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Silke Porath / Sören Prescher

Klosterkeller

Kriminalroman

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Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Ashera, 87733 Markt Rettenbach, sowie durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © fottoo – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4914-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erschde Schdapfl
(Erste Stufe)

Hallo, Freunde, schön, dass ihr wieder eingeschaltet habt. Ich bin Steven und ihr hört Radio Donauwelle, euren Sender für den Kreis Tuttlingen. Oder sollte ich besser sagen, für das ganze Gebiet zwischen Alb und Donau? Wir haben unser Sendegebiet erweitert, sodass ihr uns nun auch von Meßkirch bis Hechingen und von Donaueschingen über Balingen bis rauf nach Empfingen hören könnt. Apropos Balingen: In der Stadt wird ja so einiges geboten. Meine Kollegin Mina wird später live aus der Zollernschloss-Stadt berichten. Außerdem gibt es Karten für das Simon & Garfunkel Tribute-Konzert in der Stadthalle zu gewinnen. Ihr müsst uns nur verraten, welches Lied des Folkrock-Duos ihr am besten findet. Also ran ans Telefon und im Studio anrufen. Derweil machen wir weiter mit der britischen Band James und ihrem Song Ring the bells in der alternativen NRG-Live–Fassung. Es gibt nichts Besseres, um einen Tag, ein neues Buch oder einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen …

Himmelherrschaftsackzement! Pater Pius fluchte. Innerlich. Nach außen hin war nur ein »Autsch« zu hören, als er mit dem rechten Knie voran auf den ausgetretenen Steinstufen zu Fall kam. Einen Moment lang befürchtete der Ordensmann, seine Kniescheibe wäre geborsten. Jedenfalls klang das Knirschen nach einem orthopädischen Notfall. Dann aber pustete er erleichtert die Luft aus seinen um 04:30 Uhr morgens frisch rasierten Wangen. Was da geknirscht hatte, war die schwere Holztür direkt vor seiner Nase.

»Hend Sie sich weh gmacht?« Allein die besorgte Frage des Mannes im blauen Arbeitsoverall, der aus der Tür trat, pustete schon einen Gutteil der Schmerzen weg. Er hieß Horst Seifried, wie sich Pius von seinem letzten Besuch hier noch erinnerte.

»Ein bisschen«, gab er zu. Und sandte im selben Moment ein stilles Gebet zu seinem Herrn. So ein saftiger Fluch mochte zwar im ersten Moment guttun, war aber für einen Ordensmann nicht angebracht. Wobei – was war an diesem Tag schon angebracht, fragte sich der Prior des Brüderlichen Ordens, während er sich aufrappelte und das Loch in seiner schwarzen Jeans betrachtete. Unter dem Stoff war die Haut gerötet und abgeschürft, blutete aber nicht. Einen blauen Fleck würde es jedoch geben. Und ein Kopfschütteln von Bruder Ortwin, der in diesem Monat den Wäschedienst im Spaichinger Kloster übernommen hatte. Pius beschloss, sein Taschengeld nicht wie geplant in die neue CD von Joe Bonamassa zu investieren, sondern in einen Flicken für die ziemlich neue Hose.

Der Hausmeister musterte Pius von oben bis unten. Er überragte den Pater um einen guten Kopf, war um die Leibesmitte ebenso füllig wie der Ordensmann, hatte im Gegensatz zu Pius aber schlaksige Arme und Beine. Und er trug einen vollen, graublonden Bart, über dem eine spitze, glänzende Nase thronte.

»Soll mai Frau sich des agugga?« So hünenhaft der Mann war – seine wasserblauen Augen sahen wirklich besorgt aus.

Pius fragte sich, was der Mittvierziger in ihm sah. Einen Senior, der tapsig genug war, sich der Länge nach auf eine simple Stufe zu werfen? Erst am Morgen, ehe er nach der Rasur zur Kapelle des Spaichinger Konvents zum Morgengebet geeilt war, hatte der Pater sein eigenes Spiegelbild etwas verdutzt betrachtet. Waren die grauen Schläfen schon immer so … sichtbar gewesen? Und die weißen Haare, die sich in seine eigentlich beinahe schwarzen Augenbrauen schlichen, ließen ihn ein bisschen wie den Weihnachtsmann aussehen. »Geht schon, geht schon.« Pater Pius bewegte das Knie. Es knirschte, aber es funktionierte. Der Mensch im Blaumann trat jetzt ganz aus der schweren Holztür und ließ sie krachend hinter sich ins Schloss fallen. Pius erhaschte einen kurzen Blick in den Eingangsbereich. Hinter einer zweiten Tür lag am Ende eines Vorraums eine Wendeltreppe mit dem typischen Metallgeländer der 1960er-Jahre. Er fragte sich, ob das Haus an der Eyach, dem Balinger Stadtflüsschen, jemals renoviert worden war, seit vor einigen Jahren das Amt für Familie ausgezogen war. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Bruder Johannes sich und seinen prallen Bauch aus dem VW Golf (Rolling Stones-Edition mit schon etlichen Kilometern auf der Uhr, dem Kloster gespendet von einem sehr katholischen Autohaus) schälte. Die Handvoll Parkbuchten auf dem Platz vor dem ehemaligen Landratsamt der Kreisstadt waren selbst für einen Kleinwagen schmal bemessen, passten aber zum Ambiente des Platzes: Kopfsteinpflaster, das Zollernschloss und die Jugendherberge im schönsten Fachwerkstil waren die Aushängeschilder der Stadt.

»Ist dir was passiert?« Johannes knallte die Fahrertür mit Schmackes zu und schlängelte sich an einem orangefarbenen Fiat-Hausfrauenjeep vorbei zu Pius durch.

