LINDA SUE PARK

DER LANGE
WEG ZUM
WASSER

EINE WAHRE GESCHICHTE

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von André Mumot

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2015

Copyright © 2010 by Linda Sue Park

Titel der Originalausgabe: A Long Walk to Water

Die Originalausgabe ist 2010 im Verlag Houghton Mifflin Harcourt, New York, erschienen.

© 2016 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Linda Sue Park

Übersetzung: André Mumot

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, Sandra Stefan, unter Verwendung von Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3-8458 - 1554-1

ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 1237-3

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Und wieder, für Ben

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

KAPITEL EINS

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL ZWEI

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL DREI

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL VIER

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL FÜNF

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL SECHS

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL SIEBEN

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL ACHT

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL NEUN

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL ZEHN

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan, 1985

KAPITEL ELF

Südlicher Sudan, 2008

Südlicher Sudan und Äthiopien, 1985

KAPITEL ZWÖLF

Südlicher Sudan, 2009

Flüchtlingslager Itang, Äthiopien, 1985

Sechs Jahre später: Juli 1991

KAPITEL DREIZEHN

Südlicher Sudan, 2009

Äthiopien – Sudan – Kenia, 1991–92

KAPITEL VIERZEHN

Südlicher Sudan, 2009

Flüchtlingslager Ifo, Kenia, 1992–96

KAPITEL FÜNFZEHN

Südlicher Sudan, 2009

Nairobi, Kenia – Rochester, New York, 1996

KAPITEL SECHZEHN

Südlicher Sudan, 2009

Rochester, New York, 1996 – 2003

KAPITEL SIEBZEHN

Südlicher Sudan, 2009

Sudan und Rochester, New York, 2003 – 2007

KAPITEL ACHTZEHN

Südlicher Sudan, 2009

Eine Nachricht von Salva Dut

Nachwort der Autorin

Danksagungen

Weitere Titel

Leseprobe zu "Das Schicksal der Sterne"

KAPITEL EINS

SÜDLICHER SUDAN, 2008

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Das Gehen fiel ihr leicht.

Noch enthielt der große Plastikkanister nur Luft und sie ging immer weiter. Da sie groß gewachsen war für ihre elf Jahre, konnte Nya den Griff mal in die eine, mal in die andere Hand nehmen, den Kanister neben sich hin- und herschwingen oder ihn in die Arme nehmen und vor dem Bauch tragen. Sie konnte ihn sogar hinter sich herschleifen, sodass er über den Boden rumpelte und bei jedem Schritt eine winzige Staubwolke aufsteigen ließ.

Schwer zu schleppen hatte sie nicht auf ihrem Weg. Schlimm war lediglich die Hitze, denn die Sonne brachte die Luft schon zum Kochen, obwohl es noch lange nicht Mittag war. Sie würde den halben Vormittag brauchen, wenn sie auf dem Weg keine Pause machte.

Hitze. Zeit. Und Dornen.

SÜDLICHER SUDAN, 1985

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Salva saß im Schneidersitz auf der Bank. Er schaute nach vorn, hielt die Hände gefaltet, den Rücken vollkommen gerade. Alles an ihm folgte aufmerksam dem Lehrer – abgesehen von seinen Augen und seinen Gedanken.

Immer wieder huschte sein Blick zum Fenster hinüber, hinter dem er die Straße sehen konnte. Die Straße, die nach Hause führte. Nur noch ein kleines Weilchen – noch ein paar weitere Minuten – und er würde diese Straße hinuntergehen.

Der Lehrer leierte seine Arabisch-Lektion herunter. Zu Hause sprach Salva die Sprache seines Dinka-Stammes. Doch in der Schule lernte er Arabisch, die offizielle Sprache der sudanesischen Regierung, die weit weg im Norden ihren Sitz hatte. Mit seinen elf Jahren war Salva ein guter Schüler und die Lektion von heute kannte er bereits. Deshalb ließ er seine Gedanken, seinem Körper voraus, die Straße entlangwandern.

