CARRIE FIRESTONE

ALS WIR UNENDLICH WURDEN

Aus dem Amerikanischen
von Ulrike Köbele

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Carrie Firestone
arbeitete zunächst als Highschool-Lehrerin in New York, bevor sie sich 2014 ihren Traum vom Schreiben erfüllte. Obwohl sie heute mit Mann und Tochter in einer Vorstadt in Connecticut, USA, lebt, ist sie eindeutig ein Stadtmensch. Wenn sie gerade nicht schreibt, stiftet sie Leute zu einer Polonaise an, geht ins Kino oder überlegt sich Dinge für ihre Unbedingt-noch-machen-Liste. »Als wir unendlich wurden« ist ihr Debütroman.

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»The Loose Ends List« bei Little, Brown and Company.
Copyright © Carrie Firestone, 2016

1. Auflage 2016
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Köbele
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, Garbsen.
Cover: Maggie Edkins unter Verwendung von
Illustrationen von © shutterstock.com
ISBN 978-3-401-80534-4

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Für die ungeahnten Revolutionäre
Für die Mutigen
Und die Weltveränderer

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Ich habe den Tod mit meinen Fingerspitzen berührt. Er war nicht kalt oder hart, wie ich immer gehört hatte. Ich wusste, was auf mich zukam, bevor ich ihn berührte.

Er hinterließ ein wildes Sammelsurium verrücktester Gegenstände: eine Trompete, einen Saphir, ein Buch von Jules Verne, eine Makrone, ein Sorgenpüppchen, eine Schneekugel und 531 Flaschenpostflaschen. Das waren bei Weitem nicht alle Gegenstände, aber diese mochte ich am liebsten.

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Als Gram anruft, drücke ich sie weg. Lizzie und ich sitzen bei Starbucks und warten darauf, dass Kyle und Ethan vom Lacrosse-Training kommen. In der Zwischenzeit arbeiten wir an unseren Unbedingt-noch-machen-Listen und kommen dabei gerade so richtig in Fahrt.

Ich scrolle durch meine, während Lizzie ihren Strohhalm in einem weiteren Glas Eistee versenkt. Für Mai ist es unangenehm heiß.

Eins. Geld von meinem Rettungsschwimmer-Job für einen Roadtrip sparen.
Letztes Jahr habe ich mein gesamtes Geld für eine bescheuerte Designertasche aus dem Fenster geschmissen, deren Innenseite inzwischen komplett mit Tinte versaut ist.

Zwei. Mit jeder der »Is« einen Tag nur zu zweit verbringen.
Ich liebe meine drei engsten Freundinnen heiß und innig, aber diese Mädels kleben aneinander wie Kotze an einem Klodeckel. Das Geschnatter, das ewige Drama und die unterschiedlichen Ansichten können einen echt auf die Palme bringen.

Drei. Kochen lernen, damit ich wenigstens ein einziges Gericht so perfekt hinkriege, dass ich selbstständig überleben kann.
Mom backt zwar ständig, aber sie kocht nicht. Und Dads Thanksgiving-Menüs sind echt fantastisch, aber sonst gibt es bei uns fast jeden Abend Hummus und Linsenchips. Ich möchte, dass mein Onkel Wes ein Menü zusammenstellt und mir dann Schritt für Schritt beibringt, wie man es zubereitet.

Vier. Ein neues Sternbild entdecken.
Dad, Jeb und ich beobachten den Sternenhimmel schon, seit Dad uns in sein Sweatshirt eingekuschelt wie kleine Beuteltierbabys mit nach draußen geschmuggelt hat. Jeb betrachtet gerne die Sterne, weil er ein Kiffer ist. Mir gefällt es, weil ich die große Weite mag. Außerdem ist es das Einzige, was ich mit Dad gemein habe.

Sosehr sich meine Freundinnen auch über mein Hobby lustig machen: Die Astronomie hat mir letzten Winter geholfen, während einer Schlittenfahrt Ethan klarzumachen. Ich habe eine wohlbekannte Schwäche für Teamkapitäne und hatte schon ein Auge auf Ethan geworfen, seit er Lizzies ach-so-tollem Kyle den Titel als Kapitän des Lacrosseteams vor der Nase weggeschnappt hat. Ich sprang hinter Ethan auf den Schlitten, woraufhin wir prompt in einer Schneewehe landeten. Kurzerhand schlang ich meine Beine um ihn und brach die Stille mit einem beherzten »Guck mal, der Große Wagen. Cool, oder?«. Als er hochsah, drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange.

In jener Nacht musste ich ihm ganze vier weitere Sternbilder zeigen, bevor er mich küsste. Er schmeckte nach Bier und Kaugummi mit Wassermelonengeschmack, aber ich hatte mir Ethan, den heißesten Teamkapitän von allen, gekrallt.

Fünf. In einer Wochenend-Marathonsitzung noch mal die ganzen Filme aus den Achtzigern gucken.
Am liebsten mit Abby, weil sie außer mir die einzige ist, die gerne tonnenweise Junkfood in sich hineinstopft, ohne sich darüber zu beschweren, wie fett sie davon wird.

Gram ruft erneut an.

»Ist bloß meine Oma«, sage ich. »Wahrscheinlich steht sie gerade in irgendeiner Boutique. Sie hasst mein Kleid für den Abschlussball und wird so lange nicht lockerlassen, bis sie ein besseres gefunden hat.« Ich nehme einen Schluck von meinem Chai-Eistee. »Okay, ein paar Punkte hab ich noch, die ich gerne abhaken würde. Und zum Abschluss machen wir dann was richtig Großes.«

»Ist ein Roadtrip etwa nicht groß genug?« Lizzie musste bei unserem kolossal gescheiterten Roadtrip letzten Sommer ebenfalls passen, nachdem ihr Vater das mit dem Oben-ohne-Selfie rausbekommen hatte. Gram sagt immer, Lizzie überlasse nichts der Fantasie, was ich schon ein starkes Stück finde, wenn man bedenkt, dass es aus dem Mund einer älteren Dame mit einer ganzen Bibliothek von VHS-Pornovideos kommt.

Sechs. Irgendwo in Connecticut ein Autokino auftreiben und mir im Schlafanzug einen Film ansehen.
Das gedenke ich, mit meinen Freundinnen zu machen, denn Ethan würde nur wieder versuchen, mit mir zu poppen.

Sieben. Mit Ethan poppen.
Das erste Mal war eine Katastrophe. Ethan hatte einen »kleinen Unfall«, kaum dass wir in seinem Bett lagen. Ich will nicht allzu sehr ins Detail gehen, aber es war eklig und die Tatsache, dass er sich danach fünftausend Mal entschuldigt hat, machte es auch nicht besser.
Am Ende war ich so genervt, dass ich einfach abgehauen bin. Mit dem Resultat, dass er jetzt verunsichert ist und ständig behauptet, es sei bloß passiert, weil ich so hübsch bin.

Sosehr er mir manchmal auch auf die Nerven geht, habe ich doch beschlossen, vorläufig mit Ethan zusammenzubleiben. Er ist nun mal ein festes Mitglied in meinem Freundeskreis und es wäre viel zu anstrengend, ihm den ganzen Sommer aus dem Weg gehen zu müssen.

Acht. Auf das Leben in der Großstadt vorbereiten.

Mein Handy vibriert. Gram.

»Gott, meine Oma kann beim Shoppen echt aufdringlich werden.« Ich drücke sie erneut weg.