»Nein.« Das klang unwirscher, als es sollte. War allerdings auch das Erste, was der Pater zu seinem Mitbruder sagte, seit die beiden vor einer guten Dreiviertelstunde in Spaichingen aufgebrochen waren. Eigentlich war es nicht Pius’ Art, so maulfaul zu sein, aber auf die Fahrt in die Kreisstadt verspürte er absolut keine Lust. Erstens. Zweitens stapelten sich auf seinem Schreibtisch in seinem Büro oben auf dem Spaichinger Dreifaltigkeitsberg die nicht beantworteten Briefe aus aller Welt. Und drittens kam ihm dieses Erbe hier gar nicht gelegen. Die Treppe, auf die er geknallt war, gehörte nämlich wie das gesamte Gebäude zur Erbmasse der Philomena zu Heurigen-Ulrichstein, ihres Zeichens Letzte aus dem Geschlecht der alten Balinger Adelsfamilie. Pius erinnerte sich nur verschwommen an die Dame, die einige Male auf den Berg gepilgert war, um sich die im Nebengebäude des Klosters befindliche Krippenausstellung anzusehen. Philomena war in seiner Erinnerung fad, grau und ziemlich dick gewesen. Anscheinend aber hatten die Sammelstücke von Jesus, Maria und Josef aus aller Welt die Witwe dermaßen entzückt, dass sie dem Brüderlichen Orden das ehemals von der Stadt genutzte und nun leer stehende Gebäude vermacht hatte.

Soweit Pius wusste, war das Erbe im Mutterhaus in Barcelona mit Begeisterung aufgenommen worden. Nicht, weil man das Haus, wie er es gemacht hätte, gewinnbringend verscherbeln und den Erlös für gute Zwecke hätte einsetzen können. Nein, die spanischen Brüder liebäugelten mit einer Nutzung durch den Orden. Ein neues Konvent, warum nicht? Zwar galt Balingen als evangelische Enklave, doch selbst hier lebten schließlich Christen. Und auch die konnten von einem »Haus der Stille«, einem Ort des Gebets und der inneren Einkehr nur profitieren.

Der Mann im blauen Overall fixierte Bruder Johannes. Auf dessen Brust prangte ein großes silbernes Kreuz – ebenso wie bei Pius. Dieses Attribut war aber schon das Einzige, was sie als Ordensleute auswies. Ansonsten trugen sie schwarze Jeans und identische schwarze Wollpullover unter den schwarzen Jacketts. Den Habit legten sie nur zum Gottesdienst an.

Pius seufzte. Eigentlich hätte er vor der Besichtigung des leer stehenden Amtsgebäudes gerne noch einen kleinen Spaziergang gemacht. Es war Jahre her, dass er das letzte Mal in Balingen gewesen war, aber er erinnerte sich noch an den schmalen Weg durch das so genannte Klein Venedig – ein hübscher, kurzer Spaziergang entlang des ehemaligen Kanals im alten Gerberviertel der Stadt. In den 1980er-Jahren war es jedes Mal aufs Neue eine Überraschung gewesen, in welcher Farbe die Eyach durch ihr Bett floss. Dank der Gerbereien schimmerte der kleine Fluss mal blau, mal orange.

»Hallo erst mal, Herr Seifried.« Pius schlug in die schwielige Hand des Hausmeisters ein. Vor ein paar Tagen hatten die beiden miteinander telefoniert, um den heutigen Termin zu bestätigen. Seifrieds Händedruck war warm und fest, fast ein bisschen schmerzhaft. Kein Wunder, der Mann hatte Hände fast so groß wie Klodeckel!

»Und das ist Bruder Johannes«, fuhr Pius fort. »Der war beim ersten Treffen noch nicht mit dabei.«

Seifried wollte nach der Hand des Bruders greifen, aber der trat unwillkürlich einen Schritt zurück – Pius’ schmerzverzerrtes Gesicht hatte ihn gewarnt. Anders als sein Prior trug Johannes den Siegelring des Brüderlichen Ordens nämlich an der rechten Hand. Und ein zwischen die Finger gequetschter Goldring tat mächtig weh.

»Grüß Gott!« Freundlich blieb Johannes dennoch. Was Pius nicht verwunderte. Er wusste die Gründe für dessen beste Laune nur zu gut: Die Fahrt nach Balingen und die anstehende Übernachtung im ersten Hotel am Ort bedeuteten nicht nur eine kurze Auszeit von den Pflichten in der Klosterküche. Nein, der rundliche Bruder freute sich auf den Abend: Von seinem Taschengeld hatte er mehr oder minder heimlich zwei Karten für die Balinger Stadthalle besorgt. Empore, erste Reihe. Tribute to Simon & Garfunkel mit dem Leipziger Sinfonieorchester. Nicht ganz billig, aber das war ihm, wie er Bruder Ortwin im Flüsterton erzählt hatte, als sie fälschlicherweise annahmen, Pius wäre völlig in sein Robert Krauss-Buch vertieft, das nachträgliche Geburtstagsgeschenk für seinen Glaubensbruder und Freund wert. Offiziell ahnte er selbstverständlich noch nichts von der Überraschung und griff nach der schwarzledernen Aktentasche, die Johannes ihm reichte. Darin fand er die notariellen Papiere, eine Kopie des Erbscheins und Grundrisse des Gebäudes, welche das Mutterhaus geschickt hatte. Nebst einem langen, sehr langen Fragenkatalog zu Gebäudezustand, Elektrik, Dämmung und, und, und, den die Patres heute und morgen abarbeiten sollten.

»Horschd, komsch du mol? Aber zackig!« Eine etwas schrille Frauenstimme drang aus dem Inneren des Gebäudes zu ihnen.

»Mai Frau.« Horst Seifried zuckte entschuldigend und, wie Pius fand, ein wenig resigniert, mit den Schultern.

