalten und die Abende, anstatt ihre Seele zu ergründen, damit verbracht, ihr den Unterschied von weißem Burgunder und weißem Bordeaux zu erklären.

Cäsar schaute Bea an. »Woran denken Sie?«, fragte er. Bea lachte nervös. »Nichts. Ich meine, nichts Wichtiges. Ich habe mich eben nur erinnert …«

»Erinnert? An was?«

Sollte sie ihm sagen, dass sie an einen ehemaligen Liebhaber gedacht hatte? Wie lächerlich! Sie war erst eine Viertelstunde hier in diesem Haus, sie war zum ersten Mal hier zu Gast, es würde einen geradezu peinlichen Eindruck machen.

»Lassen wir das«, sagte sie kurz. Um vom Thema abzulenken, hob sie einen der Teller hoch. »Hutschenreuther«, sagte sie. »Ein sehr altes Motiv.«

»Ich habe es geerbt. Von einer meiner Patientinnen, die meine Behandlungsmethode nicht überlebt hat und die mir trotzdem dankbar war.« Cäsar schenkte ihr Glas voll. »Wussten Sie nicht, dass manche Ärzte steinreich werden auf diese Weise? Der Arzt als Witwentröster oder so ähnlich. Der Arzt, der am Krankenbett der einsamen, aber reichen Fabrikantenwitwe sitzt, ihre gichtige Hand führt, während sie ihn im Testament zum Alleinerben einsetzt. Kennen Sie diese herrlichen Geschichten nicht?«

»Ich habe nie darüber nachgedacht.«

»Also bitte, liebste Bea! Das hat doch manchen jungen promovierten Mediziner aufs Land getrieben! Sie glauben, hier wimmelt es nur so von alten Damen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als die letzten Jahre ihres Lebens in der Obhut eines einfühlsamen, verständnisvollen Arztes verbringen zu können. Wirklich, Bea, Sie enttäuschen mich ein wenig.«

Bea lachte. »Wenn Sie mich eingeladen haben, weil Sie annehmen, dass ich Ihnen in meinem Testament meinen silbernen Samowar von 1768 vermachen würde, haben Sie sich getäuscht, lieber Doktor.«

»Nicht? Den wollen Sie mir nicht vererben? Wer soll das gute Stück denn sonst bekommen?« Cäsar zwinkerte ihr zu. »Ein Samowar würde sehr schön in dieses Zimmer passen.«

»Ja, vielleicht oben auf dem Kachelofen. Dafür könnten Sie dann dieses schreckliche staubige Strohblumengesteck auf den Müll werfen.«

»Es gefällt Ihnen nicht? Wie schade.« Cäsar schob einen Stuhl an den Kachelofen heran, stieg hinauf und hob den Keramikkrug mit dem verblichenen gelben Strohblumenstrauß herunter.

»Was tun Sie?«, fragte Bea erschrocken. »Ich wollte nicht …«

»Natürlich wollten Sie.« Cäsar verließ mit dem Strauß das Zimmer. »Ich weiß genau, was Sie wollten. Und Sie sollen Ihren Willen haben.«

Als er zurückkam, bemerkte er amüsiert, dass Bea ihre Sicherheit verloren hatte.

»Haben Sie den Strauß wirklich weggeworfen?« fragte sie.

»Natürlich. Ich muss doch Platz schaffen für den Samowar.« Er setzte sich, hob sein Glas und prostete ihr zu. »Ich glaube, der lässt sich trinken. Auf das Wohl der schönen klugen Bea!«

»Und auf das Wohl des eigenbrötlerischen Cäsar!« Als der längst vergessene Geschmack von weißem Burgunder sich in ihrem Mund entfaltete, ein Geschmack, der etwas Modriges hatte, etwas Dunkles, das sie an alte feuchte Kellergewölbe denken ließ und an Holzfässer, in denen seit Jahrhunderten der Wein gekeltert wurde, überkam sie ein lange nicht mehr erlebtes Gefühl der Geborgenheit.