»Sie ist so lustig«, schwärmt Lizzie. »Meine Oma guckt immer nur Glücksrad. Wenn sie mal ganz abenteuerlustig drauf ist, geht sie in einen anderen Laden einkaufen.«

»Tja. Wenn meine Oma abenteuerlustig drauf ist, kriecht sie in irgendeinem wilden Urwald durch den Schlamm«, erwidere ich. »Du solltest mal ihren Freund sehen. Denny ist so alt wie meine Mom und trägt Diamantringe an beiden kleinen Fingern.«

»Ich kann Männer, die Schmuck tragen, nicht ausstehen«, verkündet Lizzie.

»Der Typ ist stinkreich, ein richtiger Diamantenscheißer. Hey, eigentlich kein schlechter Name für ihn.« Ich schnappe mir Lizzies Handy. Ihre Liste ist ziemlich einfallslos. Lernen, wie man einen Kurzen ext. Fünf Kilo abnehmen.

»Lizzie, das ist doch nur eine simple To-do-Liste. Du bist so langweilig.«

»Maddie, ich versuche schon seit Monaten, einen Kurzen anständig auf ex zu kippen. Mir kommt das Zeug jedes Mal zur Nase raus. Meine Sauftechnik muss unbedingt perfektioniert werden.«

»Okay, dann streich wenigstens Fünf Kilo abnehmen. Du bist sowieso schon superschlank, damit verschwendest du nur Platz für was richtig Gutes.«

»Hey, du hast Haare färben auf deine Liste gesetzt. Das ist auch nicht besser.«

»Ich hab’s wieder gestrichen. Für New York brauche ich aber echt einen markanteren Look. Ich hatte an ein kräftiges Rotblond gedacht.« Ich drehe meine unbezähmbaren Korkenzieherlocken zu einem Knoten zusammen.

»Bloß nicht. Das macht dich total blass. Mein Stylist sagt: blaue Augen, helle Haut, dunkle Haare. Bleib bei Braun.«

»Dein Stylist lebt in Connecticut«, kontere ich. Mein Handy vibriert erneut; eine SMS von Gram. MUSS AUF DER STELLE MIT DIR REDEN. DRINGEND. Mir rutscht das Herz in die Hose. Gram hat mir noch nie eine SMS geschrieben. Ich renne nach draußen, um sie zurückzurufen.

»Gram, was ist los?«

»Jetzt rufst du mich nicht mal mehr zurück? Bist du inzwischen zu beliebt, um dich mit deiner Großmutter abzugeben?«

»Du hast mich erschreckt. Du schreibst sonst nie SMS.«

»Du bist ja nicht ans Telefon gegangen. Zufällig weiß ich, dass das Ding praktisch an dir festgewachsen ist.«

Mein Herz hämmert immer noch wie verrückt. »Mach so was nie wieder, okay?«

»Also, was hattest du gerade so Wichtiges zu tun?«, erkundigt sich Gram.

»Ich hab an meiner Unbedingt-noch-machen-Liste gefeilt.«

»Was ist eine Unbedingt-noch-machen-Liste? Klingt faszinierend.«

»Das ist eine Liste mit Dingen, zu denen ich in der Highschool nicht gekommen bin, die ich aber unbedingt noch machen will, bevor ich aufs College gehe.«

»Zum Beispiel einen Blowjob?«

»Oh mein Gott, Gram. Du bist echt ekelhaft.«

»Schön, dass wir das geklärt haben. Ich möchte, dass ihr heute Abend um Punkt sieben bei mir vorbeikommt.«

»Aber es ist Freitag. Ich muss alle zu einer großen Party fahren.« Gram weiß, dass ich als einzige Nichttrinkerin auf ewig dazu verdammt bin, meine betrunkenen Freundinnen in einem babyblauen Minivan durch die Weltgeschichte zu kutschieren.

»Schätzchen, ich muss euch etwas Wichtiges sagen und ich möchte, dass die ganze Familie dabei ist. Dann muss halt mal jemand anderes deine tussigen Cheerleaderfreundinnen fahren.« Ihre Stimme klingt ungewohnt dringlich.

»Du machst mich ganz nervös.« Gram ist jederzeit für eine Überraschung gut, aber normalerweise platzt sie damit heraus, bevor überhaupt so etwas wie Spannung entstehen kann.»Hast du Mom schon angerufen?«

»Ich hab mit deinem Vater gesprochen. Er sagte, sie würden kommen. Ich musste ihn mit indischem Essen und Theaterkarten bestechen, den alten Schnorrer.« Gram hält Dad für einen verschrobenen, sozial inkompetenten Schmarotzer, der ihrer Meinung nach nur deswegen bei Mom landen konnte, weil diese über die emotionale Widerstandskraft eines neugeborenen Pandababys verfügt.

Womit sie nicht ganz unrecht hat.

Nur gut, dass ich nie wirklich auf meine Eltern angewiesen war. Sie sind fürs Sternegucken und Schuhekaufen da, um den Rest kümmert sich Gram. Wir gehen shoppen, besuchen Restaurants und Museen, unternehmen hammermäßige Ausflüge und lernen berühmte Leute kennen. Einmal hat Gram, nur um meinen Vater zu ärgern, einen ihrer Freunde aus dem Vorstand des örtlichen Planetariums überredet, Jeb und mir eine Privatvorstellung zu geben.

Gram hält immer, was sie verspricht. Also werde ich ihr kleines Spielchen mitspielen und zu ihrem Überraschungstreffen gehen.

»Na gut, Gram. Ich komme. Gibst du mir einen kleinen Hinweis?«

»Nein.« Sie legt auf.

»Ich muss in die Stadt.« Ich schnappe meine Sachen und umarme Lizzie zum Abschied.

»Warte, was ist denn los?« Lizzie hält mich an meinem T-Shirt zurück.

»Meine Oma will uns irgendetwas Wichtiges mitteilen. Ich hab die Befürchtung, dass sie sich mit dem Diamantenscheißer verlobt hat.«

»Warum musst du deswegen in die Stadt? Zu der Party kommen selbst die Leute vom College«, jammert Lizzie. »Kommst du wenigstens später noch dazu?«

»Ich hab keine Ahnung, wann ich zurück bin. Das hier ist selbst für ihre Verhältnisse bizarr.«

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Zu Hause stoße ich auf Rachel, meine Nachbarin und ehemals beste Freundin, die in unserem Wohnzimmer sitzt und fernsieht. Unsere Mütter sind schon befreundet, seit wir kleine Würmchen in ihren Bäuchen waren. Mom verbringt ihre Nachmittage meistens drüben bei Rachel zu Hause. Sie trinkt, während Bev isst. Die beiden akzeptieren einander so, wie sie sind, und genießen ihre gemeinsame Zeit auf der dunklen Seite des Hausfrauendaseins, indem sie zusammen Cocktails trinken beziehungsweise Cupcakes essen und sich aufgezeichnete Folgen der Today-Show ansehen.

Meine Freundschaft mit Rachel geriet in der vierten Klasse langsam in Schieflage. Meine Barbies vertrugen sich einfach nicht mit Rachels Lego. Dabei gaben wir uns wirklich Mühe. Wir bauten sogar eine Lego-Jacht für die Barbies, aber sie fühlten sich darin einfach nicht wohl.

In der siebten Klasse hatte ich schließlich Lizzie, Remy und Abby gefunden. Wir stylten uns wie Barbies und nannten uns die Is, weil unsere Namen von der Aussprache her alle auf einem I endeten. Wir chatteten stundenlang, übernachteten beieinander, lernten zusammen und tauchten gemeinsam auf allen Partys auf.