»I komm scho, Gerlinde«, brüllte er dann in den leeren Flur. »Also, meine Herren, los geht’s.« Die Patres folgten dem Hausmeister ins Innere. Es dauerte einen Augenblick, ehe sich Pius’ Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Er schnupperte. Es roch nach Kernseife und Papier. Unterlegt von einer Mischung aus altem Schweiß und einer Prise Staub. Behördenparfum eben. Rechts und links vom Eingangsbereich zweigten Gänge ab. Mit ein wenig Fantasie konnte sich Pius schon vorstellen, dass die Türen, die bislang immer nur zu Büros geführt hatten, künftig zu Mönchszellen gehören könnten. Allerdings müssten die Wände dringend gestrichen werden, in einem fröhlichen hellen Gelb. Pius malte sich aus, wie bunte Bilder und weiche Läufer den Flur aufheitern könnten, an dessen Ende jetzt eine kugelrunde Frau in den Vierzigern auftauchte, die sich mit einem Wagen voller Putzutensilien abmühte.

Der Wagen, auf dem sich Feudel, Besen, Eimer und Flaschen türmten, hatte mächtig Schieflage. Ein Rad hatte sich gelöst und war den Gang hinuntergerollt.

»Jetzt hilf halt, verdammt!«, brüllte Gerlinde Seifried, die sich mit ihrem ganzen beachtlichen Gewicht gegen den Wagen stemmte. Aus dem Eimer schwappte Wasser auf die Fliesen.

»Die Mönche sind da«, rief ihr Mann, als er auf sie zueilte. Gerlinde drehte den Kopf in ihre Richtung und machte wie bei ihrem ersten Besuch ein ziemlich erstauntes Gesicht. Vermutlich weil sie bei Mönchen jedes Mal zuerst an alte Männer in braunen Kutten dachte. Außerdem löste sich just in dem Moment das zweite Rad, wodurch der Wagen nicht mehr zu halten war.

»Oh, oh«, machte Johannes, als die Schrubber und Müllsäcke mit Getöse auf den Boden krachten. Schmutzig braunes Putzwasser schwappte über die Fliesen. Gerlinde machte einen für ihren Körperumfang beachtlichen Satz nach hinten, prallte gegen ihren Mann und riss ihn mit zu Boden. Das Ehepaar kam keuchend zum Liegen. Immerhin, dachte Pius, hatten Seifrieds die dreckige Pfütze verfehlt und blieben trocken.

»Ja, leck mich doch am Fiedla!« Gerlinde rollte sich von ihrem Gatten. »Ich hab dir doch gesagt, dass die Räder nachgezogen werden müssen.« Sie bedachte Horst mit einem giftigen Blick, der nichts Gutes verhieß.

Pius eilte auf die Pechvögel zu und streckte Gerlinde die Hand hin. Die schlug ein. Nicht ganz so fest, wie ihr Gatte, aber fest genug, um Pius scharf einatmen zu lassen. Eine Duftkakophonie aus Essigreiniger, künstlichem Zitronenduft und muffiger Bracke kitzelte seine Nase. »Grüß Gott«, rief er betont fröhlich und lehnte sich nach hinten. Nur so gelang es ihm, das Pfundsweib in die Senkrechte zu bugsieren. Als Gerlinde vor ihm stand, staunte er nicht schlecht. Ihr Gesicht war glatt wie ein Babypopo und ihre Augen leuchteten in einem Blau, wie er es noch nie gesehen hatte. Hübsch, dachte der Mann in ihm.

»Jessas, des isch mir aber peinlich«, stammelte die Hausmeisterin. »Herr Hochwürden, entschuldigen Sie.«

»Nicht Hochwürden«, lächelte Pius. »Pater reicht voll und ganz.«

Gerlinde strich ihre blaugemusterte Bluse über dem mehr als üppigen Busen glatt. »Pater. Ja.« Sie nickte und wandte sich dann an ihren Mann, der sich kopfschüttelnd über den defekten Putzwagen beugte. »Jetzt kannsch schrauba.«

»Das glaub ich auch«, knurrte der Hausmeister. »Ich sag’s ja, Frauen und Autos …«

»Was hat denn das mit einem Auto zu tun?« Gerlinde stemmte die Hände in die breiten Hüften.

»Es hat Räder«, blaffte Horst.

»Na, na.« Johannes hatte das Trio erreicht und betrachtete die Bescherung. »Das lässt sich ganz bestimmt in Ordnung bringen. Kommen Sie, wir gehen Ihnen zur Hand.«

»Danke, aber das ist nicht nötig. Helfen Sie lieber meinem Mann, endlich diesen verflu… äh … kaputten Wagen zu reparieren.«

»Die Werkstatt ist im Keller«, gab Horst bekannt.

»Wunderbar«, sagte Pius. »Ob wir oben oder unten mit der Begehung anfangen, ist sowieso egal.«

Die Patres folgten dem Hausmeister durch das Gebäude. Gerlinde machte sich derweil daran, die Pfütze aufzuwischen, was nicht ohne ein paar saftige Flüche vonstattenging, wie Pius grinsend bemerkte.

Über eine Wendeltreppe gelangten sie ins Untergeschoss. Auch hier waren überall braune Türen. Eine Neonröhre flackerte. Pius las im Vorbeigehen die Schilder: Registratur, Archiv, WC Herren. Am Ende des Ganges erreichten sie eine Stahltür, deren graue Lackierung an vielen Stellen abgeplatzt war. Seifried drückte die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen.

»Kommt ja keiner mehr rein, da kann ich mir die vielen Schlüssel sparen«, sagte Horst, als hätte er die Gedanken der Patres erraten.

»Auch wieder wahr.« Johannes folgte seinem Prior und dem Hausmeister durch die Tür. Sie landeten im Heizraum. Ein mächtiger Kessel dominierte das Zimmer, zusammen mit dem Gestank nach Heizöl.