»Gut?«, fragte Cäsar, der sie aufmerksam beobachtete. »Trinken Sie gleich einen zweiten Schluck. Man muss sich erst daran gewöhnen. Aber spätestens nach dem zweiten Glas wird man süchtig.«

»Und nach dem vierten Glas hat man einen schweren Kopf.«

»Nein, nein.« Cäsar schüttelte den Kopf. »Nach dem nicht. Den können Sie ohne Gewissensbisse trinken. Der macht Ihren Kopf höchstens klarer.« Er zwinkerte ihr zu. »Wenn das überhaupt noch möglich ist.«

»Ich glaube, Sie überschätzen meine Klugheit, lieber Doktor. Ich bin eigentlich eine kleine dumme Frau, die viel erlebt, aber nicht viel dazugelernt hat, fürchte ich.«

»Und wieso fürchten Sie das?«

»Weil ich …« Bea trank noch einen kleinen Schluck, dann lachte sie. »Nun, ich kann es Ihnen ja sagen: Weil ich auf dem besten Wege bin, mich hier in dieser Ecke rundum wohlzufühlen.«

»Das muss kein Fehler sein. Warten Sie erst einmal, bis der erste Gang kommt.«

Cäsar hatte sich eine dunkelblaue Kittelschürze umgebunden. Er schaute auf die Uhr.

»Ich glaube, ich sollte jetzt die Stopfleber in die Pfanne tun.«

»Kann ich Ihnen helfen?« Bea stand auf.

»Um Himmels willen! Nicht helfen. Das ist das Ärgste, was man einem Koch antun kann!« Er deutete auf das Bücherregal. »Da unten stehen die Platten. Und hinter der rechten Tür ist der Plattenspieler. Ein bisschen altmodisch das Ganze, heute zeigt man die Technik ja vor. Aber ich glaube, mein Plattenspieler ist gar nicht so schlecht. Suchen Sie uns eine schöne Tafelmusik aus. Ich glaube, von Bach ist auch was da.«

»Das wissen Sie noch?«, fragte Bea verblüfft.

»Natürlich.« Cäsar schaute sie an. »Ich habe nichts von dem vergessen, was ich über Sie erfahren habe. Nicht ein Wort.«

Bevor Bea erröten konnte, hatte er sich umgedreht und war in die Küche gestapft.

Bea schaute ihm nachdenklich hinterher. Okay, sagte sie leise zu sich selbst, lassen wir es laufen, wie es will. Warum nicht, wir sind schließlich beide erwachsen oder etwa nicht? Sie griff wahllos in die Reihe der aufgestellten Platten.

Idomeneo von Wolfgang Amadeus Mozart.

Bea überlegte. Sie trat in den Flur hinaus, die Platte in der Hand, und rief in Richtung der halbgeöffneten Küchentür, von wo das leise Zischen von heißem Fett zu hören war: »Mögen Sie Mozart?«

Cäsar Bansun steckte seinen Kopf durch die Tür. »Ich mag Sie«, sagte er. Und schon war sein Gesicht wieder verschwunden.

»Lieber Tristan,

mein innig verehrter Freund, wenn ich Ihnen schon wieder schreibe, dann deshalb, weil ich Ihnen danken möchte. Sie können nicht ahnen, wie sehr sich alles um mich herum verändert hat, seit ich weiß, dass es Sie gibt, und seit ich Sie in mein Herz schließen durfte als den ersten Mann in meinem Leben, dem ich vertrauen darf. Alles um mich herum ist plötzlich heller, alles ist weiter, leichter, und auch die Kinder, die mir anvertraut sind, spüren es wohl, denn sie sind seit einiger Zeit so viel fröhlicher, so viel unbeschwerter. Ich denke manchmal, dass ich Farben erkenne, die ich früher gar nicht sah, und Blumen entdecke, die mir bisher verborgen waren.