Salva wusste genau, was für ein Glück es war, dass er zur Schule gehen konnte. Es war nicht möglich, dass er das gesamte Jahr über am Unterricht teilnahm, denn während der Trockenzeit zog seine Familie fort aus ihrem Dorf. Doch während der Regenzeit konnte er zu Fuß zur Schule laufen, die nur eine halbe Stunde entfernt von seinem Zuhause lag.

Salvas Vater war ein erfolgreicher Mann. Ihm gehörte eine große Viehherde, und im Dorf war er der Richter – eine ehrwürdige, angesehene Position. Salva hatte drei Brüder und zwei Schwestern. Mit zehn Jahren wurden die Jungen zur Schule geschickt, und so hatten Salvas ältere Brüder, Ariik und Ring, bereits vor ihm den Unterricht besucht. Letztes Jahr war es nun auch für ihn so weit gewesen. Seine zwei Schwestern, Akit und Agnath, gingen nicht zur Schule. Wie die anderen Mädchen im Dorf blieben sie zu Hause und lernten von ihrer Mutter, wie man den Haushalt führt.

Meistens freute sich Salva, dass er zur Schule gehen konnte. An manchen Tagen wünschte er sich allerdings, er wäre noch zu Hause und würde das Vieh hüten.

Zusammen mit den Söhnen von den anderen Frauen seines Vaters trieben er und seine Brüder die Herde zu den Wasserlöchern, wo die Rinder grasen konnten. Welche Aufgaben ihnen anvertraut wurden, hing von ihrem Alter ab. Salvas jüngerer Bruder Kuol zum Beispiel hütete nur eine einzige Kuh. Aber genau wie bei seinen Brüdern vor ihm würden es von Jahr zu Jahr mehr werden. In dem Jahr, bevor Salva zur Schule gekommen war, hatte er nicht nur bei der Aufsicht über die gesamte Herde geholfen, sondern auch noch auf seinen jüngeren Bruder aufgepasst.

Die Jungen mussten die Kühe im Auge behalten, aber eigentlich brauchte man sie nicht groß zu beachten. So war immer reichlich Zeit zum Spielen.

Oft formten Salva und die anderen Jungen Kühe aus Lehm. Je mehr Kühe man fertig hatte, desto reicher war man. Aber es mussten schöne, gesunde Tiere sein, und es dauerte eine ganze Weile, bis ein Klumpen Lehm wie eine anständige Kuh aussah. Die Jungen forderten sich stets gegenseitig heraus, wer die meisten und besten Kühe formen konnte.

Manchmal übten sie auch mit ihren Pfeilen und Bögen und schossen auf kleine Tiere oder Vögel. Noch waren sie nicht besonders gut darin, aber dann und wann hatten sie Glück.

Das waren die schönsten Tage. Und wenn es einem von ihnen tatsächlich gelang, ein Erdhörnchen oder ein Kaninchen zu erlegen, ein Perlhuhn oder ein Flughuhn, war es plötzlich vorbei mit dem ziellosen Herumgetolle und es gab viel zu tun.

Einige von ihnen sammelten Holz für ein Feuer, andere halfen dabei, dem Tier das Fell abzuziehen oder es zu rupfen. Dann steckten sie es auf einen Spieß und rösteten es über dem Feuer.

Leise ging das nicht vonstatten. Salva hatte seine eigene Vorstellung davon, wie das Feuer geschürt und wie lange das Fleisch geröstet werden musste, und die anderen ebenso.

»Das Feuer muss größer sein.«

»Das wird nicht lange genug brennen – wir brauchen mehr Holz.«

»Nein, das ist schon groß genug.«

»Schnell, dreh das Fleisch um, sonst ist es gleich hinüber!«

Die Säfte tropften und brutzelten. Ein köstlicher Geruch erfüllte die Luft.