Energieversorgung erneuern, notierte Pius im Kopf. Solarpaneele vielleicht, wenn die nicht gegen den Denkmalschutz verstoßen. Oder Gas, falls möglich.

An der Decke des mit schummrigen Funzeln erleuchteten Raumes schlängelten sich zahlreiche Rohre. Neben dem Kessel stand eine Werkbank. Horst Seifried wühlte sich durch die Schraubenschlüssel und Hämmer. »Wo isch denn des blöde Dings?«

Pius und Johannes nutzten die Zeit, um sich umzusehen. Johannes grinste, als er die verblichenen Poster an den Wänden sah. Leichtbekleidete Frauen mit den typischen Dauerwellen der 1980er-Jahre zierten die grauen Wände. Pius umrundete derweil den Kessel. Eine handtellergroße Spinne huschte vor ihm über den blanken Boden und verschwand in einer Ritze.

»Wo geht’s da hin?«, rief Pius, als er am hintersten Ende des Heizkellers eine schmale Tür aus dunklem Holz entdeckte. Er drückte die Klinke. Offen.

»Keine Ahnung, ist nicht mehr mein Ressort«, rief Seifried zurück und zog eine Schublade auf. Anscheinend fand er nicht, was er zur Reparatur benötigte.

Pius zuckte mit den Achseln und streckte den Kopf durch die Türöffnung. Es roch muffig und erdig. »Haben Sie eine Taschenlampe?«, wollte er von Seifried wissen, doch Johannes war schneller gewesen. Er hatte eine Maglite vom Haken neben der Werkbank genommen und leuchtete Pius ins Gesicht.

»Lass das!« Pius kniff die Augen zusammen.

»Verzeihung.« Johannes richtete den Lichtstrahl ins Dunkel. Vor ihnen lag ein schmaler Gang aus unbehauenen Steinen. Unzählige Spinnweben hingen fadgrau von der Decke.

»Du zuerst?«, fragte Pius, obwohl er die Antwort bereits kannte. Johannes war kein Mann für Abenteuer. Der Bruder schüttelte sogleich auch vehement den Kopf. Pius nahm ihm die Taschenlampe ab.

»Sei um Himmels Willen vorsichtig«, flüsterte Johannes.

»Weil?« Pius war schon ein paar Schritte in den Gang getreten. »Gespenster?« Er lachte in sich hinein.

»Das ist nicht witzig«, sagte Johannes, folgte seinem Prior aber. Nach ein paar Metern bog der Gang, der kaum höher als 1,80 Meter sein konnte und so schmal war, dass sie die Steinwände beinahe mit den Schultern streiften, nach links ab. Pius nahm an, dass sie unterirdisch dem Verlauf der Balinger Stadtmauer folgten. Seiner Meinung nach befanden sie sich nun ziemlich genau unter dem Zollernschloss, dem Wahrzeichen der Kreisstadt. Pius wusste nicht, ob es ihm nur so vorkam oder ob der Gang tatsächlich noch enger und niedriger wurde. Als er kurz davor war, angesichts des hinter ihm schwer schnaufenden Johannes umzukehren, öffnete sich vor ihnen ein etwa drei mal drei Meter großer Raum. Die Erde auf dem Boden war festgetreten, die Luft muffig.

»Spannend.« Pius malte sich aus, wie in uralten Zeiten hier Rittersleute ihre Gefangenen (oder, ganz profan, ihre Schinken und Würste) gelagert haben mochten. Dann streifte das Licht der Maglite etwas, das er lieber nicht gesehen hätte. Pius blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Hinter ihm stieß Johannes einen spitzen Schrei aus.

Zwoide Schdapfl
(Zweite Stufe)

Das war Jesse Malin mit Don’t let them take you down von seinem 2007er Album Glitter in the gutter, auf dem es übrigens auch ein Duett mit dem legendären Bruce Springsteen gibt. Hört mal rein in die Platte, ihr werdet es nicht bereuen.

Noch immer gibt es bei uns Karten für das Simon & Garfunkel Tribute-Konzert in Balingen zu gewinnen. Also ran an die Telefone und nennt uns euer Lieblingslied des legendären Duos.

Nach den Nachrichten geht es weiter mit den Rolling Stones und ihrem You can’t always get what you want.

Ich bin Steven, euer Morgenmann von Radio Donauwelle, und wünsche euch viel Spaß bei allem, was ihr heute tut.

Dank eines kleinen Film-Marathons gestern Abend in Thorbens Wohnung (beide Teile des großen Tribute von Panem-Finales am Stück) erwies sich die Müdigkeit als besonders hartnäckig. Verena Hälble nippte bereits an ihrer zweiten Tasse Kaffee und hatte noch immer das Gefühl, wenn sie nur für einen Moment die Augen schloss, würde sie sofort nach Lummerland abdriften. Ihr gegenüber am Tisch saß ihr Freund, Partner und Lover Thorben Fischer und wirkte ebenfalls alles andere als taufrisch. Trotzdem bereute sie den gemeinsamen Fernsehabend nicht. Dafür waren die beiden Filme zu spannend und zu gut gewesen.

Zum Glück brannte den Kommissaren derzeit kein neuer Fall unter den Nägeln, sodass sie wenigstens den Morgen langsam angehen und in ihrem Lieblingscafé frühstücken konnten. Das erste Brötchen hatte Verena inzwischen verdrückt, aber auch das hatte nur unwesentlich zur Verbesserung ihrer Kondition beigetragen.

Vielleicht sollte ich mir einen von diesen Fruchtsmoo­thies gönnen, überlegte sie. Die Bedienung mit den kurzen schwarzen Haaren schwor darauf und mit ihrem sportlichen Körperbau sah sie tatsächlich so aus, als wüsste sie, wovon sie redete. Außerdem flitzte die Frau die ganze Zeit über umher, als wäre Kundenbedienung ihr erfüllter Lebenstraum. Darf es noch ein Tässchen Espresso sein? Kein Problem. Sie hätten gern gebratenen Speck? Kommt sofort. Den kleinen Obstteller? Ich gebe unverzüglich in der Küche Bescheid.