Eine Rachel passte nicht zu den Is.

Unsere Mütter waren natürlich am Boden zerstört. In ihren Augen war ich eine hochnäsige Zicke und Rachel das arme, ausgeschlossene Opfer. Daher setzten wir uns eines Nachmittags zu ihnen, als sie bereits eine ordentliche Ladung Gin und Bananenbrot intus hatten, und erklärten ihnen die Situation.

»Mom«, begann Rachel, »ich bin kein Opfer. Ich habe Freunde. Die meisten von ihnen sind Jungs, aber das liegt daran, dass Jungs die Einzigen sind, die was mit meinen Computerspielen anfangen können. Maddie und ich müssen jetzt erst mal getrennte Wege gehen. Wir werden immer Freundinnen bleiben, aber unsere Interessen divergieren einfach zu stark.«

»Gut erklärt, Rach«, stimmte ich ein.»Ich verspreche, dass wir irgendwann auch wieder revergieren …«

»Konvergieren«, korrigierte Rachel.

»Dass wir irgendwann auch wieder konvergieren, wenn wir erwachsen sind und Kinder haben und unsere eigenen Interessen keine Rolle mehr spielen.« Damit war die Sache geklärt. Wir hängen immer noch zusammen rum, aber halt nicht mehr in der Öffentlichkeit. Rachel ist ebenfalls eine Sternenguckerin, weil sie total auf Star Trek abfährt und ständig auf der Suche nach außerirdischen Lebensformen ist.

»Rach, Gram ist mal wieder auf ihrem Mystery-Trip.« Sie sieht von ihrer Schachtel Donuts auf. »Sie will, dass wir uns heute alle bei ihr versammeln, weil sie uns irgendetwas verkünden will.«

»Vielleicht lässt sie sich ja ein neues Tattoo stechen.« Rachel kennt Gram.

»Ich hoffe nicht. Ich hab sie vor ein paar Wochen getroffen und ihr Seepferdchen sieht aus, als hätte es jemand mit einer Fliegenklatsche zu Brei gehauen.«

Dad kommt aus dem Keller. »Astrid möchte, dass wir in zwei Stunden bei ihr sind. Ich vermute mal, sie will ihre Verlobung mit diesem Denny bekannt geben.«

»Ist das der mit den Ringen?« Rachel wackelt vielsagend mit ihren kleinen Fingern.

»Ich tippe auch auf Verlobung«, erwidere ich. »Übrigens nenne ich ihn ab sofort nur noch Diamantenscheißer. Könnt ihr euch die Hochzeit vorstellen? Wer von den beiden kriegt wohl den fetteren Klunker?«

Mom kommt in einem makellos gebügelten Kleid nach unten, das Gesicht perfekt geschminkt.

»Hier, Rachel, bring die bitte Bev mit.« Mom schießt ein Foto von ihren Zimtbrötchen für ihre Pinterest-Seite und wickelt das Tablett dann mit Frischhaltefolie ein.

Ich schreibe den Is: FAMILIENNOTFALL. KANN HEUTE NICHT FAHREN. VERSUCHE, SPÄTER NACHZUKOMMEN. Den Sturm der Entrüstung, der gleich darauf losbricht, drücke ich weg. Meine Freundinnen sind es nicht gewohnt, dass ich kurz vor einer Party kneife. Wegdrücken. Wegdrücken. Wegdrücken. Die Is sind wie eine Schar kopfloser Hühner.

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Jeb wartet in der Lobby von Grams Haus auf uns. Er ist in seinem zweiten Jahr an der Pratt, einer Kunsthochschule in Brooklyn, wo er den ganzen Tag wütende Musik hört und düsteren Scheiß malt. Mit seiner Skinny-Jeans und den silbernen Ohrringen sieht er total bescheuert aus.

In der Stadt ist es sogar noch heißer als bei uns draußen, sodass mein Dad noch verschwitzter und zerzauster aussieht als sonst. Mom drückt Jeb eine überquellende Tüte mit Lebensmitteln in die Hand und wirft sich ihm an den Hals, als käme er gerade von einem langen Militäreinsatz zurück.

»Mom, lass das. Wir haben uns letzte Woche erst gesehen.« Jeb hat wenig Geduld für Mom. Dabei sollte er wirklich netter zu ihr sein, schließlich verbringt die Frau ihr halbes Leben damit, Plätzchen für ihn zu backen.

»Wir freuen uns auch, dich zu sehen, Jeb«, sagt Dad.

Moms Schwester, Tante Mary, stößt mit den Zwillingen Brit und Janie dazu. Meine Cousinen haben gerade das erste Jahr am College hinter sich. Brit ist eine verwöhnte, weinerliche Stubenhockerin, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hat, als Janie und mir im Netz nachzuspionieren. Janie ist Ehrenmitglied der Is, zum einen wegen ihres Namens und zum anderen, weil sie wirklich lustig und aufregend urban ist.

»Ich schätze, Mutter bekommt nicht genug Aufmerksamkeit«, mosert Tante Mary. Wir zwängen uns in den Aufzug. Tante Mary ist wie eine dreißig Jahre ältere Version von Brit. Die dunkle Wolke schlechter Laune, die sie umgibt, droht uns auf der Fahrt hinauf in Grams Penthouse beinahe zu ersticken. Ich kann es meinem Onkel nicht verübeln, dass er sie hat sitzen lassen.

Die Aufzugtür öffnet sich und wir finden uns in Grams elegantem, makellosem Wohnzimmer mit seinen weißen Möbeln und dem weißen Fußboden wieder. Die Wände, Regale und Tische sind mit farblich abgestimmten Erinnerungsstücken verziert, die Gram aus allen Ecken der Welt mitgebracht hat. Hinter jedem verbirgt sich ein anderes Abenteuer. Nur Astrid North O’Neill bringt es fertig, eine handgeschnitzte Schweizer Spieluhr mit einem argentinischen Peyote-Glas und einem chinesischen Orakelknochen zusammenzustellen, weil sie alle denselben Aubergineton haben.

Onkel Billy, Moms jüngerer Bruder, schenkt Weißwein aus. Sein Ehemann Wes erhebt sich vom Klavier.

»Sieh dich nur an, Kleines.« Wes küsst mich auf beide Wangen. Er ist groß, straßenköterblond und auf lässige Weise gut aussehend. Janie und ich haben nie ganz verstanden, wie sich Wes ausgerechnet in unseren Onkel, diese dürre, miesepetrige Brillenschlange, verlieben konnte.

»Wo ist Gram?« Ich drücke eine weitere Nachricht von Abby weg.

»Das wissen wir auch nicht. Titi sagt, sie kommt erst aus ihrem Zimmer, wenn alle hier sind«, antwortet Wes. Grams Haushälterin kommt mit einem Tablett voller Makronen aus der Vorratskammer. Tante Mary zieht sie beiseite und schimpft flüsternd auf sie ein. Titi schüttelt mehrmals den Kopf, dann stellt sie das Tablett mit den Plätzchen ab und flüchtet in die Küche.

Brit ist mit Simsen beschäftigt und zeigt Großtante Rose die kalte Schulter. Zugegeben, Tante Rose kennt nur ungefähr zehn Geschichten, die sie jedes Mal wieder erzählt, aber Brit könnte zumindest den Anstand aufbringen, so zu tun, als würde sie ihr zuhören.

»Ich nehme an, Diamantring-Denny ist noch nicht hier«, sagt Wes.

»Ich habe ihn in Diamantenscheißer umgetauft«, verkünde ich.