Ich könnte Ihnen noch von vielen anderen Empfindungen berichten, die neu für mich sind, von meinen Gefühlen für Sie, aber darf ich so weit gehen? Erschrecke ich Sie nicht vielleicht mit meinen Briefen, in denen ich mich Ihnen so rückhaltlos anvertraue? Ja, vielleicht ist es so, und vielleicht ist dies auch der Grund, warum ich Ihnen bisher nie nach Hause schreiben durfte, sondern postlagernd, warum ich Ihre Adresse nicht wissen darf. Gibt es ein Geheimnis, das Sie nicht verraten wollen? Sind es vielleicht Ihre Eltern, die dagegen wären, dass wir uns schreiben? Oder gibt es jemanden, der Ihnen nachspioniert? Oh, ich kann das alles verstehen, mein Tristan, wer wie ich in der Enge einer Kleinstadt lebt, in einem Haus, das angefüllt ist mit Gram und Verbitterung, Misstrauen und Moder, der kann alles verstehen! Wenn Sie es mir nur sagen würden, was es ist, Tristan! Wenn Sie mir nur diesen letzten kleinen Zweifel nehmen könnten! Sie werden jetzt vielleicht sagen, dass ich undankbar bin. Dass es keinen Grund gibt für einen Zweifel. Dass ich geduldig sein muss.

Aber wann sind Liebende je geduldig gewesen? Wann hat sich die Sehnsucht je bezwingen lassen? Und meine Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach einem Lächeln, das ich sehen, einem Gesicht, das ich fühlen, einem Körper, den ich riechen kann … o die ist so groß, mein Tristan! So unermesslich groß und wächst immer weiter und wächst und wächst und überwuchert alles in mir. Alles, was vorher da war, meine Liebe zu Büchern, meine Hingabe an die mir anvertrauten Kinder, das Glück langer Spaziergänge, Musik, alles ist verblasst, als habe es das nie gegeben, kein anderer Gedanke hat in meinem Kopf mehr Platz als der Gedanke an Sie, Tristan!

Gestern habe ich vor dem Spiegel gestanden und mir mein Gesicht angeschaut, nicht so flüchtig wie sonst, Tristan, nicht mit diesem hastigen Griff zur Puderquaste, um den Blutschwamm zu überdecken, gestern habe ich mein Gesicht lange ruhig angesehen und, Tristan, ich glaube, Sie werden nicht erschrecken, wenn Sie mich sehen, Tristan.

Wann können wir uns treffen? Wann endlich werden wir uns wirklich gegenüberstehen, uns in die Augen schauen und aus den Augen all das ablesen, was wir uns nicht zu fragen wagen? Wann? Wann?

Mein Herz brennt vor Ungeduld, es ist das Herz einer verliebten Frau, deren Beruf es ist, die Kinder fremder Leute zu hüten, und die zum ersten Mal daran denkt, wie es wäre, zu lieben, geliebt zu werden, und – wer weiß, vielleicht selbst einmal ein Kind zu haben, von dem Mann ihrer törichten Träume. Bitte, bitte, lieber Freund, seien Sie nachsichtig mit

Ihrer Gesine.«

DEN TRAUM NICHT AUFGEBEN

NACH JENER FRAU, DIE ER SOFORT HEIRATEN KÖNNTE, WILL EIN AN DER KÄLTE UND HÄSSLICHKEIT DER WELT LEIDENDER PROFESSOR AN NORDDEUTSCHER UNI, 40, 1,86, SCHLANK.

OBSCHON GUT AUSSEHEND UND BERUFLICH SEHR ERFOLGREICH, HAT ER BISHER KEIN GLÜCK GEHABT.

SIE SOLLTE VOR ALLEM EINE SCHÖNHEIT VON SELTENEM LIEBREIZ SEIN: GROSSE DUNKLE, LEUCHTENDE AUGEN IN EINEM VON LANGEM HAAR EINGERAHMTEN GESICHT MIT JENEM UNBESCHREIBLICH SCHMELZENDEN UMRISS DER WANGEN, DER SO BEZAUBERT WIE DIE MÄDCHENHAFT SCHLANKE FÜLLE IHRER FIGUR. BLEIBT SCHÖNHEIT ALS UNGEMEIN LIEBLICHES, SANFTES UND KLARES NUR EINE VERZWEIFELTE FIKTION DER LITERATUR GEGEN DAS LEBEN – ODER IST SIE IRGENDWO WIRKLICHKEIT, DIE NOCH KEINEN EHERING TRÄGT?