Im Hintergrund dudelte Musik. Immerhin von Radio Donauwelle, Verenas Lieblingssender. Definitiv ein weiterer Pluspunkt für das Café. Sie brauchte einige Momente, bis sie erkannte, welches Rolling Stones-Lied gerade gespielt wurde. Die Klänge erinnerten sie an ihren ehemaligen Kollegen Jochen Schädle. Der alte Rocker hatte Mick Jagger und Co. vergöttert. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte er die Musik der Rollsteine laufen lassen. Was Jochen wohl mittlerweile machte? Das Letzte, was sie über ihn gehört hatte, war, dass er wegen seines Rückenleidens in den Vorruhestand abgeschoben worden war. Was für die Kripo einen großen Verlust bedeutete.

Aber Verena besaß eigentlich keinen Grund zu klagen. Obwohl Thorben manchmal etwas chauvinistisch und chaotisch daherkam, eine tüchtige Spürnase besaß er trotzdem.

»Ich glaube, ich habe mir gestern was gezerrt«, sagte er wie auf Stichwort. Parallel dazu rieb er sich mit schmerzgeplagter Miene den Rücken. Was Verena gleich nochmals an Jochen erinnerte. Der hatte auch ständig über seine Bandscheibe geklagt. Männer waren eben doch alle gleich.

»Tja, mein Lieber, ich hatte dich gestern Abend gewarnt. Aber nein, du musstest ja unbedingt den Flachbildschirm durchs halbe Wohnzimmer schleppen.«

»Ja, das musste ich. Hat es dich nicht gestört, dass ständig die Sonnenstrahlen oder das Licht der Straßenlaterne auf den Bildschirm gefallen sind? So was geht gar nicht. Wofür hab ich denn so ein sackteures Gerät gekauft, wenn ich seine Vorzüge nicht komplett auskosten kann?«

Verena seufzte. »Männer und Technik.«

»… gehören einfach zusammen. Das versteht ihr Frauen einfach nicht.« Thorben grinste frech und setzte sich aufrecht hin. Für einige Sekunden gelang es ihm sogar, seinen schmerzenden Rücken zu ignorieren. Er schien zu einer weiteren Bemerkung ansetzen zu wollen, wurde aber durch das Klingeln von Verenas Handy davon abgehalten. Ihr hingegen kam die Unterbrechung gerade recht.

»Hallo, Verena, hier ist Pius«, ertönte es gleich darauf aus dem Smartphone. »Ich habe hier was gefunden, das du dir ansehen solltest. Bring deinen Partner am besten auch gleich mit.«

Binnen eines Atemzugs war sie hellwach. Ihr Herz klopfte schneller. »Oh nein, ich hoffe doch, nicht schon wieder eine Leiche, Pater? Langsam wird das echt unheimlich mit Ihnen.«

»Glaube mir, ich habe mich ebenfalls nicht darum gerissen. Aber diesmal scheint der Tote schon vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet zu haben. Das Skelett sieht uralt aus.«

Das machte sie gleich noch neugieriger. »Wir machen uns sofort auf den Weg. Wohin eigentlich?«

»Balingen«, kam es aus dem Hörer.

Aber da bin ich nicht zuständig, wollte Verena sagen. Erinnerte sich dann aber an zwei Dinge. Erstens war es ihr freier Tag und somit konnte sie gut und gerne einen Ausflug in die Kreisstadt machen. Immerhin lockten dort zahlreiche Schuhgeschäfte und ihre ausgelatschten Treter wurden langsam löchrig wie ein Schweizer Käse. Und zweitens war sie sehr wohl zuständig, Polizeireform sei Dank: Die leitende Balinger Kommissarin Hermigunde zu Tollern-Acht­eck hatte in der Vorwoche eine Mail geschickt und sich für vier Wochen abgemeldet. Reha. Herzrhythmusstörungen.

Verena ließ sich die Adresse geben und legte auf. Thorben verdrehte die Augen. Ihm schwante wohl schon Übles.

»Wie wär’s mit einem Ausflug?« Verena plinkerte mit den Augen. Thorben seufzte und zuckte mit den Schultern. Gegen seine Chefin war Widerspruch sowieso zwecklos.

Sie jagten im Golf die Landstraßen von Spaichingen über Aldingen, Frittlingen und Wellendingen hinauf nach Balingen. Spätestens ab Schömberg rutschte Thorben unruhig auf dem Sitz hin und her, aber Verena war nicht sicher, ob dies mit Pius’ Anruf oder der Bandscheibe zu tun hatte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, konnte er es jedenfalls kaum erwarten, dass sie ihr Ziel erreichten.

Was Verena nicht anders sah. Der Prior hatte gesagt, dass er im Keller des ehemaligen Landratsamts ein angekettetes Skelett gefunden hatte. Vielleicht stammte es ja von einem Lehnsmann, der bei einem der im 15. Jahrhundert im Zollernschloss residierenden Obervögte in Ungnade gefallen war. Oder jemandem, der sich in die falsche Frau verliebt hatte und ihretwegen im tiefsten Verließ eingekerkert wurde. Sofort hatte sie das Bild eines in rostigen Ketten festgehaltenen jungen Mannes mit zerfetzter Kleidung und blutigen Kratzern auf der Brust vor Augen. Ein bisschen erinnerte es sie an die gestern Abend gesehenen Hollywood-Filme. Ganz so würde es vermutlich nicht abgelaufen sein. Trotzdem, wer wusste schon, was der arme Schlucker in dem alten Keller hatte erleiden müssen?