»Man sollte doch meinen, dass Billy in der Lage wäre, sich irgendetwas einfallen zu lassen, worüber er mit seiner verdammten Familie reden kann.« Wes deutet mit einem Kopfnicken auf Onkel Billy, der auf dem Klavierhocker sitzt und das Wall Street Journal liest. »Ich meine, er könnte es wenigstens versuchen. Guck dir nur mal an, wie eifrig Aaron Mary Honig ums Maul schmiert.«

Dad nickt zustimmend, während Tante Mary das Gesicht verzieht. Seine eigene Familie ist nicht der Rede wert – er war Einzelkind und seine Eltern sind bereits tot. Noch dazu waren beide ihr Leben lang eher menschenfeindlich eingestellt, sodass Dad seine weiteren Verwandten kaum kennt. Das hier ist also meine ganze Familie, ob es mir gefällt oder nicht.

»Was haltet ihr von Brits Outfit?«, erkundigt sich Janie und steckt sich eine Makrone in den Mund.

Wes lacht ein bisschen zu laut über Brits Kombination aus Hochwasser-Bundfaltenhose und metallisch glänzenden Römersandalen.

Titi läutet ein kleines Glöckchen und fordert uns auf, in die Bibliothek zu gehen. Sie schiebt das künstliche Bücherregal im Wohnzimmer beiseite. Dahinter kommt der Geheimgang zum Vorschein, in dem wir als Kinder so gerne Anne Frank oder Sklaven auf der Flucht gespielt haben. Ich folge Janie in die Bibliothek, wo Grams langjähriger Anwalt bereits auf uns wartet und umständlich mit einem Stapel Papier herumhantiert. Wir lassen uns auf den Stühlen nieder, die in einem Halbkreis vor dem Schreibtisch aufgebaut sind.

»Igitt.« Ich stupse Janie mit dem Ellbogen an und zeige auf die schuppige Glatze des Anwalts.

Gram tritt ein und nimmt hinter dem Schreibtisch Aufstellung. Sie hält einen Moment inne, um den Anblick ihrer gesamten um sie versammelten Familie in sich aufzunehmen.

»Also gut, Mutter, was gibt’s?«, bricht Tante Mary schließlich das Schweigen.

»Hallo, meine geliebte Familie. Danke, dass ihr alle gekommen seid.« Gram heißt uns willkommen, als würde sie eine Rede vor einer hochrangigen ausländischen Delegation halten.

»Wo ist Denny?«, fällt Tante Rose ihr ins Wort. »Ich hab gehört, ihr zwei werdet heiraten.«

»Ach, um Himmels willen, Rose.« Gram wirkt verletzt. »Ein bisschen mehr Geschmack könntest du mir schon zutrauen. Mit diesem Lackaffen bin ich bloß ausgegangen, weil ich über ihn an tolle Opernplätze gekommen bin. Nach Martins Tod habe ich dir doch gesagt, dass ich nie wieder heiraten werde, und dabei bleibt es auch.« Sie schüttelt den Kopf. »Und jetzt hört mir bitte alle zu. Ich habe euch aus einem bestimmten Grund hergebeten.«

»Aus welchem Grund?!«, ruft Tante Rose. Wes unterdrückt ein Lachen.

»Rose, lass mich ausreden.« Gram winkt ihren Anwalt zu sich. Sie hakt sich bei ihm unter. Neben ihrer zierlichen Gestalt erscheint er wie ein Leuchtturm.

»Also gut, los geht’s. Kinder, ich habe euch herbestellt, weil ich krank bin. Sterbenskrank, um genau zu sein. Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs und für den Fall, dass euch das nicht bekannt ist: Das ist einer von der schlimmen Sorte.«

Mein Magen krampft zusammen. In meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß und raubt mir den Atem.

Sämtliches Blut weicht aus Tante Marys Gesicht. »Warum erzählst du uns das so, auf diese Weise?«

»Mary, ich wollte es euch allen gleichzeitig sagen. Ich habe es selbst erst vor ein paar Wochen erfahren. Danach brauchte ich Zeit, um einige wichtige Entscheidungen zu treffen.«

Wir sitzen reglos da, bis Dad schließlich das Wort ergreift. »Na, Gott sei Dank befinden wir uns in der Stadt mit der besten medizinischen Versorgung der Welt«, verkündet er. »Wir beschaffen dir gleich diese Woche noch einen Platz im Sloan-Kettering-Center. Ein Freund von mir ist da Onkologe, und zwar einer der besten.«

»Ich möchte deinen Freund aber nicht konsultieren, Aaron. Würdet ihr mich jetzt bitte einfach sagen lassen, was ich euch mitteilen möchte?« Sie holt tief Luft und lächelt. »Ich habe eine Kreuzfahrt gebucht, für uns alle. Acht Wochen. Gleich nach Maddies Abschluss geht’s los.« Sie wendet sich an mich. »Ich arbeite übrigens immer noch daran, dir ein vernünftiges Kleid zu besorgen.«

Ich kann nicht sagen, ob sie Witze macht. Ob das alles hier bloß einer von Grams bizarren Scherzen ist.

»Mom, wir machen doch keine Kreuzfahrt! Wir müssen rausfinden, was für dich die beste Behandlung ist«, geht Onkel Billy dazwischen.

»Es gibt für mich keine gute Behandlung. Ich werde die letzten paar Monate meines Lebens nicht im Neonlicht eines Krankenhauszimmers verbringen, während mir die Chemo in die Venen sickert. Die Kreuzfahrt ist bereits gebucht, fertig, aus.«

»Wie kommst du darauf, dass wir alles stehen und liegen lassen können, um mit dir durch die Weltgeschichte zu schippern?« Tante Mary erhebt ihre kaltherzige Stimme. »Du hast ja den Verstand verloren.«

»Gut, mal sehen. Aaron ist Lehrer, Trish und du seid Hausfrauen – im weitesten Sinne des Wortes, möchte ich betonen – und die Kids haben Sommerferien. Wessy und Bill können ihr Geschäft eine Weile den Angestellten überlassen. Ich bin also bei ausgesprochen gutem Verstand, Liebes.«

Luft versucht, in meine Lungen zu strömen, aber sie kommt einfach nicht an dem Kloß in meinem Hals vorbei, der größer und größer wird.

»Bevor ich weitermache, hat Ralph hier ein paar Vertraulichkeitserklärungen, die ihr bitte unterschreibt. Titi, ich könnte eine kleine Makrone gebrauchen.«

»Mom, das ist doch absurd. Was für Dokumente?« Tante Mary ist mittlerweile zum Schreien übergangen. »Findest du nicht, wir sollten erst mal mit deinen Ärzten reden?«

»Mary, wann habe ich dich jemals um Rat gefragt, wenn es um meine Gesundheit ging?« Grams Stimme klingt so ruhig wie zuvor, aber man merkt, dass sie langsam ärgerlich wird. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht zu, wie Schuppenschädel die Unterlagen austeilt.

Mit Tränen in den Augen betrachte ich den Packen zusammengetackerter Papiere. Mein Magen rebelliert. Mit schlechten Nachrichten konnte ich noch nie gut umgehen. Als ich sieben war, musste ich mit ansehen, wie mein Jack-Russell-Terrier von den Rädern meines Schulbusses zermalmt wurde, als er auf die Straße rannte, um mich zu begrüßen. Danach musste ich eine ganze Weile in Therapie, bei einer Frau, die Handpuppen benutzte, um über den Tod zu reden. Einige Monate darauf starb Dads Mutter, aber aus irgendeinem Grund ließ mich das völlig kalt. Sie war streng und ein bisschen gemein gewesen und hatte immer nach altem Fett gerochen. Die Puppenfrau meinte, dass ich wahrscheinlich nicht richtig um sie trauern könne, weil ich noch nicht über den Tod meines Hundes hinweg sei.