Schließlich konnten sie keine Sekunde länger warten. Es war gerade genug da, damit jeder der Jungen ein paar Stückchen Fleisch abbeißen konnte, doch oh, wie köstlich waren diese Stückchen!

Salva schluckte und wandte seine Augen wieder dem Lehrer zu. Er wünschte, er hätte sich nicht an diese Zeiten erinnert, denn die Gedanken daran machten ihn hungrig … Milch.

Wenn er nach Hause kam, wartete schon eine Schale frischer Milch auf ihn, die seinen Bauch füllen würde bis zum Abendessen.

Er wusste genau, wie es sein würde. Seine Mutter würde gerade Mehl mahlen und dann aufstehen und vors Haus treten, wo sie die Straße sehen konnte. Sie würde ihre Augen mit einer Hand abschirmen und nach ihm Ausschau halten. Aus der Ferne würde er ihr helles, orangefarbenes Kopftuch sehen und seinen Arm in die Luft strecken, um ihr zuzuwinken. Und wenn er dann beim Haus ankam, würde sie schon wieder hineingegangen sein, um ihm seine Schale Milch bereitzustellen.

BANG!

Der Knall war von draußen gekommen. War das ein Schuss? Oder bloß die Fehlzündung eines Autos?

Der Lehrer verstummte für einen Augenblick. Im Klassenzimmer wandten sich alle Köpfe dem Fenster zu.

Nichts. Stille.

Der Lehrer räusperte sich, was die Aufmerksamkeit der Jungen wieder nach vorn zog. Er machte mit seinem Unterricht da weiter, wo er aufgehört hatte. Dann …

BAMM! Bumm-Bumm-Bang!

TACK-ACK-ACK-ACK-ACK-ACK!

Schüsse!

»ALLE AUF DEN BODEN!«, schrie der Lehrer.

Einige der Jungen reagierten sofort, zogen die Köpfe ein und warfen sich auf den Boden. Andere saßen stocksteif da, die Augen und Münder weit aufgerissen.

Salva bedeckte seinen Kopf mit den Händen und schaute sich panisch um.

Der Lehrer schob sich vorsichtig an der Wand entlang zum Fenster und spähte kurz hinaus. Die Schüsse hatten aufgehört, aber jetzt hörte man Leute schreien und herumrennen.

»Lauft weg, alle«, sagte der Lehrer und seine Stimme war leise und drängend. »In den Busch. Habt ihr mich verstanden? Nicht nach Hause. Lauft nicht nach Hause. Die werden in die Dörfer gehen. Haltet euch von den Dörfern fern – lauft in den Busch.«

Er ging zur Tür und blickte noch einmal hinaus.

»Lauft! Na los, lauft schon!«

Der Krieg war zwei Jahre zuvor ausgebrochen. Salva verstand nicht viel davon, aber er wusste, dass Rebellen aus dem südlichen Teil des Sudans, wo er mit seiner Familie lebte, gegen die Regierung kämpften, die ihren Sitz im Norden hatte. Die meisten Menschen, die im Norden lebten, waren Moslems, und die Regierung wollte, dass der gesamte Sudan zu einem muslimischen Land wurde – zu einem Land, in dem die Regeln des Islam befolgt würden.

Aber die Menschen im Süden hatten andere Religionen und wollten nicht gezwungen werden, sich zum Islam zu bekennen. Sie begannen damit, um die Unabhängigkeit vom Norden zu kämpfen. Die Kämpfe fanden überall im südlichen Sudan statt, und nun war der Krieg auch dort angekommen, wo Salva lebte.

Die Jungen rappelten sich auf. Einige von ihnen weinten, während der Lehrer begann, sie eilig zur Tür hinauszudrängen.