»Was lesen Sie da?«, fragte Botho neugierig. Er beugte sich über den Verkaufstisch und versuchte, die auf dem Kopf stehende Schrift zu lesen.

Bea legte lachend die Zeitung zur Seite. »Jetzt haben Sie mich wirklich ertappt«, sagte sie fröhlich, »bei meinem alten sentimentalen Spiel.« Schnell legte sie die Hand auf die Seite.

»Lassen Sie mich raten.« Botho legte den Zeigefinger gegen die Nasenspitze und schnellte ihn dann vor. »Sie lesen die Heiratsanzeigen in der Zeitung!«

»Richtig, ich bekenne mich schuldig.« Bea schaute Botho einen Augenblick prüfend an, so, als wäge sie ab, ob man einem Mann wie Botho dieses Geheimnis anvertrauen könnte. Ob er intelligent und erfahren genug wäre, in dieser Handlung das Spielerische zu erkennen.

Botho Fuchs kam nicht allzu oft in ihren Laden. Wenn er kam, war es meist am Beginn eines neuen Schulsemesters, und er gab Bea eine Liste mit jener Lektüre durch, die er im neuen Semester mit seinen Klassen durchnehmen würde. Anschließend schaute er sich immer noch ein wenig im Laden um, nahm ein paar Bücher aus den Regalen, wahllos, wie Bea schien, mal Bildbände niederländischer Maler oder italienischer Architektur, dann wieder schaute er sich in jenem Regal um, über das Bea den Zettel Frauen-Literatur geheftet hatte.

Bea hatte Botho oft beobachtet, wenn er mit dem Fahrrad, eine Baskenmütze auf dem Kopf, durch die Hauptstraße fuhr. Auf dem Gepäckträger einen jener kleinen Metallkörbe, die man in Supermärkten zum Einkaufen bekommt, in diesem Korb transportierte er Schulbücher und Klassenhefte, manchmal auch das Picknick, wenn er an Samstagen nach Bernried ins Moor fuhr. Jetzt, als er sie dabei ertappt hatte, wie sie die Heiratsanzeigen las, fragte sie sich, ob Botho eigentlich glücklich war, so als Junggeselle und Untermieter mit wenig Rechten, als einsamer Mann, der im Anklunger Hof sein Bier an dem kleinen Ecktisch neben dem Kachelofen trank, niemals belästigt von anderen Zechern. Wie er versuchte, die Einsamkeit dadurch zu vertuschen, dass er im Anklunger Kreisblatt las, einer Zeitung, die an einem hölzernen Haltegriff immer neben den Mänteln an der Garderobe hing, ein wenig zerfleddert, die Kreuzworträtsel immer schon mit einem dicken grünen Filzstift ausgefüllt.

»Darf ich mal sehen?«, fragte Botho neugierig. Er drehte die Zeitung herum und studierte die Anzeigen. Bea konnte in seinem Gesicht, das er dicht über die Zeitung senkte, keine Regung erkennen, sie wusste nicht, ob es ihn interessierte oder ob er sich darüber mokierte, dass sie ausgerechnet den Heiratsteil der Zeitung studiert hatte. Schnell legte sie ihren Finger auf ein großes, mit dickem schwarzem Strich hervorgehobenes Inserat. »Hier«, sagte sie, »darüber habe ich mich gerade amüsiert …«

»Lassen Sie mal sehen: Den Traum nicht aufgeben nach jener Frau, die er sofort heiraten könnte, will ein an Hässlichkeit und Kälte der Welt leidender Professor …« Botho sah auf. Er zwinkerte Bea zu. »Hei, das klingt gut, oder? Ein Professor, der an der Hässlichkeit und Kälte der Welt leidet, das ist hübsch, wirklich …« Er beugte sich wieder über die Seite. »Heute«, sagte Bea, »ist das die beste Anzeige. Die anderen sind nur mittelmäßig. Das Niveau der Texte in den Heiratsannoncen ist sehr unterschiedlich. Wissen Sie, ich suche immer nach den kleinen Leckerbissen, den kleinen Schmuckstücken darunter. Es gibt wirklich sehr schöne Angebote. Da kann man beinah schwach werden.«