Dann, als ich vierzehn war, hatte Grandpa Martin einen Herzinfarkt und starb in seinem Golfwägelchen, zwanzig Minuten nachdem wir uns ein Thunfischsandwich geteilt hatten. Ich war so traumatisiert, dass ich mich weigerte, zu seiner Trauerfeier zu gehen.

Das alles war furchtbar. Aber das hier ist meine Gram. Sie sollte mir bei meinem Start an der NYU helfen, mit mir brunchen gehen und meine zukünftigen Collegefreunde zu Dinnerpartys einladen. Sie sollte mich eines Tages zum Altar führen und für mich exotische Flitterwochen planen.

Erst habe ich das Gefühl, als müsste ich mich jeden Moment übergeben, doch dann fange ich bloß an zu weinen. Ich kann nichts dagegen machen. Es tut so weh. Das dämliche Dokument verschwimmt vor meinen Augen und die Tränen tropfen ungehemmt auf das Papier. Ich senke den Kopf, sodass meine Haare mein Gesicht bedecken, die Papiere und überhaupt alles.

»Oh, Maddie, Schätzchen.« Gram kommt zu mir herüber. Janie bricht ebenfalls in Tränen aus. »Ach, meine Mäuse.« Gram geht vor uns auf die Knie. Ich konzentriere mich auf ihre Hand, auf die blauen Adern, die unter ihrer wächsernen Haut hervortreten, und ihre Nägel, die wie immer makellos rot lackiert sind. Ihr geliebter Saphir, groß wie ein Vogelei, wirkt plötzlich seltsam fehl am Platz an dieser Hand, die schon bald tot sein wird.

Am anderen Ende des Raumes stößt Mom ein furchterregendes Keuchen aus.

»Ach herrje, Trish hyperventiliert.« Gram steht auf.»Titi, bitte bring meinen Kindern ein paar Cocktails. Ich bin alt, Leute. Da gehört der Tod nun mal dazu.«

Es dauert zwanzig Minuten, bis Janie und ich uns wieder einigermaßen unter Kontrolle haben. In meinem Bauch herrscht wie immer das reinste Chaos. Mom genehmigt sich einen Drink. Onkel Billy genehmigt sich einen Drink. Wes hält Onkel Billys Hand und liest sich das Dokument durch. Tante Mary und Brit haben die Arme vor der Brust verschränkt und ihre sauertöpfischsten Mienen aufgesetzt. Tante Rose fragt Dad, ob er ihren Ehemann Karl kennt. Jeb stiert vor sich hin. Schuppenschädel isst eine Makrone.

Mein Handy vibriert auf meinem Schoß. OMG, ABBY HAT MIR AUF DEN FUSS GEPINKELT. ETHAN IST AUF ABWEGEN. HIER SIND SOOOOOO VIELE HEISSE COLLEGEJUNGS. WO ZUR HÖLLE STECKST DU? Ich kann mich jetzt nicht mit Remys Nachricht befassen.

Gram kehrt auf ihren Platz hinter dem Schreibtisch zurück und räuspert sich. »Okay, wo war ich?«, sagt sie. »Ach ja, richtig: Ich werde sterben. Und ich will euch auf eine Kreuzfahrt mitnehmen. Keine Sorge, das ist keins von diesen billigen Dingern mit All-you-can-eat-Büfett. Es ist ein wirklich schönes Schiff, tipptopp und hochmodern. Und alle Passagiere dort sind entweder Leute, die bald sterben, oder deren Begleitung.«

»Das ist ja furchtbar, Astrid«, bemerkt Tante Rose.

»Nein, Rose. Es ist kein bisschen furchtbar. Wir, die Sterbenden, dürfen die gesamte Reise planen. Wir dürfen alles so gestalten, dass wir uns unsere letzten Wünsche erfüllen können. Vielleicht haken wir auf dieser Reise ein paar letzte Dinge ab, die wir unbedingt noch machen wollen, oder ergänzen unsere Herzenswunschliste um ein paar neue Punkte.« Gram zwinkert mir zu. Ich ringe mir ein krampfiges Lächeln ab. »Und das Beste kommt erst noch: Während wir auf hoher See sind, werde ich mich irgendwann, wenn ich so weit bin, in meine private Kabine zurückziehen, wo mir ein speziell ausgebildeter Arzt eine Dosis Kalium zusammen mit einem Beruhigungsmittel spritzen wird. Dann werde ich friedlich einschlafen und ihr hinreißenden Menschen werdet mir das letzte Geleit geben.«

»Oh mein Gott, Gram. Langsam machst du mir echt Angst.« Janie schlägt die Hände vors Gesicht.

»Es gibt überhaupt keinen Grund, Angst zu haben«, beschwichtigt Gram. Ich packe Janies schwitzige Hand. »Nachdem ich mir meine letzten Wünsche erfüllt habe, werden sie mich in einen Sack stecken und im Meer versenken. Ohne irgendwelche bescheuerten lebensverlängernden Maßnahmen, die einem jedes Recht auf Selbstbestimmung nehmen. Ohne Schmerzen. Sterben mit Würde, so wie es sein sollte.«

»Mom, so was wie eine ›Sterben-mit-Würde-Kreuzfahrt‹ gibt es nicht. Du bist ja vollkommen wahnsinnig geworden. Aaron, bist du zufällig auch mit einem erstklassigen Psychiater befreundet?« Onkel Billy wird ganz rot im Gesicht.

»Ralph, würden Sie diesen Sturköpfen alles Weitere erklären? Ich bin erschöpft.«

Alle wenden sich Schuppenschädel zu. Er tritt einen Schritt vor. »Bitte seien Sie nachsichtig, Herrschaften, ich bin hier bloß der Überbringer der Botschaft. Astrid hat Ihnen tatsächlich Plätze auf einem Schiff gebucht, das auf die Versorgung Sterbender spezialisiert ist. So gesehen handelt es sich in der Tat um eine Sterben-mit-Würde-Kreuzfahrt; das ist Teil einer Art Untergrundbewegung. Glauben Sie mir, für mich ist das auch alles Neuland.« Ralph legt eine Pause ein, um den Papierstapel fein säuberlich auszurichten. »Die Verschwiegenheitserklärung dient auch Astrids Schutz, denn sie hat diese Bewegung bereits seit einigen Jahren unterstützt und würde ihren Anteil daran gerne geheim halten.«

»Wovon reden Sie da überhaupt?«, blafft Tante Mary. »Drücken Sie sich gefälligst verständlich aus, Ralph. Soll das heißen, es gibt Schiffe, auf denen Menschen umgebracht und über Bord geworfen werden? Und Mom hat das alles finanziert?«

»Nicht über Bord, Mary. Es gibt eine putzige kleine Tür, durch die sie einen hinabgleiten lassen. Sei nicht so melodramatisch.« Gram geht um den Schreibtisch herum und stellt sich neben Ralph. »Ich hatte das Privileg, meine Freundin Ruth auf ihrer Kreuzfahrt begleiten zu dürfen. Wir haben eine aufregende Reise um das Horn von Afrika unternommen.«

»Du hast gesagt, Ruth hätte in der Drive-through-Schlange bei McDonalds einen Herzinfarkt erlitten«, wirft Mom ein.