Die Frage war nur, ob Verena für einen derartigen Fall überhaupt zuständig war. Aber nachdem nun auch schon Balingen in ihre Verantwortlichkeit fiel, warum nicht auch eventuell mehrere Hundert Jahre zurückliegende Todesfälle? Auf Mord stand ja bekanntlich keine Verjährung. Allerdings könnte es etwas schwierig werden, für die damaligen Taten einige Augenzeugen zu finden. Geschweige denn einen Täter. Andererseits – vermutlich konnte sie die alten Knochen alsbald an die Archäologen weiterreichen, mit Pius ein Spöttinger trinken und anschließend Schuhschnäppchen jagen.

Bald darauf erreichten sie die Große Kreisstadt und steuerten zielsicher den gepflasterten Innenhof des ehemaligen Landratsamtes an. Gleich auf den ersten Blick erkannte sie Pius’ in die Jahre gekommenen Kloster-Volkswagen und parkte ihren Golf direkt daneben. Den Pater selbst suchte sie beim Aussteigen allerdings vergebens.

Während sich Thorben draußen ächzend und stöhnend streckte, schaute sich Verena im Innenhof um. Sie erkannte die Jugendherberge im schönsten Fachwerkstil, dazu noch einige andere Gebäude und Mauern, die ihren Ursprung nicht in diesem Jahrhundert hatten. Mit etwas Fantasie konnte man sich hier sofort ein mittelalterliches Treiben vorstellen. Pferdewagen, die vorfuhren, um Getreidesäcke abzuladen. Dazu einige Mägde, die die Gänse fütterten. Und Handwerker, die ihrer schweren Arbeit nachgingen. Darunter vielleicht auch jener arme Schlucker, der sich unglücklich verliebt hatte und deshalb unten im Keller …

Stopp!

Verena verscheuchte den Gedanken und stapfte auf die offen stehende Holztür zu. Thorben folgte ihr in gemächlichen Schritten und rieb sich abermals den Rücken. Das kann ja heiter werden, überlegte Verena, vermied aber jeden Kommentar über ihren armen, leidgeplagten Partner. Diskussionen über dessen Gesundheitszustand konnte man eh nicht gewinnen.

Als sie noch etwa zehn Meter vom Eingang entfernt war, verließ ein gemütlich aussehender Mittfünfziger das Haus.

Pius.

Er trug eine dunkle Jeans, deren Stoff auf Kniehöhe einen länglichen Riss aufwies, so wie es zu Verenas Jugendzeit in den 90er-Jahren einmal in gewesen war, und einen dunklen Pullover. Bei jedem anderen hätte der Look wie der verzweifelte Versuch, auf cool zu machen, gewirkt. Bei dem Ordensmann hingegen sah es tollpatschig und irgendwie nach Arbeit aus.

Hinter ihm trat der deutlich dickere Klosterkoch Johannes heraus, gefolgt von einer ebenfalls recht rundlichen Frau in blaugemustertem Oberteil. Nicht ganz passend zu dem molligen Trio lief hinter ihr ein schlaksiger Blondschopf im Blaumann mit Vollbart und Habichtnase. Verena ging auf sie zu und begrüßte zuerst den Prior und seinen Ordensbruder.

»Das sind Horst Seifried und seine Frau Gerlinde«, stellte Pius ihr gleich darauf die beiden anderen Personen vor. »Sie sollen das Gebäude auf Vordermann bringen.«

»Angenehm. Ich bin Kommissarin Verena Hälble und das ist mein Kollege Thorben Fischer. Haben Sie den Leichnam … also die Knochen gefunden?«

Der Mann schüttelte zögernd den Kopf.

»Das waren die beiden Glaubensbrüder«, erklärte Gerlinde Seifried und nickte überflüssigerweise in Richtung der Patres. »Ich dachte zuerst, sie machen Scherze. Aber der eine sieht so aus, als wäre ihm der Leibhaftige persönlich begegnet.«

Johannes schnappte nach Luft. »Ich möchte Sie mal erleben, wenn Ihnen so was passiert! Normalerweise arbeite ich in der Küche und schleiche nicht durch irgendwelche alten Gemäuer. Ich weiß schon, warum ich lieber im Kloster bleibe. Wenn ich Nervenkitzel haben möchte, spiele ich Kniffel mit Bruder Sunil!«

»Wären Sie da mal lieber geblieben! Dann hätten wir jetzt nicht diese Krimigeschichte hier. Ich sehe es schon kommen: Schon bald wimmelt es von Ordnungshütern, die ein und aus gehen und den Straßendreck an den Schuhen reintragen. Und wer darf nachher wieder alles sauber machen? Nur mal kurz durchwischen, hieß es. Pah! Das war’s dann wohl damit! Und das alte Parkett ist sowieso hundsmiserabel zum Putzen!«

»Ganz ruhig, Frau Seifried. Wir, äh … können die Kollegen ja bitten, sich die Schuhe abzutreten, bevor sie ins Haus gehen. Vorher müssten wir den Fundort aber erst mal genauer in Augenschein nehmen.«

Das war Johannes’ Zeichen, um einen Schritt zurückzuweichen – was die Hausmeisterin sofort zu einem süffisanten Grinsen veranlasste. Derweil nickte Pius mit ernster Miene. »Dann kommt mal mit.«

Er führte die Beamten über eine breite Wendeltreppe ins Untergeschoss, durch den Heizkeller und von dort in den schmalen und nicht besonders hohen Gang mit den Steinmauern. Pius knipste seine Taschenlampe an und zögerte nicht, weiterhin voranzugehen.