Botho warf ihr einen langen Blick zu. »Meinen Sie das ernst?«

»Ja. Ganz ernst. Wirklich. Ich lese diese Anzeigen und vergleiche die Angebote mit den Erfahrungen, die ich gemacht habe. Und dann denke ich immer: Die Männer, mit denen ich verheiratet war, die hätten das nicht so formulieren können. Die hätten das auch gar nicht gewollt. So viel Gefühl und Füreinander und Miteinander und so. Da ging das noch alles nach dem alten Pascha-Prinzip.«

»Sie waren oft verheiratet?!«, fragte Botho.

»Dreimal. Und zweimal so gut wie. Das waren die schlimmsten Fälle.« Bea lachte. »Sie haben mich wahrscheinlich für so eine grau Maus gehalten, die ihre Wünsche und menschlichen Gefühle unter lauter staubigen Büchern verbannt hat …«

»Ganz im Gegenteil. Nein wirklich: ganz im Gegenteil. Ich habe immer gedacht, wenn ich mir die Frauen von Anklung angeschaut habe, dass Sie wahrscheinlich die Interessanteste sind. Die Frau mit Vergangenheit.«

»Lieben Sie das? Frauen mit Vergangenheit?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Wissen Sie, Frauen sind mein Thema. Es zieht mich an. Ich bin unter Frauen groß geworden. Ich glaube, ich kenne mich mit Frauen besser aus als mit Männern. Deshalb kann ich auch Männergesellschaften nicht ertragen …«

»Frauengesellschaften aber auch nicht, weil Sie sie so gut kennen, oder?«

»Stimmt«, sagte Botho. Er lächelte unsicher. »Stimmt wirklich. Halten Sie das für ein Problem?«

»Ich weiß nicht. Muss nicht unbedingt sein. Wenn Sie das irgendwie anders ausgleichen können, ich meine, wenn sich das nicht zu einem Komplex ausweitet …«

Botho legte plötzlich die Hand schwer auf die Zeitung. »Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis, Bea, das kein Mensch in Anklung kennt. Können Sie Geheimnisse für sich behalten?«

Bea lächelte amüsiert. »Ich glaube nicht, dass man mich in Anklung für schwatzhaft hält.«

»Also gut. Ich kenne den Mann, der die Texte zu jenen Annoncen schreibt, die Ihnen so viel Vergnügen bereiten.«

»Den Professor?«, fragte Bea verblüfft, »den Mann der an der Hässlichkeit und Kälte der Welt leidet?«

»Genau den. Und ich kenne auch die kleine schlanke Lehrerin, die diesen Sommer nicht mehr alleine durch die Butterblumenwiesen gehen und an klaren Bergbächen sitzen möchte. Die sich einen Mann wünscht, auch mit Kind, der sie an seine feste Hand nimmt und mit sich fort in sein Heim trägt. Die kenne ich auch.«

Bea starrte Botho an. »Ich verstehe nicht … ich meine, wo ist da …«

»Der Zusammenhang, meinen Sie?« Botho wurde immer lebhafter. Die Idee, endlich einmal in diesem kleinen verschlafenen Ort seine Maske abnehmen zu können, erheiterte ihn ungemein. Was hatte er schon davon gehabt, jahrelang anonym, ohne öffentlichen Beifall, die herrlichsten poetischen Ergüsse per Telefon an die Zeitung nach Hamburg durchzugeben? Was hatte er davon gehabt, außer einmal monatlich einen Scheck, der unpersönlich und kommentarlos von der Buchhaltung abgeschickt und kommentarlos von seiner Bank verbucht wurde? Jetzt endlich würde es einen Menschen geben, der seinen Geist, seine Fantasie, seine Einfühlsamkeit zu würdigen wüsste. Jemand, den er besuchen könnte und fragen: Wie finden Sie die Anzeige rechts oben? Kleiner Prinz sucht seine Rose?