Salva stand fast am Ende der Reihe. Er spürte, wie ihm das Herz dröhnend bis zum Hals schlug. Er wollte schreien: »Ich muss nach Hause! Ich muss doch nach Hause gehen!« Aber die Worte wurden ihm von dem wilden Hämmern in seiner Kehle abgeschnitten.

Als er an der Tür ankam, schaute er vorsichtig hinaus. Alle liefen davon – Männer, Kinder, Frauen, die Babys trugen. Überall hing Staub in der Luft, der von all den rennenden Füßen aufgewirbelt worden war. Einige der Männer brüllten und schwenkten Waffen in der Hand.

Salva sah das mit einem einzigen Blick.

Dann rannte auch er. Rannte, so schnell er konnte, in den Busch.

Weg von zu Hause.

KAPITEL ZWEI

SÜDLICHER SUDAN, 2008

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Nya stellte den Kanister ab und setzte sich auf den Boden. Sie achtete stets darauf, nicht auf die piksenden Pflanzen zu treten, die entlang des Pfades wuchsen, doch ihre Dornen lagen überall auf dem Boden verstreut.

Sie betrachtete die Sohle ihres Fußes. Da war er, ein großer Dorn, der mitten in der Ferse steckte und halb abgebrochen war. Nya drückte an der Haut herum. Dann hob sie einen weiteren Dorn auf und versuchte damit den ersten zu bewegen. Gegen den Schmerz presste sie die Lippen zusammen.

Es dauerte lange, bis sie es geschafft hatte, den Dorn zu entfernen. Und Nya war sich nicht sicher, ob es ihr tatsächlich ganz gelungen war. Sie konnte noch einen schwarzen Punkt in ihrer Haut erkennen. Sie hoffte, dass es nur Schmutz war und nicht ein abgebrochener Rest des Dorns.

SÜDLICHER SUDAN, 1985

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BUMM!

Salva drehte sich um. Hinter ihm stieg eine riesige schwarze Rauchwolke auf. Flammen schossen von unten daraus hervor. Und oben am Himmel drehte ein Düsenflieger ab wie ein geschmeidiger böser Vogel.

In all dem Rauch und Staub konnte er das Schulgebäude nicht mehr sehen. Er stolperte und stürzte beinahe. Kein Zurückschauen mehr – das machte ihn nur langsam.

Salva zog den Kopf ein und rannte.

Er rannte, bis er nicht mehr rennen konnte. Dann ging er langsamer. Stundenlang, bis die Sonne fast vom Himmel verschwunden war.

Auch andere Menschen waren auf dem Weg. Es waren so viele, dass sie unmöglich alle aus dem Schuldorf stammen konnten; sie mussten aus dem gesamten Gebiet kommen.

Während Salva weitermarschierte, gingen ihm im Rhythmus seiner Schritte immer wieder dieselben Gedanken durch den Kopf. Wo gehen wir hin? Wo ist meine Familie? Wann werde ich sie wiedersehen?

Die Leute hielten inne, als es zu dunkel geworden war, um noch den Pfad erkennen zu können. Anfangs standen alle unsicher herum, flüsterten angespannt miteinander oder blieben stumm vor Angst.

Dann versammelten sich einige der Männer und beratschlagten eine Weile. Einer von ihnen rief aus: »Dörfer – gruppiert euch nach Dörfern. Ihr werdet jemanden finden, den ihr kennt.«

Salva wanderte herum, bis er hörte, wie jemand rief: »Loun-Ariik! Das Dorf von Loun-Ariik, hierher!«

Erleichterung durchströmte ihn. Das war sein Dorf! Er eilte auf die Stimme zu.

Etwa ein Dutzend Menschen standen in einer losen Gruppe am Straßenrand. Salva ließ seinen Blick über ihre Gesichter wandern. Von seiner Familie war niemand dabei. Einige Leute erkannte er – eine Frau mit einem Baby, zwei Männer, ein junges Mädchen –, aber niemanden, der ihm nahestand. Trotzdem war es ein Trost, sie zu sehen.