Verena zückte ihre Diensttaschenlampe. Die Spinnweben in allen Ecken ließen sie argwöhnisch die Wände absuchen. Aber zumindest fürs Erste entdeckte sie keinen achtbeinigen Kellerbewohner. Auf der Hut blieb sie dennoch. Nicht wegen sich. Ihr machten weder achtbeinige noch fußlose Viecher etwas aus. Thorben allerdings reagierte auf jegliches Krabbelgetier mit mehr als sechs Beinen mit heftiger Schnappatmung.

»Ich komm mir vor wie in Der Name der Rose«, sagte Thorben hinter ihr und rief gleich darauf deutlich lauter: »Wie sind Sie überhaupt hierhergelangt, Pater? Zu einer normalen Besichtigungstour zählt so was aber nicht.«

»Der Hausmeister ging in den Keller, um Werkzeuge zu holen. Wir wollten ihm helfen, sind aber irgendwie vom Weg abgekommen.«

»Vielleicht hatten Sie ja eine Eingebung von Gott«, überlegte Verena. Es war ihr unbegreiflich, wie jemand diesen Ort freiwillig betreten konnte. Der Gang schien mit jedem Schritt enger zu werden. Würde sie nicht in leicht gebückter Haltung laufen, würden ihre Haare bestimmt am Mauerwerk der Decke entlangschleifen. Was das eine oder andere in der Dunkelheit lauernde Tierchen auf dumme Ideen bringen könnte. Lieber nahm sie es mit einer ganzen, bis an die Zähne bewaffneten Diebesbande auf, als hier unten als potenzielles Opfer für Spinnen und Käfer herhalten zu müssen und einen ziemlich unmännlichen Kreischanfall von Thorben zu riskieren.

Für dessen Rücken dürfte die leicht gebückte Haltung ebenfalls kein Zuckerschlecken sein. Es glich einem Wunder, dass er sich bisher noch nicht lautstark darüber beschwert hatte.

Endlich erreichten sie eine muffige kleine Kammer, deren Boden mit nasskalter Erde bedeckt war. Obwohl es vermutlich irrelevant war, achtete Verena sofort darauf, ihn nur am Rand zu betreten, um keinesfalls irgendwelche Tatortspuren zu zerstören. Pius bemerkte ihre Vorgehensweise und schloss sich ihr an, ohne Fragen zu stellen.

Das Licht seiner Taschenlampe strahlte auf die gegenüberliegende Steinwand und das, was davor auf dem Boden lag: ein menschliches Skelett wie aus einem Horrorfilm. Besonders der Totenschädel und die leeren Augenhöhlen strahlten eine subtile Brutalität aus. Der Anblick war bizarr und selbst für sie ungewohnt. Nach einigen Sekunden wurde ihr bewusst, was sie ebenfalls störte: Jemand schien versucht zu haben, alles richtig anzuordnen, hatte dabei aber Oberarm- und Oberschenkelknochen verwechselt. Ein weiterer Blick genügte und Verena wusste, welches Geschlecht der Leichnam gehabt hatte. Gut, wenn man in Pathologie immer aufgepasst und sich die wesentlichen Skelettmerkmale eingeprägt hatte. Das Becken des Gerippes war eindeutig ein sehr weibliches.

So viel zu der Idee von dem in Ungnade gefallenen Lehnsmann. Ganz war ihre Theorie aber noch nicht vom Tisch.

Wenigstens nicht sofort.

Noch etwas störte Verena, doch sie kam abermals nicht gleich darauf, was es war. Einige Sekunden lang suchte sie mit der Taschenlampe jeden Millimeter der Gebeine ab. Schließlich dämmerte es ihr: Alte Knochen müssten braun und porös sein. Eventuell hätte es sogar Spinnweben dazwischen oder daran gegeben.

Nichts dergleichen war hier der Fall. Das Skelett wirkte so sauber und neu, als würde es frisch aus dem Biounterricht einer Balinger Schule stammen. Aber vielleicht täuschte sie sich auch. So bewandert war sie im Zerfall von Leichen nun auch nicht. Wer wusste schon, wie es sich mit der Verwesung in einem alten Gemäuer wie diesem verhielt?

Verena richtete den Strahl der Lampe auf den Schädel. Die toten Höhlen glotzten sie weiterhin an. Dort, wo eigentlich die Nase hingehörte, verlief zwischen den Löchern ein kleiner Riss. Verena beugte sich herunter. Die Zähne waren ein bisschen schief, aber blendend weiß. Bis auf einen. Fast ganz hinten, Oberkiefer. Der glänzte in schönstem Gold. So etwas hatten die Bader im Mittelalter nicht gehabt.

Anderthalb Stunden später hatte sich die Prophezeiung der Putzfrau vollständig erfüllt. Knapp ein Dutzend Beamte hatten den Vorplatz abgesperrt und gingen im ehemaligen Landratsamt ein und aus. Neugierig beäugt von den Inhabern und Kunden der beiden gegenüberliegenden Geschäfte. Das eine vertrieb Duft-, das andere eher Feuerwasser. Kaum jemand von den Beamten klopfte sich vor dem Eintreten die Schuhsohlen ab.

Verena ließ die Kollegen ihre Arbeit erledigen und war froh, als sie den muffigen Kellerraum verlassen konnte. Im Innenhof ließ sie sich von den beiden Patres noch einmal jedes Detail des Leichenfundes berichten. Was allerdings zu keiner neuen Erkenntnis führte.

Nicht viel anders verlief das Gespräch mit dem Hausmeisterehepaar. Keiner von ihnen hatte zuvor etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Auf den ersten Blick erkennbare Einbruchsspuren gab es ebenfalls keine.

»Wer außer Ihnen hat noch Zugang zu dem Gebäude?«, wagte Verena einen letzten verzweifelten Versuch.