»Den Zusammenhang«, Botho strahlte Bea an, »kann ich Ihnen mit einem Satz erkären: Ich habe diese Texte geschrieben. Ich, Botho Fuchs, 32 Jahre alt, Gymnasiallehrer von Anklung.«

Bea schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ist nicht möglich«, murmelte sie, »das kann ich mir nicht vorstellen … das ist ja verrückt … ganz und gar verrückt … dann gibt es diese Leute also in Wirklichkeit gar nicht? Dann sind das alles Fantasiefiguren?«

»Oh, nicht alle, selbstverständlich. Sie müssen davon ausgehen, Bea, dass die langweiligen Anzeigen echt sind. Nur die kleinen hübschen Essays, die sind von mir.« Er kicherte. »Von den Honoraren hab ich mir übrigens den Katamaran gekauft, im Frühjahr. Ich könnte Sie mal einladen zu einem Segeltörn, wenn Sie Lust haben …«

Bea schüttelte wie benommen den Kopf. »Darüber kann ich jetzt gar nicht nachdenken. Sagen Sie mir lieber die Wahrheit: Haben Sie die Anzeigen wirklich geschrieben?«

»Großes Ehrenwort, Madame!«

»Aber warum? Ich verstehe nicht wieso. Ich meine …«

»Das ist doch ganz einfach. Schauen Sie mal, Sie sind das beste Beispiel. Eben haben Sie mir gesagt, dass Sie die Seiten mit den Heiratsannoncen immer lesen. Und warum lesen Sie sie? Weil Sie dringend einen Mann suchen? Doch wohl nicht. Sie können doch wohl auch ohne Anzeige einen Mann finden, wenn Sie wirklich wollen.«

Beas Gesicht überzog sich mit einer flüchtigen Röte. Sie musste an Cäsar Bansun denken und an das, was er an jenem Abend zu ihr gesagt hatte, als er das erste Mal gewagt hatte, sie zu berühren, so, wie ein Mann eine Frau berührt, die er begehrt …

Botho beobachtete sie. Er sah aus, als könne er Gedanken lesen, und Bea dachte, vielleicht kennt er die Frauen wirklich so gut, dass er ahnt, woran ich jetzt denke. Schnell schob sie den Gedanken an Cäsar weg.

»Ich lese die Anzeigen«, sagte Bea, »weil es mich amüsiert. Weil es mich unterhält. Ich denke immer, ich erfahre auf diese Weise, was die Menschen wirklich bewegt, wovon sie träumen, wonach sie sich sehnen. All das, was kein Schriftsteller so je zu Papier bringen würde.«

»Richtig!« Botho strahlte. »Sie passen genau in das Konzept, Bea! Für Leute wie Sie sind diese Seiten gemacht. Wenn die in Hamburg auf mich hören würden, dürfte über diesen Seiten nicht das Wort Heiraten stehen, sondern Feuilleton. Gibt es eine bessere Unterhaltung? Nennen Sie mir eine Seite, die dem Wunsch der Leser nach einem Blick durchs Schlüsselloch in das Labyrinth unserer Einbildungen mehr entgegenkommt.«

Bea holte tief Luft. »Unfassbar«, sagte sie, »wirklich unfassbar. Und ich habe das alles für bare Münze genommen. Zum Beispiel diese Anzeige …« Sie stockte plötzlich und schaute Botho argwöhnisch an. »Kennen Sie eigentlich unsere Kindergärtnerin?«

Botho witterte Gefahr. Beas Ton hatte sich verändert. »Die Kindergärtnerin?«, wiederholte er, um Zeit zu gewinnen.