»Das war ihr Alibi. Meins wird selbstverständlich ein bisschen ausgefeilter sein. Das wär’s dann also. Ich habe eine großartige ›Astrids-letzte-Reise-Überraschungskreuzfahrt‹ für uns gebucht, Kinder. Seid ihr dabei oder nicht? Ich muss das heute Abend noch wissen.«

»Was wird das kosten?«, will Tante Mary wissen.

»Ah, natürlich geht es Mary mal wieder ums liebe Geld.« Onkel Billy reißt entnervt die Arme hoch.

Tante Mary funkelt ihn böse an. »Das ist ja wohl eine berechtigte …«

»Keine Ahnung.« Gram schneidet Tante Mary das Wort ab. »Viel. Aber macht euch keine Sorgen, es wird immer noch jede Menge übrig bleiben, das ihr nach Herzenslust verprassen könnt, wenn ich tot bin. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, ich muss mich ein bisschen ausruhen.« Gram verschwindet durch den Geheimgang.

»Gut gemacht, Mary«, schimpft Mom. »Weißt du, was? Vielleicht geht es hierbei ja ausnahmsweise mal nicht um dich. Vielleicht ist es Mutter ernst damit.«

»Ach, halt doch die Klappe, Trish. Ich glaube immer noch nicht, dass sie wirklich sterben wird. Sie ist eine Dramaqueen, das ist alles. Lass es dir gesagt sein: Ich nehme an keiner Sterben-mit-Würde-Kreuzfahrt teil. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie das wirklich vorhat.«

Mom schüttelt wütend den Kopf. »Nein!«, brüllt sie. »Diesmal nicht, Mary. Es geht immer nur um dich, um dein Leben, um deine Probleme, um alles, was Mary Unannehmlichkeiten beschert. Hör endlich auf damit, wenigstens dieses eine Mal. Vielleicht stirbt sie, vielleicht auch nicht: Wir werden jedenfalls tun, worum sie uns bittet.« Dad schlingt die Arme um Mom und bedeckt ihr Gesicht mit Küssen.

»Kotz.« Janie wendet sich von dem Anblick ab.

»Wem sagst du das«, flüstere ich.»Aber es freut mich für Mom, dass sie ihr die Stirn geboten hat.« Mit einem Kopfnicken deute ich auf Tante Mary, die stocksteif dasitzt und stur geradeaus blickt.

»Was sollen wir in der Zeit mit dem Geschäft machen?« Onkel Billys Gesicht ist immer noch gerötet.

»Da finden wir schon eine Lösung. Donna kann so lange übernehmen«, schlägt Wes vor. »Und für die Küche suchen wir uns halt einen Übergangskoch. Das wird schon, Billy. Wir müssen einfach tun, worum Assy uns gebeten hat.« Wes ist der Einzige, der Gram Assy nennen darf.

Brit kauert vornübergebeugt auf ihrem Stuhl und tippt mit finsterer Grimasse auf ihrem Handy herum.

»Brit, setz dich doch zu uns«, lade ich sie ein.

»Nein danke, Maddie. Musst du nicht zu einer Party?«, fragt die Onlinestalkerin.

»Hast du nicht gehört, was Gram gesagt hat? Sie wird sterben, Brit. Gram wird sterben.« Janies Wimperntusche ist über ihr gesamtes Gesicht verlaufen. Ich schnappe mir ein Papiertaschentuch vom Schreibtisch und tupfe die schlimmsten Spuren weg. Janie war schon immer die hübscheste von uns Cousinen. Sie sieht aus wie ihr Dad: blond, süß und skandinavisch. Brit hingegen hat ausschließlich Tante Marys Hässlicher-Troll-Gene geerbt.

Früher war ich neidisch auf die Zwillinge, weil sie nur zwei Blocks von Gram entfernt wohnten. In ihrem Vorratsschrank standen immer leckere Snacks für die beiden bereit und an Schultagen kochte Titi für sie das Abendessen. Bitte lass mich bei dir wohnen, flehte ich Gram an. Ich werde mich auch nicht so anstellen wie die Zwillinge. Ihre Antwort war immer die gleiche: Das würde deinen Eltern nicht besonders gefallen.

Stimmen in verschiedensten Lagen schwirren durch den Raum, durchmischt mit einigen gepfefferten Kraftausdrücken. Geweint wird nicht mehr. Alle sind zu sehr damit beschäftigt, sich zu beklagen.

Ich fühle mich, als würden wir bereits seit Stunden auf diesen Klappstühlen hocken. Janie zieht mich zu sich und flüstert: »Wie zur Hölle willst du diese Kreuzfahrt überstehen? Du hältst es ja noch nicht mal aus, im selben Raum wie Opas Asche zu sein.«

Grandpa Martin wurde verbrannt wie ein überdimensioniertes Marshmallow. Danach musste ich wieder zur Puppenfrau, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass seine Asche in Grams Wohnung stand. Ich hatte panische Angst davor, dass irgendjemand versehentlich die Urne umstoßen und die Überreste meines ruhigen, rotgesichtigen Opas, der Golf und Whisky und irische Musik liebte, auf dem Fußboden verstreuen würde.

»Wir haben nun mal keine Wahl, Janie. Oder? Ich meine: Hast du eine bessere Idee?« Der Kloß ist aus meinem Hals weiter in meinen Bauch gerutscht. Das beklemmende Gefühl ist kaum noch auszuhalten.

»Warum muss Gram auch immer so übers Ziel hinausschießen?«, fragt Janie.

»Jetzt klingst du wie deine Mutter.«

»Sag das nie wieder.«

Die Haupttür zur Bibliothek öffnet sich. Vor uns steht Titi in Begleitung eines Mannes, den ich noch nie zuvor gesehen habe.

»Das ist definitiv nicht Titis Ehemann.« Wes stößt mir seinen Ellbogen in die Rippen.

»Nein. Keine Ahnung, wer das ist«, flüstere ich. Titis Ehemann bin ich schon mal begegnet. Joe sieht aus wie eine männliche Version von Titi: klein und untersetzt, mit einer dicken Brille und orthopädischen Schuhen. Dieser Kerl ist groß, breitschultrig und schon ziemlich alt, vielleicht Anfang achtzig. Außerdem hat er die längsten grau melierten Dreadlocks, die ich je gesehen habe. Er trägt ein figurbetontes weißes T-Shirt und olivgrüne Armeehosen, dazu Ledersandalen und Ringe mit Türkissteinen, die ihm überraschenderweise sogar irgendwie stehen. Eine seltene Ausnahme der Männer-mit-Schmucksehen-bescheuert-aus-Regel.

Mr Dreadlock nickt uns allen zu und setzt sich dann in der Nähe von Schuppenschädel auf den Schreibtisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Gram gefallen würde, wenn ein x-beliebiger Fremder sich auf ihrem importierten Mahagonieschreibtisch mit Goldbeschlägen niederließe.

Gram kommt zurück. Wahrscheinlich stand sie die ganze Zeit im Geheimgang und hat heimlich an der Tür gelauscht. Sie sieht so normal aus mit ihren perfekt sitzenden Jeans, ihrer kurzen Lederjacke und der doppelreihigen Perlenkette. Wie kann sie da Krebs haben?

»Wie sieht’s aus?«, erkundigt sie sich. »Wer kommt mit, wer nicht? Ich habe viel zu tun, also lasst uns das jetzt klären.«

»Wer ist der Schwarze?«, platzt Tante Rose heraus.

Wes sieht mich an, grinst und formt ein tonloses Oh. Mein. Gott.