»Das weiß ich nicht genau«, sagte Horst Seifried mit bedrückter Miene. »Um diese Dinge kümmert sich die Gebäudeverwaltung. Wir hatten nur den Auftrag, hier sauber zu machen.«

Sie ließ sich die Adresse und Telefonnummer der Verwaltung geben, machte sich aber keine großen Hoffnungen, dort fündig zu werden. Da bislang nicht mal feststand, wie lang das Skelett unten im Keller auf seine Wiederentdeckung gewartet hatte, war es ohnehin wie die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.

Verena bedankte sich und ließ ihre Gesprächspartner gehen. Einzig Thorben blieb zurück und nagte grüblerisch an seiner Unterlippe. »Was meinst du?«, fragte er.

»Ich weiß nicht mal genau, wo wir mit den Ermittlungen anfangen sollen. Sofern überhaupt.« Ein kühler Wind wehte ihr um die Nase, kam ihr nach dem Ausflug ins stickige Untergeschoss aber gerade recht.

»Ohne die vorläufigen Berichte der Spurensicherung und Forensiker kommen wir nicht weiter. Dort im Verließ, das könnte praktisch jeder beziehungsweise jede sein.«

Verena nickte. Das Gleiche war ihr gerade auch durch den Kopf gegangen.

Sie überlegte, sich in einem der Cafés um die Ecke einen Kaffee zu holen, als sie einen rundlichen Endvierziger im rot karierten Hemd und mit abgetragener, schwarzer Lederjacke aus dem Gebäude kommen sah. Der neue Gerichtsmediziner. Wittke, oder wie der hieß. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm.

»Können Sie schon was sagen? Wie lautet Ihr erster Eindruck?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Der Mann wartete ab, bis Thorben bei ihnen war und wirkte dann auf einmal sehr nachdenklich. »Bei der ersten Sichtung der Knochen habe ich keine oberflächlichen Verletzungen entdeckt. Allerdings gibt es da mehrere gebrochene Halswirbel. Vermutlich ist sie daran gestorben. Aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Das müssen wir alles noch genauer untersuchen. Rechtgeben muss ich Ihnen aber in dem Punkt, dass das Skelett ziemlich frisch ist. Die Knochen sind am Mark – also, mal für Laien ausgedrückt – noch nicht ganz trocken. Sozusagen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie die Tote Haut, Fleisch und alles andere verloren haben könnte?«, fragte Thorben.

Wittke zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ein Bleichmittel«, sagte er so, als würde das alles erklären. Als ihm das Gegenteil dämmerte, holte er weiter aus: »Es gibt verschiedene Methoden, Fleisch und Knochen voneinander zu trennen. Am langwierigsten ist die Kaltwassermazeration. Da legt man jemanden so lang in kaltes Wasser, bis er sich aufgelöst hat. So was machen Sie aber nicht mal eben im Hinterhof, denn da würden Ihnen die Nachbarn aufs Dach steigen. Stinkt wie die Hölle. Die Arbeit durch Maden und Insekten schließe ich deshalb ebenfalls aus.«

Thorben stöhnte leise. Er ahnte vermutlich, dass er beim Mittagessen nur etwas Vegetarisches herunterbekommen würde. Wenn überhaupt.

Wittke sprach ungerührt weiter. »Man könnte das organische Material aber auch mit einem recht starken Waschmittel auflösen. Oder man nutzt Chemikalien wie Ammoniak, Kali- und Natronlauge. Tierpräparatoren zum Beispiel entfernen nur grob sämtliche Fleischpartikel und legen den Kadaver danach in 30-prozentiges Wasserstoffperoxid ein. Das frisst buchstäblich die letzten Reste auch aus der kleinsten Vertiefung.«

Angewidert verzog nun auch Verena das Gesicht und wollte sich die Prozedur nicht einmal vorstellen. Neben ihr lächelte Wittke amüsiert und machte sich einen Spaß daraus, noch weiter ins Detail zu gehen: »Statt dem Einlegen können Sie die Lauge auch breiflächig aufpinseln und die Leiche danach in die Sonne legen. Wenn alles trocken ist, können Sie es problemlos abbürsten. Diese Methode hat den Vorteil, dass der Staub auch die winzigsten Löcher verschließt. Eine gute Idee ist zudem das Auskochen. Hilft besonders, wenn Sie die Zähne besonders weiß haben wollen.«

»Sie sind Junggeselle, oder?«, platzte es förmlich aus Verena heraus. Jemand, der sich so genüsslich über derartige Sachen ausließ, besaß bestimmt nicht den Hauch einer feinfühligen Ader.

»Stimmt, aber was hat das hiermit zu tun?«, fragte Wittke.

Verena lag eine spitze Bemerkung auf der Zunge, aber Thorben stellte sich bewusst zwischen die beiden und zückte seinen Notizblock. »Sie scheinen sich damit bemerkenswert gut auszukennen, Herr Kollege. Können Sie uns vielleicht auch gleich einen Tipp geben, woher sich jemand die Chemikalien besorgt haben könnte?«

Der Gerichtsmediziner winkte ab. »Das Zeug kriegen Sie in verschiedenen Konzentrationen in jeder Apotheke. Außerdem in jedem Friseurladen oder einem Baumarkt, der Malereizubehör oder Chlorkalk führt. Es kommt auch praktisch jeder Jäger mit Erfahrung im Präparieren infrage. Ebenso Kürschner. Bestimmt auch der eine oder andere Handwerker. Aber ich möchte mich da nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ist ja schließlich Ihre Aufgabe, den Täter ausfindig zu machen. Ich schick Ihnen meinen Bericht, sobald meine Kollegen und ich die chemischen Details herausgefunden haben.«

Ihre Antwort wartete er gar nicht erst ab, sondern entfernte sich, noch immer schmunzelnd. Sein Ziel war einer der zahlreichen Streifenwagen, die den gesamten Parkplatz einnahmen.

»Vielen Dank«, schickte Thorben leise hinterher.

Verena schüttelte den Kopf. »Also, manche Leute …« Ihr fehlten die Worte.