»Ja, genau. Gesine Lukas heißt sie, 25 Jahre ungefähr, glatte braune Haare, schlank, mit so einem Muttermal im Gesicht, die Arme …«

Botho fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er war nicht sicher, wie er reagieren sollte. Im ersten Augenblick drängte ihn die Eitelkeit, die Frage zu bejahen. Ja, natürlich, die Gesine! Auch sie ist eine treue Leserin. Sie hat sogar auf eines meiner – wie soll ich es nennen – kleinen Märchen geschrieben, und jetzt haben wir einen lebhaften Briefwechsel. Die kleine Kindergärtnerin und der Dozent an der Uni. Ich könnte Ihnen mal ihre Briefe zeigen, Sie würden staunen, was so alles in dieser kleinen Person steckt …

Aber er sagte es nicht. Er war auf der Hut.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete er ausweichend, »ich habe mich noch nie für den Kindergarten interessiert. Sie segelt nicht vielleicht?«

»Nein, sie segelt nicht.« Beas Stimme war jetzt härter. Es hatte sich etwas verändert zwischen ihnen, Botho fühlte es, aber er konnte es nicht genau erklären.

»Ich hoffe nur«, sagte Bea langsam, »dass die Anzeige, auf die Gesine geantwortet hat, nicht auch eine Erfindung ist. Hier in diesem Geschäft, genau an diesem Platz, wo Sie jetzt stehen, hat Gesine gestanden, und wissen Sie, was ich ihr gesagt habe? Ich sagte: Schauen Sie mal, was für Leute da schreiben. Was für Leute da nach einem Partner suchen. Und Gesine hat sich dann die Zeitung gekauft …«

Botho lachte. Es klang gekünstelt, und er spürte es. Da lachte er noch ein bisschen lauter. »Sie sollen unsere Gesine nicht aufklären über das, was ich Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit erklärt habe. Wir wollen niemandem seine schönen Träume nehmen, nicht wahr?« Botho ging zum Regal und nahm ein Buch von Simone de Beauvoir heraus.

Wieso gerade die?, dachte Bea unruhig, warum die Beauvoir? Gerade jetzt? Oder war das wieder einmal so ein wahlloser Griff, so ein taktisches Manöver, um von sich abzulenken, von dem wahren Botho Fuchs?

Er zahlte und wartete, bis sie das Taschenbuch in eine Papiertüte gesteckt hatte. Dann sah er sie noch einmal verschwörerisch, aber auch bittend an. »Und es bleibt unser Geheimnis, nicht wahr?«

Bea nickte. Zerstreut schaute sie ihm nach, wie er seine Baskenmütze zurechtsetzte, das Fahrrad aus dem Ständer nahm, es über die Straße schob und dann mit gebeugtem Rücken davonradelte.

»Wie merkwürdig«, murmelte sie. »Wie verrückt.«

Sie setzte sich hin, nahm die Zeitung und las alle Heiratsannoncen noch einmal nacheinander sorgfältig durch, bis ein Anruf der Gemeindebibliothekarin sie in ihren Gedanken unterbrach.

»Geliebter,

Sie treiben ein Spiel mit mir, nicht wahr? Sie verstecken sich vor mir, Sie beobachten mich durch Jasminbüsche, hören mich sprechen, schauen, wie ich gekleidet bin und was für eine Frisur ich habe, mit einem Wort: Ich bin Ihnen ausgeliefert wie eine Puppe im Schaukasten, die ihre Betrachter nicht kennt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, lieber Tristan, was ich empfunden habe, als ich Ihren Brief bekam. Natürlich war es auch eine Freude, so wie jede Zeile von Ihnen eine Freude, wie ein Sonnenstrahl am Morgen ist. Ach, was erzähle ich Ihnen, mein Freund, warum schütte ich mein Herz wieder einmal aus und weiß doch nichts von Ihnen?