»Erkennst du ihn denn nicht? Ist wohl schon zu lange her. Das ist Bob Johns, Rose.«

Tante Rose kneift die Augen zusammen, als könne sie sich dadurch leichter erinnern. »Bist das wirklich du, Bob? Meine Güte, du bist so stattlich wie eh und je«, sagt sie. »Was um alles auf der Welt hat Bob Johns hier zu suchen?«

Mr Dreadlock springt vom Schreibtisch, zieht Tante Rose von ihrem Stuhl und schließt sie in eine überschwängliche Umarmung. Tante Rose kichert und drückt ihm unbeholfen einen Kuss aufs Kinn.

»Wer zur Hölle ist Bob Johns?«, flüstern Wes und Janie gleichzeitig.

Ich zucke mit den Schultern.

»Leute, das ist Mr Robert Amos Johns, die Liebe meines Lebens.« Gram deutet mit einer ausholenden Geste auf ihn, als wäre er ein Zauberer und sie seine Assistentin, und sieht zu seinem dreadlockgerahmten Gesicht auf.

»Sehr lustig, Astrid. Du zündest ja echt ein ganzes Witzefeuerwerk heute«, bemerkt mein Dad.

»Nichts da. Das ist kein Witz. Bob ist die Liebe meines Lebens.« Gram nimmt einen Schluck von Onkel Billys Drink.

Janie kneift mir ins Bein.

»Mom, hör jetzt auf. Wir haben schon genug zu verdauen«, zischt Tante Mary mit zusammengebissenen Zähnen.

»Hi, Leute«, sagt Bob Johns. »Ich denke, das war vielleicht nicht der beste Abend, um Sie alle kennenzulernen.« Er spricht mit leichtem Akzent und einem tiefen Bariton in der Stimme.

»Bob wird uns begleiten«, verkündet Gram und gibt Bob einen Klaps auf den Rücken.

»Das reicht.« Tante Mary packt Brits Arm. »Kommt nicht infrage, Mom. Das ist doch lächerlich. Dad war die Liebe deines Lebens. Dad. Erinnerst du dich?« Sie hält kurz inne, als wolle ihr Körper eigentlich gerne bleiben, sie es ihm aber nicht gestatten. »Komm, Jane.«

Gram geht zu Tante Mary und stellt sich vor sie. Sie legt ihr die Hände auf die Schultern und sieht hoch in ihr kreuzunglückliches Gesicht. »Meine lustige kleine Mary Mae. Es ist okay, wenn dir das nicht gefällt«, sagt sie, als hätte sie Tante Marys Reaktion bereits vorausgeahnt und die Antwort darauf hundertmal geübt. »Ich liebe dich trotzdem. Ich habe dich immer geliebt. Und ich werde dich immer lieben.«

Gram wendet sich an Brit, die aussieht, als müsse sie gleich kotzen. Ich kann nicht erkennen, ob sie traurig oder wütend ist. »Und dich liebe ich auch, meine süße Maus.« Gram streicht Brit eine Strähne hinters Ohr und lächelt. Brit bringt es nicht über sich, Gram in die Augen zu sehen.

Tante Marys Lippe zittert heftig. Sie bedeutet Janie, endlich aufzustehen.

»Ich fahre mit«, verkündet Janie, als sie ihren Platz verlässt und sich zu Brit gesellt.

»Schluss damit, Jane«, knurrt Tante Mary.

Tante Mary und Brit stürmen hinaus. Janie umarmt Gram, bevor sie ihnen folgt. »Wir sehen uns auf See«, sagt sie zum Abschied.

»Lass dich nicht unterkriegen!«, rufe ich ihr nach. Was auch immer das heißen soll.

Wir sind alle müde. Gram erzählt uns, wie sie Bob in einem Jazzclub begegnet ist, wo er Trompete gespielt hat, und dass sie ihre Beziehung vor Grams spießigen Eltern und dem Rest der rückwärtsgewandten Welt der 1940er geheim halten mussten. Ich sehe zu, wie sich ihre Lippen bewegen, und frage mich, wie der Krebs in ihr wohl aussieht. Das hier ist bloß ein Traum. Bald wache ich auf und sie ist wieder gesund.

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Es ist neun Uhr abends, aber es fühlt sich an wie Mitternacht.

»Schön, Sie kennenzulernen, Alter.« Jeb schnappt sich seine Futtertüte und verabschiedet Bob Johns mit gereckter »Black Power«-Faust. »Gram, mail mir den Plan.« Mir fällt auf, dass Jeb die ganze Zeit über kein einziges Wort gesagt hat, was für ihn allerdings auch nichts Ungewöhnliches ist. Mom sagt immer, wir sollen ihn in Ruhe lassen, weil er introvertiert ist und seine Kraft aus einem ruhigen Fleckchen in seinem Inneren zieht, was sie absolut nachvollziehen kann. Ich glaube ja, dass er seine Kraft eher aus Farbdämpfen und saugutem Gras zieht.

Unser Abschied besteht aus einer Reihe von unbeholfenen Umarmungen, verunglückten Küssen und etwas Small Talk. Wie verabschiedet man sich aber auch nach so einem Abend? Als sich die Aufzugtür öffnet, drehe ich mich noch einmal um. Gram steht da, Arm in Arm mit Bob Johns. Die beiden lächeln und winken, als würden sie das schon seit sechzig Jahren so machen.

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Ich fahre unseren Minivan zurück nach Connecticut, während meine Eltern eng aneinandergekuschelt auf der Rückbank sitzen. Mom erzählt mit ihrer Babystimme, wie geschockt sie ist, und Dad massiert ihr den Nacken und faselt endlos von seinem Onkologen-Freund. Ich beschließe, sie zu Hause abzusetzen und noch auf die Party zu gehen.

Als ich endlich dort ankomme, sind bereits alle im Pool.

Remy kommt angerannt und wirft sich mir an den Hals. Sie ist kalt und nass, was sich ziemlich eklig anfühlt, mich aber auch aus meiner Trance weckt. Es ist schön, in meinen Normalzustand zurückkehren zu können.

Gestern noch war alles perfekt. Ich habe meinen Erste-Hilfe-Kurs für meinen Job als Rettungsschwimmerin absolviert und mir die Nägel machen lassen. Dann habe ich Ethan bei seinen Mathehausaufgaben geholfen, wir haben ein bisschen rumgemacht und Pizza gegessen und zu guter Letzt habe ich mich noch um meine Sommergarderobe gekümmert. Ich wünschte, ich hätte diesen Tag mehr genossen.

Jetzt gerade könnte ich eine Umarmung gebrauchen.

Ich bekomme eine Nachricht von Janie. MOM & BRIT GEHEN DEF. NICHT MIT AUF KREUZFAHRT. DANKE, LIEBER GOTT!

Ich suche die Menge auf und ab schwappender Köpfe nach Ethan ab. Keine Ahnung, wann oder wie ich ihm mitteile, dass ich den gesamten Sommer weg sein werde.

Ich entdecke seine gelbe Baseballmütze, die in der Ferne vor und zurück wippt. Auf den ersten Blick sieht es aus, als würde er tanzen. Dann erkenne ich den unförmigen Kopf von Zehntklässler-Ellie, die ungefragt auf jeder Party auftaucht. Sie ist nicht süß. Ihr Kopf hat die Form einer Ananas. Mein Freund macht auf seine unverwechselbare Art – mit diesem übermäßigen Kopfeinsatz – mit Zehntklässler-Ellie rum. Mein Hirn ist außerstande, diese kleine Überraschung auch noch zu verarbeiten.

Ich ziehe mich in die Dunkelheit hinterm Gartenhäuschen zurück, um mich zu sammeln. An jedem anderen Abend hätte ich diese Tussi von meinem Freund weggerissen und so laut Ethan ist ein Zufrühkommer gebrüllt, dass alle es mitbekommen hätten. Aber das hier ist nun mal kein Abend wie jeder andere. Das hier ist der schlimmste Abend meines Lebens.

Warum bin ich überhaupt nach Hause gefahren? Ich hätte bei meiner Gram bleiben sollen.

Ich luge hinter dem Gartenhäuschen hervor und entdecke Ethan und Ananas zusammen auf einer Gartenliege, wo sie irgendetwas aus roten Bechern trinken. Remy und Abby rennen Hand in Hand genau an ihnen vorbei; wahrscheinlich auf dem Weg, sich wieder gegenseitig auf die Füße zu pinkeln. In dem Moment geht mir ein Licht auf. Ethan braucht diese Trulla, um sein armseliges Ego zu streicheln.

Ich schleiche mich ans andere Ende des Pools und zerre Lizzie von Kyle runter. Sie sieht mich verwirrt an, aber ich werfe ihr unseren speziellen Blick für absolute Notfälle zu und sie folgt mir widerstandslos. Ich zeige auf Ethan und Ananas. Lizzie macht den Anschein, als wolle sie ihnen am liebsten die Augen auskratzen. Im Bruchteil einer Sekunde hat sie nämlich kapiert, was das bedeutet: Schluss mit unseren Treffen bei Starbucks. Wir vier werden nie wieder zusammen ins Kino gehen und uns hinterher mit dem übrig gebliebenen Popcorn an den See setzen. Und auch keine Gruppenchats mehr, in denen wir unsere nächsten Pläne schmieden. Lizzies Leben wird nie mehr so sein wie zuvor.

»Ich hab die Schnauze voll, Lizzie.«

»Tritt diesem hässlichen Miststück in den Arsch. Wie kann sie es wagen, sich zwischen uns zu drängen?« Ich packe Lizzie am Arm und ziehe sie hinter mir her auf die beiden zu. Ananas wirft gerade ihr strähniges Haar zurück und lacht. Uns bemerkt sie nicht. Ich stehe direkt hinter ihr, als ich Abby und Remy ausmache, die direkt auf uns zurennen.

Ich tippe Ethan auf die Schulter. Er dreht sich um und zieht gleich darauf ein Gesicht, als sei er in eine Überraschungsparty geplatzt. Allerdings eine, bei der die »Überraschung« schreienden Gäste ausschließlich aus madenbedeckten Dämonen bestehen. Eigentlich müsste ich ihm jetzt eine reinwürgen, aber dafür mag oder hasse ich ihn nicht genug.

»Hey, Eth.« Ich lächle. »Hi, Ellie«, sage ich mit unerschütterlicher Leichtigkeit. Sie rühren sich nicht. »Wie ich sehe, lernt ihr euch gerade näher kennen. Das ist ein wirklich besonderer Moment. Ich wünsche euch alles Gute. Ich bin mir sicher, ihr werdet miteinander sehr glücklich.«

Dann mache ich auf dem Absatz kehrt, um Ethan gar nicht erst die Gelegenheit zu bieten, mich um Vergebung anzuflehen oder so was. Die nächsten zwanzig Minuten verbringe ich in einer Art Gruppenschwitzkasten, bis ich verspreche, noch mal verspreche und zu guter Letzt beim Leben meiner Familie schwöre, dass ich mich nicht wegen Ethan umbringen werde. Darauf lassen die Is mich schließlich los.

Ich schreibe den Abstinenzschwestern, die immer bereitstehen, wenn irgendjemand aus unserer Schule einen Fahrdienst benötigt, eine kurze SMS: BITTE KOMMT DIE IS ABHOLEN – ihr Sommer wird definitiv um einiges aufregender. Dabei stelle ich fest, dass ich drei ungelesene Nachrichten von Rachel habe: UND, WAS SIND DIE GROSSEN NEUIGKEITEN? WAS SIND DIE GROSSEN NEUIGKEITEN? und HALLLLOOOO? WAS SIND DIE GROSSEN NEUIGKEITEN? Ich schreibe zurück: DIESER ABEND WAR WIE EINE SUPERNOVA NACH EINER KERNSCHMELZE IN DER NACHT VOR DEN ABSCHLUSSPRÜFUNGEN, und mache mich vom Acker. In der Ferne verschmilzt der Partylärm meiner hundert engsten Freunde mit dem Dröhnen der Musik zu einem seltsam beruhigenden Hintergrundgeräusch.

Als ich in unsere Einfahrt biege, sitzt Rachel bereits vor der Haustür. Auf sie ist einfach immer Verlass.

»Was ist passiert?« Sie zieht die Frischhaltefolie von dem Tablett mit Moms Zimtschnecken und reicht mir eine Flasche Wasser, als ich mich neben sie plumpsen lasse.

Ich habe keine Ahnung, wie ich anfangen soll, also beschließe ich kurzerhand, auf die Vertraulichkeitserklärung zu pfeifen, und erzähle ihr alles. Anders als meine anderen Freunde urteilt Rachel niemals vorschnell. Sie ist die Einzige, die sich nicht über meine chronischen Verdauungsbeschwerden lustig macht. Oder mein Reizdarmsyndrom, wie Mom es gerne nennt. Sie kennt all meine kleinen und großen Schwächen, zum Beispiel, dass ich es supereklig finde, wenn jemand schlürft oder sich die Finger ableckt. Sie weiß, dass ich panische Angst vor dem Tod habe und auch schon allein vor der Vorstellung, dass jemand sterben könnte, und dass ich Krankenhausgeruch nicht ausstehen kann. Sie versteht auch, dass ich keinen Alkohol trinke, weil ich es hasse, wie Mom davon immer anfängt, zu lallen und wie eine Idiotin zu lachen.

Rachel ist meine Geheimnisträgerin.

»Und zur Krönung des Ganzen hab ich mir dank meinem blöden Reizdarmsyndrom schon wieder einen Tanga ruiniert«, schließe ich.

»Ich kapiere sowieso nicht, warum du dich mit den Dingern rumquälst«, ist alles, was sie dazu zu sagen hat.

Rachel reagiert auf die Nachrichten über Gram genau so, wie ich gehofft habe. Sie trauert mit mir. Die Is würden mich zwar auch irgendwie bedauern, aber sie kennen Gram einfach nicht so, wie Rachel sie kennt. Sie würden mir versichern, wie leid es ihnen tut, dass meine Oma krank ist, und dass es ihr bestimmt bald wieder besser geht, und dann nahtlos dazu übergehen, wie traurig sie sind, dass ich den ganzen Sommer weg sein werde, und das, wo es doch so ein wichtiger Abschnitt in der menschlichen Entwicklung ist: der Sommer zwischen Highschool und College.

»Weißt du schon, was du den anderen erzählen wirst?«

»Wahrscheinlich, dass wir spontan mit der ganzen Familie auf Kreuzfahrt gehen«, antworte ich. »Die sind ja schon dran gewöhnt, dass ich gelegentlich nach Bermuda abdüse.«

»Weißt du noch, als wir zehn waren und Gram mich mit nach Bermuda eingeladen hat?«, fragt Rachel. »Wir sind in diese unterirdischen Höhlen geklettert und an meinem Geburtstag hat sie mich mit einem Candlelight-Frühstück und Schokoladenkuchen am Strand überrascht.«