Sie haben keine einzige meiner Fragen beantwortet, Tristan. Warum darf ich nicht Ihre Adresse wissen? Warum sind Sie so geheimnisvoll? Lassen Sie mich raten: Sie lieben das Spiel, nicht wahr, Sie lieben den Reiz des Verborgenen, des Verschleierten. Vielleicht ergeht es mir ähnlich: Vielleicht habe auch ich Angst vor dem Augenblick, wo wir uns gegenüberstehen, wo wir wie ganz normale Leute miteinander sprechen werden. Wo wir unsere Gefühle aus Mitleid oder Sorge oder Angst verbergen! Ich möchte mit Ihnen kein Versteckspiel treiben, Tristan. Ich möchte immer ehrlich zu Ihnen sein, ich möchte eine Verbindung, die auf nichts anderem als auf Lauterkeit, Reinheit und Ehrlichkeit aufgebaut ist. Wie schwer mir das alles fällt, Tristan. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Angst ich vor dem ersten Treffen habe! Was werden Sie zu meinem Kainsmal sagen? Zu diesem Muttermal in meinem Gesicht? Ich fürchte, der Fleck wird durch die Aufregung, von der Hitze in meinem Körper noch ärger sein als je zuvor! Ich würde so gerne schön sein für Sie, Tristan! Ich möchte das Leuchten in Ihren Augen sehen, jenes Leuchten, das schöne Frauen immerzu in den Augen der Männer erleben können. Weil man sie begehrt. Aber darauf kommt es ja gar nicht an, nicht wahr? Die Schönheit – Sie haben es in Ihrer Annonce ja so unübertrefflich formuliert, muss im Herzen stattfinden. Nur da ist die wahre Schönheit, weil sie aus der Seele kommt. Ach, mein Bester, wie ich mich danach sehne, Sie endlich zu fühlen, zu hören, zu spüren. Ich glaube, der Mensch ist zum Alleinsein nicht gemacht. Wozu gäbe es denn sonst die großen Oden der Liebe? Woher beziehen alle antiken Tragödien und Dramen ihre Spannung? – Doch aus der Sehnsucht des Menschen nach Liebe, nicht wahr? Und daher habe ich auch keine Scheu, Ihnen zu sagen, dass mein Körper voller Ungeduld ist, meine Seele voller Sehnsucht, mein Herz voller Süße. Ich glaube ganz sicher, mein Geliebter, dass alles gut ist, wenn wir uns treffen. Ich glaube, nein ich weiß, dass unsere Körper sich ebenso finden werden, wie sich unsere Seelen bereits gefunden haben. Ich möchte mich Ihnen hingeben, lieber Freund, ich möchte die Arme ausbreiten, die Augen schließen, die Lippen öffnen und einfach nur sagen, nimm mich. Nimm alles von mir, mein Geliebter. Und ich sage Ihnen: Die erste Stunde unserer Liebe wird schöner, größer, göttlicher und wilder sein als alles, was wir bislang darüber gelesen haben. Sie wissen nicht, was eine Frau vermag, deren Körper so lange auf die Erfüllung warten musste.

Ach, ich möchte Ihnen noch so vieles schreiben, ich bin angefüllt mit Glück, mit Spannung, mit Erwartung und Freude. Wann sehen wir uns? Wann? Wann? Wann?

Lassen Sie meine Ungeduld nicht noch größer werden, spannen Sie mich nicht noch mehr auf die Folter!

Voll tiefster Liebe Ihre Gesine«

»Du schreibst schon wieder einen Brief?« Die Tante war unbemerkt in Gesines Zimmer gekommen.

Gesine hatte weder das Aufsetzen des Stockes noch das Knarren der Diele gehört. Die Tante stand jetzt, die Hände schwer auf die Rückenlehne von Gesines Stuhl gestützt, und beugte sich neugierig vor.

»An wen schreibst du denn immerzu?«

Gesine warf sich mit dem ganzen Oberkörper über die Tischplatte, um den Brief zu verdecken.

»Was geht es dich an?«, fragte sie gereizt. »Darf ich nicht schreiben, an wen ich will?«

»Natürlich darfst du. Habe ich dir je Vorschriften gemacht? Habe ich mich je dafür interessiert, an wen du schreibst?«

Gesine angelte nach einem Buch und legte es auf den beschriebenen Briefbogen. »Nein«, sagte sie, während sie sich zu ihrer Tante umdrehte und ihr in die Augen sah, »du hast dich nicht dafür interessiert, weil ich früher niemanden hatte, an den ich schreiben konnte.«

»So. Und jetzt hast du also jemanden.«

»Allerdings.«

»Wie schön. Sollte es sich dabei womöglich sogar um einen männlichen Briefpartner handeln?«

Gesine nickte.